Das Herz des Steins in Tel'aran'rhiod war genauso wie in der wirklichen Welt, an die sich Egwene erinnerte: riesige, glänzende Sandsteinsäulen erhoben sich bis an eine ferne Decke und unter der mächtigen Kuppel in der Mitte war Callandor zu sehen, wie es in den hellen Steinplatten des Fußbodens stak. Nur die Menschen fehlten. Die goldenen Lampen waren nicht entzündet worden, und doch gab es etwas Licht, trüb und dennoch schmerzte es gleichzeitig in den Augen. Es schien von überall her zugleich zu kommen. Das war aber oft so, wenn man sich in Tel'aran'rhiod im Inneren eines Gebäudes befand.
Wen sie nicht erwartet hatte, war die Frau, die jenseits des glitzernden Kristallschwertes stand und in die blassen Schatten unter den Säulen starrte. Ihre Kleidung überraschte Egwene. Bloße Füße und Pumphosen aus mit Brokat gesäumter gelber Seide. Darüber eine Schärpe in etwas dunklerem Gelb, und ihr Oberkörper war nackt, bis auf ein paar Goldketten an ihrem Hals. Eine glitzernde Reihe von winzigen Goldringen schmückte ihre Ohren, und, noch überraschender, sie trug einen weiteren goldenen Ring durch die Nase. Von ihm aus hing eine dünne Kette bis zu einem der Ringe in ihrem linken Ohr. An der Kette wiederum hingen Medaillons.
»Elayne?« Egwene schnappte nach Luft, und sie raffte ihren Schal um die Schultern zusammen, als sei sie es, die keine Bluse trug. Sie hatte sich diesmal wie eine Weise Frau angezogen, eigentlich ohne besonderen Grund.
Die Tochter-Erbin fuhr zusammen, und als sie sich zu Egwene herumdrehte, trug sie plötzlich eine züchtige blaßgrüne Robe mit hohem, besticktem Kragen und langen Ärmeln, deren Manschetten ihr bis auf die Hände herunterhingen. Keine Ohrringe. Kein Nasenring. »So ziehen sich die Frauen des Meervolks an, wenn sie auf See sind«, sagte sie schnell und wurde doch ziemlich rot dabei. »Ich wollte erleben, wie man sich darin fühlt und das hier schien der beste Ort dafür. Auf dem Schiff konnte ich es schließlich nicht ausprobieren.« »Und was für ein Gefühl ist es?« fragte Egwene neugierig.
»Vor allem war mir kalt.« Elayne blickte sich unter den Säulen um. »Und man hat das Gefühl, daß einen jeder anstarrt, selbst wenn überhaupt niemand da ist.« Plötzlich mußte sie lachen. »Armer Thom und armer Juilin. Die meiste Zeit über wissen sie nicht, wohin sie schauen sollen. Die Hälfte der Schiffsbesatzung besteht aus Frauen.« Egwene betrachtete ebenfalls die Säulen und zuckte die Achseln. Sie hatte auch das Gefühl, sie würden beobachtet. Zweifellos kam das daher, daß sie die einzigen Menschen im Stein waren. Keiner, der sich nach Tel'aran'rhiod begeben konnte, erwartete, hier jemanden vorzufinden, der ihn oder sie beobachtete. »Thom? Thom Merrilin? Und Juilin Sandar? Sind sie etwa bei euch?« »Ach, Egwene, Rand hat sie geschickt. Rand und Lan. Nun ja, Thom wurde eigentlich von Moiraine geschickt, und Rand hat dann Meister Sandar auch noch hinter uns hergejagt. Um uns zu helfen. Nynaeve ist ganz schön sauer deswegen, auf Lan natürlich, aber sie läßt sich nichts anmerken.« Egwene unterdrückte ein Lächeln. Nynaeve war sauer? Elaynes Gesicht strahlte, und sie hatte schon wieder das Kleid gewechselt. Diesmal war der Ausschnitt um vieles tiefer, aber das schien ihr nicht bewußt zu sein. Der Ter'Angreal, der verdrehte Steinring, half der Tochter-Erbin dabei, ähnlich leicht wie Egwene die Welt der Träume zu erreichen, aber er verlieh einem deshalb noch nicht das Wissen, wie man seine Fähigkeiten beherrschte. Das mußte man erst lernen. Nebengedanken, zum Beispiel, wie sie sich gern vor Rand zeigen würde, änderten für Elayne noch einiges, das sie nicht unter Kontrolle hatte.
»Wie geht es ihm?« In Elaynes Stimme schwangen sowohl gekünstelte Gleichgültigkeit wie auch bange Erwartung mit.
»Nun«, sagte Egwene, »ich denke, es geht ihm gut.« Sie berichtete nun alles — von den Portalsteinen und Rhuidean, jedenfalls soweit sie vom Hörensagen darüber Bescheid wußte, davon, durch die Augen der eigenen Vorfahren die Geschichte mitzuerleben, von den Geschöpfen aus dem Drachenbanner, die nun Rands Unterarme zeichneten, von Bairs Aufklärung, daß er den Untergang der Aiel repräsentiere, von der Aufforderung an die Clanhäuptlinge, nach Alcair Dal zu kommen. Amys und die anderen Weisen Frauen waren wohl gerade jetzt dabei; jedenfalls hoffte sie das sehr. Sie erzählte Elayne sogar in Kurzform die Geschichte von Rands richtigen Eltern. »Aber ich weiß nicht recht. Er hat sich seltsamer als je zuvor benommen, und Mat beinahe genauso. Das soll nicht heißen, daß er wahnsinnig wird, aber... Er ist genauso hart wir Rhuarc oder Lan, jedenfalls auf gewisse Weise, vielleicht sogar härter. Er plant irgend etwas, glaube ich, das er niemanden wissen lassen will, und er hat es schrecklich eilig, damit anzufangen. Das macht mir Sorgen. Manchmal habe ich das Gefühl, er sieht überhaupt keine Menschen mehr, sondern nur Figuren auf einem Spielbrett.« Elayne schien sich keine Sorgen zu machen, oder zumindest nicht in dieser Hinsicht. »Er ist, was er ist, Egwene. Ein König oder ein General kann sich nicht immer leisten, Menschen als solche anzusehen. Wenn ein Herrscher etwas unternehmen muß, das eine ganze Nation betrifft, gibt es Zeiten, da werden einzelne benachteiligt, weil er das Beste für die Gesamtheit erreichen will. Rand ist tatsächlich ein König, Egwene, auch ohne ein Land, falls man nicht Tear zählen will, und wenn er nichts unternimmt, was irgend jemand weh tut, dann wird er am Ende allen schaden.« Egwene schniefte. Es stimmte zwar, Gefallen konnte sie aber nicht daran finden. Menschen blieben Menschen, und als solche mußte man sie auch sehen. »Es gibt noch mehr Neuigkeiten. Einige der Weisen Frauen können die Macht benutzen. Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber ich schätze, es sind gar nicht so wenige. Demnach zu schließen, was mir Amys erzählt, spüren sie jede Frau auf, die auch nur den kleinsten Funken des Talents in sich hat.« Keine Aielfrau mußte sterben, weil sie sich selbst den Gebrauch der Macht lehren mußte, ohne überhaupt zu wissen, was sie tat. Es gab unter den Aiel keine Wilde. Männer, bei denen man bemerkte, daß sie die Macht benutzen konnten, erfuhren ein viel schlimmeres Schicksal Sie gingen nach Norden in die Große Fäule und vielleicht noch weiter, sogar bis ins Verdorbene Land und zum Shayol Ghul. »Wir werden den Dunklen König töten«, sagten sie dazu. Keiner überlebte dort lange genug, um überhaupt noch dem Wahn zu verfallen. »Aviendha gehört zu denen, die dieses Talent besitzen, wie sich herausgestellt hat. Sie wird sogar sehr stark werden, nehme ich an. Amys glaubt das auch.« »Aviendha«, staunte Elayne. »Klar. Ich hätte es wissen sollen. Ich habe das gleiche Gefühl auch bei Jorin gehabt, schon beim ersten Blick, wie bei Aviendha. Und bei dir auch, was das betrifft.« »Jorin?« Elayne verzog das Gesicht. »Ich habe versprochen, niemandem von ihr zu erzählen, und nun plaudere ich es bei der ersten Gelegenheit aus. Nun, ich glaube kaum, daß du ihr oder ihren Schwestern schaden wirst. Jorin ist die Windsucherin des Wogentänzers, Egwene. Sie kann die Macht benützen, und einige der anderen Windsucherinnen können das auch.« Sie blickte sich unter den Säulen um, und plötzlich war ihr Kleid wieder hochgeschlossen. Sie rückte einen dunklen Spitzenschal zurecht, der sich einen Augenblick zuvor noch nicht dort befunden hatte und der nun ihr Haar bedeckte und seinen Schatten auf ihr Gesicht warf. »Egwene, du darfst es aber niemandem weitererzählen. Jorin hat Angst, daß die Burg sie zwingen will, Aes Sedai zu werden, um sie auf irgendeine Weise unter Kontrolle zu bringen. Ich versprach, ich würde alles tun, was in meiner Macht steht, um das zu verhindern.« »Ich sage es nicht weiter«, versprach Egwene bedächtig. Weise Frauen und Windsucherinnen. Unter beiden Völkern gab es Frauen, die mit der Macht umgehen konnten, aber keine hatte die Drei Eide abgelegt und war durch die Eidesrute gebunden worden. Die Eide waren dazu da, den Menschen Vertrauen in die Aes Sedai einzuflößen. Oder wenigstens sollten sie ihre Macht nicht fürchten müssen. Aber die Aes Sedai mußten trotzdem die meiste Zeit über im geheimen arbeiten. Weise Frauen — und Windsucherinnen, da hätte sie wetten können — nahmen einen hohen Rang in ihren Gesellschaften ein. Ohne die Fesseln der Eide arbeiteten sie wahrscheinlich in Sicherheit. Das gab ihr doch zu denken.
»Nynaeve und ich sind unserem Plan übrigens schon voraus, Egwene. Jorin hat mir beigebracht, wie man das Wetter beeinflußt. Du wirst nicht glauben, welch mächtige Stränge des Elements Luft sie verweben kann! Gemeinsam haben wir den Wogentänzer so schnell vorangetrieben, wie er nur segeln konnte, und das ist wirklich schnell! Wir dürften in etwa drei, vielleicht sogar in zwei Tagen in Tanchico anlegen, meint Coine. Sie ist die Segelherrin, also Kapitän des Wogentänzers. In zehn Tagen von Tear nach Tanchico! Und dabei drehen wir noch bei und sprechen mit den Leuten auf jedem Schiff der Atha'an Miere, das wir unterwegs sichten. Egwene, die Meerleute glauben, daß Rand ihr Coramoor sei.« »Tatsächlich?« »Coine irrt sich in mancher Beziehung, was die Ereignisse in Tear betrifft. Sie nimmt zum Beispiel an, die Aes Sedai dienten nun Rand. Nynaeve und ich hielten es für das Beste, sie nicht über die wirklichen Verhältnisse aufzuklären. Aber sobald sie alles einer anderen Segelherrin erzählt, wird die es weitergeben und sie werden alle Rand dienen. Ich glaube, sie würden reinweg alles tun, was er von ihnen verlangt.« »Ich wünschte, die Aiel wären genauso willig«, seufzte Egwene. »Rhuarc glaubt, daß sich einige weigern werden, ihn anzuerkennen, ganz gleich, ob er nun die Drachen von Rhuidean am Arm trägt oder nicht. Ein Bursche, Couladin heißt er, würde ihn sofort umbringen, wenn er eine Gelegenheit hätte.« Elayne trat einen Schritt vor. »Du wirst achtgeben, daß ihm nichts passiert.« Es war weder eine Frage noch eine Bitte. In ihren blauen Augen stand ein hartes Leuchten, und in ihrer Hand lag plötzlich ein blanker Dolch.
»Ich werde mein Bestes geben. Rhuarc stellt ihm Leibwächter zur Seite.« Elayne schien den Dolch erst jetzt zu bemerken und zuckte zusammen. Die Klinge verschwand. »Du mußt mir alles beibringen, was Amys dich lehrt, Egwene. Es bringt mich aus der Fassung, wenn Sachen plötzlich auftauchen oder verschwinden, oder wenn mir mit einemmal klar wird, daß ich schon wieder andere Kleider trage. Es passiert einfach.« »Das werde ich tun. Wenn ich Zeit dazu habe.« Sie war schon zu lange in Tel'aran'rhiod. »Elayne, falls ich nicht da bin, wenn wir uns das nächste Mal treffen wollen, dann mach dir keine Sorgen. Ich werde es versuchen, aber vielleicht bin ich nicht in der Lage, zu kommen. Sag es bitte auf jeden Fall auch Nynaeve. Wenn ich nicht komme, dann schaut jede Nacht danach herein. Ich werde wohl kaum mehr als ein oder zwei Tage später kommen, da bin ich eigentlich sicher.« »Wenn du meinst«, sagte Elayne zweifelnd. »Es wird bestimmt Wochen dauern, bis wir wissen, ob Liandrin und die anderen in Tanchico sind oder nicht. Thom scheint zu glauben, daß es in der Stadt ziemlich durcheinander geht.« Ihr Blick wanderte zu Callandor, das bis zur Hälfte im Fußboden vergraben war. »Warum hat er das gemacht, was glaubst du?« »Er sagte, es werde die Tairener an ihn binden. Solange sie wissen, daß es hier ist, wissen sie auch, daß er zurückkommen wird. Vielleicht weiß er tatsächlich, was er tut. Ich hoffe es zumindest.« »Oh. Ich dachte, er sei... vielleicht... böse wegen irgendeiner Sache.« Egwene runzelte die Stirn. Diese plötzliche Verlegenheit paßte gar nicht zu Elayne. »Weswegen sollte er böse sein?« »Ach, nichts. Es war nur so eine Idee. Egwene, ich gab ihm zwei Briefe, bevor ich Tear verließ. Weißt du, wie er sie aufgenommen hat?« »Nein, keine Ahnung. Hast du ihm irgend etwas geschrieben, von dem du glaubst, er sei dir deshalb böse?« »Nein, natürlich nicht.« Elayne lachte fröhlich, doch es klang gezwungen. Ihr Kleid war plötzlich aus dunkler Wolle gewebt und fest genug, um einen harten Winter zu überdauern. »Ich bin nicht so närrisch, daß ich ihm Dinge schreibe, die ihn ärgern.« Ihr Haar stand plötzlich nach allen Richtungen ab. Es wirkte wie eine total verrückte Krone. Sie war sich dessen jedoch gar nicht bewußt. »Ich bemühe mich schließlich, ihn in mich verliebt zu machen. Ich will einfach nur, daß er mich liebt. Oh, warum können Männer nicht einfacher sein? Warum müssen sie einem solche Schwierigkeiten bereiten? Na, wenigstens ist er von Berelain weg.« Aus der Wolle wurde wieder Seide, und der Ausschnitt war nun noch tiefer als vorher. Ihr Haar schimmerte auf ihren Schultern und übertraf sogar den Glanz der Seide. Sie zögerte und nagte an ihrer Unterlippe. »Egwene? Wenn du eine Gelegenheit hast, sagst du ihm dann, daß ich ernst gemeint habe, was ich in... Egwene? Egwene!« Etwas hatte Egwene gepackt. Das Herz des Steins schrumpfte zu einem schwarzen Punkt zusammen, als zerre sie jemand am Kragen weg.
Keuchend schoß Egwene von ihren Kissen hoch. Ihr Herz klopfte ungestüm, und sie blickte hoch zu dem nachtdunklen Zeltdach über ihrem Kopf. An den offenen Seiten drang nur ein wenig Mondschein herein. Sie lag unter ihren Decken, denn die Nächte in der Wüste waren ebenso kalt wie die Tage heiß waren, und der Rost, von dem der süßliche Geruch glühenden Dungs herkam, gab wenig Wärme ab. Sie lag, wo sie sich zum Schlafen hingelegt hatte. Aber was hatte sie zurückgezerrt?
Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß Amys mit übergeschlagenen Beinen neben ihr saß, in Schatten gehüllt. Das vom Halbschatten bedeckte Gesicht der Weisen Frau kam ihr genauso düster und bedrückend vor wie die ganze Nacht.
»Habt Ihr das getan, Amys?« fragte sie verärgert. »Ihr habt kein Recht dazu, mich einfach so hin und her zu zerren. Ich bin eine Aes Sedai von den Grünen Ajah...« Die Lüge kam ihr mittlerweile leicht über die Lippen. »... und Ihr habt kein Recht... « Amys schnitt ihr mit grimmiger Stimme das Wort ab: »Jenseits der Drachenmauer im Weißen Turm mögt Ihr eine Aes Sedai sein, aber hier seid Ihr eine unwissende Schülerin, ein leichtsinniges Kind, das durch eine Schlangengrube kriecht.« »Ich weiß, ich habe gesagt, ich gehe nicht ohne Euch nach Tel'aran'rhiod«, sagte Egwene in leicht zerknirschtem Tonfall, »aber...« Etwas packte sie an den Knöcheln und riß ihre Füße in die Luft empor. Die Decken fielen zur Seite und ihr Nachthemd rutschte hoch bis an ihre Achselhöhlen. Sie hing mit dem Kopf nach unten in der Luft, und ihr Gesicht befand sich auf einer Höhe mit dem von Amys. Wütend griff sie nach Saidar — und stellte fest, daß sie abgeschirmt war.
»Ihr wolltet allein losziehen«, zischte Amys leise. »Ihr wart gewarnt worden, aber Ihr mußtet trotzdem gehen.« Ihre Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen. Sie wurden immer heller. »Überhaupt kein Gedanke daran, was auf Euch warten könnte. Es gibt Ding im Traum, die auch das tapferste Herz zerspringen lassen.« Um diese Augen aus blauglühender Kohle schmolz das Gesicht, dehnte sich. Wo sich Haut befunden hatte, da wuchsen nun Schuppen. Das Kinn schob sich nach vorn und scharfe, spitze Zähne schimmerten in dem weit geöffneten Rachen. »Dinge, die auch das tapferste Herz fressen könnten«, grollte sie.
Schreiend trommelte Egwenes Verstand gegen die Wand, die sie von der Wahren Quelle trennte. Sie versuchte, in dieses schreckliche Gesicht zu schlagen, dieses Ding zu treffen, das nicht Amys sein konnte. Aber etwas packte nun ihre Arme und streckte sie bis zum Äußersten, und das mitten in der Luft. Sie konnte lediglich schreien, als sich der Rachen um ihren Kopf schloß.
Schreiend fuhr Egwene auf ihrem Lager hoch und klammerte sich an ihre Decken. Mit Mühe zwang sie sich, den Mund zu schließen, aber sie konnte ihren Körper nicht davon abhalten, unkontrolliert zu zittern. Sie befand sich im Zelt — oder etwa nicht? Da saß Amys mit übergeschlagenen Beinen im Schatten und um sie herum glühte Saidar —, aber war es wirklich Amys? Verzweifelt öffnete sie sich der Wahren Quelle und hätte beinahe geheult, als sie wieder auf diese Barriere traf. Sie schlug die Decken zurück und krabbelte auf Händen und Knien über die Schichten von Teppichen, wobei sie ihre sorgfältig zusammengelegte Kleidung mit beiden Händen durcheinanderwühlte. Sie hatte doch ein Messer am Gürtel. Wo war das nur? Wo? Da!
»Setzt Euch hin«, sagte Amys beißend, »bevor ich Euch eine Medizin gegen Zappelei und Hirngespinste verabreiche. Sie wird Euch nicht schmecken.« Egwene drehte sich auf den Knien um, das kurze Messer in beiden Händen. Sie hätten ja gezittert, wenn sie sie nicht so fest um den Messergriff geschlossen hätte. »Seid Ihr es diesmal wirklich?« »Ich bin immer ich selbst, jetzt wie vorhin. Eine harte Lektion ist immer die beste. Wolltet Ihr mich erstechen?« Zögernd steckte Egwene das Messer in die Scheide zurück. »Ihr habt kein Recht, mich...« »Ich habe jedes Recht dazu! Ihr habt mir Euer Wort gegeben. Ich wußte nicht, daß Aes Sedai lügen können. Wenn ich Euch unterweisen soll, muß ich mich darauf verlassen können, daß Ihr tut, was ich sage. Ich werde nicht zuschauen, wie sich eine meiner Schülerinnen den eigenen Hals durchschneidet!« Amys seufzte. Das Glühen um sie herum verflog und damit auch der Block zwischen Egwene und Saidar. »Ich kann Euch nicht noch länger abschirmen. Ihr seid viel stärker als ich. Jedenfalls in bezug auf die Eine Macht. Ihr hättet beinahe meine Abschirmung durchbrochen. Aber wenn Ihr euer Wort nicht haltet, bin ich mir nicht sicher, ob ich Euch unterrichten will.« »Ich werde mein Wort halten, Amys. Das verspreche ich. Aber ich muß mich in Tel'aran'rhiod mit meinen Freundinnen treffen. Ich habe es ihnen auch versprochen. Amys, sie brauchen vielleicht meine Hilfe und meinen Rat.« Es war in der Dunkelheit schwer, Amys' Gesicht zu erkennen, und Egwene entdeckte nichts, was auf ein Aufweichen der starren Front schließen ließ. »Bitte, Amys. Ihr habt mir doch schon so viel beigebracht. Ich glaube, ich kann sie jetzt überall aufspüren. Bitte. Hört jetzt nicht auf, wo es so viel gibt, was ich noch lernen kann. Ich werde tun, was immer Ihr wünscht.« »Flechtet Euch Zöpfe«, sagte Amys mit tonloser Stimme.
»Zöpfe?« fragte Egwene unsicher. Es wäre sicher nicht schlimm, aber warum? Sie trug das Haar jetzt lose und schulterlang, aber es war noch nicht so lange her, da war sie vor Stolz beinahe geplatzt, als die Versammlung der Frauen zu Hause festgestellt hatte, sie sei jetzt alt genug, einen Zopf zu tragen, so, wie ihn Nynaeve immer noch trug. An den Zwei Flüssen war ein Zopf das Zeichen dafür, daß man eine Frau war und kein kleines Mädchen mehr.
»Zwei«, sagte Amys. »Einen über jedem Ohr.« Amys Stimme klang immer noch wie eine Steinplatte. »Falls Ihr keine Bänder habt, die Ihr hineinflechten könnt, gebe ich Euch welche. So tragen die kleinen Mädchen bei uns das Haar. Mädchen, die zu jung sind, um beim Wort genommen zu werden. Wenn Ihr mir beweist, daß Ihr euer Wort halten könnt, braucht Ihr die Zöpfe nicht mehr so zu tragen. Wenn Ihr mich aber wieder belügt, dann lasse ich Euch den Rock abschneiden, wie bei den Kleidchen der kleinen Mädchen, und ich suche Euch eine Puppe, die Ihr herumtragen könnt. Wenn Ihr Euch entschließt, Euch wie eine Frau zu verhalten, werdet Ihr auch als Frau behandelt. Erklärt Euch einverstanden, oder ich unterrichte Euch nicht mehr.« »Ich bin einverstanden, falls Ihr mich begleitet, wenn ich meine... « »Stimmt zu, Aes Sedai! Ich feilsche nicht mit Kindern oder solchen, die ihr Wort nicht halten. Entweder tut Ihr, was ich sage, akzeptiert, was ich Euch freiwillig gebe, dann ist es in Ordnung. Oder Ihr geht weg und laßt Euch umbringen. Ich — werde — Euch — nicht — dabei — helfen!« Egwene war froh, daß es dunkel war. Dadurch wurde ihre finstere Miene verborgen. Natürlich hatte sie ihr Wort gegeben, aber ansonsten war alles so ungerecht. Keiner versuchte dagegen, Rand mit irgendwelchen blödsinnigen Vorschriften einzuengen. Nun ja, vielleicht war das wirklich ein anderer Fall. Sie ließ sich doch noch lieber von Amys herumkommandieren, als immer in Gefahr zu sein, daß Couladin ihr einen Speer in den Rücken jagte. Mat aber würde sich mit Sicherheit nicht an anderer Leute Vorschriften halten. Doch ob er nun ein Ta'veren war oder nicht, er mußte eben auch nichts lernen, nur einfach da sein. Höchstwahrscheinlich würde er sich glatt weigern, wenn er etwas lernen sollte, außer, es hätte mit Glücksspielen oder Essen zu tun. Sie dagegen wollte etwas lernen. Manchmal erschien es ihr wie ein unstillbarer Durst; soviel sie auch aufnahm, sie wollte doch immer mehr. Das machte die Sache aber trotzdem nicht besser. Es ist eben so, und ich muß es hinnehmen, dachte sie bedauernd.
»Ich bin einverstanden«, sagte sie. »Ich werde tun, was Ihr verlangt, annehmen, was Ihr gebt, und sonst nichts.« »Gut.« Nach einer langen Pause, als warte sie darauf, ob Egwene noch etwas sagen wollte, die jedoch weise ihren Mund hielt, fügte Amys hinzu: »Ich werde Euch hart anpacken, Egwene, aber nicht ohne Grund. Daß Ihr glaubt, ich habe Euch bereits vieles beigebracht, zeigt nur, wie wenig Ihr von Beginn an wußtet. Ihr habt ein ausgeprägtes Talent zum Träumen und werdet uns alle wahrscheinlich eines Tages weit hinter Euch lassen. Aber wenn Ihr nicht lernt, was ich Euch lehren kann, was wir vier Euch lehren können, werdet Ihr dieses Talent niemals richtig anwenden können. Höchstwahrscheinlich wärt Ihr nicht lange genug am Leben.« »Ich werde mich bemühen, Amys.« Sie glaubte, eine gute Vorstellung in bezug auf Demut zu geben. Warum sagte die Frau nicht einfach, was sie hören wollte? Wenn Egwene nicht allein nach Tel'aran'rhiod gehen durfte, mußte Amys eben mitkommen beim nächsten Treffen mit Elayne. Oder vielleicht kam beim nächsten Mal auch Nynaeve.
»Gut. Habt Ihr sonst noch etwas zu sagen?« »Nein, Amys.« Diesmal dauerte das Schweigen länger. Egwene wartete so geduldig wie möglich, die Hände auf den Knien gefaltet.
»Also könnt Ihr Eure Wünsche auch für Euch behalten, wenn Ihr wollt«, sagte Amys schließlich, »auch wenn es Euch juckt, als ob Ihr einen Floh hättet. Oder mißverstehe ich den Grund für Eure Unruhe? Soll ich Euch etwas zum Einreiben geben? Nein? Also gut, ich werde Euch begleiten, wenn Ihr Eure Freundinnen treffen müßt.« »Danke schön«, sagte Egwene brav. Ein Floh! Also, so was!
»Falls Ihr mir beim ersten Mal nicht richtig zugehört habt: Der Lernprozeß wird weder einfach, noch kurz. Ihr glaubt, daß Ihr die letzten Tage über gearbeitet habt. Aber nun bereitet Euch darauf vor, erst richtig loszulegen und Euch Mühe zu geben!« »Amys, ich werde alles lernen, was Ihr mir beibringen könnt, und ich werde so hart arbeiten, wie Ihr wünscht. Aber das mit Rand und den Schattenfreunden... Die Zeit zum Lernen könnte sich als Luxus herausstellen, für den unsere Mittel nicht ausreichen.« »Ich weiß«, sagte Amys müde, »er bereitet uns auch schon einige Sorgen. Kommt. Ihr habt mit kindischen Anwandlungen bereits genug Zeit vertrödelt. Es gibt Frauensachen zu besprechen. Kommt. Die anderen warten schon.« Egwene griff nach ihrem Kleid, doch Amys sagte: »Das braucht Ihr nicht. Wir haben nur ein kurzes Stück Weg. Legt Euch eine Decke um und kommt mit. Ich habe bereits eine ganze Menge Arbeit geleistet, um Rand al'Thor zu helfen, und ich muß noch mehr tun, bis wir soweit sind.« Egwene legte sich zweifelnd eine Decke über die Schultern und folgte der älteren Frau in die Nacht hinaus. Es war kalt. Sie hatte sofort eine Gänsehaut am ganzen Körper und hüpfte barfuß von einem Fuß auf den anderen über den eiskalten, steinigen Boden. Nach der Tageshitze erschien ihr diese Nacht so eiskalt wie der kälteste Winter an den Zwei Flüssen. Ihr Atem verwandelte sich in einen Nebelhauch und wurde sofort von der Luft aufgesogen. Kalt oder nicht, die Luft war immer noch trocken.
Am hinteren Ende des Lagers der Weisen Frauen stand ein kleines Zelt, das ihr vorher gar nicht aufgefallen war. Es war genauso niedrig wie die anderen, aber rundherum dicht geschlossen. Zu ihrer Überraschung begann Amys, sich auszuziehen, und sie bedeutete ihr, dasselbe zu tun. Sie biß die Zähne zusammen, damit sie nicht vor Kälte klapperten und kam Amys Aufforderung langsam nach. Als die Aielfrau ausgezogen war, stand sie da, als sei die Nacht überhaupt nicht kalt, atmete tief ein und breitete die Arme aus dabei. Schließlich bückte sie sich und schlüpfte hinein. Egwene eilte beflissen und dankbar hinterher.
Dampf und Hitze schlugen ihr entgegen. Der Schweiß quoll ihr beinahe augenblicklich aus allen Poren. Moiraine befand sich bereits drinnen, dazu die anderen Weisen Frauen und Aviendha. Alle saßen nackt und schwitzend um einen großen Eisenkessel herum, der bis zum Rand mit rußigen Steinen gefüllt war. Kessel und Steine verströmten diese Hitze. Die Aes Sedai schien recht gut erholt von ihren Strapazen, obwohl die Haut um ihre Augen herum angespannt war. Das hatte sie früher bei ihr nicht gesehen.
Während Egwene sich ganz vorsichtig einen Sitzplatz suchte — hier gab es keine Schichten von Teppichen, sondern nur den blanken, steinigen Boden —, holte Aviendha einen Schöpflöffel voll Wasser aus einem kleineren Kessel an ihrer Seite und goß es in den großen hinein. Es zischte, und das Wasser verdampfte augenblicklich. Auf den Steinen blieb nicht einmal ein feuchter Fleck übrig. Aviendhas Miene war ausgesprochen sauer. Egwene konnte sich vorstellen, wie sie sich fühlte. Den Novizinnen in der Burg teilte man auch Arbeiten zu. Sie konnte sich selbst nicht entscheiden, ob sie das Bodenschrubben mehr haßte als das Abwaschen oder andersherum. Diese Arbeit hier schien lange nicht so unangenehm.
»Wir müssen besprechen, was wir in bezug auf Rand al'Thor unternehmen sollen«, sagte Bair, als Amys schließlich auch am Kessel saß.
»In bezug auf ihn unternehmen?« fragte Egwene aufgescheucht. »Er hat die Male. Er ist derjenige, nach dem Ihr geforscht habt.« »Er ist es«, bestätigte Melaine grimmig und wischte sich eine goldene Haarsträhne aus dem feuchten Gesicht. »Wir müssen versuchen, dafür zu sorgen, daß so viele wie möglich aus unserem Volk sein Kommen überleben.« »Und genauso wichtig ist«, bemerkte Seana, »daß er überlebt, um den Rest der Weissagungen in Erfüllung gehen zu lassen.« Melaine funkelte sie zornig an, und Seana fügte in geduldigem Tonfall hinzu: »Sonst wird überhaupt niemand von uns überleben.« »Rhuarc sagte, er werde einige von den Jindo als Leibwächter einsetzen«, sagte Egwene bedächtig. »Hat er seine Meinung nun geändert?« Amys schüttelte den Kopf. »Hat er nicht. Rand al'Thor schläft in den Zelten der Jindo, und hundert Mann wachen darüber, daß er auch wieder aufwacht. Aber die Männer sehen die Dinge oftmals anders als wir. Rhuarc wird ihm folgen, vielleicht bei Entscheidungen widersprechen, die er für falsch hält, aber er wird nicht versuchen, ihn zu gängeln.« »Glaubt Ihr, daß er Führung braucht?« Moiraine zog die Augenbrauen hoch, als Egwene das sagte, doch die jüngere Frau beachtete sie nicht. »Er hat bisher genau das vollbracht, was notwendig war, ohne von anderen angeleitet zu werden.« »Rand al'Thor kennt unsere Sitten und Gebräuche nicht«, erwiderte Amys. »Er könnte Hunderte von Fehlern begehen, die einen Häuptling oder einen Clan dazu bringen, sich gegen ihn zu stellen und ihn lediglich als einen Feuchtländer zu betrachten, statt als den, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt. Mein Ehemann ist zweifellos ein guter Mann und ein hervorragender Häuptling, aber er ist keiner, der Frieden stiften kann, er ist nicht darauf vorbereitet, zornige Männer dazu zu bringen, ihre Speere wegzulegen. Wir müssen eine an Rand al'Thors Seite stellen, die ihm etwas einflüstern kann, wenn er drauf und dran sein sollte, einen falschen Schritt zu tun.« Sie bedeutete Aviendha, mehr Wasser auf die heißen Steine zu gießen. Die junge Frau gehorchte mürrisch, aber mit lockergraziöser Bewegung.
»Und wir müssen ihn beobachten«, warf Melaine in scharfem Ton ein. »Wir müssen eine Ahnung von dem haben, was er vorhat, bevor er es durchführt. Die Erfüllung der Weissagung von Rhuidean hat begonnen und kann so oder so nicht aufgehalten werden, bevor sie ihr Ende findet, aber ich will unbedingt erreichen, daß so viele unserer Leute wie möglich überleben. Wie das erreicht werden kann, hängt von Rand al'Thors Absichten ab.« Bair beugte sich zu Egwene vor. Sie schien nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen. »Ihr habt ihn von Kindheit an gekannt. Wird er sich Euch anvertrauen?« »Das bezweifle ich«, sagte Egwene zu ihr. »Er vertraut nicht mehr so wie früher.« Sie vermied es, Moiraine dabei anzusehen.
»Würde sie es uns mitteilen, wenn er sich ihr anvertraut?« wollte Melaine wissen. »Ich will hier keinen Ärger machen, aber Egwene und Moiraine sind Aes Sedai. Was sie wollen, muß nicht dem entsprechen, was wir wollen.« »Wir haben einst den Aes Sedai gedient«, sagte Bair schlicht. »Damals haben wir versagt. Vielleicht ist es unsere Bestimmung, ihnen wieder zu dienen?« Melaine errötete offensichtlich vor Verlegenheit.
Moiraine gab nicht zu erkennen, daß sie es bemerkte oder daß sie die vorherigen Äußerungen der Frau vernommen hatte. Abgesehen von der um ihre Augen herum straff gespannten Haut wirkte ihre Ruhe eisig. »Ich werde helfen, so gut ich kann«, sagte sie kühl. »Aber ich habe wenig Einfluß auf Rand. Gegenwärtig webt er das Muster nach eigenen Vorstellungen.« »Dann müssen wir ihn ganz genau beobachten und hoffen.« Bair seufzte. »Aviendha, du wirst jeden Tag zu Rand al'Thor gehen, wenn er erwacht, und ihn nicht mehr verlassen, bis er zur Nacht unter seine Decken kriecht. Du wirst ihm so nahe sein wie das Haar auf seinem Kopf. Deine Ausbildung muß weitergehen, so gut es eben möglich ist. Ich fürchte, es wird eine Last für dich sein, beides nebeneinander zu tun, doch es läßt sich nicht vermeiden. Wenn du viel mit ihm sprichst und ihm vor allem zuhörst, solltest du keine Schwierigkeiten haben, in seiner Nähe zu bleiben. Nur wenige Männer schicken eine hübsche, junge Frau weg, die ihnen zuhört. Vielleicht läßt er irgendeinen Hinweis heraus.« Aviendha versteifte sich bei jedem Wort mehr. Als Bair fertig war, fauchte sie: »Das werde ich nicht!« Totenstille breitete sich aus, und alle Augen richteten sich auf sie. Sie erwiderte die Blicke trotzig.
»Du wirst nicht?« fragte Bair leise. »So, du wirst es also nicht tun.« Sie schien die Worte im Mund auf ihren Geschmack zu überprüfen.
»Aviendha«, sagte Egwene mit weicher Stimme, »keiner will von dir, daß du Elayne betrügst. Du sollst nur mit ihm sprechen.« Die einzige Wirkung ihrer Worte war, daß die ehemalige Tochter des Speers sich noch vehementer nach einer Waffe umzusehen schien.
»Ist das eine Disziplin, die man heutzutage bei den Töchtern lernt?« fragte Amys streng. »Falls das so ist, wirst du bald herausfinden, daß die Disziplin bei uns noch strenger ist. Falls es einen Grund gibt, daß du dich nicht in Rand al'Thors Nähe aufhalten kannst, dann nenne ihn uns.« Aviendhas Trotz schien ein wenig schwächer zu werden, und sie murmelte kaum hörbar irgend etwas. Amys Stimme klang nun messerscharf: »Ich sagte, du solltest uns deinen Grund nennen!« »Ich kann ihn nicht leiden!« brach es aus Aviendha heraus. »Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!« Hätte es Egwene nicht besser gewußt, dann hätte sie glauben können, Aviendha sei den Tränen nah. Aber die Worte schockierten sie dennoch. Das konnte Aviendha doch nicht ernst meinen.
»Wir verlangen nicht von dir, daß du ihn liebst und mit ihm ins Bett gehst«, sagte Seana mit beißender Stimme. »Wir befehlen dir, dem Mann zuzuhören, und du wirst gehorchen!« »Kindisch!« schnaubte Amys. »Was für eine Art von jungen Frauen bringt die Welt denn neuerdings hervor? Wird denn keine von Euch erwachsen?« Bair und Melaine reagierten noch schärfer. Die ältere Frau drohte Aviendha anstelle von Rands Sattel auf dessen Pferd zu binden, und es klang, als meine sie es ernst. Und Melaine schlug vor, statt zu schlafen solle Aviendha lieber nachts Löcher graben und dann wieder auffüllen, damit sie einen klaren Kopf bekäme. Die Drohungen waren allerdings nicht dazu bestimmt, sie zur Durchführung des Befehls zu zwingen, das wurde Egwene schnell klar. Diese Frauen erwarteten, daß man ihnen gehorchte. Jede nutzlose Extraarbeit, die Aviendha sich einhandelte, wäre lediglich eine Strafe für ihre Sturheit. Die schien nun allerdings aufzuweichen, da sich die Blicke vierer Weiser Frauen gleichermaßen in sie bohrten. Sie hockte vorgebeugt und abwehrend auf den Knien, aber sie gab noch immer nicht nach. Egwene beugte sich hinüber und legte eine Hand auf Aviendhas Schulter. »Du hast mir gesagt, daß wir beinahe Schwestern seien und ich glaube das auch. Tust du es für mich? Stell dir einfach vor, du paßt für Elayne auf ihn auf. Du magst sie doch auch, wie ich weiß. Du kannst ihm ausrichten, daß sie das ernst gemeint hat, was sie in ihren Briefen schrieb. Das wird ihm gefallen.« Aviendha verzog ihr Gesicht krampfhaft. »Ich werde es tun«, sagte sie und sackte in sich zusammen. »Ich werde für Elayne auf ihn aufpassen. Für Elayne.« Amys schüttelte sich. »Idiotisch. Du wirst auf ihn achtgeben, weil wir es dir befohlen haben, Mädchen. Wenn du glaubst, es aus einem anderen Grund tun zu müssen, wirst du auf schmerzhafte Weise herausfinden, daß du dich irrst. Mehr Wasser. Der Dampf verfliegt ganz.« Aviendha schüttete einen weiteren Schöpfer voll Wasser auf die Steine, als schleudere sie einen Speer. Egwene war froh, daß ihr Widerstandsgeist nicht ganz erloschen war, aber sie würde sie warnen, wenn sie miteinander allein waren. Trotz war ja schon in Ordnung, aber es gab einige Frauen, wie etwa diese vier Weisen Frauen und auch Siuan Sanche, bei denen einem die Vernunft sagte, man sollte besser diesen Trotz im Zaum halten. Man konnte auch den ganzen Tag über die Frauenversammlung anschreien, und am Ende machte man doch, was sie von einem wollten und wünschte, man hätte den Mund gehalten.
»Nun, da dies geklärt ist«, sagte Bair, »laßt uns den Dampf schweigend genießen, während wir noch Zeit dazu haben. Einige von uns haben diese Nacht noch eine Menge zu tun und auch in den kommenden Nächten, wenn wir für Rand al'Thor eine Versammlung in Alcair Dal einberufen wollen.« »Männer finden immer einen Weg, den Frauen Arbeit zuzuschieben«, sagte Amys. »Warum sollte Rand al'Thor da eine Ausnahme machen?« Dann senkte sich Schweigen über das Zelt, außer dem gelegentlichen Zischen, wenn Aviendha mehr Wasser über die heißen Steine goß. Die Weisen Frauen saßen mit auf die Knie aufgestützten Händen da und atmeten tief ein. Es war wirklich recht angenehm und entspannend, diese feuchte Hitze und das reinigende Gefühl, wenn der Schweiß aus allen Poren rann. Egwene war der Meinung, das wiege den verlorenen Schlaf voll und ganz auf.
Allerdings wirkte Moiraine keineswegs entspannt. Sie starrte auf den dampfenden Kessel, als blicke sie hindurch auf etwas sehr, sehr Fernes.
»War es schlimm?« fragte Egwene leise, um die Weisen Frauen nicht zu stören. »In Rhuidean, meine ich.« Aviendha blickte schnell auf, sagte aber nichts.
»Die Erinnerungen verblassen«, sagte Moiraine genauso leise. Sie blickte weiter durch alles hindurch, und ihre Stimme klang fast so eisig, daß sie die Hitze der Luft besiegte. »Das meiste ist bereits vergessen. Manches habe ich schon vorher gewußt. Anderes... Das Rad webt, wie das Rad es wünscht, und wir sind nur einzelne Fäden im Muster. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, den Wiedergeborenen Drachen zu finden, Rand zu finden, und ihn darauf vorzubereiten, in die Letzte Schlacht zu gehen. Das werde ich vollenden, was es auch kosten mag. Nichts und niemand kann wichtiger sein als das.« Obwohl sie so schwitzte, lief Egwene ein kalter Schauer über den Rücken. Sie schloß die Augen. Die Aes Sedai wollte keine Sympathie. Sie war ein Eisklumpen und keine Frau. Egwene verlagerte ihr Gewicht und bemühte sich, dieses angenehme Gefühl wieder zurückzugewinnen. Sie vermutete, es werde in den kommenden Tagen wenig Gelegenheiten geben, irgend etwas zu genießen.