Sie sollten jetzt eigentlich schon zurücksein.« Egwene wedelte lebhaft mit dem bemalten Seidenfächer und war froh, daß wenigstens die Nächte etwas kühler waren als die Tage. Die tairenischen Frauen trugen ihre Fächer die ganze Zeit über bei sich, jedenfalls die adligen und reichen, aber soweit sie das beurteilen konnte, halfen sie auch nicht viel und falls überhaupt, dann höchstens, wenn die Sonne untergegangen war. Selbst die Lampen, große, goldene Dinger mit Spiegeln dahinter, die an silbernen Wandhaltern hingen, schienen zu der Hitze beizutragen. »Was kann sie nur aufgehalten haben?« Moiraine hatte ihnen zum erstenmal nach Tagen eine Stunde ihrer Zeit versprochen, und dann war sie bereits nach fünf Minuten ohne jede Erklärung verschwunden. »Hat sie irgend etwas herausgelassen, wozu sie weggeholt wurde, Aviendha? Oder auch, wer sie rufen ließ?« Die Aielfrau saß im Schneidersitz auf dem Fußboden neben der Tür. Die großen, grünen Augen leuchteten aus ihrem braungebrannten Gesicht heraus. Sie zuckte die Achseln. Mit Mantel und Hose und weichen Stiefeln bekleidet, die Schufa um den Hals gewickelt, schien sie völlig unbewaffnet zu sein. »Careen hat Moiraine Sedai ihre Nachricht zugeflüstert. Es wäre nicht recht gewesen, zu lauschen. Es tut mir leid, Aes Sedai.« Mit schlechtem Gewissen streichelte Egwene den Ring mit der Großen Schlange, der goldenen Schlange, die den eigenen Schwanz verschlang, an ihrer rechten Hand. Als Aufgenommene sollte sie ihn eigentlich am Ringfinger ihrer linken Hand tragen, aber sie wollten ja die Hochlords in dem Glauben lassen, daß sich vier ausgebildete Aes Sedai im Stein aufhielten, damit sie nichts Dummes anstellten und auf das achteten, was bei den tairenischen Adligen als gute Manieren galt. Moiraine log natürlich nicht. Sie behauptete nie, daß die drei mehr als nur Aufgenommene seien. Aber sie sagte auch nicht, daß sie Aufgenommene seien, und ließ statt dessen jeden glauben, was er oder sie mochte. Und die hielten eben das für wahr, was sie zu sehen glaubten. Moiraine konnte überhaupt nicht lügen, aber sie strapazierte manchmal die Wahrheit bis zum letzten.
Es war nicht das erste Mal, seit sie die Burg verlassen hatten, daß Egwene und die anderen vorgegeben hatten, bereits vollwertige Schwestern zu sein, aber es wurde ihr ständig unangenehmer, Aviendha so zu täuschen. Sie mochte die Aielfrau und glaubte, sie würden bestimmt Freundinnen werden, sobald sie sich einmal besser kannten, doch das war wohl kaum möglich, solange Aviendha Egwene für eine Aes Sedai hielt. Die Aielfrau befand sich im Moment auf Befehl Moiraines bei ihnen. Erklärt hatte Moiraine nichts. Egwene vermutete, sie wolle ihnen auf diese Art eine Leibwächterin unter den Aiel verschaffen, als hätten sie noch nicht gelernt, sich selbst zu schützen. Trotzdem: Obwohl Aviendha und sie dabei waren, Freundschaft zu schließen, konnte sie ihr nicht die Wahrheit sagen. Man bewahrte ein Geheimnis am besten, wenn man es niemanden wissen ließ, der es nicht unbedingt wissen mußte. Auch etwas, das ihnen Moiraine beigebracht hatte. Manchmal hatte Egwene den Wunsch, die Aes Sedai möge sich einmal vollkommen irren, ganz und gar danebenliegen — nur ein einziges Mal. Natürlich bei keiner lebenswichtigen Sache. Das war Vorbedingung.
»Tanchico«, knurrte Nynaeve. Ihr dunkler, armdicker Zopf hing ihr bis zur Hüfte hinunter. Sie blickte aus einem der engen Fenster, dessen Flügel sie weit geöffnet hatte, in der Hoffnung, ein wenig kühlen Nachtwind einzufangen. Auf dem breiten Erinin tief unter ihnen hüpften die Laternen einiger Fischerboote auf und ab, die nicht wie die anderen flußabwärts gefahren waren, doch Egwene glaubte, daß Nynaeve sie gar nicht bemerkte. »Es bleibt nichts anderes übrig, als nach Tanchico zu reisen, wie es scheint.« Nynaeve zupfte unbewußt an ihrem grünen Kleid herum. Der weite Ausschnitt ließ ihre Schultern unbedeckt. Das gefiel ihr. Sie hätte sich geweigert, dieses Kleid speziell für Lan Moiraines Behüter anzuziehen, hätte Egwene ihr das vorgeschlagen, aber Grün, Blau und Weiß schienen Lans Lieblingsfarben in bezug auf Frauenkleider zu sein, und so war plötzlich jedes Kleid, das nicht grün, blau oder weiß gewesen war, auf geheimnisvolle Weise aus Nynaeves Kleiderschrank verschwunden. »Bleibt nichts anderes übrig.« Es klang nicht gerade erfreut.
Egwene ertappte sich dabei, wie auch sie ihr Kleid ein Stück hochzog. Es war ein seltsames Gefühl, diese Kleider zu tragen, die nur an ihren Schultern hingen. Andererseits glaubte sie nicht, es ertragen zu können, sich bei dieser Hitze mehr zu bedecken. So leicht es auch war, fühlte sich dieses hellrote Leinenkleid nun doch wie Wolle an. Sie wünschte, sie könnte es über sich bringen, ein solch leichtes und durchscheinendes Gewand zu tragen wie Berelain. Natürlich war das nicht für die Öffentlichkeit geeignet, aber es schien ziemlich kühl.
Hör auf, immer nur an dein Wohlergehen zu denken, ging sie streng mit sich selbst ins Gericht. Konzentriere dich lieber auf deine Aufgaben. »Vielleicht«, sagte sie laut. »Ich bin aber noch nicht ganz überzeugt.« In der Mitte des Zimmers stand ein langer, schmaler Tisch, den man lackiert und auf Hochglanz poliert hatte. Am Tischende in Egwenes Nähe stand ein großer Stuhl mit hoher Lehne, elegant geschnitzt und an ein paar Ecken vergoldet, aber für die Verhältnisse in Tear war er fast schon einfach zu nennen. Die anderen Stühle hatten viel niedrigere Lehnen, und die am hinteren Ende waren nicht viel mehr als gepolsterte Bänke. Egwene hatte keine Ahnung, wozu dieser Raum bisher gedient hatte. Sie und die anderen benützten ihn, um die beiden Gefangenen zu verhören, die bei der Eroberung des Steins in ihre Hände gefallen waren.
Sie konnte sich nicht dazu überwinden, in den Kerker hinunter zu gehen, obwohl Rand angeordnet hatte, daß man alle Folterwerkzeuge, mit denen die Wände der Wachräume dekoriert waren, entweder einschmolz oder verbrannte. Weder Nynaeve noch Elayne hatten besondere Lust verspürt, dorthin zurückzukehren. Außerdem bildete dieser hellbeleuchtete Raum mit seinen sauberen, grünen Bodenfliesen und der Wandverkleidung mit den eingeschnitzten drei Halbmonden Tears einen deutlichen Kontrast zu den düsteren, grauen Steinwänden der Kerkerzellen. Die waren nicht nur düster, sondern auch feucht und schmutzig. Dieser Raum hier sollte ein wenig dazu verhelfen, die beiden Frauen in der groben Wollkleidung von Gefangenen weich zu bekommen.
Nur an diesem fadbraunen Kleid überhaupt hätten die meisten Leute erkannt, daß Joiya Byir, die auf der anderen Seite des Tisches stand und ihnen den Rücken zugewandt hatte, eine Gefangene war. Sie hatte zu den Weißen Ajah gehört und nichts von deren kühlen Arroganz verloren, als sich ihre Sympathien den Schwarzen zuwandten. Ihre gesamte Körperhaltung drückte aus, daß sie ganz bewußt und ohne dazu gezwungen zu werden, die Rückwand des Raumes anstarrte. Nur eine Frau, die selbst die Macht lenken konnte, hätte die daumendicken Stränge verfestigter Luft bemerkt, die ihre Arme und Beine fesselten. Ein ebenfalls aus Luft gewebter Käfig hielt ihren Kopf gerade, so daß sie nur nach vorn blicken konnte. Selbst ihre Ohren waren mit Luft verstopft, damit sie nur das hören konnte, was man zu ihr sagte.
Noch einmal überprüfte Egwene die Abschirmung, die sie aus dem Element Geist gewoben hatten, um Joiya von der Wahren Quelle abzublocken. Sie hielt, wie sie fest angenommen hatte. Sie selbst hatte all die Stränge um Joiya gewoben und verknotet, damit sie sich von allein aufrechterhielten, aber sie fühlte sich doch nicht wohl in einem Raum mit einer Hörigen des Dunklen Königs, die ebenfalls die Macht benützen konnte. Trotz der Abschirmung war es ihr unangenehm. Und Joiya war ja nicht nur eine Schattenfreundin, sondern auch noch eine Schwarze Ajah. Mord war noch das geringste ihrer Verbrechen. Sie hätte unter dem Gewicht ihrer gebrochenen Eide, der durch sie verdammten Seelen und zerstörten Leben eigentlich zusammenbrechen müssen.
Joiyas Mitgefangene, ihre Schwarze Schwester, besaß nicht die Kraft der anderen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand Amico Nagoyin am hinteren Ende des Tisches und schien unter Egwenes Blick noch kleiner zu werden. Es war nicht notwendig, sie abzuschirmen. Amico war während ihrer Gefangennahme einer Dämpfung unterzogen worden. Sie war immer noch in der Lage, die Wahre Quelle wahrzunehmen, doch sie würde sie nie wieder berühren, nie wieder lenken. Der Wunsch, die Sehnsucht danach würden bleiben, so unausweichlich wie die Notwendigkeit zu atmen, und sie würde den Verlust fühlen, solange sie lebte, doch Saidar war ihrem Zugriff auf ewig entzogen. Egwene hätte gern so etwas wie Mitleid mit ihr empfunden, konnte sich aber nicht dazu überwinden.
Amico murmelte etwas in Richtung Tischfläche.
»Was?« wollte Nynaeve wissen. »Sprecht gefälligst deutlich!« Amico hob demütig den Kopf auf dem eleganten Schwanenhals. Sie war immer noch eine schöne Frau mit großen, dunklen Augen, aber an ihr war etwas, was Egwene nicht ganz genau definieren konnte. Es war nicht die Angst, die sie ihre Hände in den groben Stoff ihres Gefängniskleides verkrampfen ließ. Irgend etwas anderes.
Amico schluckte schwer und sagte: »Ihr solltet nach Tanchico gehen.« »Das habt Ihr uns schon zwanzigmal erzählt«, sagte Nynaeve grob. »Fünfzigmal. Sagt uns lieber etwas Neues. Namen, die wir noch nicht kennen. Welche von denen, die sich noch in der Weißen Burg befinden, gehört zu den Schwarzen Ajah?« »Ich weiß es nicht. Das müßt Ihr mir glauben.« Amicos Stimme klang müde und resigniert. Gar nicht so, wie sie geklungen hatte, als die Rollen umgekehrt verteilt gewesen waren — sie die Wächterin und die drei jungen Frauen ihre Gefangenen. »Bevor wir die Burg verließen, kannte ich nur Liandrin, Chesmal und Rianna. Keine kannte mehr als höchstens zwei oder drei andere, glaube ich. Außer Liandrin. Ich habe Euch wirklich alles gesagt, was ich weiß.« »Dann wißt Ihr verdammt wenig für eine Frau, die damit rechnete, nach der Befreiung des Dunklen Königs einen Teil der Welt zu regieren«, sagte Egwene trocken. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, wedelte sie heftig mit ihrem Fächer. Es verblüffte sie selbst, wie leicht ihr solche Worte mittlerweile über die Lippen kamen. Ihr Magen verkrampfte sich bei diesem Gedanken immer noch, und eisige Finger glitten ihr Rückgrat hinunter, doch sie verspürte nicht mehr den Wunsch, zu schreien oder weinend hinauszurennen. Man konnte sich wohl an nahezu alles gewöhnen.
»Ich habe einmal Liandrin belauscht, als sie mit Temaile sprach«, sagte Amico müde. So begann sie erneut, die Geschichte zu erzählen, die sie schon viele Male zum besten gegeben hatte. In den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft hatte sie versucht, ihre Geschichte auszuschmücken, aber je mehr sie hinzugefügt hatte, desto stärker hatte sie sich in Lügen verstrickt. Nun erzählte sie jedesmal fast genau das gleiche, Wort für Wort. »Wenn Ihr Liandrins Gesicht gesehen hättet, als sie mich erblickte... Sie hätte mich auf der Stelle umgebracht, wenn sie geahnt hätte, daß ich etwas gehört hatte. Und Temaile fügt anderen gern Schmerzen zu. Es macht ihr Spaß. Ich hatte auch nur wenig gehört, bevor sie mich sahen. Liandrin meinte, da gebe es etwas in Tanchico, was gefährlich sei für... für ihn.« Sie meinte Rand damit. Seinen Namen konnte sie nicht über die Lippen bringen und jede Erwähnung des ›Wiedergeborenen Drachen‹ ließ sie in Tränen ausbrechen. »Liandrin sagte auch, es sei genauso gefährlich für jeden, der es benützen wollte. Beinahe so gefährlich jedenfalls wie für... ihn. Deshalb war sie noch nicht selbst hingereist. Und sie sagte, seine Fähigkeit, die Macht zu gebrauchen, würde ihn nicht schützen. Sie sagte: ›Wenn wir es finden, wird ihn seine schmutzige Fähigkeit selbst fesseln und uns die Arbeit abnehmen.‹« Schweiß rann ihr über das Gesicht, doch sie zitterte fast unkontrolliert dabei. Kein Wort hatte sich geändert.
Egwene öffnete den Mund, doch Nynaeve kam ihr zuvor: »Ich habe genug davon. Wir sollten hören, ob uns die andere etwas Neues zu sagen hat.« Egwene sah sie böse an, und Nynaeve erwiderte den Blick. Keine von beiden gab nach. Manchmal hält sie sich immer noch für unsere Seherin, dachte Egwene grimmig, und ich bin immer noch das Dorfmädchen, dem sie etwas über Kräuter beibringen will. Sie sollte langsam merken, daß sich die Lage geändert hat. Nynaeve war stark, wenn es um die Verwendung der Macht ging, stärker als Egwene, doch nur dann, wenn sie es tatsächlich fertigbrachte, mit der Macht zu arbeiten. Doch wenn sie nicht gerade wütend war, ging bei Nynaeve gar nichts.
Elayne wirkte meistens als das ausgleichende Element, wenn es zu Auseinandersetzungen kam, was sowieso viel zu häufig der Fall war. Bis Egwene gewöhnlich auf den Gedanken kam, Kompromisse einzugehen und die Lage zu entspannen, war ihr Temperament meist schon mit ihr durchgegangen, und dann wollte sie nicht mehr nachgeben. So mußte es Nynaeve auch empfinden, soviel war ihr klar. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß Nynaeve einmal auch nur den Ansatz eines Nachgebens gezeigt hatte. Warum also sollte sie nachgeben? Diesmal war Elayne nicht dabei, denn Moiraine hatte die Tochter-Erbin mit einer kurzen Geste und einem leisen Wort gebeten, der Tochter des Speers zu folgen, die die Aes Sedai abholen wollte. Ohne ihre Anwesenheit stieg die Anspannung deutlich und jede der beiden Aufgenommenen wartete nur darauf, daß die andere ein Zeichen der Schwäche zeigte. Aviendha wagte kaum zu atmen. Sie hielt sich strikt aus den Auseinandersetzungen heraus; zweifellos schien ihr das schlicht das Klügste.
Seltsamerweise war es Amico, die diesmal die Auseinandersetzung beendete, obwohl sie sicher damit offensichtlich nur ihre Bereitschaft zur Mitarbeit demonstrieren wollte. Sie wandte sich zur Wand um und wartete geduldig darauf, wieder gebunden zu werden.
Egwene kam die Widersinnigkeit der Situation urplötzlich zu Bewußtsein. Sie war die einzige Frau im Raum, die im Moment die Macht gebrauchen konnte — es sei denn, Nynaeve wurde wütend oder Joiyas Abschirmung versagte, weshalb sie das Gewebe aus Geist noch einmal ganz unbewußt überprüfte — und da ließ sie sich auf ein stummes Kräftemessen ein, während Amico darauf wartete, daß man sie fesselte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie schallend gelacht, doch nun öffnete sie sich Saidar, der unsichtbaren Macht, der immer spürbaren Wärme, die sich gerade außerhalb ihrer bewußten Wahrnehmung breit machte. Die Eine Macht erfüllte sie, ihre Lebenskraft verdoppelte sich in einem warmen Glücksgefühl, und sie webte die Stränge um Amico.
Nynaeve knurrte lediglich. Sie war wohl kaum wütend genug, um zu spüren, was Egwene tat, aber sie sah, wie sich Amico versteifte, als sie von den Strängen aus Luft berührt wurde, wie sie in sich zusammensackte, halb durch die Stränge aufrecht gehalten, als wolle sie zeigen, daß sie keinen Widerstand leistete.
Aviendha schauderte. Das passierte ihr immer, wenn sie wußte, daß in ihrer Umgebung die Macht benützt wurde.
Egwene webte Abschirmungen für Amicos Ohren, damit die beiden beim Verhör nicht hören konnten, was die jeweils andere sagte, und wandte sich Joiya zu. Sie wechselte den Fächer von einer Hand in die andere, um sie sich am Kleid trockenwischen zu können, und verzog dabei angewidert das Gesicht. Daß ihre Handflächen schweißnaß waren, lag nicht an den Temperaturen.
»Ihr Gesicht«, sagte Aviendha plötzlich. Das kam überraschend, denn sie sagte sonst nichts, außer sie wurde von Moiraine oder einer der anderen dazu aufgefordert. »Amicos Gesicht. Sie sieht nicht so aus wie vorher, als wäre sie vom Alter unberührt. Jedenfalls nicht in dem gleichen Maße wie vorher. Hat das damit zu tun, daß sie... einer Dämpfung unterzogen wurde?« endete sie atemlos. Sie hatte ihnen in dieser gemeinsamen Zeit einige Angewohnheiten abgeschaut. Keine Frau aus der Weißen Burg konnte ohne Schaudern von einer Dämpfung sprechen.
Egwene ging ein Stück am Tisch entlang, so daß sie Amicos Gesicht sehen konnte, ohne von Joiya beobachtet zu werden. Joiyas Blicke verwandelten ihren Magen immer wieder aufs neue in einen Eisklumpen.
Aviendha hatte recht: Genau das war der Unterschied, den sie selbst bemerkt hatte, ohne ihn freilich erklären zu können. Amico sah jung aus, vielleicht jünger, als sie tatsächlich war, aber es war nicht mehr ganz die glatte Alterslosigkeit der Aes Sedai, die schon jahrelang mit der Einen Macht gearbeitet hatte. »Du hast scharfe Augen, Aviendha, aber ich weiß nicht, ob es etwas mit der Dämpfung zu tun hat. Obgleich — es muß eigentlich schon daran liegen. Ich wüßte nicht, was das sonst ausgelöst haben könnte.« Ihr war klar, daß sich ihre Worte nicht nach denen einer Aes Sedai anhörten, die normalerweise sprach, als wüßte sie alles. Wenn eine Aes Sedai einmal zugab, daß sie etwas nicht wußte, dann verlieh sie ihren Worten ein Gewicht, als stecke ein enormes Wissen dahinter. Während sie sich das Gehirn zermarterte, weil ihr nichts einfiel, das beeindruckend genug geklungen hätte, kam ihr Nynaeve zur Hilfe: »Nur wenige Aes Sedai sind jemals ausgebrannt, und noch viel weniger hat man einer Dämpfung unterzogen.« ›Ausgebrannt‹ nannte man es, wenn es durch einen Unfall passiert war, eine ›Dämpfung‹, wenn es nach ordentlicher Gerichtsverhandlung als Strafe durchgeführt wurde. Egwene sah eigentlich keinen Sinn in dieser Unterscheidung. Es war für sie, als gebe es zwei verschiedene Ausdrücke für das Treppe-Herunterfallen, je nachdem, ob man stolperte oder gestoßen wurde. Die meisten Aes Sedai waren wohl der gleichen Meinung, außer wenn sie Novizinnen oder Aufgenommene unterrichteten. Nun, sie dachte sowieso nicht gern daran, besonders jetzt, wo es Rand gab und die Burg — hoffentlich — nicht wagte, ihn einer Dämpfung zu unterziehen.
Nynaeve hatte wieder in ihrem belehrenden Tonfall gesprochen, zweifellos, damit sie sich wie eine ausgebildete Aes Sedai anhörte. Sie ahmte Sheriam nach, ging es Egwene plötzlich durch den Sinn. Sheriam, wie sie vor der Klasse stand, die Hände in Hüfthöhe gefaltet, und leicht lächelte, als sei alles so schrecklich einfach, wenn man sich nur Mühe gab.
»Die Dämpfung ist kein Thema, dem sich irgend jemand gerne widmen würde, mußt du wissen«, fuhr Nynaeve fort. »Man hält sie im allgemeinen für endgültig. Was einer Frau die Fähigkeit verleiht, die Macht zu benützen, kann nicht ersetzt werden, sobald es einmal entfernt wurde, genausowenig wie man eine abgeschlagene Hand wieder ersetzen kann.« Zumindest war bisher niemand in der Lage gewesen, eine Dämpfung wieder rückgängig zu machen. Es hatte schon Versuche gegeben. Was Nynaeve sagte, entsprach also im allgemeinen der Wahrheit, doch einige der Braunen Schwestern würden alles studieren, wenn man ihnen die Möglichkeit gab, und einige Gelbe Schwestern, die besten Heilerinnen, würden nur zu gern alles heilen können. Aber es gab bisher eben noch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß man eine Frau heilen konnte, die einer Dämpfung unterzogen worden war. »Abgesehen von dieser Tatsache weiß man noch sehr wenig. Frauen, die man einer Dämpfung unterzogen hat, leben selten länger als noch ein paar Jahre. Sie scheinen allen Lebensmut zu verlieren und geben auf. Wie ich sagte: Es ist ein unangenehmes Thema.« Aviendha rutschte unruhig hin und her. »Ich dachte eben nur, es könne daher rühren«, sagte sie mit leiser Stimme.
Egwene hielt das für sehr wohl möglich. Sie beschloß, Moiraine danach zu fragen — falls sie die Aes Sedai jemals antraf, wenn Aviendha nicht zugegen war. Ihr schien, daß ihr Täuschungsmanöver langsam ebenso hinderlich wurde, wie nützlich.
»Sehen wir zu, ob Joiya noch immer die gleiche Geschichte erzählt wie vorher.« Allerdings mußte sie sich selbst erst wieder unter Kontrolle bringen, bevor sie daran gehen konnte, die Stränge von Luft um die Schwarze Schwester herum zu lockern.
Joiya hätte eigentlich ganz steif sein müssen von dem langen Stillstehen, aber sie drehte sich ungerührt zu ihnen um. Der Schweiß auf ihrer Stirn tat ihrer Würde und Ausstrahlung keinen Abbruch, und nicht einmal das fade, grobe Kleid hätte den Eindruck geschmälert, daß diese Frau sich aus freiem Willen und nicht als Gefangene hier befand. Sie war eine recht gut aussehende Frau, die trotz der Alterslosigkeit ihres glatten Gesichts etwas Mütterliches an sich hatte, etwas Beruhigendes. Doch die dunklen Augen ließen die eines Habichts noch freundlich erscheinen. Sie lächelte sie an, aber das Lächeln erreichte die Augen nicht. »Das Licht leuchte Euch. Möge Euch die Hand des Schöpfers beschützen.« »Das will ich nicht noch mal von Euch hören!« Nynaeves Stimme klang ruhig und leise, doch sie warf mit einem Kopfrucken ihren Zopf nach vorn und packte das Ende mit der Faust. Das tat sie nur, wenn sie entweder unsicher oder zornig war, und Egwene glaubte nicht an Unsicherheit in diesem Fall. Joiya schien auf Nynaeve nicht so beängstigend zu wirken wie auf Egwene.
»Ich habe meine Sünden bereut«, sagte Joiya verbindlich. »Der Drache wurde wiedergeboren und hält Callandor in Händen. Die Prophezeiung wurde erfüllt. Der Dunkle König muß untergehen. Das sehe ich jetzt ein. Meine Reue ist echt. Niemand kann so lange im Schatten wandeln, daß er nicht wieder zum Licht zurückkehren könnte.« Nynaeves Gesicht war bei jedem Wort dunkler angelaufen. Egwene war sicher, daß sie nun wütend genug war, um die Macht benützen zu können, aber falls sie das tat, würde sie möglicherweise lediglich Joiya erwürgen. Egwene glaubte natürlich genausowenig wie Nynaeve an Joiyas Reue. Aber die Worte von dieser Frau konnten durchaus auch der Wahrheit entsprechen. Man konnte ihr durchaus zutrauen, daß sie kaltblütig umschwenkte auf die Seite, von der sie glaubte, sie werde am Ende gewinnen. Oder sie wollte sich Zeit erkaufen und lügen in der Hoffnung, doch noch gerettet zu werden.
Lügen sollten einer Aes Sedai eigentlich nicht möglich sein, selbst einer, die alles Anrecht auf diesen Titel verwirkt hatte. Jedenfalls offene Lügen. Dafür hätte der erste der Drei Eide sorgen sollen, den man mit der Eidesrute in der Hand schwören mußte. Aber welche Eide man auch als Schwarze Ajah auf den Dunklen König leisten mußte, sie schienen jedenfalls alle Bindungen an die Drei zertrennt zu haben.
Nun gut. Die Amyrlin hatte sie ausgesandt, um die Schwarzen Ajah zu jagen, Liandrin und die zwölf anderen, die gemordet hatten und dann aus der Burg geflohen waren. Und alles, woran sie sich nun halten konnten, waren die Aussagen dieser beiden Gefangenen.
»Erzählt uns noch mal Eure Geschichte«, befahl Egwene. »Benützt diesmal aber andere Worte. Ich habe es satt, auswendig gelernte Geschichten anzuhören.« Falls sie gelogen hatte, war es möglich, daß sie ins Stolpern kam, wenn sie die Geschichte anders erzählen mußte. »Wir werden Euch genau zuhören.« Das letzte galt Nynaeve, die daraufhin vernehmlich schniefte, aber schließlich kurz nickte.
Joiya zuckte die Achseln. »Wie Ihr wünscht. Laßt mich sehen. Andere Worte. Der falsche Drache, Mazrim Taim, der in Saldaea gefangengenommen wurde, kann die Macht mit unglaublicher Stärke gebrauchen. Vielleicht ist er sogar genauso stark wie Rand al'Thor, oder jedenfalls nicht viel weniger, wenn man den Berichten Glauben schenken kann. Liandrin will ihn befreien, bevor man ihn nach Tar Valon bringen und einer Dämpfung unterziehen kann. Dann wird er zum Wiedergeborenen Drachen ausgerufen — unter dem Namen Rand al'Thor. Er wird eine Welle der Zerstörung einleiten, wie sie die Welt seit dem Hundertjährigen Krieg nicht mehr erlebt hat.« »Das ist unmöglich«, fiel ihr Nynaeve ins Wort. »Das Muster nimmt keinen falschen Drachen an, schon gar nicht jetzt, wo Rand sich erklärt hat.« Egwene seufzte. Sie hatte das nun schon einige Male erlebt, und jedesmal stritt Nynaeve deswegen herum. Dabei war sie nicht sicher, ob Nynaeve wirklich daran glaube, daß Rand der Wiedergeborene Drache sei, gleich, was sie sagte, gleich, was die Prophezeiung in bezug auf Callandor und den Fall des Steins vorhergesagt hatte. Nynaeve war gerade alt genug, um auf Rand aufgepaßt zu haben, als er noch ein Kind war, genauso wie bei Egwene. Er war ein Emondsfelder, und immer noch sah Nynaeve es als ihre oberste Pflicht an, die Menschen von Emondsfeld zu schützen.
»Hat Euch Moiraine das weisgemacht?« fragte Joiya mit einem Unterton der Verachtung. »Moiraine hat seit ihrer Erhebung zur Aes Sedai nur wenig Zeit in der Burg oder überhaupt mit ihren Schwestern verbracht. Ich schätze, sie weiß einiges über das Dorfleben, und vielleicht versteht sie sogar etwas von Politik, aber sie behauptet, Dinge ganz sicher zu wissen, die man nur durch ständiges Studium und durch Diskussionen mit anderen lernen kann. Trotzdem hat sie vielleicht recht. Es kann schon sein, daß Mazrim Taim nicht dazu kommen wird, sich zu erklären. Aber wenn andere das für ihn tun, wo liegt dann der Unterschied?« Egwene wünschte, Moiraine käme endlich zurück. Die Frau würde nicht so selbstbewußt sprechen, wäre Moiraine zugegen. Joiya wußte sehr gut, daß sie und Nynaeve nur Aufgenommene waren. Da lag ein gewaltiger Unterschied.
»Macht weiter«, sagte Egwene beinahe im gleichen groben Tonfall wie Nynaeve. »Und denkt daran: Drückt Euch anders aus.« »Selbstverständlich«, antwortete Joiya, als nehme sie eine großzügige Einladung an, doch ihre Augen glitzerten wie Scherben schwarzen Glases. »Ihr könnt das Ergebnis selbst vorhersagen. Rand al'Thor wird man für die Untaten von... Rand al'Thor verantwortlich machen. Selbst der Beweis, daß es sich nicht um denselben Mann handelt, wird dabei untergehen. Wer weiß denn schließlich, welche Intrigen ein Wiedergeborener Drache spinnen kann? Vielleicht kann er gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten erscheinen? Selbst diejenigen, die sonst bedenkenlos jedem falschen Drachen folgen, würden zögern, wenn sie von den Untaten erfahren, die in seinem Namen und von ihm vollbracht werden. Und diejenigen, die vor so etwas nicht zurückschrecken, denen Blutvergießen Spaß macht, werden sich um diesen Rand al'Thor scharen, der anscheinend von ihrer Art ist. Die Länder werden sich vereinigen wie im Aielkrieg... « Sie lächelte Aviendha entschuldigend an, doch ihre Augen straften das Lächeln Lügen. »... und zweifellos diesmal noch um einiges schneller. Selbst der Wiedergeborene Drache kann dem nicht auf Dauer widerstehen. Er wird vernichtet, noch bevor die Letzte Schlacht überhaupt beginnt, und zwar von denen, die er eigentlich retten sollte. Der Dunkle König wird aus seinem Gefängnis entkommen. Der Tag von Tarmon Gai'don wird herannahen und der Schatten die Erde bedecken und das Muster für alle kommenden Zeiten umgestalten. Das ist Liandrins Plan.« In ihrem Tonfall lag keine Befriedigung, aber auch keine Furcht.
Es war eine plausible Geschichte, glaubwürdiger als Amicos Erzählung von ein paar zufällig aufgeschnappten Sätzen, aber Egwene glaubte Amico und nicht Joiya. Vielleicht, weil sie ihr mehr glauben wollte. Eine ungewisse Bedrohung in Tanchico war leichter hinzunehmen als ein solch ausgereifter Plan, die ganze Welt gegen Rand zu mobilisieren. Nein, dachte sie. Joiya lügt. Da bin ich sicher. Aber sie konnten es sich nicht leisten, eine der beiden Geschichten einfach zu ignorieren. Und doch konnten sie nicht beides gleichzeitig zu verhindern versuchen und dabei noch auf Erfolg hoffen.
Die Tür schlug auf, und Moiraine stürmte herein mit Elayne im Kielwasser. Die Tochter-Erbin blickte finster zu Boden, in düstere Gedankengänge versunken, während Moiraine... Ausnahmsweise einmal war alle Würde aus dem Gesicht der Aes Sedai gewichen und hatte blanker Wut Platz gemacht.