57 Die Stunde der Wahrheit

Die glutflüssige Nachmittagssonne kochte die Wüste und warf Schatten zwischen die Berge im Norden, die jetzt gerade vor ihnen lagen. Die ausgetrockneten Hügel zogen unter Jeade'ens Hufen vorbei; hinauf und hinunter wie über einen Ozean aus gebackenem Lehm, der sich meilenweit hinter ihnen erstreckte. Die Berge hatten Rand in ihren Bann geschlagen, seit sie am Vortag in Sicht gekommen waren. Sie waren nicht von Schnee gekrönt und nicht so hoch wie die Verschleierten Berge, ganz zu schweigen vom Rückgrat der Welt, sondern wirkten wie zerklüftete braune und graue Steinplatten, die an manchen Stellen gelbe oder rote Streifen aufwiesen oder breite Glitzerbänder, die so wild durcheinanderlagen, daß selbst eine Besteigung der Drachenmauer dagegen reizvoll schien. Seufzend setzte er sich im Sattel zurecht und rückte die Schufa gerade, die er zu seinem roten Wams trug. In dieser Bergkette lag Alcair Dal. Bald würde einiges beendet oder anderes dafür begonnen. Vielleicht auch beides gleichzeitig. Bald jedenfalls.

Die blonde Adelin schritt leichtfüßig vor dem Apfelschimmel einher, und neun weitere sonnenverbrannte Far Dareis Mai bildeten einen weiten Kreis um ihn, alle mit den kleinen Schilden und den kurzen Speeren in der Hand und auf dem Rücken die Bögen in ihren Futteralen. Die schwarzen Schleier hingen auf ihrer Brust, bereit, sofort hochgezogen zu werden. Rands Ehrenwache. Die Aiel nannten es wohl nicht so, aber die Töchter des Speers kamen allein Rand zu Ehren mit nach Alcair Dal. Es gab so viele feine Unterschiede und Abstufungen, doch er erkannte die Hälfte nicht einmal oder wußte nicht, was sie zu bedeuten hatten, auch wenn er sie bemerkte.

Zum Beispiel betraf das Aviendhas Verhalten den Töchtern des Speers und deren Verhalten Aviendha gegenüber. Die meiste Zeit ging sie, wie auch jetzt, neben ihm her, die Arme unter dem um ihre Schultern liegenden Schal verschränkt, den Blick aus ihren grünen Augen unter dem dunklen Kopftuch auf die Berge vor ihnen gerichtet. Sie sprach selten mehr als ein oder zwei Worte mit den Töchtern, aber das war nicht das einzige, was Rand auffiel. Vor allem war die Tatsache eigenartig, daß sie die Arme verschränkt hatte. Die Töchter wußten: Sie trug den Elfenbeinarmreif, aber sie taten so, als bemerkten sie ihn nicht, und sie nahm ihn nicht ab, verbarg aber immer ihren Unterarm, wenn sie glaubte, daß jemand hinsah.

Ihr gehört keiner Kriegergemeinschaft an, hatte Adelin zu ihm gesagt, als er vorschlug, daß andere und nicht gerade immer die Töchter des Speers seine Eskorte bilden sollten. Jeder Häuptling, ob er nun einem Clan oder einer Septime vorstand, wurde von Männern aus der Gemeinschaft begleitet, der er früher angehört hatte, bevor er Häuptling geworden war. Ihr gehört keiner Gemeinschaft an, aber Eure Mutter war eine Tochter des Speers. Die blonde Frau und die anderen neun hatten Aviendha dabei nicht angesehen, die ein paar Schritt weiter im Eingang zu Lians Dach stand; zumindest hatten sie nicht auffällig hinübergeschaut. Ungezählte Jahre lang haben Töchter, die den Speer nicht aufgeben wollten, ihre Kinder den Weisen Frauen anvertraut, die sie anderen Frauen an Kindesstatt übergaben. Sie wußten nicht, wohin ihre Kinder gebracht wurden, ja, nicht einmal, ob es Junge oder Mädchen war. Nun ist der Sohn einer Tochter des Speers zu uns zurückgekehrt und wir haben ihn erkannt. Wir gehen Euch zu Ehren nach Alcair Dal, Sohn der Shaiel, der Tochter des Speers von den Chumai Taardad. Ihre Miene wirkte so entschlossen — wie bei ihnen allen, einschließlich Aviendha —, daß er glaubte, wenn er ablehnte, würden sie ihm anbieten, mit ihm den Tanz der Speere zu tanzen.

Als er ihre Begleitung akzeptierte, ließen sie ihn diese Zeremonie mit dem ›Vergiß die Ehre nicht‹ erneut durchmachen, diesmal aber mit einem Getränk namens Oosquai, das man aus Zemai machte, und er mußte mit jeder einen kleinen Silberbecher vollständig leeren. Zehn Töchter, also zehn kleine Becher. Das Zeug sah aus wie leicht bräunlich gefärbtes Wasser, schmeckte auch so ähnlich, war aber stärker als doppeltgebrannter Schnaps. Er war nicht mehr in der Lage gewesen, geradeaus zu gehen. Sie hatten ihn ausgelacht und zu Bett gebracht. Er hatte wohl protestiert, doch sie hatten ihn so gekitzelt, daß er kaum Luft bekam, so mußte er selbst lachen. Alle hatten mitgemacht, bis auf Aviendha. Nicht, daß sie weggegangen wäre! Sie blieb und beobachtete alles mit steinernem Gesicht. Als Adelin und die anderen ihn schließlich unter die Decken gesteckt hatten und gingen, setzte sich Aviendha neben die Tür, breitete ihren dunklen, schweren Rock aus und beobachtete ihn weiter unbeweglich, bis er einschlief. Als er erwachte, war sie immer noch da und blickte ihn an. Und sie sprach nicht mit ihm, weder über die Töchter des Speers noch über Oosquai oder sonst etwas. Soweit es sie betraf, schien nichts davon geschehen zu sein. Die Töchter fragte er lieber nicht danach. Wie konnte er zehn Frauen ins Gesicht sehen und sie fragen, warum sie ihn betrunken und sich einen Spaß daraus gemacht hatten, ihn auszuziehen und ins Bett zu legen?

So viele Unterschiede und so wenige, deren Sinn er erkennen konnte. Und er wußte nie, was ihn vielleicht zu Fall bringen und all seine Pläne zerstören konnte. Doch er konnte sich kein langes Warten leisten. Er blickte sich nach hinten um. Was geschehen war, war geschehen. Und wer weiß schon, was noch alles auf mich zukommt?

Ein gutes Stück hinter ihnen folgten die Taardad. Nicht nur die Neun-Täler-Taardad und die Jindo, sondern auch die Miadi und die Vier-Steine-Septime, die Chumai und die Blutiges-Wasser und weitere. In Kolonnen umgaben sie die schwankenden Wagen der Händler und die Gruppe um die Weisen Frauen. Zwei Meilen weit erstreckte sich die Kolonne im flimmernden Hitzedunst hinter ihm, und davor und dahinter waren noch Kundschafter und Boten zu sehen. Jeden Tag waren mehr eingetroffen, nachdem Rhuarc seine Kuriere gleich am ersten Tag ausgesandt hatte: hundert Männer und Töchter hier, dreihundert dort, fünfhundert aus einer anderen Septime, je nach Größe und nach dem Bedarf der Festungen, um die eigene Verteidigung nicht zu vernachlässigen.

In einiger Entfernung im Südwesten war eine andere Gruppe zu erkennen, die im schnellen Lauf daherkam und eine lange Staubspur hinter sich herzog. Vielleicht war es ein anderer Clan auf dem Weg nach Alcair Dal, doch das glaubte er nicht. Nur zwei Drittel der Septimen waren bisher hier vertreten, doch er schätzte die Zahl der Taardad Aiel hinter ihm bereits auf gut fünfzehntausend. Eine Armee auf dem Marsch, und sie wuchs immer noch. Beinahe der gesamte Clan kam zum Zusammentreffen der Häuptlinge, und das widersprach jedem Brauch.

Jeade'en trug ihn auf eine Anhöhe, und da sah er mit einemmal in einer langen und breiten Senke dahinter den bereits aufgebauten Markt und auf den Hügeln jenseits die Lager der Clan- und Septimenhäuptlinge, die bereits angekommen waren.

Zwischen den zwei- oder dreihundert niedrigen, nach den Seiten offenen Zelten, die in größeren Abständen voneinander aufgebaut waren, standen in der Senke Buden aus dem gleichen graubraunen Material. Sie waren hoch genug, daß man darunter stehen konnte. Im ihrem Schatten lagen auf Decken ausgebreitet Waren zum Verkauf aus: bunt glasierte Keramikgegenstände und noch buntere Läufer, Silber- und Goldschmuck. Vor allem also von den Aiel hergestellte Waren wurden hier angeboten, aber auch Dinge von jenseits der Wüste, vielleicht sogar Seide und Elfenbein aus dem fernen Osten. Niemand schien aber dort im Augenblick Handel zu treiben. Die wenigen Männer und Frauen, die er erkennen konnte, saßen meist allein in dem einen oder anderen solchen Pavillon.

Von den fünf Lagern, die auf den Höhen um den Markt herum verteilt waren, wirkten vier genauso leer. Nur ein paar Dutzend Männer und Töchter des Speers rührten sich unter Zelten, die für ein paar tausend Menschen errichtet worden waren. Das fünfte Lager bedeckte die doppelte Fläche der anderen, und dort waren hunderte von Menschen sichtbar, und wahrscheinlich noch einmal so viele befanden sich in den Zelten.

Rhuarc trabte mit seinen zehn Aethan Dor, den Roten Schilden, hinter Rand den Hügel hoch, gefolgt von Heirn mit zehn Tain Shari, Reinrassigen, und mehr als vierzig weiteren Septimenhäuptlingen mit ihren Ehrengarden, alle mit Schilden und Speeren ausgerüstet, mit Bögen und Köchern. Das war eine beachtliche Streitmacht — größere als diejenige, die den Stein von Tear eingenommen hatte. Einige der Aiel in den Lagern und den Buden blickten zu ihnen hoch. Wie Rand vermutete, wollten sie nicht die herannahenden Aiel sehen, sondern ihn: einen Mann auf einem Pferd. Das sah man selten im Dreifachen Land. Er würde ihnen noch mehr zeigen, bis er hier fertig war.

Rhuarcs Blick ruhte auf dem größten Lager, wo immer mehr Aiel im Cadin'sor aus den Zelten quollen, um in ihre Richtung zu spähen. »Shaido, wenn ich mich nicht irre«, sagte er leise. »Couladin. Ihr seid nicht der einzige, der die alten Bräuche mißachtet, Rand al'Thor.« »Vielleicht war es gut, daß ich damit angefangen habe.« Rand zog sich die Schufa vom Kopf und stopfte sie in seine Tasche zu dem Angreal, dieser kleinen Statuette des Mannes mit dem runden Gesicht und dem Schwert über den Knien. Die Sonne brannte auf sein bloßes Haupt nieder und bewies ihm, welch guten Schutz das Tuch doch geboten hatte. »Wenn wir dem Brauch entsprechend gekommen wären...« Die Shaido trotteten in Richtung der Berge davon und hinterließen anscheinend leere Zelte. Das rief auch in den anderen Lagern und auf dem Markt etwas mehr Bewegung hervor. Die Aiel dort hörten auf, einen Mann auf einem Pferd anzustarren und blickten statt dessen den enteilenden Shaido nach. »Hättet Ihr Euch den Weg nach Alcair Dal gegen eine doppelte oder noch größere Übermacht erkämpfen können, Rhuarc?« »Nicht vor Sonnenuntergang«, erwiderte der Clanhäuptling bedächtig, »nicht einmal gegen die räuberischen Shaido allein. Das ist nun mehr als nur ein mißachteter Brauch. Selbst die Shaido sollten zuviel Ehre im Leib haben, um so etwas zu tun!« Von den anderen Taardad auf dem Hügelkamm erklang zornigzustimmendes Gemurmel. Nur die Töchter standen abseits. Sie hatten sich aus irgendeinem Grund an der Seite um Aviendha herum versammelt und diskutierten ernsthaft. Rhuarc sprach ein paar leise Worte mit einem seiner Roten Schilde, einem Burschen mit grünen Augen und einem Gesicht, das aussah, als habe man damit Zaunpfosten in den Boden geschlagen. Der Mann wandte sich um und lief schnell auf die ankommenden Taardad zu.

»Habt Ihr das erwartet?« fragte Rhuarc Rand, sobald der Mann davongeeilt war. »Habt Ihr deshalb den ganzen Clan zusammenrufen lassen?« »Nicht genau das, Rhuarc.« Die Shaido begannen, sich rechts und links vor einem schmalen Durchgang in den Felsen aufzustellen und sich zu verschleiern. »Aber Couladin kann ja gar keinen anderen Grund gehabt haben, sich in der Nacht mit seinen Leuten fortzuschleichen, als eben schnell einen anderen Ort zu erreichen, nun, und welcher Ort wäre geeigneter, um mir Schwierigkeiten zu bereiten, als dieser hier? Sind die anderen bereits im Alcair Dal versammelt? Warum?« »Die Gelegenheit für die Häuptlinge, sich hier zu treffen, kann man nicht versäumen, Rand al'Thor. Da diskutiert man Grenzprobleme, Weiderechte, ein Dutzend Dinge. Wasser. Wenn sich zwei Aiel aus verschiedenen Clans treffen, dann sprechen sie über Wasser. Drei aus drei verschiedenen Clans, und es geht um Wasser und Weiderechte.« »Und vier?« fragte Rand. Fünf Clans befanden sich bereits hier, und mit den Taardad waren es sechs.

Rhuarc zögerte einen Augenblick und packte unbewußt einen seiner Kurzspeere. »Vier werden den Tanz der Speere tanzen. Doch hier sollte es anders sein.« Die Taardad machten den Weisen Frauen Platz, die mit umgebundenen Kopftüchern herankamen. Moiraine, Lan und Egwene ritten hinterher. Egwene und die Aes Sedai machten es den Aielfrauen mit ihren Kopftüchern nach und hatten sich weiße Tücher um die Köpfe gewickelt. Auch Mat ritt heran, doch allein und abseits der anderen. Der Speer mit dem schwarzen Schaft lag quer über seinem Sattel. Sein breitrandiger Hut warf Schatten auf sein Gesicht. Er betrachtete das, was vor ihnen lag.

Der Behüter nickte in sich hinein, als er die Shaido sah. »Das könnte blutig werden«, sagte er leise. Sein schwarzer Hengst rollte die Augen in Richtung von Rands Apfelschimmel. Nicht mehr als das, und Lan blickte ja konzentriert zu den Aielreihen am Durchgang hinüber, und trotzdem hatte er es wahrgenommen und tätschelte beruhigend den Hals Mandarbs. »Aber jetzt nicht, glaube ich.« »Nicht jetzt«, stimmte Rhuarc zu.

»Wenn Ihr mir nur... gestatten würdet, mit Euch zusammen hineinzugehen.« Abgesehen von einer leichten Schwankung klang Moiraines Stimme so würdevoll wie immer. Kühle Ruhe lag über ihren alterslosen Zügen, doch ihre dunklen Augen blickten Rand an, als könne ihr Blick allein ihn zum Nachgeben zwingen.

Amys' langes, helles Haar, das unter ihrem Kopftuch hervorquoll, schwang mit, als sie den Kopf energisch schüttelte. »Diese Entscheidung steht ihm nicht zu, Aes Sedai. Das ist Sache der Häuptlinge, Sache der Männer. Wenn wir Euch jetzt nach Alcair Dal hineinlassen, wenn sich die Weisen Frauen das nächstemal treffen oder auch die Dachherrinnen, dann wird auch irgendein Clanhäuptling seine Nase hineinstecken wollen. Sie glauben, wir mischten uns in ihre Angelegenheiten ein, und dafür wollen sie sich auch in unsere einmischen.« Sie warf Rhuarc ein kurzes Lächeln zu, wohl, um ihm zu zeigen, daß er nicht gemeint sei. Die ausdruckslose Miene ihres Mannes sagte Rand, er sei anderer Meinung.

Melaine raffte ihren Schal unter dem Kinn zusammen und sah geradewegs Rand an. Wenn sie auch Moiraine nicht beipflichtete, mißtraute sie doch seinen Entscheidungen. Er hatte kaum geschlafen, seit sie die Kaltfelsenfestung verlassen hatten. Falls sie in seinen Träumen herumgeschnüffelt hatten, hatten sie nur Alpträume miterlebt.

»Seid vorsichtig, Rand al'Thor«, sagte Bair, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Ein übermüdeter Mann begeht Fehler. Heute könnt Ihr euch keine Fehler erlauben.« Sie zog ihren Schal um die mageren Schultern und ihre dünne Stimme erklang nun beinahe zornig: »Wir können es uns nicht leisten, daß Ihr Fehler begeht. Die Aiel können es sich nicht leisten.« Die Ankunft weiterer Reiter auf dem Hügelkamm hatte die Aufmerksamkeit wieder auf sie gelenkt. Zwischen den Buden hatten sich mehrere hundert Aiel, Männer im Cadin'sor und langhaarige Frauen in Rock und Bluse und mit dem üblichen Kopftuch, versammelt und beobachteten gespannt das Geschehen. Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder abgelenkt, als Kaderes staubiger weißer Wohnwagen mit seinem Mauleselgespann ein Stück weiter zur Rechten erschien. Der schwere, in Beige gekleidete Händler saß auf dem Kutschbock und neben ihm Isendre, ganz in weißer Seide mit einem dazu passenden Sonnenschirm. Keilles Wagen folgte. Natael führte an ihrer Seite die Zügel. Dann kamen die Planwagen und schließlich noch die drei großen Wasserbehälter, die wie riesige Fässer auf Rädern hinter ihren langen Maultiergespannen einherrumpelten. Sie blickten Rand an, als die Wagen mit quietschenden, lange nicht mehr geschmierten Achsen vorbeischwankten: Kadere und Isendre, Natael im Flickenumhang des Gauklers, Keilles massiger, schneeweiß gekleideter Körper mit einem weißen Spitzentuch auf ihren Elfenbeinkämmen. Rand tätschelte Jeade'ens stolz geschwungenen Hals. Männer und Frauen strömten in immer größerer Zahl drunten aus dem Markt und liefen den sich nähernden Wagen entgegen. Die Shaido warteten. Bald. Bald.

Egwene führte ihre graue Stute näher an Jeade'en heran. Der Apfelschimmel versuchte, die Stute mit der Nase zu stupsen und bekam dafür prompt einen leichten Biß ab. »Du hast mir keine Chance gegeben, mit dir zu sprechen, seit wir die Kaltfelsenfestung verlassen haben, Rand.« Er sagte nichts. Sie war jetzt eine Aes Sedai, und das nicht nur, weil sie sich selbst als solche bezeichnete. Er fragte sich, ob auch sie in seinen Träumen spioniert habe. Ihr Gesicht wirkte angespannt und ihre dunklen Augen müde. »Ziehe dich nicht so in dich selbst zurück, Rand. Du kämpfst doch nicht allein. Auch andere kämpfen auf deiner Seite.« Mit gerunzelter Stirn mied er ihren Blick. Zuerst dachte er an Emondsfeld und Perrin, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß sie wisse, wohin Perrin gegangen war. »Was meinst du damit?« fragte er schließlich.

»Ich kämpfe für Euch«, sagte Moiraine, bevor Egwene den Mund aufbekam, »genau wie Egwene.« Die beiden Frauen tauschten einen kurzen Blick. »Es gibt Menschen, die für Euch kämpfen, ohne es zu wissen, und Ihr kennt sie nicht einmal. Ihr erkennt nicht, was es bedeutet, das Gewebe eines Zeitalters zu verändern, oder? Die Wellen, die Eure Handlungen auslösen, die Eure bloße Existenz auslöst, breiten sich durch das Muster aus und verändern das Gewebe von Lebensfäden, deren Ihr niemals gewahr werdet. Der Kampf ist ganz gewiß nicht nur Eurer. Doch Ihr steht im Herzen dieses Gewebes im Muster. Solltet Ihr versagen und fallen, dann fällt alles und vergeht. Da ich nicht mit Euch ins Alcair Dal gehen kann, nehmt wenigstens Lan mit. Ein weiteres Augenpaar, das Euch den Rücken decken kann.« Der Behüter wandte sich leicht im Sattel um und sah sie finster an. Da die Shaido verschleiert und zum Töten bereit waren, wollte er sie nicht gern allein lassen.

Rand glaubte nicht, daß er diesen Blick zwischen den beiden hatte bemerken sollen. Also hatten sie ein Geheimnis vor ihm. Egwene hatte wirklich Aes-Sedai-Augen, dunkel, und nichts war davon abzulesen. Aviendha und die Töchter hatten sich wieder zu ihm gesellt. »Laßt Lan bei Euch bleiben, Moiraine. Meine Ehrengarde sind die Far Dareis Mai.«

Moiraines Mundwinkel verzogen sich leicht, aber was die Töchter betraf, hatte er wohl genau das Richtige gesagt. Adelin und die anderen grinsten breit.

Unten versammelten sich bereits die Aiel um die Wagenfahrer, als die begannen, ihre Maultiere auszuspannen. Nicht jeder allerdings achtete auf die Aiel. Keille und Isendre funkelten sich aus einiger Entfernung von ihren Wagen her an, während Natael mit der einen und Kadere mit der anderen Frau sprachen und sie zu beruhigen versuchten, bis sie schließlich ihr Blickduell aufgaben. Das war seit geraumer Zeit zwischen den beiden Frauen so gegangen. Wären sie Männer gewesen, dann hätte Rand schon lange erwartet, daß sie sich prügelten.

»Sei auf der Hut, Egwene«, sagte Rand. »Seid alle auf der Hut!« »Selbst die Shaido werden einer Aes Sedai nichts tun«, sagte Amys zu ihm, »genausowenig wie Bair oder Melaine oder mir. Einige Dinge machen nicht einmal die Shaido.« »Paßt einfach nur gut auf!« Er hatte das nicht in so scharfem Ton sagen wollen. Selbst Rhuarc blickte ihn mit großen Augen an. Sie verstanden ihn nicht, und er wagte nicht, ihnen alles zu berichten. Noch nicht. Wer würde zuerst die Falle auslösen? Er mußte ihre Leben genauso riskieren wie das seine.

»Und was ist mit mir, Rand?« fragte Mat plötzlich. Er rollte dabei eine Goldmünze zwischen den Fingern einer Hand hindurch, als sei er sich dessen gar nicht bewußt. »Hast du irgendwelche Einwände, daß ich mit dir gehe?« »Möchtest du? Ich dachte, du bliebst lieber bei den Händlern.« Mat sah finster auf die Wagen hinab und dann zu den Shaido hinüber, die sich vor dem Felsdurchlaß aufgereiht hatten. »Ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, hier wieder herauszukommen, falls du dich umbringen läßt. Seng mich, aber du bringst mich so oder so in irgendeinen Kochtopf... Dovienya«, knurrte er. Rand hatte schon öfters gehört, wie er das sagte. Lan hatte ihm gesagt, in der Alten Sprache heiße das soviel wie ›Glück‹. Dann warf Mat die Goldmünze hoch. Als er versuchte, sie wieder aufzufangen, prallte sie von seinen Fingerspitzen ab und fiel zu Boden. Es schien unmöglich, aber die Münze landete genau auf der Kante und rollte hinunter, selbst über die Risse im festgebackenen Lehm hinweg. Sie glitzerte im Sonnenschein, als sie ihren Weg bis zu den Händlerwagen zurücklegte und erst dort endlich kippte. »Verdammt, Rand«, grollte er. »Laß doch diese Spielchen mit mir!« Isendre hob die Münze auf und befühlte sie, wobei sie zum Hügelkamm hochblickte. Auch die anderen starrten herüber: Kadere und Keille und Natael.

»Du kannst mitkommen«, sagte Rand. »Rhuarc, wird es nicht langsam Zeit?« Der Clanhäuptling blickte sich nach hinten um. »Ja. In diesem...« Hinter ihm begannen Dudelsäcke eine langsame Tanzmelodie. »... Augenblick.« Gesang erhob sich zum Klang der Dudelsäcke. Die Aieljungen hörten eigentlich mit Singen auf, wenn sie zu Männern wurden. Doch zu bestimmten Anlässen sangen sie. Wenn ein Aielmann den Speer genommen hatte, sang er nur noch Schlachtgesänge oder Totenklagen. Es waren in dieser Melodie auch Stimmen von Töchtern des Speers zu hören, aber sie wurden von den tiefen Männerstimmen übertönt.

Wasch den Speer — wenn die Sonn' am Himmel steht. Wasch den Speer — wenn die Sonne sinkt.

Eine halbe Meile jeweils zur Rechten und zur Linken erschienen Taardad, die im Rhythmus ihres Liedes in zwei breiten Kolonnen vorwärtsliefen, die Speere kampfbereit und die Gesichter verschleiert. Die scheinbar endlosen Kolonnen wogten auf die Berge zu.

Wasch den Speer — wer hat Angst vor dem Tod? Wasch den Speer — keiner, den ich kenn!

In dem Lagern der Clans und auf dem Marktgelände blickten die Aiel verblüfft herüber. Etwas an ihrer Haltung sagte Rand, daß sie schwiegen. Ein paar Wagenfahrer standen wie betäubt daneben, während andere die Maultiere springen ließen und sich unter ihren Wagen in Sicherheit brachten. Und Keille und Isendre, Kadere und Natael beobachteten Rand.

Wasch den Speer — solang du lebst. Wasch den Speer — bis es zu Ende geht. Wasch den Speer...

»Sollen wir gehen?« Er wartete nicht auf Rhuarcs Nicken, sondern lenkte Jeade'en im Schritt den Hügel hinunter. Adelin und die anderen Töchter formierten sich um ihn.

Mat zögerte einen Moment, und dann trieb er Pips an, ihnen zu folgen. Rhuarc und die Septimenhäuptlinge der Taardad waren gleich mit dem Apfelschimmel losgegangen. Einmal, auf halbem Weg zu den Marktbuden, blickte sich Rand zum Hügelkamm um. Moiraine und Egwene saßen dort neben Lan auf ihren Pferden. Aviendha stand bei den drei Weisen Frauen. Alle beobachteten ihn. Er hatte schon fast vergessen, wie es war, einmal nicht von anderen Menschen beobachtet zu werden.

Als er sich dem Marktgelände näherte, kam ihm eine Delegation entgegen: zehn oder vielleicht auch ein Dutzend Frauen in Rock und Bluse und mit viel Gold und Silber und Elfenbeinschmuck behängt, und genauso viele Männer im Grau und Braun des Cadin'sor, doch bis auf ein Messer unbewaffnet, und diese Messer waren erheblich kleiner als die schweren Klingen, die Rhuarc benützte. Immerhin nahmen sie eine Position an, die Rand und die anderen zum Stehenbleiben zwang. Sie schienen die verschleierten Taardad, die im Osten und im Westen heranströmten, völlig zu ignorieren.

Wasch den Speer — das Leben ist ein Traum.

Wasch den Speer — jeder Traum ist irgendwann zu Ende.

»Ich habe das nicht von Euch erwartet, Rhuarc«, sagte ein schwergebauter, grauhaariger Mann. Er war nicht fett —Rand hatte noch nie einen fetten Aiel gesehen —, er hatte einfach so mächtige Muskelpakete. »Selbst von den Shaido hat es mich überrascht, aber von Euch...!« »Die Zeiten ändern sich, Mandhuin«, erwiderte der Clanhäuptling. »Wie lange sind die Shaido schon hier?« »Sie sind erst bei Sonnenaufgang angekommen. Wer weiß schon, wieso sie die Nacht durch gelaufen sind?« Mandhuin runzelte leicht die Stirn beim Anblick Rands und dann neigte er den Kopf in Richtung Mat. »Wirklich seltsame Zeiten, Rhuarc.« »Wer außer den Shaido ist noch hier?« fragte Rhuarc.

»Wir Goshien sind zuerst angekommen. Dann die Shaarad.« Der schwere Mann verzog bei der Erwähnung ihres Todfeindes das Gesicht, musterte aber weiterhin die beiden Feuchtländer. »Später kamen die Chareen und die Tomanelle. Und zuletzt eben die Shaido, wie ich schon sagte. Sevanna hat erst vor kurzer Zeit die Häuptlinge überredet, hineinzugehen. Bael dagegen hat keinen Grund gesehen, heute schon zusammenzutreffen. Einige der anderen auch nicht.« Eine Frau von mittleren Jahren mit breitem Gesicht und hellerem Haar als Adelin stemmte die Fäuste in die Hüften, wobei ihre goldenen und elfenbeinernen Armreifen klapperten. Sie trug so viele davon, und dazu noch genauso viele Halsketten, wie Amys und ihre Schwesterfrau zusammen. »Wir haben gehört, daß Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, aus Rhuidean zu Euch gekommen ist, Rhuarc.« Sie sah Rand und Mat mißbilligend an. Die ganze Abordnung tat das. »Wir haben gehört, daß heute der Car'a'carn proklamiert wird. Bevor noch alle Clans angekommen sind.« »Dann hat Euch jemand eine Weissagung mitgeteilt«, sagte Rand. Er berührte mit den Fersen die Flanken seines Apfelschimmels und die Abordnung gab den Weg frei.

»Dovienya«, murmelte Mat. »Mia dovienya nesodhin soende.« Was es auch bedeuten mochte, es klang jedenfalls wie ein Stoßseufzer.

Die Kolonnen der Taardad hatten sich von beiden Seiten her genähert und standen den Shaido auf wenige hundert Schritt gegenüber, immer noch verschleiert, immer noch singend. Sie machten keinerlei drohende Gebärden, sondern standen nur da, fünfzehn- oder zwanzigmal so viele wie die Shaido, und sangen. Ihre Stimmen erschallten in einem gewaltigen Chor.

Wasch den Speer — bis aller Schatten gefloh'n. Wasch den Speer — bis das Wasser vertrocknet. Wasch den Speer — wie weit noch nach Haus? Wasch den Speer — bis mein Leben ist aus!

Rand ritt näher an die schwarzverschleierten Shaido heran und sah, wie Rhuarc die Hand hob, um den eigenen Schleier festzumachen. »Nein, Rhuarc. Wir sind nicht hier, um gegen sie zu kämpfen.« Er meinte damit, er hoffe, es werde nicht soweit kommen, aber der Aielmann verstand es anders.

»Ihr habt recht, Rand al'Thor. Den Shaido keine Ehre geben.« Er ließ seinen Schleier hängen und erhob die Stimme: »Keine Ehre den Shaido!« Rand wandte sich nicht um, aber er hatte das Gefühl, daß auch hinter ihm die Schleier gelöst würden. »Oh, Blut und Asche!« knurrte Mat. »Blut und verfluchte Asche!«

Wasch den Speer — bis die Sonne erkaltet. Wasch den Speer — bis das Wasser verrinnt. Wasch den Speer...

Die Reihen der Shaido bewegten sich nervös. Was ihnen Couladin oder Sevanna auch gesagt haben mochten — sie konnten auf jeden Fall zählen. Mit Rhuarc und seiner Begleitung den Tanz der Speere zu tanzen war ja schön und gut, obwohl es dem Brauch widersprach, aber ihn mit so vielen Taardad zu tanzen, daß sie die Shaido wie eine Lawine wegfegen konnten, war eine ganz andere Sache. Langsam traten sie zur Seite und öffneten einen breiten Durchgang, damit Rand weiterreiten konnte.

Rand seufzte erleichtert auf. Und Adelin mit ihren anderen Töchtern des Speers schritt unbeeindruckt und hoch aufgerichtet voran, als existierten die Shaido überhaupt nicht.

Wasch den Speer — und ich hol tief Luft. Wasch den Speer — meine Stahlspitze schimmert. Wasch den Speer...

Der Gesang hinter ihnen wurde immer leiser, als sie durch die schmale Schlucht mit ihren steilen Felswänden zu beiden Seiten schritten. In tiefem Schatten zog sich die Schlucht weit in die Berge hinein. Minutenlang war das lauteste Geräusch das Klappern der Hufe auf dem Felsboden und danach das leise Auftreten der Aielstiefel. Dann plötzlich weitete sich der Durchlaß, und sie befanden sich im Alcair Dal.

Rand wurde klar, warum das Tal als schüsselförmig bezeichnet wurde; allerdings war nichts daran golden. Es war beinahe kreisrund. Der graue Steinwall außenherum war nicht zu steil, außer am hinteren Ende, wo sich wie bei einem Brecher auf See ein Überhang ergab. Am gesamten Außenhang standen dichte Gruppen von Aiel mit bloßen Köpfen und unverschleiert. Es gab viel mehr Gruppen von ihnen als Clans. Die Taardad, die mit den Septimenhäuptlingen gekommen waren, gingen nun hinüber zu der einen oder anderen dieser Gruppen. Rhuarc hatte gemeint, eine Gruppenbildung nach Kriegergemeinschaften anstatt nach Clans sei hilfreich, um besser Frieden halten zu können. Nur seine Roten Schilde und die Töchter blieben bei Rand und den Häuptlingen der Taardad.

Die Septimenhäuptlinge der anderen Clans saßen alle nach Clans geordnet im Schneidersitz vor einer langen Felsplattform unter dem Überhang. Sechs kleine Gruppen, darunter eine mit Töchtern des Speers, befanden sich zwischen den Septimenhäuptlingen und dem Felsvorsprung. Das sollten wohl diejenigen Aiel sein, die als Ehrenwachen mit den Clanhäuptlingen gekommen waren. Sechs, obwohl sich nur fünf Clans hier befanden! Die Töchter waren wahrscheinlich mit Sevanna gekommen. Obwohl — Aviendha hatte ihm schnell noch erklärt, daß Sevanna selbst nie eine Far Dareis Mai gewesen sei. Doch die überzählige Gruppe... Elf Mann waren das, und nicht zehn. Rand sah wohl nur den Hinterkopf mit dem flammenfarbenen Haar, doch er war sicher, daß es Couladin sein mußte.

Auf dem Vorsprung selbst stand eine Frau mit goldenem Haar mit ebensoviel Schmuck wie jene andere Frau draußen bei den Buden, den grauen Schal über die Arme gelegt — klar, daß dies Sevanna sein mußte — und daneben vier Clanhäuptlinge, jeder bis auf sein langes Messer am Gürtel unbewaffnet. Einer davon war der größte Mann, den Rand je gesehen hatte. Der Beschreibung Rhuarcs nach mußte das Bael von den Goshien Aiel sein. Der Kerl war garantiert noch eine Handspanne größer als Rhuarc oder er selbst. Sevanna sprach gerade und durch irgendeine akustische Besonderheit war jedes ihrer Worte überall deutlich hörbar.

»... gestattet ihm, hier zu sprechen!« Ihre Stimme klang nervös und zornig. Mit hocherhobenem Kopf und steifem Kreuz bemühte sie sich, die Szenerie von dort oben zu beherrschen. »Ich verlange das als mein Recht! Bis ein neuer Häuptling erwählt ist, stehe ich für Suladric und die Shaido. Ich bestehe auf meinen Rechten!« »Ihr steht für Suladric, bis ein neuer Häuptling erwählt ist, Dachherrin.« Der weißhaarige Mann, der diese Worte ziemlich gereizt sprach, war Han, Clanhäuptling der Tomanelle. Mit einem Gesicht wie aus dunklem, verknittertem Leder wäre er an den Zwei Flüssen noch als überdurchschnittlich groß bezeichnet worden, doch für einen Aiel war er klein und untersetzt. »Ich habe keine Zweifel daran, daß Ihr die Rechte einer Dachherrin gut kennt, aber die eines Clanhäuptlings vielleicht nicht ganz so gut. Nur einer, der Rhuidean betreten hat, darf hier sprechen — und dazu Ihr, die an Suladrics Statt hier steht« —es klang nicht gerade glücklich, wie Han es aussprach, aber andererseits war er ein Typ, der wohl kaum jemals glücklich sein dürfte —, »aber die Traumgängerinnen haben unseren Weisen Frauen gesagt, daß Couladin das Recht, Rhuidean zu betreten, verweigert wurde.« Couladin schrie etwas dazwischen, offensichtlich wütend, aber undeutlich, denn die Akustik im Tal wirkte sich wohl nur auf den Vorsprung aus. Dann unterbrach ihn Erim von den Chareen, dessen ebenfalls leuchtend rotes Haar schon zur Hälfte weiß war, in scharfem Ton: »Habt Ihr keinen Respekt vor Sitte und Gesetz, Shaido? Habt Ihr keine Ehre im Leib? Schweigt still!« Ein paar Blicke von den Hängen her wandten sich den Ankömmlingen zu, um zu sehen, wer da gekommen sei. Diejenigen, die zwei Ausländer auf Pferden an der Spitze der Septimenhäuptlinge entdeckt hatten, von denen einer auch noch von Töchtern des Speers geleitet wurde, stießen ihre Nebenleute an. Rand fragte sich, wie viele Aiel ihn innerhalb kürzester Zeit neugierig anblickten. Dreitausend? Viertausend? Mehr? Keiner gab etwas von sich.

»Wir haben uns hier versammelt, um eine große Neuigkeit zu erfahren, sobald alle Clans angekommen sind«, sagte Bael. Auch sein dunkelrotes Haar ergraute bereits. Es gab unter den Clanhäuptlingen keine jungen Männer. Seine Körpergröße und die tiefe Stimme zogen die Blicke auf sich. »Wenn alle Clans angekommen sind. Wenn Sevanna jetzt nichts anderes vorzubringen hat, als für Couladin die Erlaubnis zum Sprechen zu erbitten, dann gehe ich zu meinen Zelten zurück und warte.« Jheran von den Shaarad, den Todfeinden von Baels Goshien, war ein schlanker Mann, in dessen hellbraunem Haar viele graue Strähnen zu sehen waren. Seine Schlankheit war die einer Stahlklinge. Er sprach niemanden unter den Clanhäuptlingen direkt an. »Ich sage, wir kehren nicht zu den Zelten zurück. Da uns Sevanna nun einmal zusammengebracht hat, sprechen wir doch über etwas, das nur ein bißchen weniger wichtig ist als die Neuigkeit, auf die wir warten: Wasser. Ich möchte mit Euch über die Wasserrechte an der Bergkettenfeste sprechen.« Bael wandte sich ihm drohend zu.

»Narren!« fuhr Sevanna sie an. »Ich habe genug vom Warten! Ich... « In diesem Augenblick wurden die anderen auf dem Vorsprung der Neuankömmlinge gewahr. In lähmendem Schweigen beobachteten sie, wie sie sich näherten. Die Clanhäuptlinge runzelten die Stirn. Sevanna machte eine finstere Miene. Sie war eine hübsche Frau, noch nicht einmal in mittleren Jahren und noch jünger wirkend, da sie zwischen viel älteren Männern stand. Doch ihr Mund wirkte gierig. Die Clanhäuptlinge waren würdevolle Männer, selbst Han mit seiner säuerlichen Miene, doch der Blick aus ihren blaßgrünen Augen war berechnend. Im Gegensatz zu allen Aielfrauen, die Rand je gesehen hatte, trug sie ihre lose weiße Bluse so weit geöffnet, daß man einen guten Ausblick auf ihren vom Halsschmuck eingerahmten sonnengebräunten Busen hatte. Die Männer hätte er schon an ihrem Verhalten als Clanhäuptlinge erkannt, aber wenn Sevanna Dachherrin war, dann hatte sie nicht viel mit Lian gemein.

Rhuarc ging geradewegs zu der Felsplatte hin, reichte Speere und Schild, Bogen und Köcher seinen Roten Schilden und kletterte nach oben. Rand gab seine Zügel Mat, der daraufhin knurrte: »Glück steh uns bei!« Er beäugte dabei die Aiel in ihrer Umgebung. Adelin nickte Rand aufmunternd zu, und der trat vom Pferdesattel aus direkt auf den Felsvorsprung. Ein überraschtes Murmeln erfüllte die Mulde.

»Was tust du da, Rhuarc?« wollte Han mit finsterem Blick wissen. »Bringst einen Feuchtländer hierher? Wenn du ihn schon nicht tötest, dann schicke ihn wenigstens vom Platz der Häuptlinge herunter.« »Dieser Mann, Rand al'Thor, ist gekommen, um zu den Clanhäuptlingen zu sprechen. Haben Euch die Traumgängerinnen nicht gesagt, daß er mit mir kommen werde?« Rhuarcs Worte brachten unter den Zuhörern wieder ein lautes Murmeln hervor.

»Melaine hat mir vieles gesagt, Rhuarc«, sagte Bael bedächtig, wobei er beim Anblick Rands wieder die Stirn runzelte. »Daß Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, aus Rhuidean zurückgekommen sei. Ihr wollt doch nicht etwa sagen, daß dieser Mann... « Er ließ die Worte ungläubig verklingen.

»Wenn dieser Feuchtländer sprechen darf«, sagte Sevanna schnell, »dann darf Couladin das auch.« Sie hob eine weich wirkende Hand, und Couladin kletterte mit zorngerötetem Gesicht auf den Vorsprung.

Han fuhr ihn an: »Geht hinunter, Couladin! Es ist schlimm genug, daß Rhuarc die Sitten mißachtet; es ist also nicht notwendig, daß Ihr das auch noch tut!« »Es ist Zeit, mit alten, überholten Bräuchen Schluß zu machen!« schrie der Shaido mit dem Feuerkopf, wobei er sein graubraunes Wams abstreifte. Es gab keinen Grund, von dort oben zu schreien, denn die Worte waren überall im Tal zu hören. Trotzdem senkte er die Stimme nicht. »Ich bin Der, Der Mit der Morgendämmerung Kommt!« Er schob seine Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hoch und reckte seine Fäuste in die Luft. Um jeden Unterarm wand sich ein schlangenartiges Geschöpf mit roten und goldenen Schuppen und metallisch glitzernden Füßen, die jeweils in fünf goldenen Klauen ausliefen. Die Köpfe mit den goldenen Mähnen lagen über den Außenseiten der Handgelenke. Zwei perfekte Drachen. »Ich bin der Car'a'carn!« Der Aufschrei, der zurückhallte, klang wie Donner. Aiel sprangen auf und jubelten. Auch die Septimenhäuptlinge waren auf den Beinen, die der Taardad besorgt zusammenstehend, und die anderen schrien genauso laut wie die menge.

Die Clanhäuptlinge schienen betäubt — selbst Rhuarc. Adelin und ihre neun Töchter des Speers hatten ihre Speere gepackt, als rechneten sie damit, sie jeden Moment einsetzen zu müssen. Mat blickte zu der breiten Felsspalte hinüber, die aus dem Tal führte, und dann zog er den Hut tiefer und lenkte beide Pferde nahe an den Vorsprung heran, wobei er Rand verstohlen bedeutete, wieder auf sein Pferd zu steigen.

Sevanna lächelte siegessicher und rückte ihren Schal zurecht, als Couladin mit hoch erhobenen Armen an den Rand der Felsplatte trat. »Ich bringe Euch Veränderungen!« schrie er. »Wie es der Weissagung entspricht, bringe ich Euch eine neue Zeit! Wir werden die Drachenmauer wieder überqueren und zurückerobern, was unser war! Die Feuchtländer sind weich, aber auch reich! Ihr erinnert Euch sicher an die Reichtümer, die wir zurückbrachten, als wir das letzte Mal in die Feuchtlande eindrangen! Diesmal nehmen wir alles mit! Diesmal...!« Rand ließ die Tirade des Mannes über sich ergehen. Bei allem hatte er dies nun wirklich nicht erwartet. Wie hat er das gemacht? Das ging ihm immer wieder durch den Kopf, und doch konnte er kaum glauben, wie gelassen er selbst dabei geblieben war. Langsam zog er sein Wams aus. Er zögerte einen Augenblick, bevor er den Angreal aus der Tasche nahm und ihn oben unter den Gürtel in seine Hose steckte. Dann ließ er das Wams fallen und schritt zur Kante des Vorsprungs, wobei er seelenruhig die Bänder an seinen Hemdsärmeln löste. Als er die Arme über den Kopf hob, glitten die Ärmel herab. Die versammelten Aiel brauchten einen Augenblick, bis sie die Drachen entdeckten, die sich auch im Sonnenschein glänzend um seine Unterarme zogen. Einer nach dem anderen schwieg, bis schließlich vollkommene Stille herrschte. Sevanna blieb der Mund offenstehen. Sie hatte das nicht gewußt. Offensichtlich hatte Couladin nicht gedacht, daß Rand ihm so schnell folgen werde, und er hatte ihr wohl auch nicht erzählt, daß noch ein anderer die Zeichen an den Armen aufwies. Wie? Der Mann mußte geglaubt haben, er habe Zeit, und sobald er sich etabliert habe, könne er Rand als Betrüger abschieben. Licht, wie hat er das gemacht? Wenn schon die Dachherrin der Comardafestung völlig verblüfft war, dann waren es die Clanhäuptlinge erst recht, bis auf Rhuarc. Zwei Männer so gezeichnet, wie es der Weissagung nach nur einer sein durfte.

Couladin brüllte weiter und schwenkte die Arme, damit auch bestimmt jeder herblickte: »... werden nicht bei den Ländern der Eidbrecher haltmachen! Wir werden alle Länder bis zum Aryth-Meer einnehmen! Die Feuchtländer können nicht widerstehen, wenn... « Plötzlich wurde ihm bewußt, daß alle schwiegen, wo sie ihm zuvor zugejubelt hatten. Er wußte, was das Schweigen hervorgerufen hatte. Ohne sich zu Rand umzudrehen, schrie er: »Feuchtländer! Seht Euch seine Kleider an! Ein Feuchtländer!« »Ein Feuchtländer«, stimmte ihm Rand zu. Er erhob die Stimme nicht, war aber überall gut zu verstehen. Der Shaido wirkte einen Augenblick lang überrascht, doch dann grinste er triumphierend — bis Rand fortfuhr: »Wie heißt es in der Weissagung von Rhuidean? ›Vom Blute geboren.‹ Meine Mutter war Shaiel, eine Tochter des Speers von den Chumai Taardad.« Wer war sie wirklich? Wo ist sie hergekommen? »Mein Vater war Janduin aus der Eisenbergseptime, der Clanhäuptling der Taardad.« Mein Vater ist Tam al'Thor. Er hat mich gefunden, mich aufgezogen und mir Liebe gegeben. Ich wünschte, ich hätte dich gekannt, Janduin, aber Tam ist mein Vater. »›Vom Blute geboren, aber bei denen aufgewachsen, die nicht vom Blute sind.‹ Wo suchten denn die Weisen Frauen nach mir? In den Festungen des Dreifachen Landes? Sie schickten ihre Späher über die Drachenmauer, wo ich aufwuchs. Wie die Weissagung es beschreibt.« Bael und die anderen drei nickten bedächtig, wenn auch zögernd. Da war immer noch die Tatsache, daß Couladin die Drachen trug, und zweifellos wäre ihnen einer aus ihrer Mitte lieber. Sevannas Gesicht wirkte wieder entschlossen: Gleich, wer die wirklichen Zeichen trug, ihr war klar, wen sie unterstützen würde.

Couladins Selbstvertrauen kam nicht ins Wanken. Er grinste Rand höhnisch an. Es war das erste Mal, daß er ihn überhaupt ansah. »Wie lange ist es her, daß die Weissagung von Rhuidean erstmals ausgesprochen wurde?« Er schien immer noch zu glauben, er müsse schreien. »Wer weiß, wie stark die Worte verändert wurden? Meine Mutter war eine Far Dareis Mai, bevor sie den Speer aufgab. Wie stark hat sich der Rest verändert? Oder wurde verändert? Man behauptet, wir hätten einst den Aes Sedai gedient. Ich behaupte, sie wollen uns wieder an sich binden! Dieser Feuchtländer wurde ausgewählt, weil er uns ähnlich sieht! Er ist nicht von unserem Blut! Er kam mit Aes Sedai, die ihn an der Leine führen! Und die Weisen Frauen haben sie wie Erstschwestern begrüßt! Ihr habt alle von Weisen Frauen gehört, die Dinge jenseits aller Vorstellung vollbringen können. Die Traumgängerinnen haben die Eine Macht benützt, um mich von diesem Feuchtländer fernzuhalten! Sie benützten die Eine Macht, wie man es den Aes Sedai nachsagt! Die Aes Sedai haben diesen Feuchtländer zu uns gebracht, um uns zu täuschen! Und die Traumgängerinnen helfen ihnen!« »Das ist Wahnsinn!« Rhuarc trat neben Rand und blickte hinaus auf die immer noch schweigende Versammlung. »Couladin ist niemals in Rhuidean gewesen. Ich hörte, wie es ihm die Weisen Frauen untersagten. Rand al'Thor aber war dort! Ich sah zu, wie er den Chaendaer verließ, und ich sah ihn wiederkehren mit den Zeichen, die Ihr an ihm seht.« »Und warum wollten sie mich nicht hinlassen?« stieß Couladin wütend hervor. »Weil die Aes Sedai es ihnen befahlen! Rhuarc erzählt Euch nicht, daß eine der Aes Sedai mit diesem Feuchtländer vom Chaendaer herabstieg! Deshalb ist er mit den Drachen zurückgekehrt! Durch die Hexerei der Aes Sedai! Mein Bruder Muradin ist unter dem Chaendaer gestorben, von diesem Feuchtländer und der Aes Sedai Moiraine ermordet, und die Weisen Frauen taten, was die Aes Sedai von ihnen verlangten, und ließen sie laufen! Als die Nacht kam, ging ich nach Rhuidean. Ich habe das bis jetzt nicht verkündet, weil nur dies hier der rechte Ort ist, an dem sich der Car'a'carn zum erstenmal zeigt! Ich bin der Car'a'carn!«

Lügen, aber sie enthielten genug Richtiges, um wahr zu klingen. Der Mann bestand nur aus siegessicherem Selbstvertrauen. Er war sicher, auf alles eine Antwort zu wissen.

»Ihr sagt, Ihr seid nach Rhuidean gegangen, ohne die Erlaubnis der Weisen Frauen zu haben?« wollte Han mit gerunzelter Stirn wissen. Der hochaufragende Bael schien genauso verstimmt, auch wenn er mit verschränkten Armen ruhig dastand. Erim und Jheran wirkten nicht viel weniger mißbilligend. Also wenigstens die Clanhäuptlinge schwankten noch. Sevanna hatte ihr Messer gepackt und funkelte Han an, als würde sie es ihm gern in den Rücken stoßen.

Couladin wußte auch darauf eine Antwort. »Ja, ohne Erlaubnis! Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, bringt Veränderungen mit sich. So sagt es die Weissagung! Sinnlose Dinge müssen sich ändern, und ich werde sie ändern! Bin ich nicht mit der Morgendämmerung angekommen?« Die Clanhäuptlinge waren fast überzeugt, genau wie die vielen Zuschauer. Alle waren sie aufgestanden und blickten schweigend hinauf — Tausende von Aiel. Wenn Rand sie nicht überzeugen konnte, würde er wahrscheinlich Alcair Dal nicht mehr lebend verlassen. Mat deutete wieder auf Jeade'ens Sattel. Rand schüttelte noch nicht einmal den Kopf. Es gab für ihn einen wichtigeren Grund, nicht einfach nur lebendig entkommen zu wollen: Er brauchte diese Menschen und ihre Loyalität. Er mußte ein Volk haben, das hinter ihm stand, weil es an ihn glaubte und nicht, um ihn zu benützen, weil er ihnen etwas geben konnte. Es mußte sein!

»Rhuidean«, sagte er. Das Wort schien das ganze Tal zu füllen. »Ihr behauptet, Ihr wärt in Rhuidean gewesen, Couladin. Was habt Ihr dort gesehen?« »Jeder weiß, daß man nicht über Rhuidean sprechen darf«, schoß Couladin zurück.

»Wir können auseinandergehen«, sagte Erim, »und unter uns darüber sprechen, damit Ihr uns sagt... « Der Shaido schnitt ihm mit zornrotem Gesicht das Wort ab.

»Ich werde mit niemanden darüber sprechen. Rhuidean ist ein heiliger Ort, und was ich sah, war heilig. Ich bin heilig!« Er hob wieder seine mit den Drachen gezeichneten Arme. »Diese machen mich heilig!« »Ich bin unter Glassäulen neben Avendesora gewandelt«, sagte Rand ruhig, doch die Worte waren überall zu hören. »Ich sah die Geschichte der Aiel durch die Augen meiner Vorfahren. Was habt Ihr gesehen, Couladin? Ich habe keine Angst davor, von dort zu berichten. Wie steht es mit Euch?« Der Shaido bebte vor Zorn. Sein Gesicht hatte fast die Farbe seines Feuerhaars angenommen.

Bael und Erim, Jheran und Han warfen sich unsichere Blicke zu. »Wir müssen die Versammlung auflösen«, brummte Han.

Couladin schien nicht zu begreifen, daß er seinen Vorsprung bei den vieren verloren hatte, aber Sevanna war es wohl klar. »Rhuarc hat ihm das gesagt«, fauchte sie. »Eine von Rhuarcs Frauen ist Traumgängerin, eine von denen, die den Aes Sedai hilft! Rhuarc hat ihm das gesagt!« »Das würde Rhuarc nicht tun!« fuhr Han sie an. »Er ist Clanhäuptling und ein Ehrenmann! Sprecht nicht über Dinge, die Ihr nicht beurteilen könnt, Sevanna!« »Ich habe keine Angst davor!« schrie Couladin hinein.

»Kein Mann darf behaupten, ich hätte Angst! Ich habe auch durch die Augen meiner Vorfahren gesehen! Ich sah unsere Ankunft im Dreifachen Land! Ich sah unseren Ruhm! Den Ruhm, den ich wieder zurückgewinnen werde!« »Ich sah das Zeitalter der Legenden«, verkündete Rand, »und den Beginn des Zugs der Aiel ins Dreifache Land.« Rhuarc ergriff seinen Arm, doch er schüttelte die Hand des Clanhäuptlings ab. Diesen Augenblick hatte das Schicksal für ihn bereitgehalten, seit sich die Aiel das erste Mal vor Rhuidean versammelten. »Ich sah die Aiel, als man sie noch Da'schain Aiel nannte, und sie folgten dem Weg des Blattes.« »Nein!« Der Schrei erhob sich im Rund und ertönte wie Donner. »Nein! Nein!« aus Tausenden von Kehlen. Auf den Spitzen der Speere, die wild geschwenkt wurden, glitzerte der Sonnenschein. Selbst einige der Septimenhäuptlinge der Taardad schrien mit. Adelin blickte entsetzt zu Rand auf. Mat schrie Rand etwas zu, doch es ging im Donnerhall unter. Dann deutete er eindringlich auf Jeade'ens Sattel.

»Lügner!« Die Akustik im Tal verstärkte Couladins Aufschrei in dem sich Zorn mit Triumph mischte, so daß er noch über das Schreien der versammelten Aiel zu hören war. Sevanna schüttelte verzweifelt den Kopf und langte nach ihm. Jetzt zumindest vermutete sie, daß er der Betrüger sei, und sie versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, damit sie noch eine Chance hatten. Wie Rand gehofft hatte, schob Couladin sie weg. Der Mann wußte, daß Rand in Rhuidean gewesen war. Er glaubte wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte seiner eigenen Geschichte, aber an Rands Geschichte konnte er auch nicht glauben. »Aus seinem eigenen Mund hört Ihr den Beweis, daß er ein Betrüger ist! Wir sind immer schon Krieger gewesen! Immer! Vom Beginn der Zeit an!« Das Schreien schwoll an, die Speere wurden geschüttelt, doch Bael und Erim, Jheran und Han standen schweigend und wie versteinert da. Jetzt wußten sie Bescheid. Couladin war sich ihrer Blicke völlig unbewußt und winkte mit seinen drachengeschmückten Armen in die Menge hinein. Er genoß sichtlich ihre Begeisterung.

»Warum?« fragte Rhuarc Rand leise. »Habt Ihr nicht verstanden, warum wir nicht über Rhuidean sprechen? Das zu akzeptieren, daß wir uns einst so sehr von allem unterschieden, woran wir glauben, daß wir diejenigen waren, die wir als die Verlorenen Kinder betrachten und die Ihr Tuatha'an nennt! Rhuidean tötet diejenigen, die das nicht akzeptieren können. Nicht mehr als einer von drei Männern, die nach Rhuidean gehen, überlebt dort. Und jetzt habt Ihr es vor allen ausgesprochen. Und es bleibt nicht auf die hier Anwesenden beschränkt, Rand al'Thor. Es wird sich ausbreiten. Wie viele werden stark genug sein, um das zu ertragen?« Er wird Euch zurückführen, und er wird Euch vernichten. »Ich bringe Veränderungen mit mir«, sagte Rand traurig. »Keinen Frieden, sondern Aufruhr.« Zerstörung folgt mir überall auf den Fersen. Wird es einmal einen Ort geben, den ich nicht zerrissen hinterlasse? »Was geschehen wird, wird geschehen, Rhuarc. Ich kann es nicht ändern.« »Was geschehen wird, wird geschehen«, wiederholte der Aielmann nach ein paar Augenblicken.

Couladin schritt immer noch auf und ab und schrie den Aiel Parolen von Ruhm und Eroberung zu. Er war sich der Blicke der Clanhäuptlinge hinter ihm nicht bewußt. Sevanna sah Couladin überhaupt nicht mehr an. Ihre blaßgrünen Augen waren eindringlich auf die Clanhäuptlinge gerichtet, ihre Zähne gefletscht, und ihr Busen hob und senkte sich heftig. Sie mußte wissen, was das Schweigen und die Blicke zu bedeuten hatten.

»Rand al'Thor«, sagte Bael laut, und der Name schnitt durch Couladins Geschrei und wie eine Stahlklinge durch das Gebrüll der Menge, die innerhalb eines einzigen Moments verstummte. Er hielt inne, um sich zu räuspern, und bewegte den Kopf suchend, als fände er keinen Ausweg. Couladin drehte sich zu ihm um und verschränkte selbstbewußt die Arme. Zweifellos erwartete er das Todesurteil für den Feuchtländer. Der hochgewachsene Clanhäuptling atmete tief durch. »Rand al'Thor ist der Car'a'carn. Rand al'Thor ist Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.« Couladin riß die Augen in ungläubiger Wut auf.

»Rand al'Thor ist Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt«, verkündete Han mit dem Ledergesicht genauso zögernd.

»Rand al'Thor ist Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.« Das kam in grimmigem Tonfall von Jheran, und Erim sagte: »Rand al'Thor ist Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.« »Rand al'Thor«, sagte Rhuarc, »ist Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.« Und mit so leiser Stimme, daß es selbst bei dieser Akustik drunten nicht zu hören war, fügte er hinzu: »Und das Licht sei uns gnädig.« Einen langen, langen Augenblick währte das Schweigen. Dann sprang Couladin vor Wut schnaubend von der Felsplatte, riß einem seiner Seia Doon einen Speer aus der Hand und schleuderte ihn geradewegs auf Rand. Doch als sich die Speerspitze senkte, sprang Adelin dazwischen. Die Spitze grub sich in das mehrschichtige Stierleder ihres ausgestreckten Schilds und riß sie herum.

Im ganzen Tal brach die Hölle los. Die Männer schrien durcheinander und drängten nach vorn. Die anderen Jindo-Töchter sprangen hoch und stellten sich neben Adelin, um einen Schutzschirm vor Rand zu bilden. Sevanna war herabgeklettert und schrie Couladin erregt an. Dann klammerte sie sich an seinen Arm, um ihn zurückzuhalten, als er mit seinen Schwarzaugen-Shaido gegen die Töchter des Speers zwischen ihm und Rand vorgehen wollte. Heirn und ein Dutzend weitere Septimenhäuptlinge der Taardad schlossen sich Adelin an, die Speere kampfbereit, während andere nur herumschrien. Mat kletterte mit seinem eigenen Speer in der Hand nach oben — schwarzer Schaft und mit Raben gekennzeichnete Schwertklinge — und brüllte etwas, das wohl ein Fluchen in der Alten Sprache sein sollte. Rhuarc und die anderen Clanhäuptlinge versuchten mit lauten Stimmen, die anderen wieder zur Ordnung zu rufen, doch das Tal kochte. Rand sah, wie Schleier festgemacht wurden. Ein Speer blitzte im Zustechen auf. Ein weiterer. Er mußte dem Einhalt gebieten.

Er griff nach Saidin, und die Macht durchströmte ihn, bis er glaubte, er werde platzen, falls er nicht vorher verbrannte. Der Schmutz der Verderbnis breitete sich in ihm aus, bis sich seine Knochen zu verbiegen schienen. Gedanken schwebten außerhalb des Nichts: kalte Gedanken. Wasser. Hier, wo Wasser so knapp war, stellte es das Hauptthema bei allen Gesprächen der Aiel dar. Selbst in dieser trockenen Luft befand sich noch etwas Wasser. Er lenkte die Macht, ohne wirklich zu wissen, was er da tat, und griff blind hinaus.

Blitze zuckten über Alcair Dal. Der Wind rauschte aus allen Richtungen heran und heulte so laut über den Überhang hinweg, daß er sogar die Schreie der Aiel übertönte. Der Wind brachte winzige Spuren von Wasser mit sich, mehr und mehr, bis etwas geschah, das noch kein Mensch hier erlebt hatte: Regen begann in einem dünnen Schleier zu fallen. Der Wind über ihnen heulte und wirbelte. Wilde Blitze zuckten immer heftiger über den Himmel. Und der Regen wurde stärker und stärker, wurde zu einem wahren Guß, fegte über den Felsvorsprung, ließ sein Haar an der Stirn kleben und sein Hemd am Rücken. Er konnte keine fünfzig Schritt weit sehen.

Mit einemmal traf ihn der Regen nicht mehr und eine unsichtbare Kuppel breitete sich um ihn aus, die Mat und die Taardad wegschob. Durch den an der Seite herabrinnenden Regenvorhang sah er verschwommen, wie Adelin mit den Fäusten darauf schlug und versuchte, sich den Weg zu ihm hinein zu erzwingen.

»Du kompletter Narr! Mit diesen anderen Narren Spielchen zu spielen! All meine Zeit und meine Mühe beim Planen verschwendest du!« Wasser tropfte von seinem Gesicht, als er sich zu Lanfear umwandte. Ihr weißes Kleid mit dem Silbergürtel war vollständig trocken. Die schwarzen Wogen ihres Haares waren zwischen den silbernen Sternen und Halbmonden von keinem Regentropfen berührt worden.

Die großen, schwarzen Augen blickten ihn zornig an; Ärger verzerrte ihr schönes Gesicht.

»Ich habe nicht erwartet, daß Ihr euch schon jetzt zu erkennen gebt«, sagte er ruhig. Die Macht erfüllte ihn noch; er schwamm auf ihrem Strom, beinahe hilflos, und hielt sich verzweifelt oben. Doch in seiner Stimme war nichts von dieser Verzweiflung. Es war nicht notwendig, noch mehr der Macht heranzuziehen. Er ließ sie nur einfach in sich hinein, bis es schien, als würden seine Knochen zu Asche verbrannt. Er wußte nicht, ob sie ihn abschirmen konnte, während Saidin ihn durchtobte, aber vorsichtshalber ließ er sich ganz und gar füllen. »Ich weiß, daß Ihr nicht allein seid. Wo ist er?« Lanfears schöner Mund verzog sich. »Ich wußte, er würde sich verraten, wenn er so in deinen Traum eindringt. Ich hätte alles geradegebogen, wenn nicht seine Panik... « »Ich wußte von Anfang an Bescheid«, unterbrach er sie. »Ich habe dies von dem Tag an erwartet, an dem wir den Stein von Tear verließen. Hier draußen, wo es jedem klarwerden mußte, daß ich nach Rhuidean und zu den Aiel wollte. Habt Ihr geglaubt, ich hätte nicht erwartet, daß mich einige von Euch verfolgen würden? Aber das ist meine Falle, Lanfear, und nicht Eure. Wo ist er?« Das letztere kam als kalter Schrei. Gefühle glitten unkontrolliert um das Nichts, das ihn im Innern schützte, die Leere, die nicht leer war, die von der Macht erfüllte Leere.

»Wenn du es wußtest«, fauchte sie zurück, »warum hast du ihn dann mit deinem Geschwätz verscheucht, du müßtest dein Schicksal erfüllen und tun, was getan werden muß?« Verachtung gab den Worten ein Gewicht, als seien sie Steine. »Ich habe Asmodean mitgebracht, um dich zu unterrichten, aber er war immer schon einer, der schnell zum nächsten Plan überging, wenn der erste nicht gleich auf Anhieb gelang. Jetzt glaubt er, er habe in Rhuidean etwas Besseres entdeckt. Und er ist fort, um es zu holen, solange du hier stehst. Couladin, der Draghkar, alles sollte deine Aufmerksamkeit binden, während er sich vergewisserte. Alle meine Pläne waren für nichts und wieder nichts, weil du so stur bist! Hast du eine Ahnung, welche Mühe es kosten wird, ihn noch einmal zu gewinnen? Aber es muß gerade er sein! Demandred oder Rahvin oder Sammael würden dich töten und gar nicht daran denken, dich auch nur darin zu unterrichten, wie du eine Hand hebst, außer sie hätten dich so sicher wie ein Schoßhündchen an der Leine!« Rhuidean. Ja. Natürlich. Rhuidean. Wie viele Wochen im Süden? Doch er hatte schon einmal etwas fertiggebracht. Wenn er sich nur daran erinnern könnte... »Und Ihr habt ihn gehen lassen? Nach all Eurem Gerede, Ihr wolltet mir helfen?« »Nicht offen, habe ich gesagt. Was könnte er in Rhuidean finden, das es lohnend für mich erscheinen ließe, mich offen zu bekennen? Es ist noch Zeit genug dafür, wenn du zustimmst, zu mir zu stehen. Denk daran, was ich dir gesagt habe, Lews Therin.« Ihre Stimme nahm einen verführerischen Tonfall an; diese vollen Lippen lächelten, die dunklen Augen versuchten, ihn wie grundlose Seen zu verschlingen. »Zwei große Sa'Angreal. Mit deren Hilfe und gemeinsam könnten wir...« Diesmal hörte sie von allein auf. Er hatte sich daran erinnert.

Mit Hilfe der Macht faltete er die Wirklichkeit und verbog ein kleines Stückchen dessen, was war. Eine Tür öffnete sich vor ihm unter der Kuppel. Anders konnte man es wohl nicht beschreiben. Eine Öffnung in die Dunkelheit, ins Anderswo.

»Wie es scheint, erinnerst du dich an ein paar Sachen.« Sie betrachtete die Tür und dann blickte sie ihn wieder an, aber mit einemmal mißtrauisch. »Warum hast du soviel Angst? Was ist dort in Rhuidean?« »Asmodean«, sagte er grimmig. Einen Moment lang zögerte er. Er konnte nicht aus der regenüberströmten Kuppel hinaussehen. Was geschah dort draußen? Und Lanfear. Wenn er sich nur daran erinnern könnte, wie er Egwene und Elayne abgeschirmt hatte. Wenn ich mich nur dazu zwingen könnte, eine Frau zu töten, nur weil sie mich finster anblickt. Sie ist doch eine der Verlorenen! Es war ihm jetzt genausowenig möglich wie zuvor im Stein.

Dann trat er durch die Tür, ließ sie draußen auf der Felsplatte stehen und schloß die Tür hinter sich. Zweifellos wußte sie, wie sie selbst eine solche Tür herbeirufen konnte, aber das zu tun, würde sie Zeit kosten.

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