42 Ein fehlendes Blatt

Perrin stand allein in der Nähe der Wohnwagen der Tuatha'an im strahlenden Sonnenschein, und in seiner Seite steckte keine Pfeilspitze und er hatte keine Schmerzen. Zwischen den Wagen hatte man Holzscheite aufgestapelt, um unter den eisernen Kochtöpfen, die an ihren dreibeinigen Gestellen hingen, Feuer zu entzünden, und an den Wäscheleinen hing Kleidung, doch es waren keine Menschen oder Pferde zu sehen. Er selbst trug weder Wams noch Hemd, sondern die lange Lederweste eines Schmieds, die seine Arme bloß ließ. Es hätte wohl jeder gewöhnliche Traum sein können, aber ihm war klar, daß es ein Traum war. Und er kannte das Gefühl, sich in einem Wolfstraum zu befinden, das Gefühl von Realität, und irgendwie konnte er ihn körperlich spüren, so, wie das hohe Gras um seine Stiefel herum von der leichten Brise gestreichelt wurde, die auch sein lockiges Haar durcheinanderbrachte, und so, wie die verstreuten Eschen und Lorbeerbäume auf ihn wirkten. Doch die grellbunten Wohnwagen der Kesselflicker erschienen ihm dagegen nicht real. Sie hatten etwas Flüchtiges an sich, ein Gefühl, sie könnten jeden Moment verschwimmen und sich auflösen. Sie blieben niemals lange am selben Ort, die Kesselflicker. Kein Flecken Erdboden konnte sie festhalten.

Er fragte sich, inwieweit der Erdboden ihn festhalten könne, und griff nach seiner Axt. Doch dann blickte er überrascht hinunter. In der Schlinge an seinem Gürtel hing der schwere Schmiedehammer anstatt der Axt. Er runzelte die Stirn. Einst hätte er den Hammer vorgezogen und hatte sogar geglaubt, er habe sich dafür entschieden, doch jetzt war davon nichts mehr übrig. Die Axt. Er hatte die Axt gewählt. Aus dem Hammerkopf wurde plötzlich die halbmondförmige Schneide mit dem dicken Dorn am oberen Teil, flackerte, wurde wieder zum wuchtigen, kalten Stahlzylinder und flackerte wieder in ständigem Wechsel. Schließlich aber blieb es seine Axt und er atmete tief durch. Das war noch nie zuvor geschehen. Hier konnte er alles mit Leichtigkeit ändern, jedenfalls die Dinge, die er bei sich trug. »Und ich will die Axt«, sagte er entschlossen. »Die Axt.« Er sah sich um und konnte im Süden gerade noch ein Bauernhaus erkennen. Wild äste auf dem Haferfeld, das von einer locker aufgeschichteten Steinmauer umgeben war. Er fühlte keine Wölfe in der Nähe, und so rief er Springer auch nicht. Der Wolf würde vielleicht kommen, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise hörte er ihn gar nicht. Aber der Schlächter könnte sich durchaus irgendwo hier aufhalten. Mit einemmal zog ein gefüllter Köcher an seinem Gürtel gegenüber der Axt, und er hielt einen kräftigen Langbogen mit einem aufgelegten Hammerkopfpfeil in der Hand. Ein langer Lederschutz bedeckte seinen linken Unterarm. Nichts rührte sich außer den äsenden Tieren.

»Unwahrscheinlich, daß ich so schnell aufwache«, murmelte er in sich hinein. Was das auch sein mochte, was ihm Faile verpaßt hatte, es hatte ihn jedenfalls sofort einschlafen lassen. Daran erinnerte er sich ganz klar, als habe er über ihre Schulter hinweg zugesehen. »Hat mich damit gefüttert wie ein Baby«, grollte er. Frauen!

Er machte einen dieser langen Schritte, das Land um ihn herum verschwamm, und er trat auf den Hof vor einem Bauernhaus. Zwei oder drei Hühner rannten vor ihm davon; der von aufgeschichteten Steinen umgebene Schafpferch war leer, und die beiden strohgedeckten Scheunen waren verrammelt. Trotz der Vorhänge an den Fenstern erweckte das Wohnhaus einen Eindruck von Leere. Wenn dies ein echtes Spiegelbild der wirklichen Welt war, und das war der Wolfstraum schon auf seine eigene Weise, dann waren die Leute hier bereits seit Tagen weg. Faile hatte recht: Seine Warnung hatte sich überallhin verbreitet.

»Faile«, murmelte er staunend. Die Tochter eines Lords. Nein, nicht nur eines Lords. Dreimal Lord und dann noch General und Onkel der Königin. »Licht, damit ist sie ja die Cousine der Königin!« Und sie liebte einen einfachen Schmied. Frauen waren schon eigenartige Geschöpfe.

Er versuchte herauszubekommen, wie weit sich die Kunde verbreitet hatte, und ging mit diesen TraumRiesenschritten, jeder mehr als eine Meile lang, im Zickzack halb hinauf nach Devenritt und wieder zurück. Die meisten Höfe, die er zu sehen bekam, erweckten den gleichen leeren Eindruck. Weniger als ein Fünftel machten einen bewohnten Eindruck, zeigten offene Türen und hochgeschobene Fenster und Wäsche auf der Leine und Puppen oder Reifen oder geschnitzte Schaukelpferde, die auf der Schwelle herumlagen. Besonders die Spielsachen verursachten ihm Magenkrämpfe. Auch wenn sie seine Warnung nicht ernst genommen hatten, waren doch in der Nähe schon genügend Höfe niedergebrannt worden und hätten sie warnen müssen. Ihre Schutthaufen, verkohlten Balken und wie einsame, tote Finger aufragenden Schornsteine mahnten zur Vorsicht.

Er bückte sich, um eine Puppe mit lächelndem Glasgesicht und einem mit Blumen bestickten Kleid, das einer liebevollen Mutter sicher viel Mühe bereitet hatte, wieder aufzustellen, und dann riß er erstaunt die Augen auf. Die gleiche Puppe lag nach wie vor auf den Steinstufen, obwohl er sie aufgehoben hatte. Als er danach faßte, wurde die Puppe in seiner Hand durchscheinend und verschwand.

Aus dem Augenwinkel nahm er etwas Schwarzes am Himmel wahr und hatte keine Zeit mehr, sich über die Puppe zu wundern. Raben, zwanzig oder dreißig in einem Schwarm, flogen auf den Westwald zu. Ihre Richtung wies auf die Verschleierten Berge hin, wo er den Schlächter das erstemal gesehen hatte. Er beobachtete sie kalt, während sie zu kleinen schwarzen Flecken am Himmel wurden und verschwanden. Dann machte er sich auf den Weg, ihnen nach.

Lange Sätze führten ihn jedesmal mindestens fünf Meilen weit. Das Land verschwamm, außer in den kurzen Augenblicken des Stillstands dazwischen. Er befand sich im dichtesten Westwald mit seinem felsigen Untergrund, dann in den von Gestrüpp überwachsenen Sandhügeln und schließlich zwischen den wolkengekrönten Bergen, wo die Hänge und Täler mit Tannen und Kiefern und Lederblattbäumen bewaldet waren. Dann war er in dem Tal, in dem er zum erstenmal den Mann gesehen hatte, den Springer den Schlächter nannte, und an dem Abhang, auf dem er von Tear aus herausgekommen war.

Da stand das verschlossene Wegetor, auf dem das Avendesora-Blatt nur eines von unzähligen fein in Stein gehauenen Blättern und Ranken war. Verstreute Bäume, verwittert und vom Wind gebeugt, wuchsen auf der dünnen Schicht von Erdboden zwischen den glasierten Steinen, wo Manetheren zu Asche verbrannt war. Sonnenschein glänzte auf dem Wasser des Manetherendrelle unten im Tal. Eine leichte Brise brachte die Witterung nach Hirschen, Kaninchen und Füchsen bis zu ihm herauf. Nichts Sichtbares bewegte sich.

Er wollte schon weitergehen, da hielt er inne. Das Avendesora-Blatt. Ein Blatt nur. Loial hatte das Wegetor verschlossen, indem er beide Blätter auf dieser Seite angebracht hatte. Er drehte sich wieder um, und die Nackenhaare stellten sich ihm auf. Das Wegetor stand offen, beide Flügel wie dichtes lebendiges Grün, das sich im Wind sanft bewegte. Dazwischen zeigte sich diese mattsilberne Fläche, auf der sein Spiegelbild zu sehen war. Wie denn das? fragte er sich. Loial hat doch das verdammte Ding verschlossen!

Er war sich nicht bewußt, die Entfernung zurückgelegt zu haben, aber mit einemmal stand er direkt vor dem Wegetor. In dem üppigen Bewuchs auf der Innenseite der beiden Torflügel befand sich kein dreifingriges Blatt. Seltsam, daß er sich in diesem Augenblick vorstellte, wie in der Welt des Wachen irgend jemand oder irgend etwas gerade jetzt diesen Fleck passierte, auf dem er stand. Er berührte die matte Fläche und knurrte. Es hätte auch ein Spiegel sein können. Seine Hand glitt darüber wie über das glatteste Glas.

Aus dem Augenwinkel entdeckte er das Avendesora-Blatt, das sich plötzlich wieder an seinem Platz auf der Innenseite des Torflügels befand. Er sprang schnell zurück, als sich das Tor zu schließen begann. Jemand — oder etwas — war gerade herausgekommen oder hineingegangen. Heraus. Es muß herausgekommen sein. Er hätte so gern bezweifelt, daß es weitere Trollocs oder Myrddraal gewesen waren, die die Zwei Flüsse erreicht hatten. Die Torflügel verschmolzen miteinander und wurden wieder zu Steinfriesen.

Ein Gefühl, beobachtet zu werden, war alles an Warnung, was er erhielt. Er sprang vor. Ein fast nicht mehr sichtbarer schwarzer Schemen huschte durch den Fleck, an dem sich seine Brust eben noch befunden hatte — ein Pfeil. Ein weiter Satz, der die Welt wieder verschwimmen ließ, und er befand sich an einem weit entfernten Abhang, und dann rannte er weiter, aus dem Tal von Manetheren in ein Wäldchen aus hoch aufragenden Tannen, und weiter. Beim Laufen dachte er angestrengt nach. Er stellte sich das Tal vor und rief den kurzen Augenblick, in dem er den Pfeil gesehen hatte, in sein Gedächtnis zurück. Er war aus dieser Richtung gekommen, in diesem Winkel, als er ihn erreichte, also mußte er von...

Ein letzter Satz brachte ihn zurück auf einen Hang über dem Grab Manetherens. Er kauerte zwischen dürren, windgebeugten Kiefern und hielt den Bogen schußbereit in den Händen. Dort unter ihm, zwischen den verkrüppelten Bäumen und Felsblöcken, war der Pfeil abgeschossen worden. Der Schlächter mußte sich irgendwo dort befinden. Er mußte dort...

Ohne lange nachzudenken, sprang Perrin davon. Die Berge wurden zu grauen und braunen und grünen Schlieren.

»Beinahe«, grollte er. Beinahe hätte er wieder den gleichen Fehler begangen wie im Wasserwald und geglaubt, der Gegner werde sich seinen Wünschen entsprechend bewegen, werde dort auf ihn warten, wo er ihn haben wollte.

Diesmal rannte er, so schnell er nur konnte. Drei blitzschnelle Schritte brachten ihm zum Rand der Sandhügel, in der Hoffnung, nicht gesehen worden zu sein. Diesmal umging er den Ort des Überfalls in weitem Bogen und kehrte viel weiter oben an denselben Berghang zurück, oben, wo die Luft dünner und kalt war und die wenigen übriggebliebenen Bäume wie geduckte Büsche mit dicken Stämmen kauerten, mindestens fünfzig Schritt voneinander entfernt, oben, hoch über einem Punkt, an dem ein Mann sich versteckt haben würde, der einen anderen beobachten wollte, der sich wiederum an den Ort anschleichen wollte, von wo der Pfeil hergekommen war.

Und da erblickte er auch tatsächlich den Gesuchten hundert Schritt unter ihm. Dunkelhaarig und im dunklen Wams kauerte ein hochgewachsener Mann neben einem tischgroßen Granitvorsprung, den halb gespannten Bogen in der Hand, und betrachtete mit erwartungsvollgeduldiger Haltung den Hang unterhalb seines Postens. Dies war das erste Mal, daß Perrin ihn richtig sehen konnte; hundert Schritt waren für seine Augen keine Entfernung. Das Wams des Schlächters mit dem hohen Kragen wies einen Schnitt auf, wie man ihn in den Grenzlanden bevorzugte, und sein Gesicht war dem Lans so ähnlich, daß er ein Bruder des Behüters hätte sein können. Nur, daß Lan keine Brüder hatte — überhaupt keine lebenden Verwandten, soviel wußte Perrin —, und hätte er welche gehabt, sie würden sich nicht hier befinden. Aber er kam wohl aus den Grenzlanden. Vielleicht war er Schienarer, doch sein Haar war lang und nicht bis auf eine Skalplocke abrasiert und wurde wie das Lans von einem geflochtenen Stirnband zurückgehalten. Er konnte aber nicht aus Malkier stammen; Lan war der letzte Überlebende dieses Landes.

Wo er auch herkommen mochte, jedenfalls hatte Perrin kein schlechtes Gewissen, als er seinen Bogen spannte und den Hammerkopfpfeil auf den Rücken des Schlächters richtete. Der Mann hatte auch versucht, ihn aus dem Hinterhalt zu töten. Doch ein Schuß bergabwärts konnte schwierig sein.

Vielleicht hatte er sich zuviel Zeit gelassen oder der Bursche fühlte seinen kalten Blick, denn plötzlich verschwamm die Gestalt des Schlächters und schoß in Richtung Osten davon.

Fluchend nahm Perrin die Verfolgung auf. Drei Schritte bis zu den Sandhügeln und ein weiterer in den Westwald. Unter den Eichen und Lederblattbäumen und bei dem dichten Unterholz schien der Schlächter zu verschwinden.

Perrin blieb stehen und lauschte. Stille. Die Eichhörnchen und Vögel schwiegen. Er atmete tief ein. Ein kleines Rudel Hirsche war vor nicht allzulanger Zeit hier durchgekommen. Und da war ein schwacher Hauch von etwas, das zu kalt war, um von einem Menschen zu stammen, zu gefühllos, eine Witterung, die ihm bekannt vorkam. Der Schlächter befand sich in der Nähe. Die Luft war so ruhig wie der ganze Wald. Keine auch noch so leichte Brise zeigte ihm, aus welcher Richtung die Witterung stammte.

»Ein sauberer Trick, Goldauge, das Wegetor zu verschließen.« Perrin spannte sich an, lauschte angestrengt. Er hatte keine Ahnung, woher die Stimme gekommen war. Nicht einmal ein Blatt raschelte.

»Wenn Ihr wüßtet, wie viele Schattenwesen gestorben sind, als sie versuchten, dort aus den Wegen herauszukommen, würde Euer Herz einen Sprung machen. Machin Shin hielt ein Festmahl an dem Tor ab, Goldauge. Aber der Trick war nicht gut genug. Ihr habt ja gesehen, daß das Tor jetzt wieder offensteht.« Dort drüben auf der rechten Seite. Perrin schlüpfte so leise zwischen den Bäumen hindurch wie damals, als er hier gejagt hatte.

»Zuerst waren es nur ein paar hundert, Goldauge. Gerade genug, um diese närrischen Weißmäntel in Atem zu halten und dafür zu sorgen, daß der Renegat starb.« Die Stimme des Schlächters wurde zornig. »Der Schatten soll mich verschlingen, wenn dieser Mann nicht noch mehr Glück hat als die Weiße Burg.« Mit einemmal lachte er leise. »Aber Ihr, Goldauge, Eure Anwesenheit war eine Überraschung. Es gibt Leute, die Euren Kopf auf einer Pike sehen wollen. Eure kostbaren Zwei Flüsse wird man jetzt von einem Ende zum anderen durchkämmen, um Euch zu fangen. Was meint Ihr dazu, Goldauge?« Perrin erstarrte neben dem verknorzten Stamm einer mächtigen Eiche. Warum quatschte der Mann soviel? Warum mußte er überhaupt reden? Er zieht mich richtiggehend an.

So lehnte er sich an den dicken Stamm der Eiche und beobachtete den Wald. Keine Bewegung. Der Schlächter wollte, daß er sich ihm näherte. Zweifellos wollte er ihn in einer Hinterhalt locken. Und er wollte den Mann finden und ihm die Kehle durchbeißen. Und doch konnte es leicht sein, daß er selbst starb, und wenn das geschah, würde niemand erfahren, daß das Wegetor wieder offenstand und hunderte, vielleicht auch tausende von Trollocs herauskommen konnten. Er würde das Spiel des Schlächters nicht mitspielen.

Mit einem freudlosen Lächeln trat er aus dem Wolfstraum heraus, befahl sich selbst, zu erwachen, und...

... Faile schlang ihre Arme um seinen Hals und knabberte mit kleinen, weißen Zähnen in seinem Bart herum, während die Fiedeln der Kesselflicker ein wildes, hitziges Lied am Lagerfeuer aufspielten. Ilas Pulver. Ich kann nicht aufwachen! Das Bewußtsein eines Traumes schwand langsam. Lachend hob er Faile hoch und trug sie in die Schatten hinein, dorthin, wo das Gras am weichsten war.

Das Erwachen dauerte lange, und von seiner verwundeten Seite her zog sich dumpfer Schmerz durch seinen ganzen Körper. Tageslicht drang durch die kleinen Fenster herein. Heller Sonnenschein. Der Morgen. Er versuchte, sich aufzusetzen, und ließ sich stöhnend wieder zurückfallen.

Faile sprang von ihrem niedrigen Hocker auf. Ihre dunklen Augen wirkten, als habe sie überhaupt nicht geschlafen. »Lieg still«, sagte sie. »Du hast dich im Schlaf schon genug herumgewälzt. Ich habe dich nicht mit Mühe davon abgehalten, dich soweit herumzuwälzen, daß sich dieses Ding auch noch den Rest seiner Länge in dich hineinbohrt, um jetzt zuzusehen, wie du das im wachen Zustand fertigbringst.« Ihvon stand wie eine dunkle Klinge an einen Türpfosten gelehnt da. »Hilf mir auf«, sagte Perrin. Das Sprechen tat weh, aber das Atmen ja auch, und sprechen mußte er jetzt. »Ich muß in die Berge. Zum Wegetor.« Sie legte ihm mit düsterem Blick eine Hand auf die Stirn. »Kein Fieber«, murmelte sie. Und dann sagte sie etwas lauter: »Du gehst nach Emondsfeld, wo dich eine der Aes Sedai heilen kann. Du wirst dich nicht selbst umbringen, indem du versuchst, mit einem Pfeil in der Seite in die Berge zu reiten. Hörst du mir zu? Wenn ich auch nur ein weiteres Wort über die Berge und das Wegetor höre, werde ich mir von Ila etwas zusammenbrauen lassen, das dich wieder einschlafen läßt, und dann packen wir dich auf eine Trage. Ich weiß nicht recht, ob das nicht sowieso das Beste wäre.« »Die Trollocs, Faile! Das Wegetor steht wieder offen! Ich muß sie aufhalten!« Die Frau zögerte nicht einmal. Sie schüttelte augenblicklich den Kopf. »In diesem Zustand kannst du überhaupt nichts dagegen machen. Du kommst nach Emondsfeld.« »Aber...!« »Kein ›aber‹, Perrin Aybara! Kein Wort mehr!« Er knirschte mit den Zähnen. Das Schlimmste daran war, daß sie recht hatte. Wenn er schon nicht einmal vom Bett hochkam, wie konnte er dann bis Manetheren im Sattel bleiben? »Emondsfeld also«, sagte er dankbar, aber sie schnaubte trotzdem und knurrte etwas von ›Sturkopf‹. Was wollte sie eigentlich? Ich war doch verdammt noch mal dankbar genug, warum also dieser ›Sturkopf‹?

»Also werden mehr Trollocs kommen«, meinte Ihvon nachdenklich. Er fragte nicht, woher Perrin diese Information habe. Dann schüttelte er den Kopf, als seien die Trollocs nebensächlich. »Ich sage den anderen, daß Ihr wach seid.« Er schlüpfte hinaus und schloß die Tür hinter sich.

»Bin ich denn der einzige, der die Gefahr sieht?« knurrte Perrin.

»Ich sehe eine Pfeilspitze in dir«, sagte Faile daraufhin streng.

So daran erinnert, durchzuckte ihn wieder der Schmerz. Er konnte gerade noch ein Stöhnen unterdrücken. Und sie nickte zufrieden. Zufrieden!

Er wäre am liebsten augenblicklich aufgebrochen. Je eher er von einer Aes Sedai geheilt wurde, desto früher konnte er dafür sorgen, daß das Wegetor geschlossen wurde, und diesmal endgültig. Faile bestand darauf, daß sie ihn zum Frühstück fütterte. Es gab eine Brühe mit viel weichgekochtem Gemüse, die auch einem zahnlosen Kleinkind bekommen wäre, immer schön einen Löffel nach dem anderen, und dazwischen hielt sie inne, um ihm das Kinn abzuwischen. Sie ließ ihn nicht selbst essen, und wenn er protestierte oder sie bat, schneller zu machen, dann reagierte sie nicht, sondern schob ihm schnell den nächsten Löffel mit Pampe in den Mund. Sie ließ noch nicht einmal zu, daß er sich selbst das Gesicht abwischte. Als sie sich schließlich daran machte, sein Haar zu bürsten und den Bart auszukämmen, hatte er sich zu würdigem Schweigen durchgerungen.

»Du bist hübsch, wenn du schmollst«, sagte sie. Und dann kniff sie ihn in die Nase.

Ila, die an diesem Morgen eine grüne Bluse und einen blauen Rock trug, kletterte mit seinem Wams und Hemd in den Wagen. Beides war gewaschen und geflickt worden. Es ärgerte ihn, daß er die Hilfe beider Frauen benötigte, um sich anzuziehen. Er mußte sich sogar beim Hinsetzen helfen lassen! Dann hatten sie ihm endlich Wams und Hemd übergezogen, aber Knöpfe und Bändel waren offen, damit nichts auf die Pfeilspitze drücken konnte.

»Danke schön, Ila«, sagte er, als er die sauber geflickten Stellen befühlte. »Das ist gute Arbeit.« »Stimmt«, meinte sie daraufhin. »Faile kann gut mit der Nadel umgehen.« Faile lief rot an, und er grinste. Denn er mußte daran denken, wie vehement sie ihm erklärt hatte, sie werde niemals seine Kleider flicken. Doch ansonsten hielt er sich zurück, da er in ihren Augen ein gewisses Glitzern bemerkte. Manchmal war Schweigen die bessere Lösung. Also sagte er, statt sich zu amüsieren, lieber ernsthaft: »Ich danke dir, Faile.« Nun lief sie noch dunkler an.

Sobald sie ihn einmal auf den Beinen hatten, erreichte er die Tür ganz gut, doch die beiden Frauen mußten ihn stützen, damit er es die Holztreppe hinunter schaffte. Wenigstens waren die Pferde gesattelt, und alle Burschen von den Zwei Flüssen hatten sich mit übergehängten Bögen versammelt. Ihre Gesichter und Kleider waren sauber, und man sah auch nur ein paar Bandagen an unbedeckten Körperstellen.

Eine Nacht bei den Tuatha'an hatte ihnen offensichtlich gut getan und die Moral gehoben, selbst bei denen, die selbst jetzt noch aussahen, als könnten sie keine hundert Schritt weit laufen. Die Angst, die noch gestern in ihren Augen gestanden hatte, war zu einem bloßen Schatten geworden. Wil hatte in jedem Arm natürlich ein Kesselflickermädchen mit großen, verliebten Augen, und Ban Lewin mit der langen Nase und einer Bandage um die Stirn, die sein dunkles Haar wie eine Bürste hochstehen ließ, hielt mit schüchternem Lächeln die Hand eines anderen Mädchens in der seinen. Die meisten der anderen hielten dagegen Schalen mit Gemüseeintopf und Löffel in den Händen und schaufelten eifrig drauflos.

»Das ist gut, Perrin«, sagte Dannil und gab einer Kesselflickerfrau seine leere Schale zurück. Sie hielt die Schale kurz hoch und sah ihn fragend an, um festzustellen, ob dieser bohnenstangenlange Bursche mehr haben wolle, aber er schüttelte den Kopf und sagte: »Ich glaube, ich kann gar nicht genug davon kriegen. Du auch?« »Ich bin voll«, sagte Perrin säuerlich. Zerdrücktes Gemüse und Brühe dazu. Ba!

»Gestern abend haben die Kesselflickermädchen getanzt«, sagte Dannils Cousin Tell mit großen Augen. »Alle unverheirateten Frauen und sogar einige der verheirateten! Du hättest es sehen sollen, Perrin.« »Ich habe die Kesselflickerfrauen schon tanzen sehen, Tell.« Offensichtlich waren seine Gefühle in dieser Beziehung aus seinen Worten herauszuhören, denn Faile sagte trocken: »Du hast die Tiganza gesehen, nicht wahr? Wenn du lieb bist, werde ich vielleicht eines Tages die Sa'sara für dich tanzen und dir zeigen, was wirkliches Tanzen ist.« Ila schnappte nach Luft, da sie die Bezeichnung anscheinend kannte, und dann lief Faile noch dunkler an als zuvor im Wagen.

Perrin schürzte die Lippen. Falls diese Sa'sara das Herz noch stärker zum Klopfen brachte als der schwingende, hüftbetonte Tanz der Kesselflickerfrauen — die Tiganza, so hieß er wohl —, dann würde er den Tanz ganz gewiß von Faile sehen wollen. Doch er vermied es, sie anzublicken.

Raen kam zu ihnen herüber. Er trug dasselbe hellgrüne Wams, aber eine Hose, deren Rot kräftiger leuchtete als jedes, das Perrin zuvor in seinem Leben erblickt hatte. Er bekam von dieser Farbkombination Kopfschmerzen. »Zweimal habt Ihr unsere Feuer besucht, Perrin, und zum zweitenmal geht Ihr ohne ein Abschiedsfest. Ihr müßt bald wiederkommen, damit wir das nachholen können.« Er löste sich aus Failes und Ilas Griff — wenigstens konnte er allein stehen — und legte dem drahtigen, kleinen Mann eine Hand auf die Schulter. »Kommt mit uns, Raen. Niemand in Emondsfeld wird Euch etwas antun. Und auch im schlimmsten Fall ist es dort sicherer als hier draußen, wenn Trollocs in der Nähe sind.« Raen zögerte, doch dann schüttelte er sich und murmelte: »Ich weiß nicht, wie Ihr mich überhaupt dazu bringt, mir solche Sachen auch nur zu überlegen.« Er wandte sich um und sagte laut: »Leute, Perrin hat uns gebeten, mit zu seinem Dorf zu kommen, wo wir vor den Trollocs sicher wären. Wer möchte mitgehen?« Erschrockene Gesichter blickten ihn an. Einige Frauen holten ihre Kinder heran, und die verbargen sich hinter ihren Röcken, als ängstigten sie sich bereits vor diesem Vorschlag. »Seht Ihr, Perrin?« sagte Raen. »Für uns liegt die Sicherheit nicht in Dörfern, sondern in der Bewegung.

Ich versichere Euch, wir werden keine zwei Nächte am selben Ort verbringen und den ganzen Tag weiterziehen, bevor wir wieder lagern.« »Das genügt wahrscheinlich nicht, Raen.« Der Mahdi zuckte die Achseln. »Eure Anteilnahme erwärmt mein Herz, doch wir sind in Sicherheit, wenn das Licht es so will.« »Der Weg des Blatts besteht nicht nur darin, keine Gewalt auszuüben«, sagte Ila mit sanfter Stimme, »sondern auch zu akzeptieren, was geschieht. Das Blatt fällt ohne Klage, wenn seine Zeit gekommen ist. Solange birgt uns das Licht und gibt uns Sicherheit.« Perrin hätte sich gern mit ihnen gestritten, aber unter all der Wärme und dem Mitgefühl auf ihren Mienen lag eiserne Entschlossenheit. Er glaubte, eher könne er noch Bain und Chiad und selbst Gaul dazu bringen, hübsche Kleider anzuziehen und den Speer aufzugeben, als diese Leute zum Nachgeben.

Raen schüttelte Perrin die Hand, und auf dieses Zeichen hin umarmten die Kesselflickerfrauen die jungen Burschen von den Zwei Flüssen und sogar Ihvon. Die Männer schüttelten den Abreisenden die Hände und alle lachten, sagten sich auf Wiedersehen, wünschten einander eine gute Reise und drückten ihre Hoffnung aus, sich bald wiederzusehen. Jedenfalls die meisten Männer. Aram stand an der Seite, die Hände in die Taschen gesteckt und mit finsterer Miene. Perrin erschien er ziemlich launisch, und das war eigenartig bei einem Kesselflicker.

Die Männer gaben sich bei Faile nicht mit einem Händeschütteln zufrieden, sondern umarmten und drückten sie. Perrin verzog das Gesicht nicht, und als einige der jüngeren Männer den Abschied etwas zu enthusiastisch ausfallen ließen, knirschte er nur ein wenig mit den Zähnen, brachte aber sogar noch ein Lächeln zustande. Er wurde dagegen von keiner Frau in die Arme genommen, die viel jünger als Ila gewesen wäre. Irgendwie brachte Faile es fertig, ihn selbst dann noch wie eine scharfe Dogge zu bewachen, wenn ein magerer, grellbunt gekleideter Kesselflicker seine Arme um sie legte und sich bemühte, sie plattzudrücken. Frauen, die noch kein Grau im Haar zeigten, warfen einen Blick auf ihr Gesicht und suchten sich dann jemand anderen aus. Derweil schien Wil es geschafft zu haben, jede Frau im Lager zu küssen. Ban mit seiner langen Nase brachte das ebenfalls fertig. Sogar Ihvon schien das Ganze Spaß zu machen! Es würde Faile recht geschehen, wenn ihr einer dieser Kerle eine Rippe brach.

Endlich traten die Kesselflicker zurück, bis auf Raen und Ila, und um die Männer von den Zwei Flüssen herum entstand ein freier Raum. Der drahtige, grauhaarige Mann verbeugte sich förmlich, die Hände auf der Brust gekreuzt. »Ihr kamt in Frieden. So geht nun wieder in Frieden. Ihr werdet immer an unseren Feuern willkommen sein. Der Weg des Blatts ist der Friede.« »Der Friede sei immer mit Euch«, erwiderte Perrin, »und mit allen von Eurem Volk.« Licht, hilf ihnen! »Ich werde das Lied finden, oder ein anderer wird es finden, aber es wird gesungen werden, ob in einem Jahr oder in späteren Jahren.« Er fragte sich, ob es dieses Lied überhaupt jemals gegeben hatte, oder ob die Tuatha'an ihre Reise auf der Suche nach etwas ganz anderem begonnen hatten. Elyas hatte ihm erzählt, daß sie selbst nicht wüßten, welches Lied sie suchten, aber wenn sie es gefunden hatten, würden sie es wissen. Laß sie wenigstens Sicherheit finden. Wenigstens das! »Wie es einst war, so soll es wieder sein, eine Welt ohne Ende.« »Eine Welt ohne Ende«, murmelten die Tuatha'an ernst im Chor. »Welt und Zeit enden nie.« Ein paar letzte Umarmungen und noch ein wenig Händeschütteln, während Ihvon und Faile Perrin auf Traber hinaufhalfen. Wil bekam noch ein paar Abschiedsküsse. Und Ban auch. Ban! Sogar seine Nase küßten sie! Andere, die am schwersten Verwundeten, wurden vorsichtig auf ihre Pferde gehoben. Die Kesselflicker winkten ihnen zum Abschied zu wie alten Nachbarn, die eine lange Reise antraten.

Raen kam heran und schüttelte Perrin noch einmal die Hand. »Wollt Ihr es Euch nicht doch noch überlegen?« fragte Perrin. »Ich erinnere mich noch daran, wie Ihr einmal gesagt habt, das Böse breite sich in der Welt aus. Es wird immer schlimmer, Raen, und gerade hier.« »Friede sei mit Euch, Perrin«, antwortete Raen lächelnd.

»Und mit Euch«, sagte er traurig.

Die Aiel tauchten erst auf, als sie sich eine Meile nördlich des Lagers der Kesselflicker befanden. Bain und Chiad sprachen mit Faile und trabten nach vorn an ihren gewohnten Platz. Perrin war nicht ganz klar, was sie glaubten, das mit Faile bei den Tuatha'an geschehen sein mochte.

Gaul schritt mühelos neben Traber einher. Sie bewegten sich sowieso nicht sehr schnell, da fast die Hälfte aller Männer zu Fuß gehen mußte. Er blickte Ihvon kalkulierend an, bevor er sich Perrin zuwandte. »Was ist mit deiner Verwundung?« Seine Wunde brannte fürchterlich. Jeder Schritt seines Pferds erschütterte die Pfeilspitze. »Mir geht's gut«, sagte er, ohne mit den Zähnen zu knirschen. »Vielleicht veranstalten wir heute abend einen Dorftanz in Emondsfeld. Und du? Hast du die Nacht damit verbracht, den ›Kuß der Jungfrau‹ zu spielen?« Gaul stolperte und wäre fast auf die Nase gefallen. »Was ist los?« »Von wem hast du diese Bezeichnung gehört?« fragte der Aielmann leise, wobei er stur geradeaus blickte.

»Von Chiad. Warum?« »Chiad«, knurrte Gaul. »Die Frau ist eine Goshien. Goshien! Ich sollte sie als Gai'schain zur Heißquellenfestung zurückbringen.« Die Worte klangen zornig, doch sein eigenartiger Tonfall nicht. »Chiad.« »Sagst du mir vielleicht, was los ist?« »Ein Myrddraal ist weniger schlau als eine Frau«, sagte Gaul mit ausdrucksloser Stimme, »und ein Trollocs hat im Kampf noch mehr Ehre im Leib.« Einen Augenblick später fügte er in zornigem Tonfall hinzu: »Und ein Ziegenbock hat mehr Verstand als ich.« Er beschleunigte seine Schritte und lief nach vorn zu den beiden Töchtern des Speers. Er sprach aber nicht mit ihnen, wie Perrin feststellte, sondern lief nur neben ihnen her.

»Habt Ihr etwas davon verstanden?« fragte Perrin Ihvon. Der Behüter schüttelte den Kopf.

Faile schnaubte. »Wenn er glaubt, ihnen Schwierigkeiten bereiten zu müssen, dann werden sie ihn an den Beinen an einem Ast aufhängen, bis er abgekühlt ist.« »Hast du es vielleicht verstanden?« fragte Perrin. Sie ging neben ihm weiter, ohne ihn anzusehen oder zu antworten. Er glaubte zu verstehen, daß sie auch nicht mehr wisse als er. »Ich glaube, ich sollte später mal wieder Raens Lager besuchen. Es ist schon lange her, seit ich sie die Tiganza tanzen sah. Es war... interessant.« Sie knurrte leise etwas vor sich hin, doch er verstand ihre Worte recht gut: »Dich sollte man auch mal an den Beinen aufhängen, bis du abkühlst.« Er lächelte auf ihren Kopf hinunter. »Aber das muß ich ja gar nicht. Du hast ja versprochen, diese Sa'sara für mich zu tanzen.« Ihr Gesicht lief knallrot an. »Ist das was Ähnliches wie die Tiganza? Ich meine, sonst wäre es ja witzlos.« »Du hirnloser Klotz!« fuhr sie ihn an. Sie blickte böse zu ihm auf. »Männer haben schon ihr Herz und Ihr Vermögen Frauen zu Füßen gelegt, die die Sa'sara tanzten. Falls Mutter auch nur vermutete, daß ich sie beherrsche... « Ihr Mund klappte zu, als habe sie schon zuviel gesagt, und ihr Kopf fuhr schnell herum, damit sie wieder geradeaus blickte. Doch vom Haaransatz bis hinunter zum Ausschnitt ihres Kleides sah Perrin nur Hochrot.

»Dann hast du leider keinen Grund, sie zu tanzen«, sagte er leise. »Mein Herz und mein Vermögen, soweit ich das habe, liegen dir ja sowieso schon zu Füßen.« Faile stolperte. Dann lachte sie leise und preßte ihre Wange an seine gestiefelte Wade. »Du bist zu schlau für mich«, murmelte sie. »Eines Tages tanze ich sie für dich und bringe das Blut in deinen Adern zum Kochen.« »Das schaffst du auch so schon«, sagte er, und sie lachte wieder. Sie griff hinter dem Steigbügel zu und umarmte sein Bein im Weitergehen.

Nach einer Weile half aber selbst die Vorstellung nicht mehr gegen die Schmerzen, daß Faile für ihn tanze. Sicher, so schloß er aus dem Tanz der Kesselflickerfrauen, mußte ihr Tanz noch etwas weiter gehen, aber die Schmerzen waren jetzt einfach zu stark. Jeder Schritt, den Traber tat, war die reinste Folter für ihn. Er hielt sich trotzdem aufrecht. In dieser Stellung schienen die Schmerzen ein ganz klein wenig schwächer. Außerdem wollte er vor den anderen besser dastehen und ihnen die gute Laune nicht verderben, die ihnen die Tuatha'an vermittelt hatten. Auch die anderen Männer saßen hochaufgerichtet in den Sätteln, selbst diejenigen, die sich noch am Vortag zusammengekrümmt an die Sattelhörner geklammert hatten. Und Ban und Dannil und die anderen schritten mit hocherhobenen Köpfen einher. Er würde doch nicht der erste sein, der wieder in sich zusammensackte.

Wil begann, ›Heimkehr vom Tarwin-Paß‹ zu pfeifen. Drei oder vier andere fielen schnell ein. Nach einer Weile dann fing Ban an, mit seiner tiefen, klaren Stimme zu singen:

»Die Heimat wartet dort auf mich

und das Mädchen, das ich gefreit.

Oh, liebstes Herzblut, halte dich

für meine Rückkehr bereit!

Es blitzt der Schalk in ihren Augen,

ihre Küsse brennen so heiß.

Die warmen Lippen zur Liebe taugen.

Sie ist der größte Schatz, den ich weiß.«

Bei der zweiten Strophe fielen noch mehr ein, bis schließlich alle sangen, selbst Ihvon. Und Faile. Aber Perrin natürlich nicht. Man hatte ihm oft genug gesagt, daß sein Singen wie das Quaken eines Frosches klang, auf den jemand tritt. Ein paar marschierten sogar im Rhythmus des Gesangs.

»›Ich habe den Paß von Tarwin gesehn

und hörte der Trollocs Geheule.

Ich blieb trotz des Myrddraals Angriff stehn,

schwang gegen den Halbmensch die Keule.

Doch mein Herz klopft, denk ich an meine Süße

und an ihre verheißungsvollen Küsse... «

Perrin schüttelte den Kopf. Noch vor einem Tag wären sie am liebsten weggelaufen und hätten sich versteckt. Heute sangen sie von einer Schlacht, die schon so lang her war, daß in den Zwei Flüssen außer in diesem Lied niemand mehr davon wußte. Vielleicht wurden langsam Soldaten aus ihnen. Das war auch notwendig, falls es ihm nicht gelang, das Wegetor wieder zu verschließen.

Nun wurden die Bauernhöfe wieder häufiger, standen näher beieinander, und schließlich zogen sie auf einem befestigten Weg zwischen heckengesäumten oder von niedrigen, aufgeschichteten Mauern geschützten Feldern weiter. Die Höfe waren verlassen. Keiner hier klammerte sich unbedingt an sein Land.

Sie erreichten die Alte Straße, die vom Norden her vom Weißen Fluß — dem Manetherendrelle — über Devenritt nach Emondsfeld führte, und jetzt sahen sie endlich auch wieder Schafe auf der Weide, große Herden, als habe man die Schafherden eines Dutzends von Züchtern zusammengetrieben, und mit zehn Schäfern, wo normalerweise einer genügt hätte. Dazu waren die Hälfte davon auch noch erwachsene Männer. Mit Bogen bewaffnete Schäfer beobachteten ihren Vorbeizug und konnten offensichtlich nicht verstehen, wieso sie aus voller Kehle sangen.

Dafür wußte Perrin nichts mit dem ersten Anblick von Emondsfeld anzufangen, der sich ihnen bot. Den anderen Männern von den Zwei Flüssen ging es ebenso. Ihr Gesang wurde zögernd und erstarb.

Die Bäume, Zäune und Hecken in der direkten Umgebung des Dorfs waren weg. Man hatte sie entfernt. Die Häuser am westlichen Ende Emondsfelds hatten einst unter den ersten Bäumen des Westwalds gestanden. Die Eichen und Lederblattbäume zwischen den Häusern standen noch, aber der Waldrand war nun fünfhundert Schritt entfernt, gerade die Schußweite eines guten Langbogens, und die Äxte der Männer hackten laut auf weitere Bäume ein, die ebenfalls noch gefällt wurden. Eine Reihe hüfthoher, schräg in den Boden gerammter Pfähle nach der anderen säumte nun das Dorf, von den Häusern aus bis weit in die freie Fläche hinein. Es wirkte wie eine gewaltige Dornenhecke, die nur dort eine Unterbrechung aufwies, wo die Straße in das Dorf hineinführte. In Abständen waren hinter den Pfählen Wachen aufgestellt worden. Ein paar der Männer trugen Teile alter Rüstungen oder Lederwesten, auf die man rostige Stahlscheiben genäht hatte. Einige wenige hatten zerbeulte alte Stahlkappen auf den Köpfen. Bewaffnet waren sie mit Saufedern oder Hellebarden, die sie wohl in ihren Speichern ausgegraben hatten, oder mit Buschhaken, die sie einfach auf lange Stangen gesteckt hatten. Andere Männer und Jungen saßen mit Bögen bewaffnet auf den strohgedeckten Dächern. Als sie Perrin und die anderen kommen sahen, standen sie auf und riefen den Leuten unten die Neuigkeit zu.

Neben der Straße und ein Stück hinter den Pfählen stand eine Vorrichtung aus Holz und dicken, gezwirbelten Tauen, und daneben lag ein Stapel von mehr als kopfgroßen Steinen. Ihvon bemerkte, daß Perrin die Stirn verständnislos runzelte, als sie näher kamen. »Katapult«, sagte der Behüter. »Bisher haben sie sechs davon. Eure Zimmerleute wußten, was sie zu tun hatten, nachdem Tomas und ich es ihnen einmal gezeigt hatten. Die Pfähle werden die angreifenden Trollocs oder auch Weißmäntel zurückhalten, gleich, wer von ihnen nun kommt.« Er hätte, seinem Tonfall nach, genauso über das Wetter sprechen können.

»Ich sagte dir doch, daß sich dein Dorf auf die Verteidigung vorbereitet.« Faile machte einen wild entschlossenen und stolzen Eindruck, gerade so, als sei es ihr Dorf. »Harte-Menschen in einer so sanften Landschaft. Sie könnten fast aus Saldaea kommen. Moiraine hat ja immer behauptet, daß hier das Blut von Manetheren noch seine Wirkung zeige.« Perrin konnte da nur den Kopf schütteln.

Auf den ausgetretenen Lehmstraßen des Dorfes herrschte ein Betrieb wie in einer Stadt. Die Lücken zwischen den Häusern waren angefüllt mit abgestellten Wagen und Karren, und durch die geöffneten Türen und Fenster sah er noch mehr Menschen. Die Menge teilte sich vor Ihvon und den Aiel und sie wurden die Straße entlang von verhaltenem Gemurmel begleitet.

»Da ist Perrin Goldauge.« »Perrin Goldauge.« »Perrin Goldauge.« Er wünschte, sie sprächen nicht so über ihn. Diese Leute kannten ihn doch, jedenfalls die meisten. Was glaubten sie denn? Da war Neysa Ayellin mit dem Pferdegesicht, die ihm den zehnjährigen Hintern versohlt hatte, als Mat ihn überredet hatte, einen ihrer Stachelbeerkuchen zu klauen. Und dort stand Cilia Cole mit ihren roten Wangen und den großen Augen. Sie war das erste Mädchen gewesen, das er je geküßt hatte, und sie war immer noch an den richtigen Stellen mollig. Und Pel Aydaer stand neben ihr, immer noch die Pfeife im Mund und jetzt mit einem Kahlkopf ausgestattet. Er hatte Perrin beigebracht, wie man mit bloßen Händen Forellen fängt. Daise Congar höchstpersönlich stand an der Straße, eine große, breitgebaute Frau, neben der sogar Alsbet Luhhan sanft wirkte. Sie überragte wie immer ihren hageren Ehemann Wit. Und alle blickten ihn an und flüsterten den von außerhalb stammenden Leuten einiges zu, die vielleicht nicht wußten, wer er war. Als der alte Cenn Buie einen kleinen Jungen auf seine Schultern hob, auf Perrin deutete und ganz begeistert mit dem Kind sprach, stöhnte Perrin frustriert. Die waren doch alle verrückt geworden!

Die Leute liefen hinter Perrin und den anderen her, umringten sie sogar, in einer von Gemurmel begleiteten Prozession. Hühner rannten gackernd vor ihnen weg. Blökende Kälber und quiekende Schweine in den Ställen hinter den Häusern wetteiferten mit dem Lärm, den die Menschen da veranstalteten. Schafe drängten sich auf dem Anger und schwarzweiße Milchkühe grasten neben grauen und weißen Gänsen.

Und in der Mitte des Angers stand ein hoher Mast, an dem eine weiße Flagge mit rotem Rand träge im leichten Wind flatterte. Auf der Flagge war ein roter Wolfskopf abgebildet. Er sah Faile an, doch die schüttelte genauso überrascht wie er den Kopf.

»Ein Symbol.« Perrin hatte gar nicht bemerkt, daß Verin sich ihnen näherte, obwohl er nun auch gedämpftes Geflüster von einer ›Aes Sedai‹ hörte, das sie begleitete. Ihvon wirkte nicht überrascht. Die Menschen sahen sie mit großen Augen voller Ehrfurcht an.

»Die Menschen brauchen Symbole«, fuhr Verin fort und legte eine Hand auf Trabers Schulter. »Als Alanna ein paar Dorfbewohnern erzählte, wie sehr die Trollocs Wölfe fürchten, schien jeder die Flagge für eine tolle Idee zu halten. Euch gefällt es nicht, Perrin?« War das Sarkasmus in ihrer Stimme? Ihre dunklen Augen blickten vogelähnlich zu ihm auf. Ein Vogel, der einen Wurm betrachtet?

»Ich frage mich, was Königin Morgase davon hält«, sagte Faile. »Das hier ist ein Teil Andors. Königinnen haben es meist nicht sehr gern, wenn auf ihrem Gebiet eine fremde Flagge gehißt wird.« »Das sind doch nur Linien auf einer Landkarte«, sagte Perrin zu ihr. Es tat gut, stillzusitzen. Das von der Pfeilspitze ausgehende Pochen schien etwas nachgelassen zu haben. »Ich wußte noch nicht einmal, daß wir ein Teil Andors sein sollen, bis ich nach Caemlyn kam. Ich bezweifle, daß viele Menschen hier darüber Bescheid wissen.« »Herrscher haben die Angewohnheit, den Landkarten Glauben zu schenken, Perrin.« Es gab keinen Zweifel an dem Sarkasmus in Failes Stimme. »Als ich noch ein Kind war, gab es Teile von Saldaea, wo die Leute fünf Generationen lang keinen Steuereinnehmer mehr gesehen hatten. Sobald Vater aber in der Lage war, seine Aufmerksamkeit eine Weile lang von der Grenze zur Fäule abzuwenden, ließ Tenobia sie wissen, wer ihre Königin sei.« »Das hier sind die Zwei Flüsse und nicht Saldaea«, sagte er grinsend. Es klang ja ziemlich wild, was sie so von Saldaea erzählte. Als er sich wieder Verin zuwandte, wurde aus dem Grinsen schnell eine finstere Miene. »Ich glaubte, Ihr wolltet... verbergen... wer Ihr seid.« Er war nicht in der Lage, zu unterscheiden, was ihn mehr beunruhigte: eine heimliche Aes Sedai oder eine, die der Öffentlichkeit bekannt war.

Die Hand der Aes Sedai schwebte eine Handbreit über der abgebrochenen Pfeilspitze, die in seiner Seite steckte. Die Umgebung der Wunde kitzelte ein wenig. »Oh, das sieht gar nicht gut aus«, murmelte sie. »Steckt in der Rippe drin und ist trotz der Salbe etwas infiziert. Ich glaube, da muß Alanna ran.« Sie blinzelte und zog die Hand weg. Das Kitzeln verflog daraufhin auch. »Was? Geheimhalten? Oh. Bei alledem, was hier los ist, konnten wir es kaum geheimhalten. Ich denke schon, daß wir hätten... abreisen können. Aber das hättet Ihr nicht gewünscht, oder?« Da war wieder dieser berechnende Raubvogelblick.

Er zögerte und seufzte schließlich auf. »Wohl nicht.« »Es tut gut, das zu hören«, sagte sie lächelnd.

»Warum seid Ihr wirklich hierher gekommen, Verin?« Sie schien ihm nicht zugehört zu haben. Oder sie hatte nicht zuhören wollen. »Jetzt müssen wir uns aber um dieses Ding in Euch kümmern. Und diese anderen Burschen müssen auch versorgt werden. Alanna und ich werden die schlimmsten Wunden versorgen, aber... « Die Männer waren alle genauso wie er von dem überrascht, was sie hier vorgefunden hatten. Als Ban die Flagge sah, kratzte er sich verlegen am Kopf, während sich andere nur erstaunt umblickten. Die meisten aber sahen Verin mit großen Augen nervös an. Sie hatten bestimmt das geflüsterte ›Aes Sedai‹ gehört. Auch Perrin kam bei diesen Blicken nicht ungeschoren davon, da er sich mit einer Aes Sedai unterhielt, als sei es irgendeine Dorfbewohnerin, soviel war ihm klar.

Verin erwiderte ihre Blicke ganz offen. Dann griff sie, scheinbar ohne hinzusehen, nach hinten und schnappte sich ein Mädchen von vielleicht zehn oder zwölf Jahren aus den Reihen der Gaffer. Das Mädchen, dessen langes, dunkles Haar mit blauen Bändern festgehalten wurde, wurde vor Angst steif. »Du kennst Daise Congar, Mädchen?« fragte Verin. »Also, dann suche sie und sage ihr, hier seien verwundete Männer, die die Kräuter einer Seherin benötigten. Und sage ihr, sie solle sich beeilen. Sage ihr, daß ich keine Geduld mehr mit ihr und ihren Launen habe. Kannst du dir das merken? Dann laufe los.« Perrin erkannte das Mädchen nicht, aber offensichtlich kannte sie Daise, denn sie zuckte zusammen, als sie die Botschaft vernahm. Aber Verin war eine Aes Sedai. Einen Augenblick lang wog das Mädchen ab — Daise Congar gegen eine Aes Sedai —, und dann verschwand es in der Menge.

»Und Alanna wird sich um Euch kümmern«, sagte Verin, die wieder mit zusammengekniffenen Augen zu ihm aufblickte.

Er wünschte, so etwas klänge nicht so verdammt doppeldeutig bei ihr.

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