32 Brennende Fragen

Wir sollten bald nach Wachhügel aufbrechen«, sagte Verin am nächsten Morgen, als die Sonne noch kaum den Morgenhimmel erhellte, »also trödelt nicht.« Perrin blickte von seinem kalten Haferbrei hoch. Der entschlossene Blick der Aes Sedai ließ keinen Widerspruch zu. Einen Augenblick später fügte sie nachdenklich hinzu: »Glaubt aber nicht, daß ich Euch deshalb bei irgendeinem närrischen, überhasteten Unternehmen helfen werde. Ihr seid ein junger Mann, der immer etwas Derartiges auf Lager hat. Versucht das erst gar nicht bei mir.« Tam und Abell hielten in ihren Bewegungen inne, die Löffel halb zum Mund gehoben, und tauschten einen überraschten Blick. Bis jetzt waren sie wie auch die Aes Sedai getrennte Wege gegangen. Nach einem Augenblick aßen sie weiter, jedoch mit nachdenklich gerunzelter Stirn. Irgendwelche Einwände blieben unausgesprochen. Tomas, der seinen Behüterumhang bereits in seiner Satteltasche verstaut hatte, warf ihnen und Perrin noch zusätzlich einen harten Blick zu, als erwarte er Widerspruch und habe vor, diesen im Keim zu ersticken. Behüter taten immer alles Notwendige, um ihrer Aes Sedai zu erlauben, das zu tun, was sie wollte.

Sie wollte sich natürlich wieder einmischen. Das taten die Aes Sedai grundsätzlich. Aber es war besser, sie dort zu haben, wo er sie sehen konnte, und nicht gerade in seinem Rücken. Es war beinahe unmöglich, sich den Intrigen der Aes Sedai ganz zu entziehen, wenn sie ihre Nase in etwas stecken wollten. Es gab nur einen Weg: Man mußte versuchen, sie zu benutzen, während sie einen selbst benutzten, und höllisch aufzupassen, damit man rechtzeitig wegsprang, falls sie einen am Kragen packen und in ein Kaninchenloch stecken wollten. Manchmal stellte sich der Kaninchenbau auch als eine Dachshöhle heraus, und das konnte unangenehme Folgen haben.

»Ihr seid uns auch willkommen«, sagte er zu Alanna, aber die warf ihm nur einen so eisigen Blick zu, daß er lieber mit Sticheln aufhörte. Sie hatte den Haferbrei keines Blickes gewürdigt, stand an einem der halb überwucherter Fenster und spähte durch den Blättervorhang nach draußen.

Er wußte nicht, ob sie mit seinen Plänen für eine Erkundung einverstanden war. Es schien unmöglich, ihr etwas anzusehen. Von den Aes Sedai erwartete man kühlüberlegene Würde, und das traf bei ihr in vollem Maße zu. Doch dann wieder blitzten ihr feuriges Temperament oder ihr unberechenbarer Humor auf, wenn man das am wenigsten erwartete. Und ebenso schnell war es wieder vorbei. Manchmal sah sie ihn auf eine Weise an — wenn sie keine Aes Sedai gewesen wäre, hätte er gesagt, sie bewunderte ihn. Ein andermal fühlte er sich unter ihrem Blick wie ein komplizierter Mechanismus, den sie auseinandernehmen wollte, um herauszufinden, wie er funktionierte. Selbst Verin war da noch besser. Die meiste Zeit über konnte man einfach nicht in Erfahrung bringen, was sie dachte oder vorhatte. Das ging ihm manchmal ziemlich auf die Nerven, aber wenigstens hatte er bei ihr nicht das Gefühl, daß sie nicht wisse, wie sie ihn hinterher wieder zusammensetzen solle.

Er wünschte, er könne Faile dazu bringen, hierzubleiben. Das war ja nicht das gleiche, als ließe er sie zurück; sie wäre dann aber in Sicherheit vor den Weißmänteln. Doch ihr Kinn war schon wieder stur vorgeschoben, und in ihren schrägstehenden Augen glitzerte es gefährlich. »Ich freue mich darauf, etwas von deinem Land sehen zu können. Mein Vater züchtet auch Schafe.« Ihr Tonfall klang entschlossen; sie würde nicht hierbleiben. Dazu müßte er sie schon festbinden.

Einen Augenblick lang dachte er sogar an eben dieses. Aber die Gefahr, die ihnen von den Weißmänteln drohte, dürfte nicht so groß sein, dachte er. Heute wollte er ja nur auf Erkundung gehen. »Ich dachte, er sei Kaufmann«, sagte er.

»Er züchtet auch Schafe.« Rote Flecke erblühten auf ihren Wangen. Vielleicht war ihr Vater ein armer Mann und überhaupt kein Händler. Er wußte nicht, warum sie ihm so etwas vormachte, aber wenn sie es so wollte, dann würde er sie nicht davon abhalten. Verlegen oder nicht —sie wirkte trotzdem genauso stur und entschlossen wie vorher.

Er erinnerte sich an Meister Cauthons Vorschlag. »Ich weiß nicht, wieviel du zu sehen bekommen wirst. Auf einigen Höfen dürfte die Schur im Gang sein, schätze ich. Wahrscheinlich auch nicht anders als bei deinem Vater. Ich bin jedenfalls froh über deine Gesellschaft.« Ihr überraschter Gesichtsausdruck, als ihr klar wurde, daß er nicht widersprach, war beinahe die Sorgen wert, die sie ihm durch ihre Anwesenheit bereitete. Vielleicht hatte Abell wirklich recht.

Bei Loial war das eine ganz andere Sache. »Aber ich will mitkommen«, protestierte der Ogier, als man ihm sagte, er solle dableiben. »Ich will helfen, Perrin!« »Ihr würdet zu sehr auffallen, Meister Ogier«, sagte Abell und Tam fügte hinzu: »Wir müssen alles unnötige Aufsehen unbedingt vermeiden.« Loials Ohren hingen enttäuscht herunter.

Perrin zog ihn auf die Seite, so weit von den anderen entfernt, wie es in diesem Raum eben ging. Loials zerzaustes Haar streifte die Deckenbalken, bis Perrin ihm bedeutete, sich etwas zu bücken. Dann lächelte er ihn an und tat so, als wolle er ihn nur aufheitern. Er hoffte jedenfalls, daß die anderen dies glaubten.

»Ich möchte, daß du Alanna ein wenig beobachtest«, sagte er im Flüsterton. Loial zuckte zusammen, und er packte den Ogier am Ärmel, wobei er immer noch grinste wie ein Idiot. »Grinsen, Loial. Wir sprechen über vollkommen unwichtige Dinge, ja? Denk daran!« Der Ogier brachte ein unsicheres Grinsen zuwege. Es würde reichen müssen. »Aes Sedai haben für das, was sie tun, ihre eigenen Gründe, Loial.« Und das konnte durchaus etwas total Unerwartetes sein, etwas, womit man überhaupt nicht gerechnet hatte. »Wer weiß denn schon, was sie im Sinn hat? Ich habe schon genug Überraschungen erlebt, seit ich heimgekommen bin, und mir steht der Sinn nicht nach weiteren. Ich erwarte ja nicht, daß du sie aufhältst, aber du solltest aufpassen, ob sie irgend etwas Außergewöhnliches macht.« »Vielen Dank, Perrin«, knurrte Loial sarkastisch. Seine Ohren zuckten. »Hältst du es nicht für besser, Aes Sedai einfach tun zu lassen, was sie wollen?« Das war leicht gesagt in seinem Fall. Aes Sedai konnten in einem Ogier-Stedding die Macht nicht benützen. Perrin sah ihn nur lange an, bis der Ogier schließlich aufseufzte. »Nun ja, wahrscheinlich nicht. Also gut. Ich kann ja nicht behaupten, daß es in deiner Nähe... langweilig würde.« Er richtete sich auf, rieb sich mit einem dicken Finger unter der Nase und sagte zu den anderen: »Ich denke, ich würde doch zuviel Aufmerksamkeit erregen. Nun, auf die Art habe ich Zeit, um meine Notizen durchzusehen. Ich habe schon seit Tagen nicht mehr an meinem Buch gearbeitet.« Verin und Alanna tauschten einen undurchschaubaren Blick, und dann sahen sie wie auf Kommando mit großen Augen Perrin an. Man konnte dabei einfach nicht feststellen, was sie dachten.

Die Packtiere mußte man natürlich zurücklassen. Packpferde würden in jedem Fall Aufsehen erregen, da sie von einer längeren Reise kündeten. Selbst in guten Zeiten reiste an den Zwei Flüssen kaum jemand einmal weiter weg. Alanna lächelte leicht und zufrieden, während sie ihnen beim Satteln ihrer Reittiere zusah. Zweifellos glaubte sie, daß die zurückgelassenen Tiere mit den Tragekörben sie an das alte Seuchenhaus und an sie und Verin fesselten. Falls es zum Schlimmsten kam, würde sie eine Überraschung erleben. Er war schon oft genug nur mit seinem Reitpferd und den Satteltaschen ausgekommen, seit sie die Heimat verlassen hatten. Gelegentlich hatte er auch nicht mehr gehabt als seine Gürteltasche und die Taschen an seinem Mantel. Überlebt hatte er allemal.

Er richtete sich auf, nachdem er Trabers Sattelgurt fester gezurrt hatte, und dann fuhr er zusammen. Verin musterte ihn eindringlich und mit einem Blick, der Wissen verriet.

Dieser Blick war keineswegs verträumt wie sonst. Sie wußte, was er dachte, und amüsierte sich darüber. Das war schon bei Faile schlimm genug, aber bei einer Aes Sedai traf ihn das hundertmal stärker. Der Hammer, den er neben die Deckenrolle und die Satteltaschen geschnallt hatte, schien ihr aber doch ein Rätsel zu sein. Er war froh, daß es noch etwas gab, das sie nicht auf Anhieb verstand. Andererseits paßte ihm ihre Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht gar nicht. Was konnte an einem Hammer so faszinierend sein für eine Aes Sedai?

Da sie nur ihre Pferde satteln mußten, waren ihre Vorbereitungen im Nu beendet. Verin hatte einen unauffälligen braunen Wallach, der für das ungeschulte Auge genauso durchschnittlich wirkte wie ihre Kleidung, aber der breite Brustkorb und der kräftige Körper deuteten auf ebensoviel Ausdauer hin wie bei dem hochgewachsenen, schlanken Grauen des Behüters. Dieses temperamentvolle Tier rollte erregt mit den Augen. Traber schnaubte daraufhin eifersüchtig, bis Perrin den Hals des Braunen beruhigend tätschelte. Der Graue war ein wenig disziplinierter, aber genauso kampfbereit. Tomas mußte ihn nur loslassen. Der Behüter lenkte sein Tier mehr mit den Knien als mit dem Zügel. Die beiden schienen eins zu sein, so verwachsen miteinander wirkten die beiden.

Meister Cauthon musterte interessiert Tomas' Pferd. Man bekam hier nicht viele Streitrösser zu Gesicht. Aber bei Verins Tier nickte er schon nach einem kurzen Blick anerkennend. Es gab an den Zwei Flüssen wohl kaum einen besseren Pferdekenner als ihn. Zweifellos war auch er es gewesen, der sein eigenes und Meister al'Thors Pferd ausgesucht hatte. Es waren Tiere mit zottigerem Fell, auch kleiner als die anderen, doch stämmig und mit einem Schritt, der für Schnelligkeit und Ausdauer sprach.

Die drei Aiel gingen ihnen mit geschmeidigen, langen Schritten voran, als sie in Richtung Norden aufbrachen. Sie waren schnell außer Sicht im dichten Wald. Die Schatten des frühen Morgens waren lang und scharf umrissen. Die ersten Sonnenstrahlen warfen Lichtbalken zwischen die Bäume. Manchmal blitzte zwischen den Bäumen etwas Graubraunes auf, wahrscheinlich absichtlich, um die anderen wissen zu lassen, wo sich die Aiel befanden. Tam und Abell übernahmen die Führung. Sie hatten die Bögen über die hohen Sattelhörner gehängt. Dahinter ritten Perrin und Faile, während Verin und Tomas den Schluß bildeten.

Perrin hätte auf Verins Blick in seinem Rücken gut verzichten können. Er konnte ihn deutlich zwischen seinen Schulterblättern spüren. Er fragte sich, ob sie von den Wölfen wisse. Kein angenehmer Gedanke. Braune Schwestern wußten angeblich über eine Menge Dinge Bescheid, die den anderen Ajahs nicht bekannt waren —verborgene Dinge, uralte Kenntnisse. Vielleicht wußte sie, wie er es anstellen mußte, um sich nicht an die Wölfe zu verlieren, um seine Menschlichkeit nicht aufzugeben. Abgesehen davon, daß er möglicherweise Elyas Machera wiederfand, stellte sie seine größte Hoffnung dar. Er mußte ihr lediglich vertrauen. Sie würde bestimmt all ihre Kenntnisse einsetzen; ganz sicher im Namen der Weißen Burg, vielleicht aber auch für Rand. Das Dumme daran war nur, daß Hilfe für Rand ihm selbst jetzt im Moment auch nicht weiterhalf, die eigenen Probleme zu lösen. Alles wäre soviel einfacher ohne die Aes Sedai.

Die meiste Zeit über ritten sie schweigend dahin, nur begleitet von den Geräuschen des Waldes: Eichhörnchen, Spechten und gelegentlichem Vogelgezwitscher. Einmal blickte Faile zurück und sagte dann zu ihm: »Sie wird dir nichts antun.« Ihr sanfter Tonfall stand im Kontrast zu ihren wild blitzenden dunklen Augen.

Perrin blickte verwundert drein. Sie wollte ihn beschützen. Vor den Aes Sedai. Er würde sie wohl nie verstehen oder wissen, was er als nächstes von ihr zu erwarten hatte. Sie benahm sich manchmal wirklich genauso verwirrend wie die Aes Sedai.

Sie erreichten schließlich den Rand des Westwalds etwa vier oder fünf Meilen nördlich von Emondsfeld. Die Sonne stand bereits ein Stück über den Baumwipfeln im Osten. Verstreute Waldstreifen, meist Lederblattbäume, Kiefern und Eichen, lagen zwischen ihnen und den nächsten durch Hecken eingefaßten Feldern, auf denen Gerste und Hafer, Tabak und Gras zum Heuen wuchs. Seltsamerweise war kein Mensch zu sehen. Kein Rauch erhob sich aus den Schornsteinen der Bauernhöfe hinter den Feldern. Perrin kannte die Leute, die dort wohnten, die Familie al'Loras in zwei der größeren Häuser und die Barsters, die in den anderen von hier aus sichtbaren Gebäuden lebten. Hart arbeitende Menschen. Falls sich jemand in den Häusern befunden hätte, wären sie längst bei der Arbeit gewesen. Gaul winkte vom Saum eines größeren Gebüsches her und verschwand dann darin.

Perrin trieb Traber voran, bis er sich neben Tam und Abell befand. »Sollten wir nicht in Deckung weiterreiten, solange wir können? Sechs Berittene werden nicht unbemerkt bleiben.« Sie ließen ihre Pferde unverändert gleichmäßig weiterschreiten.

»Es gibt nicht viele, die uns bemerken könnten, Junge«, antwortete Meister al'Thor, »solange wir uns von der Nordstraße fernhalten. Die meisten Höfe, die in der Nähe des Waldes liegen, wurden mittlerweile aufgegeben. Außerdem ist heutzutage niemand allein unterwegs. Keiner entfernt sich weit vom eigenen Haus. Eine Gruppe von zehn Leuten erregt heute kaum besonderes Aufsehen, obwohl die meisten, wenn überhaupt, mit Planwagen unterwegs sind.« »Wir werden so schon der größten Teil des Tages über brauchen, um nach Wachhügel zu kommen«, sagte Meister Cauthon. »Und das, ohne den Umweg durch den Wald zu nehmen. Auf der Straße ginge es ein wenig schneller, klar, aber es bestünde auch eher die Gefahr, Weißmänteln zu begegnen. Die Gefahr, daß uns jemand gegen eine Belohnung verrät, wäre ebenfalls um vieles größer.« Tam nickte. »Aber in dieser Gegend haben wir auch Freunde. Wir haben vor, gegen Mittag bei Jac al'Seens Hof eine Pause einzulegen, damit sich die Pferde ausruhen und wir uns ein wenig die Beine vertreten können. Wir kommen nach Wachhügel, wenn das Tageslicht noch ausreichend ist, um alles zu beobachten.« »Es wird hell genug sein«, bestätigte Perrin automatisch. Für ihn reichte das Licht allemal aus. Er drehte sich im Sattel um und sah noch einmal zu den Bauernhäusern hinüber. Verlassen, aber nicht niedergebrannt, nicht geplündert, soweit er das feststellen konnte. An den Fenstern hingen noch die Gardinen. Die Scheiben waren ganz. Trollocs zerstörten gern alles, und leere Häuser stellten für sie eine Einladung dar. Zwischen den Gersten- und Haferhalmen wuchs Unkraut, aber man hatte die Pflanzen nicht niedergetrampelt. »Haben die Trollocs Emondsfeld selbst schon angegriffen?« »Nein, haben sie nicht«, sagte Meister Cauthon dankbar. »Es würde ihnen auch nicht leicht gemacht, das kann ich dir sagen. Die Leute haben seit der vorletzten Winternacht gelernt, höllisch aufzupassen. Neben jeder Tür steht ein Bogen und dazu Speere und so. Außerdem kommen die Weißmäntel alle paar Tage auf Patrouille herunter. So schwer es mir fällt, das zuzugeben, so halten sie doch auf die Art die Trollocs im Schach.« Perrin schüttelte den Kopf. »Habt Ihr eine Ahnung, wie viele Trollocs sich hier befinden?« »Einer ist schon zuviel«, knurrte Abell.

»Vielleicht zweihundert«, meinte Tam. »Möglicherweise auch mehr.« Meister Cauthon blickte überrascht drein. »Denk doch mal nach, Abell. Ich weiß nicht, wie viele die Weißmäntel schon getötet haben, aber die Behüter behaupten, daß sie und die Aes Sedai beinahe fünfzig erledigt haben und dazu noch zwei Blasse. Und die Anzahl von Überfällen, von denen wir erfahren, ist nicht geringer geworden. Ich denke, es müssen mehr sein, aber du kannst ja selbst rechnen.« Der andere Mann nickte verdrossen.

»Warum haben sie dann Emondsfeld nicht angegriffen?« fragte Perrin. »Ein Überfall mit zwei- oder dreihundert Trollocs in der Nacht, und sie könnten wahrscheinlich das ganze Dorf niederbrennen und wieder entkommen, bevor die Weißmäntel oben in Wachhügel überhaupt davon erführen. Noch leichter wäre es für sie allerdings, Devenritt zu überfallen. Ihr habt doch gesagt, daß die Weißmäntel gar nicht erst dorthin kommen.« »Glück«, murmelte Abell, aber es klang innerlich zerrissen. »Das wird es sein. Wir haben Glück gehabt. Was sonst? Worauf willst du hinaus, Junge?« »Worauf er hinaus will«, sagte Faile, die ihr Pferd heranlenkte, »ist die Tatsache, daß es einen Grund dafür geben muß.« Schwalbe war soviel größer als die Pferde der beiden älteren Männer, daß sie denen nun in die Augen sehen konnte, und ihr Blick wirkte ruhig und fest. »Ich habe gesehen, was in Saldaea nach Trolloc-Überfällen zurückblieb. Was sie nicht niederbrennen, zerstören sie auf andere Art. Sie töten oder verschleppen die Menschen und die Tiere — alles, was ungeschützt ist. In schlechten Jahren sind ganze Dörfer verschwunden. Sie suchen heraus, was ihnen am schwächsten vorkommt, wo sie die meisten Menschen töten können. Mein Vater...« Sie schluckte hinunter, was sie hatte sagen wollen, atmete tief durch und fuhr fort: »Perrin hat begriffen, was auch Euch klar sein sollte.« Sie lächelte ihm stolz zu. »Wenn die Trollocs Euer Dorf nicht angegriffen haben, dann hat das einen besonderen Grund.« »Daran habe ich auch gedacht«, sagte Tam ruhig, »aber ich kann mir keinen vorstellen. Bis wir Bescheid wissen, ist Glück eine genauso gute Antwort wie jede andere.« »Vielleicht«, sagte Verin, die sich ihnen anschloß, »ist es ein Köder?« Tomas hielt sich noch ein Stück hinter ihnen und suchte mit seinen dunklen Augen das Gelände, durch das sie ritten, genauso unablässig nach Gefahren ab, wie jeder der Aiel. Der Behüter beobachtete auch den Himmel. Es gab immer die Möglichkeit, daß wieder ein Rabe auftauchte. Verin holte einmal Luft, und ihr Blick wanderte dabei von Perrin zu den beiden älteren Männern. »Berichte von ständigen Unruhen, von Trolloc-Überfällen, lenken die Aufmerksamkeit auf die Zwei Flüsse. Andor wird sicher Soldaten aussenden und vielleicht auch andere Länder, wenn Trollocs so weit im Süden auftauchen. Natürlich nur, falls die Kinder des Lichts die betreffenden Berichte herauslassen. Ich denke, die Gardesoldaten von Königin Morgase wären gleichermaßen unglücklich über die Anwesenheit so vieler Weißmäntel wie über die Trollocs.« »Krieg«, knurrte Abell. »Was wir hier haben, ist schon schlimm genug, aber Ihr sprecht von Krieg.« »Das könnte sein«, sagte Verin gelassen. »Das könnte sein.« Sie runzelte abwesend die Stirn, als sei sie mit den Gedanken längst woanders, kramte eine Schreibfeder mit Stahlspitze und ein kleines, leinengebundenes Notizbuch aus ihrem Beutel und öffnete eine kleine Lederschachtel aus ihrer Gürteltasche, die eine Tintenflasche und einen Sandstreuer enthielt. Sie wischte die Feder geistesabwesend an ihrem Ärmel ab und begann, trotz der Schwierigkeiten beim Reiten in ihr Büchlein hineinzuschreiben. Sie schien sich der Sorgen nicht bewußt zu sein, die sie verursacht hatte. Vielleicht war ihr das auch wirklich nicht klar.

Meister Cauthon murmelte immer wieder leise und staunend: »Krieg«, und Faile legte mit traurigem Blick eine beruhigende Hand auf Perrins Arm.

Meister al'Thor aber knurrte nur kurz. Wie Perrin gehört hatte, hatte er an einem Krieg teilgenommen. Allerdings wußte er nicht, wo oder wie das zugegangen war. Irgendwo außerhalb der zwei Flüsse. Als junger Mann war er fortgezogen und Jahre später mit einer Frau und einem Kind, Rand, wieder aufgetaucht. Wenige Menschen nur verließen die Zwei Flüsse. Perrin zweifelte daran, daß hier jemand wirklich wußte, was ein Krieg bedeutete. Sie hörten höchstens einmal von fahrenden Händlern, von Kaufleuten, ihren Begleitsoldaten oder Fahrern etwas darüber. Er selbst allerdings hatte da mehr Erfahrung. Er hatte den Krieg auf der Toman-Halbinsel mitgemacht. Abell hatte recht. Was hier vorging, war schlimm genug, doch es war nichts gegen wirklichen Krieg.

Er sagte nichts dazu. Vielleicht hatte Verin recht. Und wahrscheinlich wollte sie damit alle anderen davon abhalten, weiter zu spekulieren. Falls die Trolloc-Überfälle auf die Zwei Flüsse ein Köder sein sollten, dann mußte dieser Köder Rand gelten, und das wußte die Aes Sedai. Das war ja eines der Hauptprobleme mit den Aes Sedai: Sie servierten einem so viele ›falls‹ und ›möglicherweise‹ und ›es könnte sein‹, daß man schließlich sicher war, sie habe gesagt, was sie in Wirklichkeit nur angedeutet hatte. Also, wenn derjenige — vielleicht einer der Verlorenen? —, der die Trollocs geschickt hatte, damit Rand eine Falle stellen wollte, mußte er sich nun eben mit Perrin begnügen, einem einfachen Schmied statt des Wiedergeborenen Drachen. Nun, und er hatte nicht vor, in eine Falle zu tappen.

Sie ritten schweigend weiter durch den Morgen. In diesem Teil der Zwei Flüsse lagen die Bauernhöfe weit verstreut, manchmal eine Meile oder weiter voneinander entfernt. Auch der letzte Hof lag verlassen da; die Felder erstickten unter Unkraut; die Scheunentore schwangen im Wind knarrend hin und her. Nur einen Hof hatte man niedergebrannt. Nichts stand mehr dort außer den Schornsteinen, die wie rußgeschwärzte Finger aus der Asche ragten. Die Menschen, die hier gestorben waren —aus der Ayellin-Familie, Cousins derer in Emondsfeld —, hatte man nahe den Birnbäumen hinter dem Haus begraben. Die wenigen, die man noch vorgefunden hatte. Man hätte Abell dazu zwingen müssen, darüber zu berichten, und das wollte Tam nicht. Sie schienen alle zu denken, es müsse ihn zu sehr aus dem Gleichgewicht bringen. Aber er wußte, was die Trollocs fraßen. Alles, was nach Fleisch roch. Er strich abwesend über seine Axt, bis Faile seine Hand in die ihre nahm. Aus irgendeinem Grund war gerade sie es, die besonders verstört wirkte. Er hatte geglaubt, sie wisse mehr über die Trollocs.

Sogar zwischen den kleinen Baumgruppen, im freien Gelände, war von den Aiel nichts zu sehen, außer, wenn sie gesehen werden wollten. Als Tam sich immer mehr Richtung Osten hielt, machten sie seinen Schwenk mit.

Wie Meister Cauthon vorausgesehen hatte, kam der Hof der al'Seens gegen Mittag in Sicht, als die Sonne noch im Zenith stand. Es war kein anderes Gebäude in Sicht, obwohl sie im Norden und im Osten weit voneinander entfernte graue Rauchwolken aus Schornsteinen sehen konnten. Warum blieben sie immer noch hier in solcher Abgeschiedenheit? Falls Trollocs kamen, lag ihre einzige Hoffnung darin, daß zufällig zur gleichen Zeit eine Patrouille der Weißmäntel in der Nähe war.

Als das verschachtelte Bauernhaus noch in einiger Entfernung lag, hielt Tam sein Pferd an und winkte den Aiel zu, damit sie herkamen. Er schlug ihnen vor, einen Platz zu finden, an dem sie lagern konnten, bis die anderen den Hof wieder verließen. »Sie werden nichts über Abell und mich ausplaudern«, sagte er, »aber auch beim besten Willen werden sie den Mund in bezug auf Euch drei nicht halten können.« Das war noch sehr zurückhaltend ausgedrückt — bei ihrer seltsamen Kleidung und ihren Speeren. Dazu waren noch zwei von ihnen Frauen. Neben ihren Köchern hing mittlerweile bei jedem von ihnen ein Kaninchen, obwohl Perrin nicht verstehen konnte, woher sie die Zeit zum Jagen genommen hatten, da sie schließlich immer ihren Pferden voraus gewesen waren. Und was das betraf, schienen sie überdies weniger erschöpft als ihre Pferde!

»Schon klar«, meinte Gaul. »Ich werde einen Platz finden, an dem ich essen und gleichzeitig nach Euch Ausschau halten kann.« Er wandte sich um und lief sofort weiter. Bain und Chiad tauschten einen Blick. Nach einem Augenblick zuckte Chiad die Achseln, und sie folgten ihm.

»Gehören sie nicht zusammen?« fragte Mats Vater und kratzte sich am Kopf.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Perrin darauf. Das war immer noch besser, als ihm zu erzählen, daß sich Chiad und Gaul vielleicht einmal einer Blutfehde wegen gegenseitig töten würden. Er hoffte nur, der Wassereid werde sie davon abhalten. Er sollte sich daran erinnern, Gaul zu fragen, was ein Wassereid überhaupt sei.

Der Hof der al'Seens gehörte zu den größten an den Zwei Flüssen. Drei große Scheunen und fünf Trockenschuppen für Tabak standen da. Der steinummauerte Pferch, voll mit schwarzkköpfigen Schafen, erstreckte sich so weit wie sonst ganze Weideflächen. Lattenzäune trennten weißgefleckte Milchkühe von den schwarzen Schlachtrindern. Schweine grunzten zufrieden in ihrer Suhle, überall liefen Hühner umher, und auf einem recht großen Teich schwammen weiße Gänse. Das erste Außergewöhnliche, was Perrin bemerkte, waren die Jungen auf den strohgedeckten Dächern. Es waren acht oder neun, mit Pfeil und Bogen und Köchern ausgerüstet. Sie schrien hinunter, sobald sie die Reiter entdeckten, und unten trieben die Frauen hastig ihre Kinder ins Haus, bevor sie der Sonne wegen die Hände über die Augen hielten und hinüberspähten, wer da kommen mochte. Die Männer versammelten sich auf dem Hof. Einige hatten Bögen, andere Mistgabeln und Hacken, die sie wie Waffen in Händen hielten. Zu viele Menschen. Viel zu viele selbst für ein so großes Gehöft. Er sah Meister al'Thor fragend an.

»Jac hat die Familie seines Cousins Wit aufgenommen«, erklärte Tam, »denn Wits Hof war zu nahe beim Westwald. Und dann kam Flann Lewins Familie, nachdem ihr Hof angegriffen worden war. Weißmäntel haben die Trollocs vertrieben, bevor mehr als die Scheunen brannten, aber Flann entschloß sich, daß es höchste Zeit sei, zu gehen. Jac ist ein guter Mann.« Als sie auf den Hof ritten, erkannten die Leute Tam und Abell. Männer und Frauen versammelten sich lächelnd um sie und begrüßten sie herzlich, während alle abstiegen. Als sie das sahen, stürmten die Kinder wieder aus dem Haus, gefolgt von den Frauen, die auf sie aufgepaßt hatten, und anderen, die gerade aus der Küche kamen und sich die Hände schnell noch an den Schürzen abwischten. Jede Generation war vertreten — von der weißhaarigen Astelle al'Seen, die bucklig einherlief, aber den Stock doch mehr dazu benützte, um die Leute aus dem Weg zu schubsen, denn als Stütze, bis zum Baby in Windeln, das auf den Armen einer ziemlich dicken jungen Frau mit strahlendem Lächeln lag.

Perrin sah an der dicken, lächelnden Frau vorbei, doch dann riß es ihm förmlich den Kopf herum. Als er die Zwei Flüsse verlassen hatte, war Laila Dearn ein schlankes Mädchen gewesen, das gleich drei Jungen in Grund und Boden tanzen konnte. Nur das Lächeln und die Augen waren geblieben. Er schauderte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er davon geträumt, Laila zu heiraten, und auch sie hatte seine Gefühle durchaus erwidert. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatte eigentlich länger an ihm festgehalten als umgekehrt. Glücklicherweise war sie zu sehr mit ihrem Baby und dem noch dickeren Burschen an ihrer Seite beschäftigt, um ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken. Perrin erkannte auch diesen Mann neben ihr: Natley Lewin. Also gehörte Laila nun zu den Lewins. Seltsam. Nat hatte noch nie tanzen können. Er dankte dem Licht dafür, daß er diesem Schicksal entronnen war, und blickte sich nach Faile um.

Er sah, daß sie müßig mit Schwalbes Zügeln herumspielte, während das Pferd seine Schnauze an ihrer Schulter rieb. Sie lächelte dabei Wil al'Seen bewundernd an, einen Cousin aus der Gegend von Devenritt, und Wil lächelte zurück. Das war schon ein gutaussehender Bursche, dieser Wil. Er war wohl ein Jahr älter als Perrin, sah aber derart gut aus, daß er ausgesprochen jungenhaft wirkte. Wenn Wil zum Tanz nach Emondsfeld kam, himmelten ihn sämtliche Mädchen an. Genau wie Faile jetzt. Sicher, sie seufzte wenigstens nicht sehnsuchtsvoll, aber ihr Lächeln war schon deutlich genug.

Perrin ging hinüber und legte den Arm um sie. Seine andere Hand ruhte auf dem Schaft der Axt. »Wie geht es dir, Wil?« fragte er mit seinem breitesten Lächeln. Er wollte Faile ja nicht merken lassen, daß er eifersüchtig war. Er war es auch bestimmt nicht, oder?

»Gut, Perrin.« Wils Blick glitt hinunter zu der Axt, und auf seinem Gesicht breitete sich ein etwas kränklicher Ausdruck aus. »Prima.« Er vermied es, Faile noch einmal anzusehen, und eilte schnell hinüber zu der Gruppe um Verin.

Faile blickte zu Perrin auf, schürzte die Lippen, griff dann mit einer Hand in seinen Bart und schüttelte sanft seinen Kopf. »Perrin, Perrin, Perrin«, murmelte sie leise.

Es war ihm nicht ganz klar, was sie damit meinte, aber er hielt es für klüger, nicht danach zu fragen. Sie sah aus, als sei sie selbst nicht ganz sicher, ob sie sich ärgern solle, oder — amüsierte sie sich vielleicht über ihn? Am besten ging er gar nicht weiter darauf ein.

Wil war natürlich nicht der einzige, der erstaunt seine Augen bemerkt hatte. Es schien ihm, jeder von ihnen, ob jung oder alt, ob weiblich oder männlich, sei unter seinem Blick zusammengezuckt. Die alte Frau al'Seen stach mit ihrem Stock nach ihm und riß die dunklen, alten Augen auf, als ihm ein Schmerzlaut entwich. Sie hatte ihn vielleicht nicht für wirklich gehalten. Dennoch sagte niemand etwas.

Bald hatte man die Pferde in einer der Scheunen untergebracht. Tomas brachte seinen Grauen selbst hin, denn das Tier ließ niemand anderen an seine Zügel heran. Alle außer den Jungen auf dem Dach hatten sich mit ins Haus gedrängt, das nun reichlich voll war. In zwei Reihen standen die Erwachsenen rund im großen Vorraum. Die Lewins und die al'Seens standen bunt gemischt da, ohne feste Ordnung oder Rangverteilung. Die Kinder ruhten entweder in den Armen ihrer Mütter oder spähten hinter deren Röcken hervor. Alle Türen waren hoffnungslos verstopft.

Den Neuankömmlingen brachte man starken Tee und hochlehnige Stühle mit Strohpolstern. Nur für Verin und Faile waren bestickte Kissen da. Überhaupt herrschte nicht geringe Erregung wegen der Anwesenheit Verins, Failes und Tomas'. Alle schnatterten durcheinander und starrten diese drei an, als trügen sie Kronen oder als würden sie im nächsten Moment Kunststücke vollführen. An den Zwei Flüssen erregten Fremde immer Aufsehen. Besonders das Schwert an Tomas' Seite war ein wichtiges Gesprächsthema. Wohl flüsterten sich die Leute ihre Kommentare zu, doch Perrin verstand sie ohne Schwierigkeiten. Schwerter waren hier etwas Ungewöhnliches, oder waren es zumindest vor dem Kommen der Weißmäntel gewesen. Einige hielten Tomas für einen Weißmantel, andere für einen Lord. Ein kleiner Junge, der den Erwachsenen noch nicht einmal bis zur Hüfte reichte, nannte ihn einen Behüter, aber die Großen lachten ihn aus.

Sobald sich seine Gäste gesetzt hatten, stellte sich Jac al'Seen vor den breiten, gemauerten Kamin. Er war ein stämmiger, breitschultriger Mann mit noch weniger Haaren als Meister al'Vere, und diese wenigen waren genauso grau. Auf dem Sims hinter seinem Kopf tickte eine Uhr, die zwischen zwei großen Silberpokalen stand. Diese Kombination bewies, daß er ein wohlhabender Bauer sein mußte. Als er die Hand erhob, verstummte das Gerede. Trotzdem zischten sein Cousin Wit, der beinahe wie sein Zwillingsbruder aussah, aber überhaupt keine Haare mehr auf dem Kopf hatte, und Flann Lewin, eine knochige, grauhaarige Bohnenstange von einem Mann, ihren Leuten zu, damit sie Ruhe gaben. »Frau Mathwin, Lady Faile«, sagte Jac und er verbeugte sich etwas ungeschickt vor jeder, »Ihr seid willkommen, hierzubleiben, solange Ihr wünscht. Ich muß Euch allerdings warnen. Ihr kennt die Probleme, denen wir hier auf dem Land gegenüberstehen. Es wäre wahrscheinlich besser für Euch, wenn Ihr geradewegs nach Emondsfeld oder Wachhügel geht und dort bleibt. Diese Ortschaften sind zu groß, um überfallen zu werden. Ich würde Euch sogar raten, die Zwei Flüsse ganz zu verlassen, aber ich weiß, daß die Kinder des Lichts niemanden über den Taren lassen. Ich weiß nicht, warum, aber es stimmt.« »Aber es gibt so viele schöne Sagen in Eurem Land«, sagte Verin, wobei sie leicht blinzelte, »daß ich sie niemals alle kennenlernen könnte, bliebe ich nur an einem Ort.« Ohne direkt zu lügen, hatte sie es geschafft, den Eindruck zu erwecken, sie sei in den Zwei Flüssen auf der Suche nach alten Sagen, genau wie Moiraine behauptet hatte, als sie herkam. Das schien nun schon so lange her zu sein. Der Ring mit der Großen Schlange lag in ihrer Gürteltasche, aber Perrin bezweifelte, daß diese Menschen hier damit etwas anfangen konnten.

Elisa al'Seen strich ihre weiße Schürze glatt und lächelte Verin ernst an. Obwohl ihr Haar weniger Grau zeigte als das ihres Mannes, sah sie doch älter aus als Verin und wirkte mit ihrem zerfurchten Gesicht ausgesprochen mütterlich. Wahrscheinlich hielt sie sich auch für älter. »Es ist uns eine Ehre, eine echte Gelehrte unter unserem Dach begrüßen zu dürfen, aber Jac hat natürlich recht«, sagte sie entschlossen. »Ihr seid hier wirklich willkommen, aber wenn Ihr abreist, müßt Ihr euch sofort in eines der Dörfer begeben. Über Land zu reisen ist nicht sicher. Das gilt auch für Euch, meine Lady«, fügte sie an Faile gewandt hinzu. »Zwei Frauen mit nur einer Handvoll Männer zum Schutz sollten möglichst nicht auf Trollocs treffen.« »Ich werde es mir überlegen«, sagte Faile gelassen. »Ich danke Euch für Eure Fürsorge.« Sie nippte genauso unbeeindruckt wie Verin an ihrem Tee. Verin hatte wieder damit begonnen, sich Notizen in ihr kleines Buch zu machen. Sie unterbrach das nur kurz, blickte zu Elisa auf, lächelte sie an und sagte leise: »Es gibt so viele Sagen auf dem Land.« Faile nahm einen Butterkeks aus der Hand eines jungen al'Seen-Mädchens, das dabei knickste und puterrot anlief. Sie sah Faile mit großen Augen bewundernd an.

Perrin grinste in sich hinein. In ihrem grünseidenen Reitkleid hielten alle Faile für eine Adlige, und er mußte zugeben, daß sie eine solche sehr wohl darstellen konnte. Wenn sie wollte. Das Mädchen hätte sie vielleicht nicht so bewundert, wenn sie Faile bei einem ihrer Wutanfälle erlebt hätte. Da fluchte sie manchmal schlimmer als ein Planwagenfahrer.

Frau al'Seen wandte sich ihrem Mann zu und schüttelte den Kopf. Faile und Verin ließen sich nicht abschrecken. Jac sah Tomas an. »Könnt Ihr sie nicht überzeugen?« »Ich gehe dorthin, wo sie mich hinschickt«, antwortete Tomas. Obwohl er mit einer Teetasse in der Hand dasaß, wirkte der Behüter doch absolut kampfbereit.

Meister al'Seen seufzte und blickte nun hinüber zu Perrin. »Perrin, die meisten von uns haben Euch schon irgendwann einmal kennengelernt, meistens unten in Emondsfeld. Also kennen wir Euch auf gewisse Weise. Zumindest kannten wir Euch, bis Ihr letztes Jahr weggegangen seid. Wir haben einige beunruhigende Dinge gehört, aber ich glaube, Tam und Abell wären nicht mit Euch zusammen, wenn diese Dinge der Wahrheit entsprächen.« Flanns Frau Adine, eine mollige Frau mit selbstzufriedenem Blick schniefte laut und verächtlich. »Ich habe auch so einiges über Tam und Abell gehört. Und über ihre Jungen, die mit Aes Sedai weggegangen sind. Mit Aes Sedai! Einem Dutzend von ihnen! Ihr erinnert Euch ja alle daran, wie Emondsfeld niedergebrannt wurde. Das Licht weiß, was sie alles hätten anrichten können. Ich habe auch gehört, daß sie das al'Vere-Mädchen entführt haben!« Flann schüttelte resignierend den Kopf und warf Jac einen Verzeihung heischenden Blick zu.

»Wenn du das schon glaubst«, sagte Wit trocken, »dann glaubst du ja wohl jeden Unsinn. Ich habe vor zwei Wochen mit Marin al'Vere gesprochen, und sie sagte, ihr Mädchen sei aus eigenem Antrieb fortgegangen. Und es war nur eine Aes Sedai.« »Worauf willst du hinaus, Adine?« Elisa al'Seen stützte die Hände auf die Hüften. »Raus damit.« In ihrem Tonfall lag ein deutliches ›Wage es ja nicht!‹.

»Ich habe ja nicht gesagt, daß ich es glaube«, protestierte Adine tapfer, »nur, daß ich es gehört habe. Es gibt Fragen, die wir stellen müssen. Die Kinder des Lichts sind nicht gerade deshalb auf die drei gekommen, weil sie Lose aus einem Hut gezogen haben.« »Wenn du ausnahmsweise einmal zuhören würdest«, sagte Elisa energisch, »könntest du ein oder zwei Antworten bekommen.« Adine beschränkte sich darauf, ihren Rock zurechtzuzupfen. Sie knurrte zwar etwas in sich hinein, hielt jedoch ansonsten den Mund.

»Hat noch jemand etwas zu sagen?« fragte Jac mit kaum verborgener Ungeduld. Als sich niemand meldete, fuhr er fort: »Perrin, keiner hier hält Euch für einen Schattenfreund, genauso wie wir das von Tam und Abell nicht glauben.« Er warf Adine einen harten Blick zu. Flann legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. Sie schwieg. Lediglich ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie einiges sagen. Jac knurrte leise etwas und sprach dann weiter. »Trotzdem haben wir ein Recht darauf, Perrin, zu erfahren, wieso die Weißmäntel das von Euch behaupten. Sie beschuldigen Euch und Mat Cauthon und Rand al'Thor, daß Ihr Schattenfreunde wärt. Warum?« Faile öffnete zornig den Mund, doch Perrin gab ihr einen Wink, sie solle schweigen. Sie gehorchte, und das überraschte ihn dann doch so sehr, daß er sie einen Augenblick lang mit großen Augen anblickte, bevor er selbst sprach. Vielleicht war sie wirklich krank? »Bei den Weißmänteln ist nicht viel dazu notwendig, Meister al'Seen. Wenn Ihr euch nicht dauernd verbeugt und Kratzfüße und ihnen schön Platz macht, dann müßt Ihr ein Schattenfreund sein. Wenn Ihr nicht sagt, was sie hören wollen, nicht denkt, was sie wollen, dann müßt Ihr ein Schattenfreund sein. Ich weiß nicht, warum sie Mat und Rand für solche halten.« Das entsprach der Wahrheit. Wenn die Weißmäntel wüßten, daß Rand der Wiedergeborene Drache war, würde das natürlich ausreichen, aber sie konnten es bestimmt nicht wissen. In bezug auf Mat war es noch verwirrender. Es mußte wohl Fains Werk sein. »Was mich betrifft, so habe ich einige von ihnen getötet.« Es wunderte ihn selbst, daß er unter kollektivem Aufstöhnen rund um den Raum herum nicht innerlich zusammenzuckte. Es beeindruckte ihn genausowenig wie das, was er getan hatte. »Sie hatten einen Freund von mir getötet und wollten mir auch an den Kragen. Ich hatte nicht vor, mich von ihnen umbringen zu lassen. Das ist alles.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Jac bedächtig. Obwohl die Trollocs da waren, konnten sich die Menschen an den Zwei Flüssen nicht an dieses Töten gewöhnen. Vor einigen Jahren einmal hatte eine Frau ihren Mann ermordet, weil sie einen anderen Mann heiraten wollte, aber das war das letzte Mal gewesen, daß in den Zwei Flüssen jemand durch Gewaltanwendung ums Leben gekommen war, soweit Perrin wußte. Bis die Trollocs kamen. »Die Kinder des Lichts«, sagte Verin, »beherrschen etwas sehr gut. Sie schaffen es, daß sich Menschen, die ein Leben lang Nachbarn waren, schließlich gegenseitig mißtrauen.« Alle Hofbewohner blickten sie an, und nach einem Augenblick nickten viele zustimmend.

»Wie ich vernahm, haben sie einen Mann dabei«, sagte Perrin. »Padan Fain. Den fahrenden Händler.« »Das habe ich auch gehört«, bestätigte Jac. »Wie man mir sagte, führt er aber heutzutage einen anderen Namen.« Perrin nickte. »Ordeith. Aber ob Fain oder Ordeith, er ist jedenfalls ein Schattenfreund. Er hat das selbst zugegeben, und auch, daß er letztes Jahr zur Winternacht die Trollocs nach Emondsfeld führte. Und nun reitet er mit den Weißmänteln.« »Das könnt Ihr leicht behaupten«, sagte Adine Lewin in scharfem Ton. »Ihr könnt jeden einfach als Schattenfreund bezeichnen.« »Und wem glaubt Ihr dann?« fragte Tomas. »Denen, die vor ein paar Wochen herkamen, Menschen gefangensetzten, die Ihr kennt, und ihre Höfe niederbrannten? Oder einem jungen Mann, der hier bei Euch aufwuchs?« »Ich bin kein Schattenfreund, Meister al'Seen«, sagte Perrin, »aber wenn Ihr wollt, daß ich gehe, dann gehe ich.« »Nein«, sagte Elisa schnell und warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu. Und dann Adine einen so kalten, daß die unwillkürlich hinunterschluckte, was sie zu sagen vorgehabt hatte. »Nein. Ihr könnt solange hierbleiben, wie Ihr wollt.« Jac zögerte und nickte dann zustimmend. Sie kam herüber, legte Perrin die Hände auf die Schultern und blickte auf ihn hinab. »Ihr habt unser Mitgefühl«, sagte sie mit warmer Stimme. »Euer Vater war ein guter Mann. Eure Mutter war meine Freundin, und sie war eine gute Frau. Ich weiß, daß sie gewünscht hätte, Ihr würdet bei uns bleiben, Perrin. Die Kinder kommen selten hierher, und wenn, dann warnen uns die Jungen auf dem Dach rechtzeitig, um Euch auf dem Dachboden zu verstecken. Hier seid Ihr sicher.« Sie meinte das ernst. Sie meinte es wirklich ernst. Und als Perrin Meister al'Seen anblickte, nickte der wieder. »Ich danke Euch«, sagte Perrin mit zugeschnürter Kehle. »Aber ich muß... Dinge erledigen. Es gibt viel für mich zu tun.« Sie seufzte und klopfte ihm leicht auf die Schultern. »Natürlich. Paßt nur auf, daß Ihr dabei nicht... verletzt werdet. Na ja, wenigstens kann ich Euch mit vollem Magen springen lassen.« Es gab nicht genug Tische im Haus, daß sich jeder zum Mittagessen setzen konnte, also teilte man Schüsseln mit Eintopf und Lammfleisch aus und dazu Brot mit knuspriger Rinde, bat alle, nichts auf den Boden tropfen zu lassen, und anschließend aß jeder, wo er gerade stand oder saß. Bevor sie noch mit dem Essen fertig waren, stürmte ein schlaksiger Junge herein, dessen Ärmel viel zu kurz waren und der einen Bogen in Händen trug, größer als er selbst. Perrin hielt ihn für Win Lewin, war aber nicht sicher. In diesem Alter wuchsen die Jungen so schnell. »Es ist Lord Luc«, verkündete der magere Junge aufgeregt. »Lord Luc kommt!«

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