40 Jenseits des Steins

Reste des Regens von frühen Morgen tropften noch von den Ästen der Apfelbäume und ein Purpurfink hüpfte an einem Zweig entlang, wo Obst reifte, das dieses Jahr niemand ernten würde. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, verbarg sich aber hinter dichten, grauen Wolken. Perrin saß mit übergeschlagenen Beinen am Boden und überprüfte geistesabwesend seine Bogensehne. Die gut verpackten, eingewachsten Sehnen neigten dazu, bei feuchtem Wetter zu erschlaffen. Der Sturm, den Verin heraufbeschworen hatte, um sie in der Nacht ihrer Rettungsaktion vor den Verfolgern zu verbergen, hatte selbst sie durch seine Gewalt überrascht. In den darauffolgenden sechs Tagen hatte es noch dreimal solche herabtrommelnden Platzregen gegeben. Jedenfalls glaubte er, es seien sechs Tage vergangen. Er war seit jener Nacht einfach nicht zum Nachdenken gekommen, hatte sich nur von den Ereignissen treiben lassen und auf das reagiert, was auf ihn zukam. Die stumpfe Seite seiner Axt drückte ihm in die Seite, aber er bemerkte es kaum.

Niedrige, grasbewachsene Erhebungen zeigten, wo Generationen von Aybaras beerdigt waren. Die ältesten der geschnitzten hölzernen Kopfbretter, längst gesprungen und kaum noch lesbar, trugen Daten, die beinahe dreihundert Jahre zurücklagen, auf Gräbern, die sich fast nicht mehr von der Grasnarbe abhoben. Doch die Erhebungen, die wohl vom Regen ausgewaschen, aber noch nicht von Gras bewachsen waren, die schafften ihn. Wohl waren Generationen von Aybaras hier bestattet worden, aber sicher nie vierzehn zur gleichen Zeit. Tante Neain lag drüben bei Onkel Carlins älterem Grab, und ihre beiden Kinder neben ihr. Großtante Ealsin lag in der gleichen Reihe wie Onkel Edward und Tante Madge und ihre drei Kinder, in derselben langen Reihe wie seine Mutter und sein Vater. Dann Adora und Deselle und der kleine Paet. Eine lange Reihe von Grabhügeln, wo die ersten Grashalme aus dem nassen, braunen Erdboden lugten. Er zählte, ohne hinzusehen, die Pfeile, die noch in seinem Köcher steckten. Siebzehn. Zu viele waren beschädigt worden, und nur die stählernen Pfeilspitzen waren das Aufheben wert gewesen. Keine Zeit, neue anzufertigen; er würde bald nach Emondsfeld zum Pfeilmacher gehen müssen. Buel Dawtry machte gute Pfeile, bessere sogar als Tam.

Ein schwaches Rascheln hinter ihm ließ ihn witternd die Nase in die Luft stecken. »Was ist los, Dannil?« fragte er, ohne sich umzusehen.

Man hörte förmlich, wie dem hinter ihm Auftauchenden der Atem stockte und er einen Augenblick lang überrascht innehielt, und dann sagte Dannil Lewin: »Die Lady ist hier, Perrin.« Keiner von ihnen konnte sich daran gewöhnen, daß er schon wußte, wer kam, bevor er ihn sah, auch im Dunkeln, aber es war ihm mittlerweile gleich, was sie an ihm seltsam fanden und was nicht.

Er sah sich mit gerunzelter Stirn um. Dannil wirkte magerer als zuvor. Die Bauern konnten auch nicht so viele auf einmal durchfüttern, und die Jagd brachte so unterschiedliche Ergebnisse, daß sie einmal ein Festmahl vor sich hatten und ein andermal hungerten. Meist hatten sie gehungert. »Die Lady?« »Die Lady Faile. Und auch Lord Luc. Sie sind aus Emondsfeld hergekommen.« Perrin erhob sich geschmeidig und ging mit langen Schritten los, so daß Dannil sich beeilen mußte, um mitzuhalten. Er zwang sich dazu, das Haus nicht anzublicken — die verkohlten Balken und rußverschmierten Schornsteine, die aus dem Schutt ragten, wo das Haus gestanden hatte, in dem er seine Jugend verbrachte. Er suchte statt dessen die Bäume nach seinen Spähern ab, jedenfalls diejenigen, die dem ehemaligen Bauernhof am nächsten standen. So nahe beim Wasserwald standen hier viele hohe Eichen und Schierlingstannen und recht große Eschen und Lorbeerbäume. Dichtes Laub verbarg die jungen Burschen, deren triste Bauernkleidung Tarnung genug war, so gut, daß sogar er Schwierigkeiten hatte, sie auszumachen. Er würde mit den weiter entfernten ein Wörtchen reden müssen, denn sie sollten ja eigentlich dafür sorgen, daß sich niemand ohne Warnung nähern konnte. Selbst Faile und dieser Luc.

Das Lager befand sich in einem ausgedehnten Dickicht, wo er als Kind sich einst vorgestellt hatte, im tiefsten Urwald zu sein. Der Boden war dicht mit Unterholz bewachsen. Man hatte zwischen den Bäumen Decken gespannt, um sich vor Wind und Wetter zu schützen, und weitere Decken lagen auf dem Boden zwischen den kleinen Küchenfeuern. Auch hier tropfte es von den Zweigen. Die meisten der beinahe fünfzig Männer im Lager — alle jung —waren unrasiert, entweder weil sie Perrin nachahmten, oder weil es unangenehm war, sich mit kaltem Wasser zu rasieren. Sie waren gute Jäger. Alle anderen hatte er heimgeschickt. Doch auch die Dagebliebenen waren nicht daran gewöhnt, mehr als ein oder zwei Nächte hintereinander im Freien zu verbringen. Und auch nicht an das, was er sie tun ließ.

Gerade jetzt aber standen sie herum und bestaunten Faile und Luc, und nur vier oder fünf hatten ihre Langbögen in der Hand. Der Rest der Bögen lag beim Bettzeug, genau wie die meisten der Köcher. Luc stand da und spielte müßig mit den Zügeln eines hochgewachsenen, schwarzen Hengstes herum, ganz das Urbild träger, rotgekleideter Arroganz. Seine kalten blauen Augen ignorierten die ihn Umstehenden. Die Witterung des Mannes hob sich von der der anderen deutlich ab. Sie war ebenfalls kalt und abweisend beinahe so, als habe er nichts mit den Männern in seiner Umgebung gemein, nicht einmal die Menschlichkeit.

Faile eilte herüber, um Perrin lächelnd zu begrüßen. Ihr enger Hosenrock gab beim Gehen ein leises Rascheln von sich, als graue Seide über graue Seide streifte. Sie roch schwach nach süßer Kräuterseife und nach sich selbst. »Meister Luhhan sagte, wir könnten dich hier finden.« Er wollte eigentlich fragen, was sie hier mache, ertappte sich jedoch dabei, daß er sie in die Arme nahm und in ihr Haar hineinsagte: »Es ist gut, dich wiederzusehen. Du hast mir gefehlt.« Sie wich ein wenig zurück, um besser zu ihm aufblicken zu können. »Du siehst müde aus.« Er beachtete ihre Worte nicht; er hatte keine Zeit dazu, müde zu werden. »Habt ihr alle sicher nach Emondsfeld gebracht?« »Sie sind in der Weinquellenschenke.« Plötzlich grinste sie. »Meister al'Vere hat eine alte Hellebarde gefunden und sagt nun, wenn die Weißmäntel kämen und sie holen wollten, bekämen sie es erstmal mit ihm zu tun. Alle sind sie jetzt im Dorf, Perrin. Verin und Alanna, die Behüter. Geben natürlich alle vor, etwas anderes zu sein. Und Loial. Er hat einen ziemlichen Aufruhr hervorgerufen. Sogar noch mehr als Bain und Chiad.« Das Grinsen verflog und wurde zu einem Stirnrunzeln. »Er bat mich, dir eine Botschaft zu überbringen. Alanna verschwand zweimal, ohne ein Wort zu sagen, einmal davon allein. Loial behauptete, Ihvon schien überrascht gewesen, daß sie weg war. Er sagte, ich solle mit niemanden anders darüber sprechen.« Sie musterte sein Gesicht. »Was bedeutet das, Perrin?« »Vielleicht nichts. Ich bin nur einfach nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann. Verin hat mich vor ihr gewarnt, aber kann ich Verin vertrauen? Du sagst, Bain und Chiad seien in Emondsfeld? Ich schätze, das bedeutet, daß er auch über sie Bescheid weiß.« Er wies mit dem Kopf in Lucs Richtung. Ein paar der Männer hatten ihn angesprochen und ihm schüchtern Fragen gestellt, die er nun mit leutseligem Lächeln beantwortete.

»Sie sind mit uns gekommen«, sagte sie bedächtig. »Sie erkunden jetzt die Gegend um dein Lager. Ich glaube, sie haben keine hohe Meinung von deinen Wachposten. Perrin, warum willst du nicht, daß Luc von den Aiel weiß?« »Ich habe mit einigen der Leute gesprochen, deren Höfe niedergebrannt wurden.« Luc war zu weit weg, um zu hören, was sie sprachen, doch er senkte seine Stimme noch mehr. »Wenn man Flann Lewins Hof dazuzählt, besuchte Luc am Tag des Angriffs oder einen Tag früher fünf der angegriffenen Höfe.« »Perrin, der Mann ist auf gewisse Weise ein arroganter Narr — ich habe gehört, daß er etwas angedeutet hat von einem Anspruch auf einen Thron in den Grenzlanden, obwohl er uns gesagt hat, er käme aus Murandy — aber du glaubst doch nicht wirklich, daß er ein Schattenfreund ist? Er hat den Leuten in Emondsfeld ein paar wirklich gute Ratschläge erteilt. Als ich sagte, alle befänden sich dort, meinte ich tatsächlich alle.« Sie schüttelte staunend den Kopf. »Hunderte und Aberhunderte von Menschen aus dem Norden und dem Süden, aus jeder Himmelsrichtung, mit ihrem Vieh und ihren Schafen, und alle sprachen von den Warnungen des Perrin Goldauge. Dein kleines Dorf bereitet sich auf die Verteidigung vor, wenn es nötig ist, und Luc war in den letzten Tagen überall zu finden.« »Perrin wer?« Er schnappte nach Luft und verzog schmerzhaft das Gesicht. Dann wollte er das Thema schnell wechseln und fragte: »Aus dem Süden? Aber ich bin doch gar nicht weiter südlich gewesen als hier. Ich habe mit keinem Bauern gesprochen, der weiter als eine Meile südlich des Weinquellenbaches wohnt.« Faile lachte und zupfte ihn am Bart. »Die Neuigkeiten verbreiten sich, mein feiner General. Ich glaube, die Hälfte aller erwartet von dir, daß du sie zu einem Heer ausbildest und die Trollocs bis zur Großen Fäule zurücktreibst. Man wird sich an den Zwei Flüssen die nächsten tausend Jahre über Geschichten von dir erzählen. Perrin Goldauge, der Trolloc-Jäger.« »Licht!« knurrte er.

Trolloc-Jäger. Bisher hatte er wenig getan, um das zu rechtfertigen. Zwei Tage nach der Befreiung von Frau Luhhan und den anderen, an dem Tag, als Verin und Tomas weggeritten waren, waren sie auf die noch rauchenden Ruinen eines Bauernhofs gestoßen — er und fünfzehn der Burschen von den Zwei Flüssen. Nachdem sie begraben hatten, was in der Asche gelegen hatte, war es ihnen leichtgefallen, der Spur der Trollocs zu folgen, denn Gaul war ein meisterhafter Spurensucher und Perrins Nase hätte ebenfalls schon gereicht. Der beißende Gestank der Trollocs war noch nicht verflogen, jedenfalls nicht für ihn. Ein paar der Burschen hatten gezögert, als ihnen klar wurde, daß er es ernst gemeint hatte und wirklich die Trollocs jagen wollte. Falls der Weg sehr weit gewesen wäre, hätte sich wahrscheinlich einer nach dem anderen heimlich gedrückt, aber die Spur führte direkt zu einem Wäldchen, das keine drei Meilen entfernt lag.

Die Trollocs hatten keine Wachen aufgestellt, wahrscheinlich, weil sie keinen Myrddraal dabei hatten, der sie aus ihrer Faulheit aufscheuchte, und die Männer von den Zwei Flüssen hatten keine Mühe, sich lautlos anzuschleichen. Zweiunddreißig Trollocs starben, viele davon noch in ihren verdreckten Decken, von Pfeilen durchbohrt, bevor sie Lärm machen oder Schwert oder Axt erheben konnten. Dannil und Ban und die anderen hatten einen großen Sieg feiern wollen, bis sie herausfanden, was sich in dem großen, eisernen Kochtopf der Trollocs befand, der in der Asche des Feuers lag. Die meisten rannten davon, um sich zu übergeben, und mehr als einer weinte. Perrin hob selbst das Grab aus. Nur eines; er fand keine Möglichkeit, zu unterscheiden, welches Körperteil zu wem gehörte. So kalt, wie er sich in seinem Inneren fühlte, wußte er doch: Er hätte es selbst nicht durchgehalten, wenn er gewußt hätte, was da zu wem gehörte.

Spät am nächsten Tag zögerte keiner, als er wieder eine stinkende Spur aufnahm. Zunächst knurrten einige unwillig und wollten wissen, wem er nun wieder folge, aber dann fand Gaul die Spuren von Hufen und Stiefeln, die zu groß waren, um zu menschlichen Füßen zu passen. In einem anderen Wäldchen in der Nähe des Wasserwalds steckten einundvierzig Trollocs und ein Blasser. Sie hatten Wachen aufgestellt, doch die meisten davon schnarchten auf ihren Posten. Es wäre aber auch nicht anders verlaufen, wären sie alle wach gewesen. Gaul tötete diejenigen, die tatsächlich wach waren. Er glitt wie ein Schatten zwischen den Bäumen hindurch. Die Anzahl der Männer von den Zwei Flüssen war mittlerweile auf beinahe dreißig angewachsen. Diejenigen, die den Kochtopf nicht gesehen hatten, hatten zumindest davon gehört. Sie schrien beim Schießen. Die Befriedigung in diesen Schreien klang nicht weniger wild als das kehlige Heulen der Trollocs. Der schwarzgekleidete Myrddraal war der letzte gewesen, der starb — wie ein Stachelschwein mit Pfeilen gespickt. Niemand holte sich später diese Pfeile zurück, auch nicht, nachdem das Winden und Umsich-Schlagen aufgehört hatte.

An diesem Abend regnete es zum zweitenmal. Stundenlang goß es wie aus Kübeln, der Himmel war voll von aufquellenden, schwarzen Wolkenbergen, und es blitzte unablässig. Seither hatte Perrin keine Trolloc-Witterung mehr aufgenommen, und alle möglichen Spuren waren vom Boden weggewaschen worden. Die meiste Zeit hatten sie mit Umwegen verbracht, um den Patrouillen der Weißmäntel zu entgehen. Alle behaupteten, diese seien jetzt häufiger anzutreffen als vorher. Die Bauern, mit denen sich Perrin unterhalten hatte, sagten übereinstimmend, die Patrouillen hätten sich mehr dafür interessiert, ihre entflohenen Gefangenen und deren Befreier zu finden, als nach Trollocs zu suchen.

Eine ganze Reihe der Männer hatte sich mittlerweile um Luc versammelt. Er war so groß, daß sein rotgoldener Haarschopf über ihre dunkleren Köpfe hinausragte. Er schien zu reden, und sie hörten zu. Und nickten.

»Hören wir mal, was er zu sagen hat«, sagte Perrin grimmig.

Nur ein wenig Schubsen, und die Männer von den Zwei Flüssen machten Faile und ihm Platz. Sie lauschten alle ganz aufmerksam dem Mann im roten Wams, der große Reden zu schwingen schien.

»... also ist das Dorf jetzt relativ sicher. Eine Menge Leute befinden sich dort, die es verteidigen werden. Ich muß sagen, ich genieße es, von Zeit zu Zeit unter einem richtigen Dach zu schlafen. Frau al'Vere bereitet in ihrer Schenke ausgezeichnetes Essen. Ihr Brot gehört zum besten, das ich je gegessen habe. Es geht wirklich nichts über frisches, warmes Brot und frisch geschlagene Butter, und dann abends die Füße hochlegen und einen Krug guten Weins genießen oder einiges von Meister al'Veres gutem, dunklem Bier.« »Lord Luc meinte, wir sollten jetzt nach Emondsfeld gehen, Perrin«, sagte Kenley Ahan und rieb sich die gerötete Nase mit einem schmutzigen Handrücken. Er war nicht der einzige, der sich nicht so oft hatte waschen können, wie er es eigentlich für nötig befand, und auch nicht der einzige mit einer kräftigen Erkältung.

Luc lächelte Perrin an wie einen Hund, von dem er ein Kunststück erwartete. »Das Dorf ist wirklich recht sicher, aber noch ein paar starke Rücken werden überall gebraucht.« »Wir jagen Trollocs«, sagte Perrin kalt. »Nicht alle haben bisher ihre Höfe verlassen, und jede Bande, die wir aufspüren und töten, bedeutet unzerstörte Bauernhöfe und weitere Menschen, die eine Chance haben, sich in Sicherheit zu bringen.« Wil al'Seen lachte kurz und hart. Mit seiner angeschwollenen roten Nase und dem unregelmäßigen. Sechstagebart sah er nicht mehr so hübsch aus. »Wir haben schon tagelang keinen Trolloc mehr gerochen. Sei vernünftig, Perrin. Vielleicht haben wir sie bereits alle erledigt.« Es gab zustimmendes Gemurmel.

»Ich will keine Uneinigkeit verbreiten.« Luc spreizte voller Unschuld die Hände. »Zweifellos habt Ihr große Erfolge gehabt außer denen, von denen wir schon gehört haben. Ich schätze, Ihr habt Hunderte von Trollocs getötet. Es ist gut möglich, daß Ihr sie alle verscheucht habt. Ich kann Euch sagen, Emondsfeld ist bereit, Euch als Helden zu empfangen. Dasselbe gilt wohl auch für Wachhügel und diejenigen, die in dieser Gegend wohnen. Sind auch Leute aus Devenritt da?« Wil nickte, und Luc klopfte ihm auf die Schulter wie ein alter Kumpel. »Einen Heldenempfang, zweifellos.« »Jeder, der nach Hause will, kann gehen«, sagte Perrin mit beherrschter Stimme. Faile runzelte warnend die Stirn. So verhielt sich kein General. Aber er wollte niemanden dabei haben, der nicht freiwillig mitkam. Außerdem wollte er auch kein General sein. »Ich für meine Person glaube nicht, daß unsere Aufgabe bereits erfüllt ist, aber Ihr habt die Wahl.« Keiner gab sich diese Blöße. Höchstens Wil sah aus, als würde er am liebsten gleich wegrennen. Doch zwanzig andere starrten den Boden an und scharrten mit den Stiefeln im vorjährigen Laub herum.

»Also«, bemerkte Luc nebenher, »wenn Ihr keine Trollocs mehr jagen müßt, ist es möglicherweise an der Zeit, Eure Aufmerksamkeit den Weißmänteln zuzuwenden. Sie sind nicht gerade glücklich darüber, daß Ihr Leute von den Zwei Flüssen Euch entschlossen habt, Euch selbst zu verteidigen. Und soviel ich weiß, wollen sie Euch sowieso alle aufhängen, und zwar als Geächtete, weil Ihr ihre Gefangenen gestohlen habt.« Einige der jungen Burschen von den Zwei Flüssen tauschten ängstliche Blicke.

In diesem Moment schob sich Gaul durch die Ansammlung, in kurzem Abstand von Bain und Chiad gefolgt. Natürlich mußten sie die anderen nicht erst wegschubsen. Sobald sie erkannten, wer es war, machten die Männer von alleine Platz. Luc zog beim Anblick Gauls nachdenklich die Augenbrauen hoch. Es wirkte sogar mißbilligend. Der Aielmann erwiderte den Blick mit steinernem Gesicht. Die Mienen Wils und Dannils und der anderen hellten sich beim Anblick der Aiel sichtlich auf. Die meisten glaubten immer noch, daß Hunderte weiterer Aiel irgendwo in den Hainen und Wäldern verborgen lägen. Sie fragten sich wohl nie, warum sich die Aiel versteckten, und Perrin berührte das Thema lieber nicht. Falls sie mehr Mut hatten, wenn sie an ein paar hundert Aiel als Verstärkung glaubten, sollte es ihm recht sein.

»Was habt Ihr gefunden?« fragte Perrin. Gaul war seit dem Vortag weg gewesen, aber er konnte schnell sein wie ein Berittener und im Wald sogar noch schneller, und ihm fiel mehr auf.

»Trollocs«, antwortete Gaul so selbstverständlich, als berichte er über die Anwesenheit von Schafen, »die durch diesen zu Recht so genannten Wasserwald nach Süden ziehen. Es sind nicht mehr als dreißig, und ich glaube, sie werden am Waldrand lagern und dann heute abend zuschlagen. Im Süden gibt es immer noch Menschen, die an ihrem Land festhalten.« Mit einemmal grinste er verwegen. »Sie haben mich nicht bemerkt. Sie sind also durch nichts gewarnt.« Chiad wandte sich an Bain: »Für einen Steinhund ist er eigentlich recht geschickt«, flüsterte sie so laut, daß man es auf zwanzig Fuß Entfernung verstehen konnte. »Er macht höchstens ein wenig mehr Lärm als ein lahmer Stier.« »Also, Wil?« fragte Perrin. »Was ist jetzt? Willst du nach Emondsfeld gehen? Dort kannst du dich rasieren und vielleicht ein Mädchen zum Küssen auftreiben, während diese Trollocs ihr Abendessen kochen.« Wil lief dunkelrot an. »Ich werde dort sein, wo Ihr heute abend seid, Aybara«, sagte er mit harter Stimme.

»Niemand geht heim, während sich hier noch Trollocs herumtreiben, Perrin«, fügte Kenley hinzu.

Perrin blickte sich um, und die anderen nickten zustimmend. »Wie steht es mit Euch, Luc? Es wäre uns eine Ehre, einen Lord und Jäger des Horns dabeizuhaben. Ihr könntet uns zeigen, wie man so etwas macht.« Luc lächelte ein wenig, aber es war wie in Stein gehauen und erreichte bei weitem nicht einmal diese kalten, blauen Augen. »Ich bedaure, aber ich werde noch zur Organisation der Verteidigung von Emondsfeld benötigt. Ich muß für den Schutz Eurer Leute sorgen, falls mehr als nur dreißig Trollocs angreifen. Oder die Kinder des Lichts. Lady Faile?« Er hielt ihr seine Hand hin, um ihr beim Aufsteigen zu helfen, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei Perrin, Lord Luc.« »Wie schade«, murmelte er mit einem Schulterzucken, als sei der Geschmack der Frauen auch nicht mehr derselbe wie früher. Er zog seine mit Wolfsköpfen bestickten Handschuhe an und schwang sich geschmeidig in den Sattel des schwarzen Hengstes. »Viel Glück, Meister Goldauge. Ich hoffe, Ihr habt alle Glück.« Er verbeugte sich leicht vor Faile, riß hochfahrend sein Pferd herum und gab ihm die Sporen. Der Hengst galoppierte los, und ein paar Männer mußten aus dem Weg springen.

Faile sah Perrin finster an. Ihr Blick versprach ihm eine Lektion in bezug auf Höflichkeit, sobald sie allein waren. Er lauschte dem Hufschlag von Lucs Pferd, bis nichts mehr zu hören war, und wandte sich dann Gaul zu. »Können wir den Trollocs zuvorkommen? Daß wir auf sie warten, bevor sie einen möglichen Lagerplatz erreichen?« »Die Entfernung wäre gerade richtig«, sagte Gaul, »wenn wir jetzt gleich aufbrechen. Sie bewegen sich auf einer geraden Linie und beeilen sich nicht. Es ist allerdings ein Nachtläufer bei ihnen. Es wird leichter, wenn wir sie in den Decken überraschen, als sie in wachem Zustand zu überfallen.« Er meinte das in bezug auf die Männer von den Zwei Flüssen. An ihm selbst witterte Perrin keinerlei Angst.

Aber einige der anderen rochen stark nach Angst. Doch keiner von ihnen äußerte sich dazu, daß eine Auseinandersetzung mit wachsamen und wachen Trollocs und noch dazu einem Myrddraal vielleicht nicht die beste aller Lösungen darstelle. Sie brachen ihr Lager ab, sobald er den Befehl dazu gab, löschten die Feuer und verstreuten die Asche, lasen ihre wenigen Töpfe auf und stiegen auf das Sammelsurium der verschiedensten Pferderassen und Ponies, die sie irgendwo aufgetrieben hatten. Mit den zurückgeholten Wachtposten, mit denen Perrin noch ein Wörtchen zu reden hatte, waren sie nun fast siebzig Mann. Das sollte reichen, um dreißig Trollocs aufzulauern. Ban al'Seen und Dannil führten nach wie vor jeder die Hälfte der Männer an, wobei Bili al'Dai und Kenley und andere als Unterführer jeweils zehn Reiter unter sich hatten. Auch Wil natürlich. Er war für gewöhnlich kein so übler Bursche, solange er keine Mädchen im Kopf hatte.

Faile ritt auf Schwalbe ganz nahe neben Traber her, als sie nach Süden aufbrachen. Die Aiel liefen voraus. »Du vertraust ihm wohl überhaupt nicht«, sagte sie. »Du glaubst, er sei ein Schattenfreund.« »Ich vertraue dir und meinem Bogen und meiner Axt«, sagte er zu ihr. Ihr Gesicht wirkte gleichzeitig traurig und erfreut, aber er hatte ganz einfach die Wahrheit gesagt.

Zwei Stunden lang führte Gaul sie nach Süden, bevor sie sich endlich dem Wasserwald zuwandten, einem Gewirr von hoch aufragenden Eichen und Kiefern und Lederblattbäumen, hohen Eschen mit runden Kronen, und darunter Brombeeren und Schwarzweiden und schließlich dicht mit Ranken durchsetztes Unterholz. Tausende Eichhörnchen keckerten auf den Zweigen und überall flatterten Drosseln, Finken und Rotflügelchen herum. Perrin witterte auch Hirsche und Kaninchen und Füchse.

Sie überquerten eine Vielzahl winziger Rinnsale. Vom Schilf eingerahmte Teiche und Sumpflöcher waren das Typische an diesem Wald — manchmal von Bäumen halb überwachsen und manchmal offen, manchmal weniger als zehn Schritt im Durchmesser, ein paar aber auch mehr als fünfzig Schritt breit. Der Boden schien nach all den Regenfällen völlig durchgeweicht und unter den Hufen der Pferde spritzte das Wasser hervor.

Gaul blieb zwischen einem großen, von Weiden umstandenen Teich und einem schmalen, nur einen Fuß breiten Bächlein stehen. Sie waren vielleicht zwei Meilen weit in den Wald vorgedrungen. Die Trollocs würden hier durchkommen, wenn sie ihren Weg wie bisher fortsetzten. Die drei Aiel verschmolzen mit dem Wald, um sich davon zu überzeugen und sie rechtzeitig zu warnen, wenn sich die Trollocs näherten.

Perrin ließ Faile und ein Dutzend Männer bei den Pferden zurück und ließ die anderen in einem Bogen ausschwärmen, um die Trollocs wie in einem Kessel aufzufangen. Nachdem er dafür gesorgt hatte, daß jeder Mann gut versteckt war und genau wußte, was er zu tun hatte, ging er selbst an seinen Platz im Zentrum des Kessels neben einer alten Eiche, deren Stamm dicker als groß war.

Er lockerte die Axt in der Gürtelschlaufe, legte einen Pfeil auf und wartete. Eine leichte Brise strich über sein Gesicht, schwoll an und schwächte sich wieder ab. Er sollte eigentlich in der Lage sein, die Trollocs zu wittern, lange bevor sie in Sicht kamen. Sie sollten geradewegs auf ihn zukommen. Er berührte die Axt wieder und wartete ab. Minuten vergingen. Eine Stunde. Mehr.

Wie lange noch, bis die Schattenwesen erschienen?

Wenn es bei dieser feuchten Luft noch lange dauerte, würden sie die Bogensehnen austauschen müssen.

Die Vögel verschwanden einen Augenblick, bevor die Eichhörnchen plötzlich nicht mehr zu hören waren. Perrin atmete tief ein und runzelte die Stirn. Nichts. Bei diesem leichten Wind mußte er einfach die Trollocs wittern, sobald auch die Tiere deren Anwesenheit bemerkten.

Ein kurzer Windstoß trug den Gestank zu ihm heran. Es roch nach jahrhundertealtem Schweiß und Verwesung. Er wirbelte herum und schrie: »Sie sind hinter uns! Her zu mir! Die Zwei Flüsse zu mir!« Hinten. Die Pferde. »Faile!« Auf allen Seiten erschollen mit einemmal Schreie und Rufe, Heulen und wildes Kreischen. Ein Trolloc mit Hammelhörnern sprang in zwanzig Schritt Entfernung aus dem Gebüsch und hob einen Langbogen, doch Perrin zog das gefiederte Ende seines Pfeils mit einer fließenden Bewegung ans Ohr und schoß ihn ab. Fast im selben Moment griff er nach dem nächsten Pfeil, kaum daß der erste von der Sehne war. Sein Pfeil mit breiter Spitze traf den Trolloc genau zwischen die Augen. Er blökte kurz auf, bevor er stürzte. Und sein Pfeil, so groß wie ein kleiner Speer, traf Perrin wie ein Hammerschlag in die Seite.

Er schnappte nach Luft und krümmte sich. Der Bogen und der neue Pfeil entfielen seinen plötzlich kraftlosen Händen. Ein Schmerz, der von diesem schwarzgefiederten Schaft ausging, durchströmte wellenförmig seinen Körper. Der Pfeil zitterte bei jedem Atemzug, und jedes Zittern brachte neuen Schmerz hervor.

Zwei weitere Trollocs sprangen über ihren toten Kameraden hinweg, einer mit Wolfsschnauze und einer mit Ziegenhörnern, in schwarze Schuppenpanzer gehüllte Gestalten, die auch Perrin um die Hälfte überragten und doppelt so breit waren wie er. Bellend und mit erhobenen Sichelschwertern rannten sie auf ihn los.

Er zwang sich dazu, sich aufzurichten, biß die Zähne zusammen und brach den daumendicken Pfeil kurz über der Spitze ab. Dann riß er die Axt aus der Schlaufe und lief ihnen entgegen. Ihm wurde vage bewußt, daß er dabei wie ein Wolf heulte. Er heulte vor Wut, und vor seinen Augen flimmerte es rot. Sie ragten vor ihm auf. An den Ellbogenschützern und Schultern waren ihre Rüstungen voller spitzer Dornen, doch er schwang die Axt voller verzweifelter Wut, als wolle er mit jedem Schlag einen Baum fällen. Für Adora. Für Deselle. »Meine Mutter!« schrie er. »Seng Euch! Das ist für meine Mutter!« Mit einem Schlag wurde ihm bewußt, daß er auf leblose, blutige Fleischmassen am Boden einhackte. Grollend zwang er sich zum Innehalten, zitternd ob dieser Gewaltanstrengung wie auch der Schmerzen in seiner Seite wegen. Er hörte nun weniger Rufe. Weniger Schreie. War überhaupt außer ihm noch jemand übrig? »Her zu mir! Die Zwei Flüsse zu mir!« »Die Zwei Flüsse!« schrie jemand verzweifelt, weiter hinten im feuchten Gehölz, und dann noch jemand: »Die Zwei Flüsse!« Zwei. Nur zwei. »Faile!« brüllte er. »O Licht, Faile!« Ein schwarzer Schatten, der zwischen den Bäumen hindurchglitt, verriet ihm den Myrddraal, bevor er ihn klar zu sehen bekam. Ein schwarzer Panzer, wie aus den Schuppen einer Schlange gefertigt, bedeckte seine Brust, und der tintenschwarze Umhang hing trotz des schnellen Laufs bewegungslos von seinem Rücken. Als er näher kam, wurde aus dem Rennen ein langsames Gehen, dem Gleiten einer Schlange ähnlich und voller Selbstvertrauen. Er wußte, daß Perrin verwundet war, daß er eine leichte Beute darstellte. Der augenlose Blick aus dem blassen Gesicht traf ihn wie ein Pfeil und ließ ihn vor Furcht erschauern. »Faile?« sagte die Gestalt spottend. Bei dieser Stimme klang ihr Name, als zerbröckle verbranntes Leder. »Deine Faile — war köstlich.« Aufbrüllend warf Perrin sich ihm entgegen. Ein Schwert mit schwarzer Klinge lenkte seinen ersten Hieb ab. Und seinen zweiten. Und den dritten. Das leichenblasse Gesicht spannte sich voller Konzentration, aber der Myrddraal schlug immer noch wie eine Viper, wie ein Blitz zu. Nur kurze Augenblicke lang hatte er ihn in die Defensive gezwungen. Nur im Moment. Blut rann an seiner Seite herab, und die Wunde brannte wie das Feuer einer Esse. Er konnte das nicht durchhalten. Und wenn seine Kraft versagte, würde dieses Schwert den Weg zu seinem Herzen finden.

Er rutschte in dem aufgewühlten Schlamm aus, der Blasse zog seine Klinge zurück und — ein herunterzuckendes Schwert trennte den halben augenlosen Kopf ab, so daß er in einem emporsprudelnden schwarzen Blutstrom auf eine Schulter fiel. Der Myrddraal stach blind zu und taumelte vorwärts, stolperte dann, weigerte sich, endgültig zu sterben und versuchte instinktiv, immer noch zu töten.

Perrin wich mühsam vor ihm aus, aber seine Aufmerksamkeit galt dem Mann, der gerade kühl mit einer Handvoll Blätter seine Klinge abwischte. Ihvons farbenändernder Umhang hing ihm schlaff von den Schultern. »Alanna hat mich geschickt, um Euch zu suchen. Beinahe hätte ich es nicht geschafft, so, wie Ihr euch bewegt, aber siebzig Pferde hinterlassen doch Spuren.« Der dunkelhaarige, schlanke Behüter schien so beherrscht, als zünde er sich gerade vor dem gemütlichen Kaminfeuer eine Pfeife an. »Die Trollocs waren leider an den hier nicht gebunden... « Er deutete mit seinem Schwert auf den Myrddraal, der wohl gestürzt war, aber immer noch um sich stach. »... Schade drum, aber wenn Ihr eure Leute zusammenruft, werden sie es wohl nicht wagen, Euch noch einmal anzugreifen, wenn keiner der Gesichtslosen mehr da ist, sie zu führen. Ich schätze, es dürften etwa hundert gewesen sein. Jetzt sind es ein paar weniger. Ihr habt ihnen einige Verluste zugefügt.« Er begann, gelassen die Schatten unter den Bäumen zu beobachten und nur die Klinge in seiner Hand deutete darauf hin, daß etwas Außergewöhnliches geschehen war.

Einen Augenblick lang staunte Perrin mit offenem Mund. Alanna wollte etwas von ihm? Und sie hatte Ihvon nach ihm geschickt? Gerade rechtzeitig, um sein Leben zu retten. Er schüttelte sich und erhob die Stimme wieder: »Die Zwei Flüsse zu mir! Aus Liebe zum Licht, her zu mir! Hier! Kommt! Hierher!« Diesmal machte er weiter, bis die vertrauten Gesichter auftauchten und seine Männer durch den Wald heranstolperten. Mindestens die Hälfte der Gesichter war blutverschmiert. Es waren zutiefst erschrockene, verängstigte Gesichter. Einige der Männer stützten andere, und manche hatten die Bögen verloren. Auch die Aiel waren dabei, anscheinend unverletzt — nur Gaul humpelte leicht.

»Sie kamen nicht den Weg, den wir erwartet hatten«, war alles, was der Aielmann sagte. Die Nacht war kälter, als wir erwarteten. Es gab mehr Regen, als wir erwarteten. Etwa so sagte er es.

Plötzlich war Faile mit den Pferden da. Mit der Hälfte der Pferde, Traber und Schwalbe eingeschlossen, und mit neun der zwölf Männer, die er bei ihr gelassen hatte. Eine Wange wurde von einem Kratzer verunziert, doch sie lebte immerhin. Er versuchte, sie zu umarmen, doch sie schob seine Arme weg und knurrte zornig etwas über den abgebrochenen Pfeil, während sie sanft sein Wams von dem dicken Schaft wegschob, um sehen zu können, wo er sich hineingebohrt hatte.

Perrin betrachtete die um ihn versammelten Männer. Es kamen jetzt keine mehr, und er vermißte einige Gesichter. Kenley Ahan. Bili al'Dai. Teven Marwin. Er zwang sich dazu, die Namen der Vermißten festzustellen, zwang sich zum Zählen. Siebenundzwanzig. Siebenundzwanzig fehlten. »Habt Ihr alle Verwundeten mitgebracht?« fragte er bedrückt. »Ist noch jemand dort draußen?« Failes Hand an seiner Seite zitterte. Ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie seine Wunde betrachtete, war eine Mischung aus Sorge und Zorn. Sie hatte ein Recht darauf, zornig zu sein. Er hätte sie niemals da mit hineinziehen dürfen.

»Nur die Toten«, sagte Ban al'Seen mit einer Stimme, die so bleiern klang, wie sein Gesicht wirkte.

Wil schien irgend etwas anzublicken, das sich gerade außer Sicht befand. »Ich habe Kenley gesehen«, sagte er. »Sein Kopf hing in einer Astgabel bei einer Eiche, aber der Rest von ihm lag unten am Fuß des Baums. Ich habe ihn gesehen. Jetzt macht ihm seine Erkältung nicht mehr zu schaffen.« Er nieste und schaute verblüfft drein.

Perrin seufzte schwer und verwünschte das Seufzen augenblicklich, denn der Schmerz, der von seiner Seite her hochschoß, ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Faile, die einen grün- und goldgemusterten Seidenschal zusammengeknüllt in der Hand hielt, versuchte nun, sein Hemd aus der Hose zu ziehen. Trotz ihres unwilligen Gesichtsausdrucks schob er ihre Hände weg. Es war jetzt keine Zeit dafür, Wunden zu versorgen. »Die Verwundeten auf die Pferde«, befahl er, als der Schmerz soweit verebbt war, daß er sprechen konnte. »Ihvon, werden sie uns angreifen?« Der Wald erschien ihm zu still. »Ihvon?« Der Behüter erschien und führte einen dunkelgrauen Wallach mit feurigem Blick am Zügel. Perrin wiederholte seine Frage.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wenn es ihnen selbst überlassen ist, töten Trollocs ihre leichtesten Opfer. Ohne einen Halbmenschen suchen sie sich vielleicht lieber einen Bauernhof aus als jemanden, der sie mit Pfeilen spickt. Geht sicher, daß jeder, der noch auf den Beinen ist, einen Bogen mit aufgelegtem Pfeil trägt, selbst wenn er ihn nicht mehr spannen kann. Dann entschließen sie sich vielleicht, daß der Preis den Spaß nicht wert ist.« Perrin schauderte. Sollten die Trollocs angreifen, hätten sie genausoviel Spaß wie an einem Tanz zum Sonnentag. Ihvon und die Aiel waren die einzigen, die noch wirklich kämpfen konnten. Und Faile, denn ihre dunklen Augen glänzten vor Zorn. Er mußte sie in Sicherheit bringen.

Der Behüter bot sein eigenes Pferd keinem der Verwundeten an, und das hatte seinen Sinn. Das Tier würde kaum jemand anderes auf seinem Rücken dulden, und ein ausgebildetes Streitroß mit seinem eigenen Herrn im Sattel war eine eindrucksvolle Waffe, falls die Trollocs zurückkamen. Perrin versuchte, Faile auf Schwalbe zu setzen, aber sie hielt ihn davon ab. »Die Verwundeten sollen aufsteigen, hast du gesagt«, stellte sie mit sanfter Stimme fest. »Erinnerst du dich?« Gegen seinen Willen bestand sie darauf, daß er Traber ritt. Er erwartete einen Protest von den anderen, nachdem er sie ins Unglück geführt hatte, aber keiner machte den Mund auf. Sie hatten gerade genügend Pferde für alle diejenigen, die nicht laufen konnten, und er mußte zähneknirschend zugeben, daß er zu diesen zählte, und so saß er schließlich im Sattel. Die Hälfte aller Reiter mußte sich mühsam festklammern. Er saß aufgerichtet da und biß die Zähne tapfer zusammen.

Diejenigen, die zu Fuß gingen oder stolperten und auch einige der Reiter klammerten sich an ihre Bögen, als stellten diese ihre Rettung dar. Auch Perrin trug einen und Faile ebenfalls, aber er bezweifelte, daß sie einen Langbogen von den Zwei Flüssen auch nur spannen könne. Nun kam es auf ihr äußeres Erscheinungsbild an, und nur eine Täuschung konnte sie retten. Wachsam wie eine eingerollte Peitsche, so wie Ihvon, wirkten die drei Aiel, die ihnen vorausglitten, die Speere in die dafür vorgesehenen Schlitze am Köchergehänge auf dem Rücken gesteckt und die Hornbögen schußbereit in Händen. Der Rest, er selbst eingeschlossen, war ein zerlumpter Haufen, gar nicht wie die Gruppe, die er angeführt hatte und die so selbstbewußt und voll von seinem eigenen Stolz gewesen war. Doch die Illusion funktionierte ebenso gut wie die Wirklichkeit. Die erste Meile weit durch das Gestrüpp trug der leichte Wind ihm den Gestank der Trollocs zu, die Witterung der lauernden, sie verfolgenden Trollocs. Dann verflog der Gestank allmählich, als die Trollocs zurückfielen, von einer Sinnestäuschung verführt.

Faile ging neben Traber, eine Hand an Perrins Bein, als wolle sie ihn oben festhalten. Von Zeit zu Zeit blickte sie zu ihm auf und lächelte ermutigend, wenn auch die Sorgenfalten auf ihrer Stirn nicht verschwanden. Er lächelte so gut es ging zurück, um ihr vorzumachen, es gehe ihm gut. Siebenundzwanzig. Er konnte nicht verhindern, daß die Namen ihm ständig durch den Kopf gingen. Colly Garren und Jared Aydaer, Dael al'Taron und Ren Chandin. Siebenundzwanzig Männer von den Zwei Flüssen, die er mit seiner Dummheit in den Tod geschickt hatte. Siebenundzwanzig.

Sie wählten den kürzesten Weg aus dem Wasserwald hinaus, und irgendwann am Nachmittag waren sie draußen. Es war schwer zu sagen, wie spät es war, da der Himmel immer noch grau und die Schatten kaum zu sehen war. Mit hohem Gras bewachsene Weideflächen mit gelegentlichen Bäumen erstreckten sich vor ihnen. Ein paar vereinzelte Schafe weideten dort, und in der Ferne waren einige Bauernhäuser zu sehen. Aus den Schornsteinen quoll kein Rauch. Falls sich jemand in diesen Häusern befunden hätte, hätten sie jetzt bestimmt etwas gekocht. Die nächste Rauchwolke, die in den Himmel stieg, war mindestens fünf Meilen entfernt.

»Wir sollten uns für diese Nacht einen Bauernhof suchen«, sagte Ihvon. »Wir brauchen ein Dach über dem Kopf, falls es wieder regnet. Und Feuer. Eine warme Mahlzeit.« Er blickte die Männer von den Zwei Flüssen an. »Wasser und Verbandsmaterial.« Perrin nickte nur. Der Behüter wußte besser als er, was man in ihrer Lage tun mußte. Wahrscheinlich wußte sogar der alte Bili Congar mit seinem Suffkopf besser als er, was zu tun sei. Er ließ Traber einfach nur hinter Ihvons Grauem herschreiten.

Bevor sie viel mehr als eine Meile zurückgelegt hatten, hörte Perrin mit einemmal ferne Musik. Fiedeln und Flöten spielten da fröhlich auf. Zuerst glaubte er, er träume, aber dann hörten es auch die anderen und tauschten ungläubige Blicke. Dann wandelten sich die Blicke zu erleichtertem Grinsen. Musik bedeutete Menschen, und dem Klang nach in diesem Fall fröhliche Menschen, die etwas feierten. Daß irgend jemand einen Grund zum Feiern hatte, ließ ihre Füße etwas leichter marschieren.

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