25 Die Straße zum Speer

Rand zwang sich, ohne zu zögern zwischen die Säulen hineinzuschreiten. Es gab jetzt kein Zurück mehr, nicht einmal einen Blick zurück. Licht, und was soll hier nun geschehen? Wie funktioniert das?

Die Säulen waren etwa einen Fuß dick und klar wie das feinste Glas. Sie standen in konzentrischen Ringen im Abstand von jeweils drei Schritt oder etwas mehr. Sie bildeten einen Wald blendender Lichtkaskaden und Regenbogenmuster. Hier war die Luft kühler, so daß er sich wünschte, er hätte einen Mantel angezogen, aber der gleiche körnige Staub bedeckte die glatten, weißen Steinplatten unter seinen Stiefeln. Kein Lufthauch regte sich, und doch war da etwas, das ihm jedes Haar an seinem Körper zu Berge stehen ließ.

Vor ihm und ein wenig rechts abgesetzt konnte er gerade noch einen anderen Mann sehen, in den typischen Grau- und Brauntönen der Aiel gekleidet, der steif wie eine Statue im ständig wechselnden Lichtschein stand. Das mußte wohl Muradin sein, Couladins Bruder. So steif und still, wie er dastand, mußte irgend etwas mit ihm geschehen sein oder geschehen. Trotz des blendenden Lichtspiels konnte Rand seltsamerweise das Gesicht des Aielmannes ganz klar erkennen. Die Augen starrten weit aufgerissen nach vorn und das Gesicht wirkte angespannt, beinahe so, als wolle er jemanden anknurren. Was er auch sehen mochte, es gefiel ihm offensichtlich nicht. Aber Muradin hatte bisher zumindest überlebt. Wenn er das konnte, konnte Rand es auch. Der Mann war ihm höchstens sechs oder sieben Schritt weit voraus. Er fragte sich, wieso er und Mat den Mann nicht hineingehen gesehen hatten. Dann tat er einen weiteren Schritt vorwärts.

Er blickte aus einem fremden Augenpaar. Den Körper fühlte er wohl, beherrschte ihn aber nicht. Der Eigentümer dieser Augen hockte entspannt zwischen Felsblöcken an einem kahlen Berghang und blickte auf eigenartige, halbfertige Bauwerke hinunter — Nein! Nicht einmal halb fertig. Das ist Rhuidean, aber ohne Nebel und kurz nach dem Baubeginn — spähte verächtlich dort hinunter. Er hieß Mandein und war mit vierzig sehr jung für einen SeptimenHäuptling. Das Gefühl, ein Eindringling zu sein, verschwamm, und er fügte sich in seine Rolle. Er war Mandein.

»Du mußt zustimmen«, sagte Sealdre, doch im Augenblick beachtete er sie nicht weiter.

Die Jenn hatten Dinge hergestellt, die das Wasser hochzogen und in große Steinbecken gossen. Er hatte schon um weniger Wasser gekämpft, als sich in einem dieser Becken befand, und dort liefen die Leute so selbstverständlich vorbei, als sei das Wasser bedeutungslos. Ein eigenartiger gläserner Wald erhob sich im Mittelpunkt all ihrer Geschäftigkeit, glitzerte in der Sonne, und in der Nähe stand auch noch der höchste Baum, den er je gesehen hatte — beinahe drei Spannen hoch. Ihre Steinbauten wirkten, als solle jeder eine ganze Festung beherbergen oder sogar eine ganze Septime. Wahnsinn.

Dieses Rhuidean konnte man überhaupt nicht verteidigen. Nicht, daß irgend jemand die Jenn angreifen würde. Die meisten mieden die Jenn genauso wie die verfluchten Verirrten, die herumwanderten und nach den Liedern suchten, von denen sie behaupteten, sie würden die alten Zeiten wiederbringen.

Eine Prozession schlängelte sich aus Rhuidean hinaus auf den Berg zu: ein paar Dutzend Jenn und zwei Sänften, die jeweils von acht Männern getragen wurden. In diesen Sänften hatten sie genug Holz verarbeitet, um ein Dutzend Häuptlingsstühle daraus zu bauen. Er hatte gehört, daß es unter den Jenn immer noch Aes Sedai gebe.

»Du mußt zustimmen, was sie auch verlangen, mein Gatte«, sagte Sealdre.

Da blickte er sie an, wollte sogar einen Augenblick lang mit seinen Händen durch ihr langes, goldenes Haar streifen, sah wieder das lachende Mädchen, das ihm den Brautkranz vor die Füße gelegt und ihn gefragt hatte, ob er sie heiraten wolle. Jetzt war sie ernst, wirkte konzentriert und besorgt zugleich. »Werden die anderen kommen?« fragte er.

»Einige. Die meisten. Ich habe im Traum mit meinen Schwestern gesprochen, und wir haben alle den gleichen Traum geträumt. Die Häuptlinge, die nicht kommen, und diejenigen, die nicht zustimmen... Ihre Septimen werden sterben, Mandein. Innerhalb von drei Generationen werden sie nur noch Staub sein, und ihre Festungen und ihr Vieh gehören anderen Septimen. Ihre Namen wird man vergessen.« Er hatte es nicht gern, wenn sie mit den Weisen Frauen anderer Septimen sprach, auch wenn es nur im Traum war.

Aber die Weisen Frauen konnten im Schlaf die Welt der Träume betreten. Was sie dort sahen, war die Wahrheit. »Bleib hier«, sagte er zu ihr. »Falls ich nicht zurückkehre, hilf unseren Söhnen und Töchtern, die Septime zusammenzuhalten.« Sie berührte seine Wange. »Das werde ich, Schatten meines Lebens. Aber denk daran: Du mußt zustimmen.« Mandein hob die Hand, und hundert verschleierte Gestalten folgten ihm den Hang hinunter, schoben sich kaum sichtbar von Felsblock zu Felsblock, die Bögen und Speere kampfbereit in Händen. Ihre graue und braune Kleidung war der kahlen Landschaft angepaßt. Selbst für seine geschulten Augen waren sie fast nicht zu sehen. Es waren alles Männer. Er hatte alle Frauen der Septime, die den Speer gemeinsam mit den Männern trugen, bei Sealdre gelassen, zusammen mit einigen wenigen Männern. Falls etwas schiefging und sie sich entschloß, einen sinnlosen Rettungsversuch zu unternehmen, würden ihr die Männer vielleicht folgen, aber die Frauen würden sie auch notfalls gegen ihren Willen zur Festung zurückbringen, um Septime und Festung zu schützen. Er hoffte jedenfalls darauf. Manchmal konnten sie härter sein als jeder Mann und wohl auch sturer.

Als er den Fuß des Abhangs erreichte, hatte die Prozession aus Rhuidean auf der von Rissen durchzogenen Lehmebene angehalten. Er bedeutete seinen Männern, sich in Deckung zu begeben, und dann ging er allein weiter, wobei er seinen Schleier entfernte. Er war sich anderer Männer bewußt, die links und rechts von ihm ebenfalls vom Berg hinabstiegen und von allen möglichen Richtungen her auf die hitzedurchglühte Lehmebene schritten. Wie viele? Vielleicht hundert? Einige der Gesichter, die er hier erwartet hatte, fehlten. Sealdre hatte recht wie meistens: Einige hatten nicht auf die Träume ihrer Weisen Frauen gehört. Er bemerkte Gesichter, die er noch nie gesehen hatte, und die Gesichter von Männern, die er einst zu töten versucht hatte. Männer, die sich nach besten Kräften bemüht hatten, auch ihn zu töten. Wenigstens war keiner verschleiert. Vor einem Jenn jemanden zu töten war beinahe genauso schlimm, wie einen Jenn zu töten. Er hoffte, auch die anderen würden sich daran erinnern. Wenn nur einer Verrat beging, würden alle die Schleier anlegen, die Krieger, die jeder Häuptling mitgebracht hatte, würden aus den Bergen herunterkommen, und dieser trockene Lehmboden würde von Blut getränkt. Er erwartete jeden Moment, einen Speer zwischen die Rippen zu bekommen.

Obwohl er sich redlich bemühte, hundert verschiedene Todesboten auf einmal im Auge zu behalten, fiel es ihm schwer, die Aes Sedai nicht anzustarren, als die Träger die kunstvoll verzierten Sänften auf den Boden stellten. Das waren Frauen mit so weißem Haar, daß es schon beinahe transparent erschien. Alterslose Gesichter mit einer Haut, die aussah, als könne ein Windhauch sie zerreißen. Er hatte gehört, daß die Aes Sedai von den Jahren unbeeinflußt blieben. Wie alt mußten dann diese beiden sein? Was hatten sie gesehen? Konnten sie sich an die Zeit erinnern, als sein Großvater Comran als erster Ogier-Steddings in der Drachenmauer gefunden und angefangen hatte, mit ihnen Handel zu treiben? Oder vielleicht sogar, als Comrans Großvater Rhodric die Aiel angeführt hatte, um die Männer in den Eisenhemden zu bekämpfen, die die Drachenmauer überquert hatten? Die Aes Sedai wandten sich ihm zu. Die Augen der einen waren von klarem Blau und bei der anderen dunkelbraun. Es waren die ersten dunklen Augen, die er je gesehen hatte. Sie schienen direkt in seinen Schädel hineinzusehen und seine Gedanken zu lesen. Er wußte, daß er irgendwie auserlesen worden war, doch warum, konnte er nicht sagen. Mit Mühe riß er sich von diesen Blicken los, die ihn durchschauten, ihn besser kannten als er sich selbst.

Ein hagerer, weißhaariger Mann, hochgewachsen, aber vom Alter gebeugt, kam von der Gruppe der Jenn herüber. Ihm zur Seite schritten zwei Frauen mit leicht ergrauten Haaren heran, die sehr wohl Schwestern sein konnten. Beide hatten die gleichen tiefliegenden grünen Augen und die gleiche Art, den Kopf schräg zu halten, wenn sie etwas betrachteten. Die anderen Jenn blickten nervös zu Boden und mieden die Aiel, bis eben auf diese drei.

»Ich heiße Dermon«, sagte der Mann mit tiefer, kräftiger Stimme. Seine blauen Augen musterten Mandein durchdringend wie die eines Aiels. »Das hier sind Mordaine und Narisse.« Er deutete nacheinander auf die beiden Frauen in seiner Begleitung. »Wir sprechen für Rhuidean und die Jenn Aiel.« Unruhe machte sich unter den Männern in Mandeins Umgebung breit. Den meisten von ihnen paßte es genausowenig wie ihm, wenn sich die Jenn ebenfalls als Aiel bezeichneten. »Warum habt Ihr uns hierher bestellt?« wollte er wissen. Es ärgerte ihn allerdings, zugeben zu müssen, herzitiert worden zu sein.

Statt seine Frage zu beantworten, fragte Dermon: »Warum tragt Ihr kein Schwert?« Das brachte ihm zorniges Gemurmel der Aiel ein.

»Es ist verboten«, grollte Mandein. »Selbst ein Jenn sollte das wissen.« Er hob seine Speere empor, berührte kurz das Messer an seiner Hüfte und den Bogen auf seinem Rücken. »Das sind genug Waffen für einen Krieger.« Das Gemurmel klang nun zustimmend, selbst von Männern, die einst geschworen hatten, ihn zu töten. Das würden sie nach wie vor, falls sie eine Gelegenheit hatten, aber sie fanden gut, was er gesagt hatte. Und sie schienen es zufrieden, daß er für sie alle sprach, und das unter den Augen dieser Aes Sedai.

»Ihr wißt nicht, warum«, sagte Mordaine, und Narisse fügte hinzu: »Es gibt zuviel, was Ihr nicht wißt. Aber Ihr müßt es erfahren.« »Was wollt Ihr?« fragte Mandein.

»Euch.« Dermon sah einen nach dem anderen der Aiel an und machte ihnen eindeutig klar, daß er sie alle meinte. »Wer immer unter Euch Menschen führen will, muß nach Rhuidean kommen und dort erfahren, woher wir kamen und warum Ihr keine Schwerter tragt. Wer nicht lernen kann, wird nicht weiterleben.« »Eure Weisen Frauen haben mit Euch gesprochen«, sagte Mordaine, »sonst wärt Ihr nicht hier. Ihr wißt, welchen Preis die zahlen, die sich weigern.« Charendin drängte sich nach vorn und blickte abwechselnd Mandein und die Jenn zornig an. Mandein hatte ihm die lange Narbe auf der Wange zugefügt. Sie hatten sich gegenseitig schon dreimal beinahe umgebracht. »Einfach zu Euch kommen?« fragte Charendin. »Wer von uns zu Euch kommt, der wird die Aiel führen?« »Nein.« Das Wort wurde fast geflüstert, und doch konnte jeder es verstehen. Es kam von der dunkeläugigen Aes Sedai, die in ihrem geschnitzten Stuhl saß und eine Decke über ihre Beine gelegt hatte, als fröre sie unter der brennenden Sonne. »Das kommt erst später«, sagte sie. »Wenn der Stein fällt, der niemals erobert werden kann, dann wird er kommen. Er wird vom Blute sein, aber nicht vom Blut aufgezogen. Er wird zur Abenddämmerung aus Rhuidean kommen und Euch mit Banden aneinanderfesseln, die Ihr nicht zerreißen könnt. Er wird Euch zurückbringen, und er wird Euch vernichten.« Einige der Septimen-Häuptlinge rührten sich und schienen gehen zu wollen, aber keiner machte mehr als ein paar Schritte. Jeder hatte letzten Endes der Weisen Frau seiner Septime gelauscht. Stimme zu, oder wir werden vernichtet, wie es nie zuvor geschah. Stimme zu, oder wir zerstören uns selbst.

»Das ist ein Trick!« schrie Charendin, doch unter den Blicken der Aes Sedai senkte er seine Stimme und sagte lediglich zornig: »Ihr wollt auf diese Art die Septimen beherrschen. Aber Aiel beugen ihr Knie weder vor Männern noch Frauen.« Er riß seinen Kopf herum und mied die Blicke der Aes Sedai. »Vor niemandem«, knurrte er.

»Wir wollen keine Kontrolle ausüben«, sagte Narisse zu ihnen.

»Unsere Tage schwinden«, sagte Mordaine. »Der Tag wird kommen, da es keine Jenn mehr gibt, und nur Ihr bleibt übrig, um die Aiel nicht der Vergessenheit zu überantworten. Ihr müßt überleben, oder alles war umsonst und ist verloren.« Ihr Tonfall und ihre Selbstsicherheit ließen Charendin verstummen, doch Mandein hatte noch eine Frage: »Warum? Wenn Ihr von Eurem eigenen Untergang Kenntnis habt, warum tut Ihr dann dies alles?« Er deutete auf die Bauten, die sich in einiger Entfernung erhoben.

»Das ist der Zweck unseres Daseins«, antwortete Dermon ruhig. »Viele Jahre lang haben wir nach diesem Ort gesucht, und nun bereiten wir ihn vor, wenn auch nicht für den Zweck, den wir dabei im Auge hatten. Wir tun, was wir tun müssen, und wir halten die Treue.« Mandein musterte das Gesicht des Mannes. Es lag keine Furcht in seinem Gesichtsausdruck. »Ihr seid Aiel«, sagte er, und als einige der anderen Häuptlinge nach Luft schnappten, erhob er seine Stimme: »Ich werde zu den Jenn Aiel gehen.« »Ihr dürft nicht bewaffnet nach Rhuidean gehen«, sagte Dermon.

Mandein lachte laut über die Kühnheit des Mannes. Einem Aiel zu befehlen, unbewaffnet an diesen Ort zu gehen. So legte er seine Waffen ab und trat vor. »Bringt mich nach Rhuidean, Aiel. Ich werde den gleichen Mut beweisen wie Ihr.« Rand blinzelte in die flackernden Lichtkaskaden hinein. Er war Mandein gewesen. Er fühlte immer noch, wie aus der ursprünglichen Verachtung für die Jenn Bewunderung wurde. Waren die Jenn nun Aiel oder nicht? Sie hatten genauso ausgesehen, hochgewachsen, mit hellen Augen in sonnenverbrannten Gesichtern, und sie hatten auch die gleiche Kleidung getragen, bis auf die Schleier. Doch hatte er bei ihnen bis auf einfache Arbeitsmesser keine Waffen bemerkt. Er konnte sich aber einfach keinen Aiel ohne Waffe vorstellen.

Er befand sich tiefer zwischen den Säulen, als durch einen einzigen Schritt zu erklären war, und auch Muradin war nun näher vor ihm. Aus dem stieren Blick des Aiel war ein finsteres Brüten geworden.

Körniger Staub knirschte unter Rands Stiefeln, als er weiterschritt.

Er hieß Rhodric und war fast zwanzig Jahre alt. Die Sonne brannte wie ein grellgoldener Ball vom Himmel, aber er behielt den Schleier angelegt, und seine Augen blickten wachsam drein. Seine Speere waren kampfbereit — einer in seiner rechten Hand und drei in der linken hinter dem kleinen Lederschild —, und auch er selbst war kampfbereit. Jeordam befand sich unten auf der braunen Grasebene im Süden der Hügelkette, wo die meisten Büsche mickrig und verwelkt waren. Das Haar des alten Mannes war weiß, so wie dieses eigenartige Zeug, das von den Alten als ›Schnee‹ bezeichnet wurde, doch seine Augen waren scharf, und die Brunnengräber, die ihre gefüllten Wasserbeutel hochzogen, würden nicht seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

Im Norden und Osten erhoben sich Berge. Die Kette im Norden war hoch und zerklüftet und zeigte weiße Gipfel, doch sie wurde von den Riesenbergen im Osten noch überragt. Die sahen aus, als wolle dort die Welt den Himmel berühren, nun, und vielleicht tat sie das ja auch. Ob das Weiß dort wohl Schnee war? Er würde es nicht herausfinden. Im Angesicht dieser Berge mußten die Jenn sich entschließen, nach Osten zu ziehen. Sie waren bereits monatelang an diesem Bergwall entlanggezogen, hatten mühsam ihre Wagen hinter sich hergezerrt und nicht auf die Aiel geachtet, die ihnen folgten. Wenigstens hatten sie bei einer Flußüberquerung Wasser zur Verfügung gehabt, auch wenn es nicht einmal viel gewesen war. Es war schon Jahre her, daß Rhodric einmal einen Fluß erlebt hatte, den sie nicht bequem durchwaten konnten. Die meisten waren nur noch rissige Lehmrinnen, die von den Bergen herunterführten. Er hoffte, der Regen würde endlich wiederkehren und das Land grün färben. Er erinnerte sich noch an die Zeit, als die Welt grün war.

Er hörte das Hufgeklapper der Pferde, bevor er sie sehen konnte. Drei Männer ritten über die braunen Hügel. Sie trugen lange Lederwesten, auf die überall Metallscheiben aufgenäht waren. Zwei davon hielten Lanzen in den Händen. Er kannte den Anführer, Garam, den Sohn des Häuptlings der Stadt, die gerade hinter den Männern außer Sicht war. Garam war nicht viel älter als er selbst. Sie waren wirklich blind, diese Stadtbewohner. Sie bemerkten die Aiel nicht, die sich hinter ihnen aufrichteten, sich dann aber wieder duckten und mit dem harschen Land verschmolzen. Rhodric nahm den Schleier ab, denn es würde nicht getötet werden, es sei denn, die Reiter begännen damit. Er bedauerte das nicht, aber er konnte sich auch nicht dazu bringen, Männern zu trauen, die in Häusern und Städten wohnten. Es hatte schon zu viele Kämpfe gegen solche Leute gegeben. In den Legenden hieß es, das sei schon immer so gewesen.

Garam straffte die Zügel und hob seine rechte Hand zum Gruß. Er war ein schlanker, kleiner Mann mit dunklen Augen, wie seine beiden Gefolgsleute, aber alle drei wirkten hart und absolut fähig, sich zu verteidigen. »Ho, Rhodric. Sind Eure Leute damit fertig, ihre Wasserbeutel zu füllen?« »Ich sehe Euch, Garam.« Er bemühte sich, ruhig und ausdruckslos zu sprechen. Er war nervös, wenn er Männer auf Pferden sah, woran mehr die Pferde die Schuld trugen als die Schwerter. Die Aiel besaßen auch Packtiere, doch es war irgendwie unnatürlich, oben auf einem Pferd zu sitzen. Die Beine eines Mannes genügten auch. »Wir sind beinahe fertig. Entzieht uns Euer Vater die Erlaubnis, Wasser aus den Brunnen auf seinem Land zu entnehmen?« Keine andere Stadt hatte ihnen das jemals erlaubt. Wenn sich Menschen in der Nähe befanden, mußte man um das Wasser kämpfen, so wie um alles andere, nun, und wo es Wasser gab, waren gewöhnlich Menschen in der Nähe. Es wäre nicht leicht, allein gegen diese drei zu kämpfen. Er stand locker auf den Ballen, bereit, zu tanzen und bereit, wahrscheinlich zu sterben.

»Nein, es ist schon in Ordnung«, sagte Garam. Er hatte Rhodrics Kampfbereitschaft nicht einmal bemerkt. »Wir haben eine starke Quelle in der Stadt, und mein Vater sagt, wenn Ihr abzieht, haben wir die neuen Brunnen für uns selbst, die Ihr gegraben habt. Aber Euer Großvater wollte wohl wissen, ob die anderen aufbrechen, und das haben sie getan.« Er stützte sich mit dem Ellbogen auf seinen Sattel. »Sagt mir, Rhodric, gehören sie wirklich zu dem gleichen Volk wie Ihr?« »Das sind die Jenn Aiel, und wir sind die Aiel. Wir sind das gleiche Volk, und doch wieder nicht. Ich kann es einfach nicht erklären, Garam.« Er verstand es ja selbst nicht genau.

»In welche Richtung ziehen sie?« fragte Jeordam.

Rhodric verbeugte sich gelassen vor seinem Großvater. Er hatte leise Stiefelschritte gehört und gewußt, daß sie zu einem Aiel gehörten. Die Stadtbewohner hatten allerdings nicht gemerkt, daß sich Jeordam näherte, und sie rissen völlig überrascht an ihren Zügeln. Nur Garams ausgestreckte Hand hielt die beiden anderen davon ab, kampfbereit die Lanzen zu senken. Rhodric und sein Großvater warteten.

»Nach Osten«, sagte Garam, als sein Pferd wieder ruhig stand. »Über das Rückgrat der Welt.« Er deutete auf die Berge, die den Himmel berührten.

Rhodric verzog das Gesicht, aber Jeordam sagte kühl: »Was liegt auf der anderen Seite?« »Soweit ich weiß, das Ende der Welt«, erwiderte Garam. »Ich weiß nicht mit Sicherheit, ob es überhaupt einen Weg hinüber gibt.« Er zögerte. »Die Jenn haben Aes Sedai dabei. Dutzende, wie man mir sagte. Macht Euch das nicht nervös, so nahe den Aes Sedai weiterzuziehen? Ich habe gehört, daß die Welt einst anders gewesen sei und daß sie sie zerstört haben.« Und wie ihn die Aes Sedai nervös machten, aber Rhodric verzog keine Miene dabei. Es waren nur vier und nicht Dutzende, aber genug, um ihn daran zu erinnern, daß die Aiel auf irgendeine Art den Aes Sedai den Dienst versagt hatten. Das erzählte man sich, aber er hatte keine Ahnung, was da vorgefallen war. Die Aes Sedai wußten Bescheid. Sie hatten seit ihrer Ankunft nur selten die Wagen der Jenn verlassen, aber wenn, dann betrachteten sie die Aiel immer mit so traurigen Augen. Rhodric war nicht der einzige, der sich bemühte, sie soweit wie möglich zu meiden.

»Wir beschützen die Jenn«, sagte Jeordam. »Sie sind es, die mit den Aes Sedai zusammen durch die Welt ziehen.« Garam nickte, als sei das etwas anderes, und dann beugte er sich noch einmal vor und senkte die Stimme: »Mein Vater hat eine Aes-Sedai-Ratgeberin, auch wenn er das vor der Stadt geheimzuhalten versucht. Sie sagt, wir müßten dieses Hügelgebiet verlassen und nach Osten ziehen. Sie behauptet, die ausgetrockneten Flüsse würden wieder fließen und neben einem davon würden wir eine große Stadt erbauen. Sie sagt so viel. Ich habe gehört, die Aes Sedai wollten auch eine große Stadt erbauen, und sie hätten Ogier aufgetrieben, um die Gebäude für sie zu errichten. Ogier!« Er schüttelte den Kopf und riß sich von den Legenden los, zurück in die Wirklichkeit. »Glaubt Ihr, sie wollen die Welt wieder regieren wie einst? Die Aes Sedai? Ich glaube, wir sollten sie töten, um sie davon abzuhalten, noch einmal die Welt zu zerstören.« »Ihr müßt tun, was Ihr für das Beste haltet.« Aus Jeordams Stimme konnte man nichts von seinen Gedanken ablesen. »Ich muß meine Leute darauf vorbereiten, diese Berge zu überqueren.« Der dunkelhaarige Mann richtete sich im Sattel auf. Er war offensichtlich enttäuscht. Rhodric vermutete, er habe sich der Hilfe der Aiel im Kampf gegen die Aes Sedai versichern wollen. »Das Rückgrat der Welt«, sagte Garam mit harter Stimme, »trägt noch einen anderen Namen. Man nennt es auch die Drachenmauer.« »Ein passender Name«, bemerkte Jeordam.

Rhodric blickte zu den in der Ferne hoch aufragenden Bergen hinüber. Für die Aiel war das wirklich ein passender Name. Ihr eigener geheimer Name, den sie niemandem sonst mitteilten, war: Das Volk des Drachens. Er wußte nicht, warum, nur, daß niemand die Bezeichnung aussprach, außer beim Empfang seines Speers in der Kriegerweihe. Was lag jenseits dieser Drachenmauer? Bestimmt würde es wenigstens Menschen geben, gegen die man kämpfen konnte. Die gab es überall. In der ganzen weiten Welt gab es nur Aiel, Jenn und Feinde. Nur das. Aiel, Jenn und Feinde.

Rand atmete tief ein. Dabei röchelte er beinahe, als habe er stundenlang nicht mehr geatmet. Grell blendende Lichtbänder wanderten die Säulen in seiner Umgebung hoch. Die Worte klangen noch in seinem Gedächtnis nach. Aiel, Jenn und Feinde: das war die Welt. Ganz sicher hatten sie noch nicht in der Wüste gelebt. Er hatte eine Zeit erlebt —gelebt —, bevor die Aiel ihr Dreifaches Land erreicht hatten.

Nun befand er sich noch näher bei Muradin. Der Blick des Aiel flackerte unstet, und er schien sich dagegen zur Wehr zu setzen, einen weiteren Schritt nach vorn zu tun.

Rand trat vor.

Jeordam hockte entspannt auf dem weißverhüllten Abhang und ignorierte die Kälte, während er zusah, wie die fünf Leute auf ihn zustapften. Die drei Männer in ihren warmen Umhängen und die beiden Frauen, die in den Winterkleidern richtig klobig wirkten, hatten Mühe, durch den hohen Schnee zu waten. So, wie die Alten es geschildert hatten, sollte der Winter längst vorüber sein, aber andererseits hieß es ja auch, die Jahreszeiten änderten sich und überhaupt nichts bliebe so wie früher. Sie behaupteten, die Erde hätte gebebt und Berge hätten sich erhoben oder wären eingesunken wie das Wasser in einem Teich, wenn man einen Stein hineinwarf. Jeordam glaubte nicht an diese Geschichten. Er war achtzehn, im Zeltlager geboren, und er kannte nichts anderes als dieses Leben. Den Schnee, die Zelte und die Pflicht, zu behüten und zu beschützen.

Er nahm den Schleier ab und stand gemächlich auf. Er stützte sich auf seinen Langspeer, um die Wagenleute nicht zu erschrecken, aber sie blieben trotzdem wie angewurzelt stehen und starrten den Speer an und den Bogen, den er über den Rücken gehängt hatte. Der gefüllte Köcher an seiner Seite würde ihn auch nicht friedlicher erscheinen lassen. Keiner der Ankömmlinge schien älter zu sein als er selbst. »Ihr braucht uns, Jenn?« rief er.

»Nennt Ihr uns so, um Euch über uns lustig zu machen?« rief ein großer Bursche mit spitzer Nase. »Aber es stimmt. Wir sind die einzigen wirklichen Aiel. Ihr habt den Weg verlassen.« »Das ist eine Lüge!« fauchte Jeordam zurück. »Ich habe nie ein Schwert in die Hand genommen!« Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er war nicht hier draußen als Wächter aufgestellt worden, um sich mit den Jenn herumzustreiten. »Falls Ihr euch verirrt habt — Eure Wagen findet Ihr in dieser Richtung.« Er deutete mit seinem Speer nach Süden.

Eine Frau legte dem Mann mit der spitzen Nase die Hand auf den Arm und sprach leise auf ihn ein. Die anderen nickten und der Angesprochene nickte schließlich auch, jedoch zögernd. Sie war hübsch. Blonde Haarsträhnen lugten aus der dunklen Stola her aus, die sie um den Kopf gewickelt hatte. Sie sah Jeordam in die Augen und sagte: »Wir haben uns nicht verirrt.« Dann schien sie ihn erst bewußt wahrzunehmen und zog in einem Anflug von Schüchternheit die Stola enger um ihren Kopf.

Er nickte. Er hatte auch nicht wirklich angenommen, sie hätten sich verirrt. Die Jenn schafften es normalerweise, die Zeltbewohner zu meiden, selbst wenn sie Hilfe benötigten. Die wenigen Ausnahmen rührten von blanker Verzweiflung her, wenn sie nirgendwo sonst Hilfe erhalten konnten. »Folgt mir.« Es war eine Meile quer über die Hügel bis zu den Zelten seines Vaters. Ihre dunklen Umrisse waren teilweise vom Neuschnee bedeckt und schienen am Abhang zu kleben. Seine Leute beobachteten mißtrauisch die Neuankömmlinge, hielten aber nicht in ihren Tätigkeiten inne, ob sie nun kochten oder Waffen reparierten oder sich mit den Kindern eine Schneeballschlacht lieferten. Er war stolz auf seine Septime. Es waren beinahe zweihundert Menschen und damit das größte der zehn Lager, die nördlich der Wagen verstreut lagen. Die Jenn schienen jedoch nicht sehr beeindruckt. Es ärgerte ihn, daß es soviel mehr Jenn als Aiel gab.

Lewin kam aus seinem Zelt. Er war ein großer Mann mit leicht ergrautem Haar und einem harten Gesicht. Man sagte, daß Lewin niemals lächle, und Jeordam hatte ihn tatsächlich noch nie lächeln sehen. Vielleicht war das anders gewesen, bevor Jeordams Mutter am Fieber gestorben war, aber Jeordam glaubte nicht daran.

Die Frau mit den blonden Haaren — Morin hieß sie —erzählte ihre Geschichte, und sie entsprach ganz Jeordams Erwartungen. Die Jenn hatten mit den Bewohnern eines Dorfes Handel getrieben. Das war ein kleiner Ort, den sie mit einer Palisade geschützt hatten. Dann hatten sich die Männer aus diesem Dorf bei Nacht in das Wagenlager eingeschlichen und das, was man ihnen abgekauft hatte, wieder geraubt, und noch mehr dazu. Die Jenn glaubten immer, sie könnten Menschen vertrauen, die in Häusern wohnten, glaubten immer, der Weg würde sie schützen. Sie zählten die Toten auf: Väter, eine Mutter, Erstbrüder, und die Gefangenen: Erstschwestern, eine Schwestermutter und eine Tochter. Das letztere überraschte Jeordam, denn es war Morin selbst, die in bitterem Tonfall von einer fünfjährigen Tochter berichtete, die entführt worden war und nun von einer anderen Frau aufgezogen werde. Er musterte sie genauer und addierte ein paar Jahre zu dem Alter, auf das er sie geschätzt hatte.

»Wir werden sie zurückholen«, versprach Lewin. Er nahm ein Bündel Speere, das man ihm reichte, und steckte sie mit der Spitze voran in den Boden. »Ihr könnt bei uns bleiben, wenn Ihr wünscht, solange Ihr bereit seid, Euch selbst zu verteidigen und auch den Rest von uns. Falls Ihr bleibt, könnt Ihr nie wieder zu Euren Wagen zurückkehren, denn das wäre nicht erlaubt.« Der Bursche mit der spitzen Nase drehte sich auf der Stelle um und hastete den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Es kam selten vor, daß an dieser Stelle nur ein einziger der Jenn ging. Lewin fuhr fort: »Diejenigen, die mit uns in dieses Dorf gehen wollen, nehmen bitte einen Speer. Aber denkt daran: Wenn Ihr den Speer gegen Menschen einsetzt, müßt Ihr künftig hier bei uns bleiben.« Seine Stimme und seine Augen waren wie aus Stein gemeißelt. »Soweit es die Jenn betrifft, seid Ihr dann tot.« Einer der übriggebliebenen Männer zögerte, doch schließlich zog jeder einen der Speere heraus. Auch Morin.

Jeordam riß Augen und Mund auf, und selbst Lewin staunte. »Ihr müßt nicht den Speer aufnehmen, nur um hierbleiben zu können«, sagte Lewin zu ihr. »Und Eure Leute werden wir so oder so zurückholen. Den Speer aufzunehmen bedeutet, zum Kämpfen bereit zu sein und nicht nur zur Selbstverteidigung. Ihr könnt ihn wieder weglegen. Das wäre keine Schande.« »Sie haben meine Tochter«, sagte Morin.

Jeordam erschrak, als Lewin nur kurz nickte. »Es gibt für alles ein erstes Mal. Für alles. Also sei es.« Er schritt nun durch das Lager, tippte Männern auf die Schulter und benannte sie für ihren ›Besuch‹ in diesem Palisadendorf. Jeordam war der erste, dem er auf die Schulter tippte. Sein Vater hatte ihn immer als ersten ausgewählt seit dem Tag, an dem er alt genug gewesen war, einen Speer zu tragen. Er hätte es auch nicht anders gewollt.

Morin hatte Schwierigkeiten mit dem Speer. Er hatte sich in ihrem langen Rock verfangen. »Ihr müßt nicht mitgehen«, sagte Jeordam zu ihr. »Keine Frau hat das bisher getan. Wir bringen Euch Eure Tochter.« »Ich habe vor, Kirin selbst dort herauszuholen«, sagte sie wild entschlossen. »Ihr werdet mich nicht daran hindern.« Ein halsstarriges Weib.

»In diesem Fall müßt Ihr euch anders anziehen.« Er deutete auf seine Hosen und die graubraune Jacke. »Ihr könnt nicht in einem Kleid nachts querfeldein laufen.« Er nahm ihr den Speer aus der Hand, bevor sie sich zur Wehr setzen konnte. »Es ist nicht leicht, mit dem Speer umzugehen.« Das bewiesen die beiden Männer deutlich, die mit ihr gekommen waren. Sie hantierten auf Anweisungen hin ungeschickt mit ihren Speeren und stolperten dabei fast über die eigenen Füße. Er suchte sich ein Beil und hackte ein schrittgroßes Stück von ihrem Speerschaft ab. Nun war die Waffe immer noch vier Fuß lang, wenn man die beinahe einen Fuß lange Stahlspitze mitzählte. »Stecht damit zu. Nicht mehr als das. Einfach zustechen. Den Schaft benützt man auch, um den Gegner abzublocken, aber ich suche Euch lieber etwas, das Ihr als Schild in die andere Hand nehmen könnt.« Sie sah ihn mit einem rätselhaften Blick an. »Wie alt seid Ihr?« fragte sie dann eigenartigerweise. Er sagte es ihr, und sie nickte nachdenklich.

Einen Augenblick später fragte er sie: »Ist einer dieser Männer Euer Ehemann?« Sie stolperten immer noch über ihre Speerschäfte.

»Mein Mann trauert bereits um Kirin. Ihn kümmern die Bäume mehr als seine eigene Tochter.« »Die Bäume?« »Die Bäume des Lebens.« Als er sie immer noch verständnislos anblickte, schüttelte sie den Kopf. »Drei kleine Bäumchen, die man in Fässer gesetzt hat. Sie hegen und pflegen sie fast besser als sich selbst. Wenn sie einen sicheren Ort gefunden haben, werden sie sie dort einpflanzen. Es heißt, dann würden die alten Zeiten wiederkehren. Das sagen sie jedenfalls. Sie. Ich fühle mich nicht mehr zu den Jenn gehörig.« Sie hob den gekürzten Speer. »Das ist jetzt mein Ehemann.« Erneut musterte sie ihn genau und fragte: »Wenn einer Euer Kind raubt, würdet Ihr dann nur davon sprechen, daß der Wegs des Blattes uns Leiden schickt, um uns zu prüfen?« Er schüttelte den Kopf und sie sagte: »Das dachte ich mir. Ihr wärt ein guter Vater. Bringt mir bei, wie man mit diesem Speer umgeht.« Eine seltsame Frau, aber hübsch. Er nahm den Speer in die Hand und begann, sie zu unterrichten. Er zeigte ihr die Stöße und Paraden, die bei diesem kurzen Schaft noch schneller und effektiver kamen.

Morin beobachtete ihn mit diesem eigenartigen Lächeln, aber er war von dem Speer fasziniert. »Ich sah Euer Gesicht in einem Traum«, sagte sie leise, doch er hörte gar nicht hin. Mit einem solchen Speer war er schneller als ein Mann mit einem Schwert. Er stellte sich vor, wie die Aiel alle mit Schwertern bewaffneten Männer besiegten. Keiner könnte ihnen widerstehen. Keiner.

Lichter blitzten durch die Glassäulen und blendeten Rand. Muradin war ihm nur noch einen oder zwei Schritte voraus. Er stierte mit gebleckten Zähnen und einem lautlosen Knurren vor sich hin. Die Säulen brachten sie zurück in die lange vergessene Geschichte der Aiel. Rands Füße bewegten sich ohne sein Zutun. Einen Schritt vor und in der Zeit zurück.

Lewin schob sich das Halstuch vor das Gesicht und spähte in das kleine Lager hinunter, wo die Kohlen des ersterbenden Lagerfeuers noch unter einem eisernen Kessel glühten. Der Wind trug ihm den Geruch nach angebranntem Eintopf zu. Der Mondschein ließ schattenhaft die in Decken gehüllten Umrisse von Menschen um das Feuer herum hervortreten. Es waren keine Pferde in Sicht. Er wünschte, er hätte Wasser mitgenommen, doch nur den Kindern war es erlaubt, außerhalb der Mahlzeiten Wasser zu sich zu nehmen. Er erinnerte sich vage an eine Zeit, in der es mehr Wasser gegeben hatte, als die Tage noch nicht so heiß und staubig waren und der Wind sich auch einmal gelegt hatte. Die Nacht brachte nur wenig Erleichterung, denn an die Stelle der feurig rot brennenden Sonne trat nun die Kälte. Er wickelte sich fester in den Umhang aus Ziegenfellen, den er als Decke benutzte.

Seine Begleiter schoben sich näher heran, genauso eingemummt wie er selbst. Sie traten nach Steinen und schwatzten miteinander, bis er sicher war, daß sie die Männer unten im Lager wecken würden. Er beklagte sich jedoch nicht. Er war genausowenig an diesen Zustand gewöhnt wie sie. Auch ihre Gesichter waren hinter Halstüchern oder Staubschleiern verborgen, doch er erkannte immer, wer es war. Luca, dessen Schultern um die Hälfte breiter waren als die aller anderen und der ihnen so gern Streiche spielte. Gearan, schlaksig wie ein Storch und der beste Läufer unter allen in den Wohnwagen. Charlin und Alijha, die wie Spiegelbilder aussahen, bis auf Charlins Angewohnheit, den Kopf schräg zu halten, wenn er besorgt war, so wie jetzt gerade. Ihre Schwester Colline befand sich drunten im Lager. Und auch Maigran, Lewins Schwester.

Als man die Reisetaschen der Mädchen — offensichtlich im Kampf beschädigt — auf dem Boden vorgefunden hatte, waren die anderen bereit gewesen, zu trauern und einfach weiterzumachen, wie schon so oft zuvor. Selbst Lewins Großvater gehörte dazu. Falls Adan geahnt hätte, was die fünf planten, hätte er sie daran gehindert. Alles, was Adan heutzutage von sich gab, war Geschwätz darüber, den Aes Sedai, die Lewin noch nie gesehen hatte, die Treue zu halten, und darüber, die Aiel am Leben zu halten. Die Aiel als ein Volk, und nicht irgendwelche bestimmten Aiel. Nicht einmal Maigran.

»Es sind vier«, flüsterte Lewin. »Die Mädchen befinden sich auf unserer Seite des Feuers. Ich werde sie leise aufwecken und wir schleichen uns weg, während die Männer schlafen.« Seine Freunde blickten sich gegenseitig an und nickten. Er dachte daran, daß sie eigentlich mit einem festen Plan hätten herkommen müssen, doch sie hatten nur im Kopf gehabt, wie sie ungesehen aus dem Wohnwagenlager entkommen und die Mädchen herausholen könnten. Er war sich gar nicht sicher gewesen, daß sie diesen Männern folgen und sie wiederfinden konnten, bevor sie ihr Dorf erreichten, eine Ansammlung roh gezimmerter Hütten, von denen man die Aiel mit Steinen und Stöcken vertrieben hatte. Sie konnten nichts mehr ausrichten, wenn die Entführer so weit kamen.

»Und was wird, wenn sie aufwachen?« fragte Gearan.

»Ich werde Colline nicht im Stich lassen«, fauchte Charlin, und beinahe im gleichen Atemzug sagte sein Bruder ruhiger: »Wir bringen sie zurück, Gearan.« »Darauf kannst du dich verlassen«, stimmte ihm Lewin zu. Luca stupste Gearan in die Rippen, und der nickte grimmig.

In der Dunkelheit nach unten zum Lager zu kommen, war gar nicht einfach. Von der Hitze ausgetrocknetes Reisig knackte unter ihren Füßen. Steinbrocken und Kiesel lösten sich und rollten den Abhang hinunter. Je leiser Lewin sich zu bewegen versuchte, desto mehr Lärm schien er zu machen. Luca fiel in ein Dornengestrüpp, das laut krachte, aber er schaffte es, schwer atmend, doch mehr oder weniger lautlos daraus zu entkommen. Charlin rutschte aus und glitt auf dem Hinterteil hangabwärts. Aber unten rührte sich nichts.

Kurz vor dem Lager blieb Lewin stehen und tauschte ängstlichnervöse Blicke mit seinen Freunden. Dann schlichen sie auf Zehenspitzen weiter. Sein Atem klang ihm wie Donner in den Ohren, genauso laut wie das Schnarchen, das von den vier Deckenhügeln her ertönte. Er erstarrte, als das Schnarchen aufhörte und sich einer der Deckenhaufen bewegte. Doch dann lag er wieder still, und das Schnarchen begann erneut. Lewin atmete auf.

Vorsichtig kroch er neben einen der kleineren Hügel und schlug die grobe, vor Dreck starrende Wolldecke zur Seite. Maigran blickte zu ihm auf, das Gesicht verschrammt und geschwollen und ihr Kleid zu Fetzen zerrissen. Er legte ihr die Hand über den Mund, damit sie nicht aufschreien konnte, aber sie blickte ihn lediglich weiter starr an und zuckte nicht mit der Wimper.

»Ich werde dich schlachten wie ein Schwein, Junge.« Einer der größeren Deckenhaufen flog weg und ein Mann in schmutziger Kleidung und mit einem verwirrten Bart stand auf. Das lange Messer in seiner Hand schimmerte matt im Mondschein. Ein wenig vom roten Glühen der Kohlen spiegelte sich ebenfalls darin. Er trat gegen die Decken zu beiden Seiten, was ein Knurren hervorbrachte. Beide rührten sich. »Wie ein Schwein. Kannst du quieken, Junge, oder rennt Ihr Leute nur immer weg?« »Lauf weg«, sagte Lewin, aber seine Schwester stierte immer noch stumpf vor sich hin. Verzweifelt packte er sie an den Schultern und wollte sie nach drüben zerren, wo die anderen warteten. »Renn weg!« Sie kam steif aus den Decken hervor, beinahe als totes Gewicht in seinen Armen. Colline war auch wach. Er hörte sie wimmern. Doch sie wickelte ihre schmutzigen Decken noch enger um sich, als wolle sie sich darin verstecken. Maigran stand da, starrte ins Leere und sah nichts.

»Es scheint, daß du nicht einmal das fertigbringst.« Grinsend kam der Mann um das Feuer herum, das Messer direkt vor seinem Bauch haltend. Die anderen richteten sich jetzt in ihren Decken auf und lachten. Sie wollten bei diesem Spaß zusehen.

Lewin wußte nicht, was er tun sollte. Er konnte seine Schwester nicht verlassen. Alles, was ihm blieb, war, zu sterben. Vielleicht konnte er damit Maigran die Zeit erkaufen, um wegzulaufen. »Renn, Maigran! Bitte renn!« Sie rührte sich nicht. Sie schien ihn nicht einmal zu hören. Was hatten sie ihr angetan?

Der bärtige Mann kam gemächlich näher, schmunzelte und genoß offensichtlich die Lage.

»Neeeeeiin!« Charlin jagte aus der Nacht heran, warf sich auf den Mann mit dem Messer, so daß der zu Boden taumelte. Die anderen Männer sprangen auf. Einer, dessen Kopf kahlrasiert war und im trüben Lichtschein glänzte, hob ein Schwert und wollte auf Charlin einhauen.

Lewin war nicht sicher, wie dann alles geschah. Irgendwie bekam er den schweren Kessel am Eisenstiel zu packen, schwang ihn herum und ließ ihn mit dumpfem Krachen gegen den geschorenen Kopf knallen. Der Mann brach zusammen, als seien seine Knochen geschmolzen. Aus dem Gleichgewicht gekommen, taumelte Lewin und versuchte, dem Feuer auszuweichen. Dann stürzte er doch daneben zu Boden und verlor den Griff des Kessels aus der Hand. Ein dunkelhäutiger Mann, der das Haar zu Zöpfen geflochten trug, hob ein weiteres Schwert, bereit, ihn in Stücke zu hauen. Er krabbelte auf dem Rücken weg wie eine Spinne, den Blick auf die Schwertspitze gerichtet. Mit den Händen grabschte er nach allem, was sich in der Nähe befand, um den Mann abzuwehren — einen Stock vielleicht — irgend etwas. Seine Hand berührte rundes Holz. Er riß es herum und stieß damit nach dem wütenden Mann. Der riß die dunklen Augen auf, und das Schwert entfiel ihm. Blut quoll aus seinem Mund. Es war kein Stock gewesen, sondern ein Speer.

Lewin löste seine Hände vom Schaft, sobald er erkannte, was es war. Zu spät. Er kroch rückwärts, um den gestürzten Mann zu meiden, und mußte ihn doch zitternd anblicken. Ein toter Mann. Ein Mann, den er getötet hatte. Der Wind war mit einem Mal eiskalt.

Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß keiner der anderen Männer inzwischen versucht hatte, ihn zu töten. Er war überrascht, den Rest seiner Freunde um das Lagerfeuer herumstehen zu sehen. Gearan und Luca und Alijha standen da, atmeten schwer, und über ihren Staubschleiern leuchteten wilde Augen. Colline gab immer noch leises Wimmern unter ihren Decken von sich, und Maigran stand weiter da und starrte ins Leere. Charlin lag auf Knien da und umklammerte seine Beine. Und die vier Männer, die Dorfbewohner... Lewin blickte von einer leblosen, blutigen Gestalt zur anderen.

»Wir... haben sie getötet.« Lucas Stimme zitterte. »Wir... Gnade des Lichts, sei jetzt mit uns.« Lewin kroch zu Charlin hinüber und berührte ihn an der Schulter. »Bist du verletzt?« Charlin fiel vornüber. Rotglänzende Feuchtigkeit hatte seine Hände schlüpfrig gemacht. Er hatte den Griff des Messers gepackt, das in seinem Bauch steckte. »Es tut so weh, Lewin«, flüsterte er. Er schauderte kurz, und dann brachen seine Augen.

»Was sollen wir tun?« fragte Gearan. »Charlin ist tot, und wir... Licht, was haben wir getan? Was sollen wir machen?« »Wir bringen die Mädchen zu den Wagen zurück.« Lewin konnte seinen Blick nicht von Charlins toten Augen wenden. »Das machen wir.« Sie trugen alles Nützliche zusammen, vor allem den Kessel und die Messer. Man kam so schlecht an Metallwaren. »Wir können genausogut alles mitnehmen«, sagte Alijha mit rauher Stimme. »Sie haben es sicher von jemandem wie uns gestohlen.« Als Alijha sich bückte und eines der Schwerter aufheben wollte, hielt ihn Lewin davon ab. »Nein, Alijha. Das ist eine Waffe, die gemacht wurde, um Menschen zu töten. Sie ist sonst zu nichts zu gebrauchen.« Alijha sagte nichts, blickte nur die vier leblosen Körper an und die Speere, die Luca mit Decken umwickelte, um eine Trage für Charlins Leiche herzustellen. Lewin mied jeden Blick auf die Männer aus dem Dorf. »Mit einem Speer kann man das Fleisch zum Braten aufspießen, Alijha, doch ein Schwert hat außer zum Töten keinen Nutzen. Der Weg des Blatts verbietet es.« Alijha schwieg weiter, doch Lewin glaubte, er habe hinter seinem Schleier das Gesicht spöttisch verzogen. Doch als sie schließlich in die Nacht hinausgingen, blieben die Schwerter neben den verglühenden Kohlen und den toten Männern liegen.

Es war ein langer Marsch durch die Dunkelheit zurück. Sie schleppten schwer an der provisorischen Trage, auf der Charlins Leiche lag. Manchmal wirbelte der Wind lange Staubfahnen auf, die sie zum Husten brachten. Maigran stolperte mit. Sie blickte stur geradeaus, wußte nicht, wo sie war und wer sie waren. Colline schien vor allen schreckliche Angst zu haben, selbst vor ihrem Bruder. Sie zuckte zusammen, sobald jemand sie berührte. So hatte sich Lewin ihre Rückkehr nicht vorgestellt. In seiner Phantasie hatten die Mädchen gelacht, waren glücklich gewesen über ihre Rückkehr zu den Wohnwagen. Alle hatten sie gelacht. Und nicht Charlins Leiche heimgetragen. Sie waren nicht niedergeschlagen gewesen durch das, was sie getan hatten.

Der Schein der Lagerfeuer kam in Sicht und dann die Wohnwagen. Die Männer hatten bereits die Pferdegeschirre für den nächsten Morgen bereitgelegt. Niemand verließ nach Einbruch der Dunkelheit das Lager, also war Lewin ziemlich überrascht, als er drei Gestalten auf sie zukommen sah. Adans weißes Haar zeichnete sich in der Dunkelheit deutlich ab. Die anderen beiden waren Nerrine, Collines Mutter, und Saralin, seine und Maigrans Mutter. Lewin löste voller böser Ahnungen seinen Staubschleier.

Die Frauen eilten zu ihren Töchtern hin, nahmen sie in die Arme und versuchten, sie mit leisen Worten zu beruhigen. Colline ließ sich seufzend in die Arme ihrer Mutter sinken, doch Maigran bemerkte Saralin kaum, die den Tränen nahe war, als sie das verschwollene Gesicht ihrer Tochter sah.

Adan blickte die jungen Männer finster an. Seine sowieso schon tiefen Sorgenfalten wurden jetzt noch tiefer. »Im Namen des Lichts, was ist geschehen? Als wir merkten, daß ihr verschwunden wart...« Seine Worte erstarben, als er die Trage mit der Leiche Charlins sah. »Was ist passiert?« fragte er noch einmal, als fürchte er sich vor der Antwort.

Lewin öffnete langsam den Mund, aber Maigran sprach zuerst: »Sie haben sie getötet.« Sie blickte in die Ferne und ihre Stimme klang wie die eines Kindes. »Die bösen Männer haben uns weh getan. Sie... Dann kam Lewin und tötete sie.« »Du darfst nicht über solche Dinge sprechen, Kind«, sagte Saralin beruhigend. »Du... « Sie hielt inne, sah ihrer Tochter in die Augen und drehte sich dann um, damit sie Lewin ansehen konnte. »Ist das... ? Ist das wahr?« »Wir mußten«, sagte Alijha mit gequälter Stimme. »Sie versuchten, uns zu töten. Und sie haben Charlin getötet.« Adan trat einen Schritt zurück. »Ihr... habt getötet? Menschen getötet? Was ist mit dem Pakt? Wir schaden niemandem. Niemandem! Es gibt keinen stichhaltigen Grund, ein anderes menschliches Wesen zu töten! Keinen!« »Sie haben Maigran entführt, Großvater«, sagte Lewin. »Sie haben Maigran und Colline entführt und ihnen weh getan. Sie... « »Es gibt keinen Grund!« brüllte Adan, der vor Wut zitterte. »Wir müssen akzeptieren, was geschieht. Unsere Leiden wurden gesandt, um unseren Glauben zu prüfen! Wir akzeptieren und halten durch! Wir morden nicht! Ihr seid nicht vom Weg abgewichen, ihr habt ihn verlassen. Ihr seid keine Da'schain mehr! Ihr seid verdorben, und ich lasse nicht zu, daß ihr die Aiel verderbt. Verlaßt uns, ihr Fremden! Mörder! Ihr seid in den Wagen der Aiel nicht mehr willkommen.« Er wandte ihnen den Rücken zu und schritt davon, als existierten sie nicht mehr. Saralin und Nerrine gingen hinter ihm her und führten die Mädchen.

»Mutter?« sagte Lewin, und er machte sich ein wenig kleiner, als sie ihn mit kaltem Blick ansah. »Mutter, bitte... « »Wer seid Ihr, der mich so anspricht? Ich hatte einst einen Sohn, der so ähnlich aussah. Ich will dieses Gesicht nicht an einem Mörder sehen.« Und sie führte Maigran hinter den anderen her.

»Ich bin immer noch ein Aiel«, schrie Lewin, aber sie blickten nicht um. Er glaubte, Luca weinen zu hören. Der Wind frischte auf, wirbelte den Staub hoch, und er verschleierte sein Gesicht. »Ich bin ein Aiel!« Wild huschende Lichter bohrten sich in Rands Augen. Der Schmerz des Verlustes, den Lewin erlitten hatte, klang noch in ihm nach, und in seinem Hirn herrschte ein heilloses Durcheinander. Lewin hatte keine Waffe getragen. Er hatte nicht einmal gewußt, wie man eine Waffe verwendet. Er hatte Angst vor dem Töten gehabt. Das ergab keinen Sinn.

Er war nun beinahe gleichauf mit Muradin, aber der Mann bemerkte seine Anwesenheit gar nicht. Muradins Gesicht war wie eine erstarrte Fratze. Schweiß rann ihm über die Stirn. Er bebte, als wolle er davonlaufen.

Rands Füße trugen ihn vorwärts, und zurück.

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