Verin nahm selbst Trabers Zügel und führte ihn zur Weinquellenschenke. Die Menge wich zurück, um sie durchzulassen, und schloß sich ihnen dann an. Dannil und Ban und die anderen gingen oder ritten mit, ihre Verwandten um sich herum versammelt. So erstaunt sie auch über die Veränderungen in Emondsfeld waren, zeigten die Burschen trotzdem Stolz, indem sie mit hocherhobenen Köpfen humpelnd einherschritten oder aufrecht im Sattel saßen. Sie hatten den Trollocs getrotzt und waren heimgekehrt. Doch Frauen streichelten sanft ihre Söhne und Neffen und Enkel und mußten häufig die Tränen zurückhalten. Ihr unterdrücktes Stöhnen war durch den Lärm der Menge hindurch hörbar. Männer mit besorgten Blicken bemühten sich, die Angst hinter stolzem Lächeln zu verbergen, klopften Perrins Burschen auf die Schultern und machten Bemerkungen über deren spärlich sprießende Bärte. Doch gelegentlich wurde aus ihrer Umarmung schließlich ein mühsames Stützen der Verwundeten. Freundinnen eilten herbei, küßten ihre Geliebten und beklagten laut deren Wunden. Glück und Leid hielten sich die Waage. Kleine Brüder und Schwestern schwankten unsicher zwischen Weinen und Umarmungen. Sie klammerten sich an Brüder, die jedermann für Helden zu halten schien, und machten ganz große Augen dabei.
Aber da waren auch noch andere Stimmen, die Perrin am liebsten nicht gehört hätte.
»Wo ist Kenley?« Frau Ahan war eine gutaussehende Frau mit weißen Strähnen in ihrem fast schwarzen Zopf, aber ihr Gesicht war von Angst erfüllt, als sie die Gesichter anblickte und bemerkte, wie die Blicke vor ihren zurückzuckten. »Wo ist mein Kenley?« »Bili!« rief der alte Hu al'Dai mit schwankender Stimme. »Hat jemand Bili al'Dai gesehen?« »... Hu...!« »... Jared...!« »... Tim...!« »... Colly...!« Vor der Schenke fiel Perrin beinahe aus dem Sattel, weil er es so eilig hatte, diesen Namen zu entkommen. Er achtete nicht einmal mehr darauf, welche Hände ihn abfingen. »Bringt mich hinein!« krächzte er. »Hinein!« »... Teven...!« »... Haral...!« »... Had... « Dael al'Tarons Mutter rief in die Menge, ob irgend jemand ihr sagen könne, wo ihr Sohn sei. Die Tür sperrte das herzzerreißende Klagen aus.
Er befindet sich im Kochtopf der Trollocs, dachte Perrin bitter, während man ihn auf einen Stuhl im Schankraum setzte. Im Bauch eines Trollocs, Frau alTaron. Ich habe ihn dorthin befördert. Faile nahm seinen Kopf in ihre Hände und blickte ihm besorgt ins Gesicht. Wir müssen die Lebenden versorgen, dachte er. Ich werde die Toten später beweinen. Später. »Mir geht es gut«, sagte er zu Faile. »Lediglich vom Absteigen ist mir ein wenig schlecht geworden. Ich war noch nie ein guter Reiter.« Sie schien ihm nicht zu glauben.
»Könnt Ihr denn nichts tun?« fuhr sie Verin an.
Die Aes Sedai schüttelte aufreizend ruhig den Kopf. »Besser nicht, Kind. Es ist schade, daß keine von uns eine Gelbe ist, aber Alanna ist auf jeden Fall eine viel bessere Heilerin als ich. Meine Talente liegen auf anderen Gebieten. Ihvon holt sie. Habt noch ein wenig Geduld, Kind.« Man hatte den Schankraum in eine Art von Zeughaus verwandelt. Außer direkt vor dem Kamin waren überall große Mengen an Waffen aufgestapelt: Speere jeglicher Art und dazwischen einzelne Hellebarden und Spieße und andere Stöcke mit oben aufgesetzten, eigenartig geformten Klingen. Viele dieser Waffen waren zerbeult und verfärbt, wo man den Rost abgeschliffen hatte. Noch überraschender war der Inhalt eines offenen Fasses, das am Fuß der Treppe stand: Schwerter, eine ganze Menge davon, die man wild durcheinander hineingesteckt hatte. Nur wenige steckten in Scheiden, und keine zwei von ihnen glichen sich. Man mußte wohl jeden Speicher in fünf Meilen Umkreis ausgeräumt haben, um diese staubbedeckten Relikte von früheren Generationen zu sammeln. Perrin hätte nie vermutet, daß es im ganzen Gebiet der Zwei Flüsse überhaupt mehr als fünf Schwerter gab. Jedenfalls bevor die Weißmäntel und die Trollocs gekommen waren.
Gaul begab sich in die Nähe der Treppe, die hinauf zu den Gästezimmern der Schenke führte, denn von dort aus konnte er alles überblicken und sowohl Perrin wie auch Verin im Auge behalten, was er auch sehr aufmerksam tat. Auf der anderen Seite des Raums postierten sich die beiden Töchter des Speers. Sie beobachteten Faile und alle anderen, wobei sie die Speere in die Armbeugen gestützt hielten. Ihre Körperhaltung schien gleichzeitig entspannt und doch sprungbereit. Die drei jungen Burschen, die Perrin hereingetragen hatten, traten an der Tür verlegen von einem Fuß auf den anderen und blickten sowohl ihn wie auch die Aes Sedai und die Aiel mit großen Augen an. Das war alles.
»Die anderen«, sagte Perrin, »brauchen... « »Man wird sich um sie kümmern«, unterbrach ihn Verin in verbindlichem Ton. Sie setzte sich an einen anderen Tisch. »Sie werden zu ihren Familien gehen wollen. Es ist ja auch viel besser, wenn die Familie um einen ist.« Das gab Perrin einen gewaltigen Stich. Die einsamen Gräber unter den Apfelbäumen kamen ihm in den Sinn. Doch diese Bilder verdrängte er. Kümmere dich um die Lebenden, ermahnte er sich selbst heftig. Die Aes Sedai holte Tinte und Feder heraus und begann, in ihrer sauberen Handschrift Notizen in ein kleines Büchlein einzutragen. Er fragte sich, ob es ihr vollkommen gleichgültig sei, wie viele Männer von den Zwei Flüssen starben, solange nur er überlebte, um für die Pläne der Weißen Burg in Bezug auf Rand benützt zu werden.
Faile drückte seine Hand, aber sie sagte zu der Aes Sedai gewandt: »Sollten wir ihn nicht hochbringen und ins Bett legen?« »Noch nicht«, sagte Perrin gereizt. Verin blickte auf und öffnete den Mund, doch er wiederholte schnell mit fester Stimme: »Noch nicht.« Die Aes Sedai zuckte die Achseln und kehrte zu ihren Notizen zurück. »Weiß vielleicht jemand, wo Loial ist?« »Der Ogier?« fragte einer der drei Burschen an der Tür. Dav Ayellin war stämmiger gebaut als Mat, aber der gleiche Schalk blitzte aus seinen Augen. Auch seine Kleidung wirkte so zerknittert und sein Haar so ungekämmt wie bei Mat. Früher hatte Dav die wenigen Streiche gespielt, die Mat überhaupt noch ausgelassen hatte. Allerdings war gewöhnlich Mat der Anführer gewesen. »Er ist draußen bei den Männern, die am Westwald ausforsten. Jedesmal, wenn wir einen Baum fällen, könnte man denken, er sei sein Bruder gewesen, aber dann wieder fällt er gleich drei mit dieser riesigen Axt, die ihm Meister Luhhan geschmiedet hat, wo andere nur einen schaffen. Falls du ihn sprechen willst: Ich habe vorhin gesehen, daß Jaim Thane hinausgerannt ist, um ihnen zu erzählen, daß du gekommen bist. Ich wette, sie werden alle herkommen, um dich zu sehen.« Er blickte den abgebrochenen Pfeil an, verzog das Gesicht und rieb sich in Sympathie über die eigene Rippenpartie. »Tut es sehr weh?« »Es reicht«, sagte Perrin kurz angebunden. Kommen und ihn anglotzen. Was bin ich denn, ein Gaukler? »Wie steht es mit Luc? Ich will ihn nicht sehen, aber ist er hier?« »Ich fürchte, er ist nicht hier.« Der zweite der jungen Männer, Elam Dowtry, rieb sich über die lange Nase. Das Schwert an seinem Gürtel paßte überhaupt nicht zu seinem groben Wollwams und der Schürze. Den Griff des Schwerts hatte er mit ungegerbtem Leder neu umwickelt, aber die Lederscheide war alt und zernarbt und blätterte langsam ab. »Lord Luc ist weg, um das Horn von Valere zu suchen, glaube ich. Oder vielleicht auch Trollocs.« Dav und Elam waren Perrins Freunde, oder zumindest waren sie es gewesen, seine Kumpane bei der Jagd und beim Fischen. Beide waren auch etwa im gleichen Alter, doch ihr fasziniertes Grinsen ließ sie nun jünger erscheinen. Sowohl Mat als auch Rand hätten sich mittlerweile wohl für gut fünf Jahre älter ausgeben können. Vielleicht traf das auch für ihn zu.
»Ich hoffe, er kommt bald zurück«, fuhr Elam fort. »Er hat mir gezeigt, wie man mit dem Schwert umgeht. Wußtest du, daß er ein Jäger des Horns ist? Und er wäre König, wenn er seine Rechte beanspruchen könnte. König von Andor, wie es heißt.« »Andor hat nur Königinnen«, murmelte Perrin geistesabwesend, wobei er Failes Blick suchte, »und niemals Könige.« »Also ist er nicht hier«, sagte sie. Gaul verlagerte sein Gewicht ein wenig. Er wirkte, als wolle er sich sofort auf die Suche nach Luc machen. Seine Augen waren wie blaues Eis. Es hätte Perrin nicht überrascht, hätten sich Bain und Chiad auf der Stelle verschleiert.
»Nein«, sagte Verin, ganz in ihre Notizen versunken. »Nicht, daß er nicht manchmal eine Hilfe gewesen wäre, aber er hat so eine Art, Schwierigkeiten heraufzubeschwören, kaum daß er da ist. Gestern zum Beispiel hat er, bevor irgend jemand wußte, was er vorhatte, eine Delegation hinausgeführt zu einer Patrouille der Weißmäntel und ihnen mitgeteilt, daß Emondsfeld für sie geschlossen sei. Offensichtlich hat er ihnen auch erklärt, sie dürften nicht näher herankommen als bis auf zehn Meilen Entfernung. Ich halte nichts von den Weißmänteln, aber ich glaube nicht, daß sie erfreut waren. Es ist nicht gut, sie mehr als notwendig gegen uns aufzubringen.« Sie runzelte die Stirn über ihren letzten Notizen, rieb sich die Nase und schien nicht einmal zu bemerken, daß sie einen Tintenschmierer darauf hinterließ.
Perrin war es gleich, was die Weißmäntel davon hielten. »Gestern«, hauchte er. Wenn Luc gestern ins Dorf zurückgekommen war, konnte er nichts mit den Trollocs zu tun gehabt haben, die sich so plötzlich an einem unerwarteten Ort befunden hatten. Je mehr Perrin darüber nachdachte, wie dieser Hinterhalt zustande gekommen war, desto sicherer war er, daß die Trollocs sie erwartet hatten. Und desto lieber hätte er Luc die Schuld daran gegeben. »Der Wunsch macht aus einem Stein noch keinen Käse«, murmelte er. »Aber er riecht nach Käse, wenn ich mich nicht täusche.« Dav und die beiden anderen blickten einander befremdet an. Perrin glaubte, daß sie einfach aus seinen Worten nicht schlau wurden.
»Es waren vor allem welche von den Coplins«, sagte der dritte Bursche mit überraschend tiefer Stimme. »Darl und Hari und Dag und Ewal. Und Wit Congar. Daise hat mit ihm deshalb ganz schön Krach gemacht.« »Ich hatte gehört, sie hätten die Weißmäntel so gern?« Perrin kam der Bursche mit der Baßstimme bekannt vor. Er war zwei oder drei Jahre jünger als Elam und Dav, aber ein paar Fingerbreit größer, hatte ein hageres Gesicht, aber breite Schultern.
»Das schon.« Der Bursche lachte. »Du kennst sie ja. Sie neigen grundsätzlich zu allem, was den anderen die größtmöglichen Schwierigkeiten bereitet. Seit Lord Luc mit ihnen geredet hat, sind sie alle dafür, nach Wachhügel zu marschieren und den Weißmänteln zu sagen, sie sollten sich von den Zwei Flüssen fortscheren. Zumindest sind sie dafür, daß jemand anders dorthin marschiert. Ich denke, sie wollen sich im Moment der Mehrheit wieder anschließen.« Wenn dieses Gesicht runder gewesen wäre und sich einen Fuß näher am Boden befände... »Ewin Finngar!« rief Perrin mit einemmal. Das konnte fast nicht sein; Ewin war ein stämmiger kleiner Nichtsnutz, der sich immer dort hineindrängte, wo die älteren Jungen sich trafen. Dieser Junge dort würde genauso groß oder noch größer als er sein, wenn er mit Wachsen aufhörte. »Bist du das tatsächlich?« Ewin nickte und grinste breit. »Wir haben soviel von dir gehört, Perrin!« sagte er mit dieser verblüffenden Baßstimme. »Wie du gegen Trollocs gekämpft und alle möglichen Abenteuer erlebt hast draußen in der weiten Welt. So was erzählt man sich halt. Ich darf dich doch immer noch Perrin nennen, oder?« »Licht, ja, natürlich!« fauchte Perrin. Er hatte wirklich die Nase voll von diesem Goldauge-Getue.
»Ich wünschte, ich wäre letztes Jahr mit dir gekommen.« Dav rieb sich im Eifer die Hände. »Mit Aes Sedai und Behütern und einem Ogier heimkehren!« Es klangt als zähle er Trophäen auf. »Alles, was ich tue, ist Kühe hüten und Kühe melken und dann wieder Kühe hüten und Kühe melken. Dazwischen darf ich mit dem Rechen arbeiten und Holz hacken, damit ich Abwechslung habe. Du hast dagegen Glück gehabt.« »Wie war es denn?« fragte Elam atemlos. »Alanna Sedai hat gesagt, du wärst bis oben an die Große Fäule gekommen, und ich habe außerdem gehört, du seist schon in Caemlyn und Tear gewesen. Wie ist das Leben in einer Stadt? Stimmt es, daß sie zehnmal so groß wie Emondsfeld sind? Hast du ein richtiges Schloß gesehen? Gibt es Schattenfreunde in den Städten? Ist die Fäule wirklich voll von Trollocs und Blassen und Behütern?« »Hast du diese Narbe von einem Trolloc?« Trotz dieser mächtigen Stimme wirkte Ewin doch noch wie der aufgeregte kleine Frechdachs von einst. »Ich möchte auch gern eine Narbe haben. Hast du schon eine Königin gesehen? Oder einen König? Ich glaube, ich würde lieber eine Königin kennenlernen, aber ein König wäre auch toll. Wie ist es in der Weißen Burg? Ist sie so groß wie ein Palast?« Faile lächelte amüsiert, aber Perrin war verdutzt über diesen Frontalangriff. Hatten sie denn die Trollocs in jener Winternacht schon ganz vergessen und die draußen auf dem Land, die jetzt ihr Unwesen trieben? Elam hielt seinen Schwertgriff gepackt, als wolle er im nächsten Moment zur Fäule aufbrechen, und Dav stand beinahe auf Zehenspitzen. Seine Augen glitzerten richtig. Ewin wirkte, als wolle er Perrin am Kragen packen. Abenteuer? Sie waren rechte Idioten. Und doch standen ihnen schwere Zeiten bevor, schwerere, als die Zwei Flüsse jemals erlebt hatten, wie Perrin befürchtete. Es würde nicht schaden, wenn es noch ein wenig dauerte, bevor sie die brutale Wahrheit kennenlernten.
Seine Seite schmerzte, doch er bemühte sich, die Fragen zu beantworten. Sie schienen enttäuscht davon, daß er die Weiße Burg nicht gesehen hatte und auch weder einen König noch eine Königin. Er glaubte wohl, Berelain sei ja auch eine Art von Königin, aber da Faile zugegen war, wollte er sie lieber nicht erwähnen. Er scheute auch vor einigen anderen Dingen zurück: Falme, das Auge der Welt, die Verlorenen und Callandor. Das waren gefährliche Themen, die letzten Endes direkt zum Wiedergeborenen Drachen hinführten. Aber ein wenig über Caemlyn erzählen konnte er gefahrlos, und dann erzählte er weiter von Tear und den Grenzlanden und der Fäule. Es war eigenartig, was sie so einfach hinnahmen und was nicht. So schnappten sie fasziniert alles über die vom Verderben gezeichnete Landschaft der Fäule auf und wie sie zu verrotten schien, noch während man zusehen konnte, und das von den schienarischen Soldaten mit ihrem Haarknoten, den Ogier-Stedding, in denen die Aes Sedai die Macht nicht benutzen konnten und die von Blassen nur sehr zögernd betreten wurden... Aber die Ausmaße des Steins von Tear oder die enorme Größe der Städte...
Über seine eigenen angeblichen Abenteuer sagte er nur: »Zur Hauptsache war ich damit beschäftigt, zu verhindern, daß man mir den Kopf abschlägt. Daraus bestehen Abenteuer, und daraus, mühsam einen Schlafplatz für die Nacht ausfindig zu machen und etwas zum Essen zu beschaffen. Wenn man Abenteuer erlebt, muß man ziemlich oft hungern und im Kalten und Feuchten schlafen oder alles auf einmal.« Das gefiel ihnen nicht besonders, und sie schienen es ihm auch nicht recht abzunehmen, genauso, wie sie einfach nicht glaubten, daß der Stein von Tear so groß sei wie ein kleiner Berg. Er erinnerte sich daran, daß er vor ihrem Aufbruch von den Zwei Flüssen genausowenig über die Welt gewußt hatte. Das half aber auch nicht viel. So große Augen hatte er nie gemacht. Oder doch? Im Schankraum schien es recht heiß zu sein. Er hätte ja sein Wams ausgezogen, aber das machte so unendlich viel Mühe.
»Was ist eigentlich mit Rand und Mat?« wollte Ewin wissen. »Wenn man ständig hungern muß und vom Regen naß wird, warum sind sie dann nicht auch heimgekommen?« Tam und Abell waren mittlerweile eingetreten. Tam hatte sich einen Schwertgürtel über das Wams geschnallt, und beide Männer trugen Bögen. Es war seltsam, aber bei Tam wirkte das Schwert irgendwie richtig, trotz der Bauernkleidung. Also erzählte Perrin den anderen dasselbe, was er schon zuvor berichtet hatte, wie Mat immer würfelte, sich in Tavernen herumtrieb und den Mädchen nachstellte, und wie Rand seine feine Kleidung trug und ein hübsches, blondes Mädchen am Arm hatte. Er machte eine einfache Lady aus Elayne, denn sie würden wahrscheinlich nicht glauben, daß sie die Tochter-Erbin von Andor sei, und daß er recht hatte, merkte er schon an ihren ungläubigen Mienen. Trotzdem verlief alles zufriedenstellend. Es war eben, was sie gern hören wollten, und ihre Zweifel schwanden auch zunehmend, als Elam feststellte, daß ja Faile auch eine Lady sei und Perrin ganz schön sicher im Griff habe. Da mußte Perrin selbst grinsen. Er fragte sich, was sie wohl sagen mochten, wenn er ihnen erzählte, daß sie auch noch die Cousine einer Königin war.
Faile schien sich aber aus irgendeinem Grund nicht darüber amüsieren zu können. Sie wandte sich ihnen mit einem eisigen Blick zu und einem Gesichtsausdruck, der Elayne hätte Konkurrenz machen können, wenn sie zornig war. »Ihr habt ihn jetzt genug ausgequetscht. Er ist verwundet. Raus mit Euch!« Zu seinem Erstaunen verbeugten sie sich ungeschickt — Dav probierte sogar einen Kratzfuß und wirkte dabei wie ein kompletter Narr — und murmelten hastig Entschuldigungen, aber ihr und nicht ihm gegenüber, und wandten sich zur Tür. Ihr Abgang wurde durch das Eintreten von Loial verzögert, der sich gebückt durch die Tür schob. Trotzdem streifte sein wie immer zerzaustes Haar den oberen Türbalken. Sie blickten den Ogier mit großen Augen an, als sähen sie ihn das erste Mal, warfen dann einen Blick zu Faile zurück und hasteten hinaus. Dieser kalte, ganz von der Lady geprägte Blick funktionierte perfekt.
Als sich Loial aufrichtete, befand sich sein Kopf genau unter den Deckenbalken. Seine Manteltaschen beulten sich wie immer eckig aus, wo er seine Bücher mit sich herumschleppte, aber zusätzlich trug er jetzt noch eine riesige Axt. Der Schaft war mannshoch, und die Axtschneide war beinahe so groß wie die ganze Axt Perrins. »Du bist verwundet«, dröhnte seine Stimme auf, als sein Blick auf Perrin fiel. »Man sagte mir, du seist zurückgekommen, aber nicht, daß du verwundet bist. Sonst wäre ich schneller gekommen.« Perrin fuhr beim Anblick der Axt doch ein wenig zusammen. Bei den Ogiern gab es eine Redensart: »... die Axt auf einen langen Schaft stecken...«, und das hieß, man handle überhastet oder im Zorn. Das schien für die Ogier so ziemlich ein und dasselbe zu sein. Loial sah wirklich zornig aus. Seine behaarten Ohren standen nach hinten gerichtet, und er runzelte die Stirn derart, daß die langen Augenbrauen bis auf seine Wangen herabhingen. Zweifellos hatte das damit zu tun, daß er Bäume fällen mußte. Perrin hätte ihn jetzt gern allein gesprochen, um ihn zu fragen, ob er mehr über Alannas Aktivitäten in Erfahrung gebracht habe. Oder die Verins. Er rieb sich müde über das Gesicht und stellte überrascht fest, daß es trocken war. Er fühlte sich aber, als schwitze er stark.
»Er ist eben ein Sturkopf«, sagte Faile, die nun Perrin den gleichen unnachgiebigen Blick zuwarf, den sie bei Dav und Elam und Ewin benützt hatte. »Du solltest im Bett liegen. Wo ist Alanna, Verin? Wenn sie ihn schon heilen soll, wo bleibt sie dann nur?« »Sie wird schon kommen.« Die Aes Sedai blickte nicht auf. Sie war wieder in ihr kleines Buch versunken, hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt und die Feder in der Hand.
»Aber er sollte endlich ins Bett kommen!« »Dafür habe ich später auch noch Zeit«, sagte Perrin entschlossen. Er lächelte sie an, um seinen Worten die Härte zu nehmen, aber sie blickte trotzdem besorgt drein und murmelte leise ›Sturkopf‹. Er konnte Loial vor Verin nicht über die Aes Sedai ausfragen, aber es gab ja noch etwas genauso Wichtiges. »Loial, das Wegetor steht wieder offen, und Trollocs kommen durch. Wie kann das sein?« Die Brauen des Ogiers sanken noch weiter herunter, und seine Ohren hingen ebenfalls schlapp nach unten. »Mein Fehler, Perrin«, grollte er traurig. »Ich habe beide Avendesora-Blätter außen angebracht. Das verschloß das Wegetor von der Innenseite, aber von außen her konnte es immer noch jeder öffnen. Die Kurzen Wege lagen nun generationenlang im Dunkel, aber wir haben sie wachsen lassen. Ich konnte mich nicht dazu zwingen, das Tor zu zerstören. Es tut mir leid, Perrin. Es ist alles mein Fehler.« »Ich habe nicht geglaubt, daß man ein Wegetor überhaupt zerstören kann«, sagte Faile.
»Ich habe damit auch nicht wirklich Zerstören gemeint.« Loial stützte sich auf den langen Schaft seiner Axt. »Es wurde schon einmal ein Wegetor zerstört, weniger als fünfhundert Jahre nach der Zerstörung der Welt, wie es Damelle berichtet, die Tochter von Ala, Tochter der Soferra, denn das Tor befand sich in der Nähe eines Steddings, das von der Fäule verschluckt worden war. Wie die Dinge liegen, sind zwei oder drei Wegetore in der Fäule verlorengegangen. Aber sie schrieb, es sei äußerst schwierig gewesen und man habe dreizehn Aes Sedai dazu benötigt, die mit Hilfe eines Sa'Angreal zusammenarbeiteten. Ein vorheriger Versuch, von dem sie ebenfalls berichtete, mit nur neun Aes Sedai und während der Trolloc-Kriege, beschädigte das Tor auf eine Art, daß die Aes Sedai hineingesogen... « Er unterbrach sich, und seine Ohren ringelten sich vor Verlegenheit. Mit den Knöcheln einer Hand berührte er seine Nase. Alle sahen ihn an, selbst Verin und die Aiel. »Manchmal lasse ich mich etwas hinreißen. Das Wegetor. Ja. Ich kann es nicht zerstören, aber wenn ich beide Avendesora-Blätter ganz entferne, werden sie absterben.« Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken. »Das einzige Mittel, um dann noch das Tor zu öffnen, besteht darin, daß die Ältesten den Talisman des Wachsens hinbringen. Obwohl ich glaube, eine Aes Sedai könnte vielleicht ein Loch hineinschneiden.« Diesmal schauderte er. Ein Wegetor zu zerstören war wohl für ihn das gleiche, wie ein Buch zu zerreißen. Einen Augenblick später wirkte seine Miene wieder grimmig entschlossen. »Ich gehe jetzt hin.« »Nein!« sagte Perrin in scharfem Tonfall. Die Pfeilspitze schien zu pulsieren, aber es tat eigentlich nicht mehr weh.
Er redete zuviel. Seine Kehle war ausgetrocknet. »Dort oben sind Trollocs, Loial. Sie können einen Ogier genauso wie einen Menschen in den Kochtopf stecken, wenn sie ihn vorher kleinschneiden.« »Aber Perrin, ich...« »Nein, Loial. Wie kannst du dein Buch fertigschreiben, wenn du wegrennst und dich umbringen läßt?« Loials Ohren zuckten. »Ich bin dafür verantwortlich, Perrin.« »Die Verantwortung liegt bei mir«, sagte Perrin sanft. »Du hast mir gesagt, was du mit dem Wegetor vorhattest, und ich habe dir nichts anderes vorgeschlagen. Außerdem fährst du jedesmal derart zusammen, wenn man deine Mutter erwähnt, daß ich sie lieber nicht auf dem Hals haben möchte. Ich gehe selbst, sobald Alanna mir diesen Pfeil aus dem Körper geholt und mich geheilt hat.« Er wischte sich über die Stirn und runzelte dann die Stirn, als er die Hand anblickte. Immer noch kein Schweiß. »Kann ich ein wenig Wasser haben?« Faile war einen Augenblick später an seiner Seite. Ihre kühlen Finger fühlten nach, wo sich seine Hand befunden hatte. »Er verbrennt ja! Verin, wir können nicht auf Alanna warten. Ihr müßt... « »Ich bin schon da«, verkündete die dunkelhaarige Aes Sedai, die von der Hintertür des Schankraums her erschien, Marin al'Vere und Alsbet Luhhan im Schlepptau. Ihvon kam gleich hinterher. Perrin fühlte das Prickeln der Einen Macht schon, bevor Alannas Hand die Failes an seiner Stirn ablöste. Sie fügte mit ihrer kühlen, ernsten Stimme hinzu: »Tragt ihn in die Küche. Der Tisch dort ist groß genug, um ihn daraufzulegen. Schnell. Es ist nicht mehr viel Zeit.« In Perrins Kopf drehte sich alles, und mit einemmal bemerkte er, daß Loial seine Axt neben die Tür gestellt und ihn auf die Arme genommen hatte. »Das Wegetor ist meine Sache, Loial.« Licht, ich habe vielleicht Durst! »Meine Verantwortung.« Die Pfeilspitze schmerzte tatsächlich nicht mehr so sehr wie vorher, aber dafür tat sein ganzer Körper gleichmäßig weh. Loial trug ihn irgendwo hin. Er mußte sich unter den Türbalken immer ducken. Da war Frau Luhhan. Sie biß sich auf die Unterlippe und verzog das Gesicht, als wolle sie weinen. Er fragte sich, was sie wohl habe. Sie weinte doch sonst nie. Auch Frau al'Vere wirkte besorgt.
»Frau Luhhan«, murmelte er, »meine Mutter sagt, ich kann zu Meister Luhhan in die Lehre gehen.« Nein. Das war doch schon lange her. Das war... Was war? Er konnte sich anscheinend nicht mehr daran erinnern.
Er lag auf etwas Hartem und hörte Alanna sagen: »... Widerhaken hängen genauso am Knochen fest wie im Fleisch, und die Pfeilspitze hat sich gedreht. Ich muß sie wieder so hindrehen, wie sie ursprünglich steckte, und sie dann herausziehen. Wenn ihn der Schock nicht tötet, kann ich anschließend den von mir angerichteten Schaden zusammen mit dem Rest mit Hilfe der Macht heilen. Es gibt keinen anderen Weg. Er ist jetzt nahe am Abgrund.« Das hatte ja nichts mit ihm zu tun.
Faile warf ihm ein zitterndes Lächeln zu. Ihr Gesicht schien ihm verdreht — das Haar unten und das Kinn oben. Hatte er wirklich einmal geglaubt, ihr Mund sei zu breit? Er war genau richtig. Er wollte ihre Wange berühren, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hielten Frau al'Vere und Frau Luhhan seine Arme fest. Sie stützten sich sogar mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Auch auf seinen Beinen saß jemand, und Loials mächtige Pratzen bedeckten seine Schultern und drückten sie auf den Tisch. Tisch. Ja. Den Küchentisch.
»Beiß auf die Zähne, mein Herz«, sagte Faile von weit weg. »Es wird weh tun.« Er wollte sie fragen, was denn so weh tun werde, aber dann drückte sie ihm einen mit Leder umwickelten Stock zwischen die Zähne. Er witterte das Leder und das Gewürzholz und sie. Ob sie wohl mit ihm auf die Jagd gehen würde, über endlose Grasebenen rennen und zahllose Rudel von Hirschen hetzen? Eiseskälte durchzitterte ihn. Am Rande seines Bewußtseins erkannte er das Gefühl, das die Eine Macht begleitete. Und dann kam der Schmerz. Er hörte, wie der Stock zwischen seinen Zähnen zerbrach, bevor alles von der Dunkelheit verschlungen wurde.