55 In die Tiefe

Diener rannten kopflos durch die Gänge, wo Nynaeve entlanglief. Sie riefen sich gegenseitig verzweifelte Fragen zu. Sicher waren sie nicht in der Lage, zu spüren, wie jemand die Macht benützte, aber sie hatten ganz gewiß bemerkt, daß der Palast fast in zwei Hälften gespalten worden war. Sie schlängelte sich durch — einfach eine weitere Dienerin, die in panischer Angst davonlief; mehr schien sie nicht.

Saidar entglitt ihr langsam, während sie durch die Gänge und über die Innenhöfe rannte. Es wurde immer schwieriger für sie, zornig zu bleiben, weil sie sich mehr und mehr Sorgen um Elayne machte. Falls die Schwarzen Schwestern sie gefunden hatten... Wer wußte schon, welche Waffen sie noch außer dem Ter'Angreal mit dem Baalsfeuer hatten? Die Liste, die sie erhalten hatten, konnte nicht in jedem Fall einen Zweck angeben.

Einmal sah sie kurz Liandrin mit ihren blaß-honigfarbenen Zöpfen und Riana mit der weißen Strähne im schwarzen Haar, die nebeneinander eine breite Marmortreppe herabeilten. Sie war in der Eile nicht in der Lage, zu beobachten, ob sie vom Glühen Saidars umgeben waren, doch so, wie die Diener aufschrien und aus ihrem Weg sprangen, verwandten sie wohl die Macht wie eine Peitsche, um schneller voranzukommen. Sie war froh, daß sie nicht versucht hatte, die Macht festzuhalten, denn durch das Glühen hätten sie sie im Nu in der Menge entdeckt, und sie war jetzt, ohne jede Atempause, nicht mehr in der Lage, ihnen gegenüberzutreten, weder einer allein, noch beiden gemeinsam. Außerdem hatte sie ja, weswegen sie gekommen war. Alles andere mußte warten.

Bald wurden es weniger Menschen, die wild umherliefen, und als sie den engen Korridor auf der Westseite des Palastes wieder erreicht hatte, war niemand mehr zu sehen. Die anderen warteten bei einer schmalen bronzebeschlagenen Tür mit einem großen, eisernen Vorhängeschloß auf sie. Auch Amathera war da, die hochaufgerichtet daneben stand, mit einem leichten Leinenumhang angetan und die Kapuze über den Kopf gezogen. Das weiße Kleid der Panarchin sah annähernd wie das Kleid einer Dienerin aus, wenn man nicht genau genug hinsah, um zu bemerken, daß es aus Seide war, und der Schleier, der ihr Gesicht allerdings kaum verbarg, war auf jeden Fall aus dem typischen Leinen der Kleidung von Dienerinnen gefertigt. Durch die Tür drangen gedämpfte Schreie. Offensichtlich waren die Auseinandersetzungen noch in vollem Gang. Nun mußten die Männer das ihrige zum Gelingen beitragen.

Nynaeve ignorierte Egeanin und umarmte Elayne, um sie kurz, aber herzlich zu drücken. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Hast du irgendwelche Probleme gehabt?« »Keine Spur«, antwortete Elayne. Egeanin rutschte etwas nervös herum, und die jüngere Frau warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann fügte sie hinzu: »Amathera hat uns ein wenig Schwierigkeiten bereitet, aber das haben wir hingekriegt.« Nynaeve runzelte die Stirn. »Schwierigkeiten? Warum hat sie euch denn Schwierigkeiten bereitet?« Das letztere galt der Panarchin, die mit hocherhobenem Kopf die Blicke der anderen mied. Elayne schien genauso zu zögern.

Es war die Seanchanfrau, die schließlich antwortete: »Sie versuchte, sich wegzuschleichen, um ihre Soldaten anzuweisen, die Schattenfreunde zu vertreiben. Und das, nachdem sie bereits gewarnt worden war.« Nynaeve vermied es, sie anzublicken.

»Schau nicht so finster drein, Nynaeve«, sagte Elayne. »Ich habe sie schnell wieder eingefangen, und wir hatten ein kurzes Gespräch. Ich denke, unser Verhältnis ist jetzt äußerst harmonisch.« In der Wange der Panarchin zuckte ein Muskel. »Wir stimmen vollkommen überein, Aes Sedai«, sagte sie schnell. »Ich werde genau das tun, was Ihr wollt, und ich werde Euch Papiere ausstellen, daß man Euch selbst bei den Rebellen ungehindert durchlassen wird. Es ist nicht notwendig, noch mehr mit mir zu... sprechen.« Elayne nickte, als ergebe das alles einen Sinn, und bedeutete der Frau, den Mund zu halten. Worauf die Panarchin auch gehorsam den Mund schloß. Vielleicht ein wenig mürrisch, aber das lag möglicherweise an der Form ihres Mundes. Es waren eindeutig eigenartige Dinge vorgefallen, und Nynaeve hatte vor, alles darüber in Erfahrung zu bringen. Aber später. Der enge Gang war immer noch in beiden Richtungen menschenleer, doch tiefer aus dem Palast drangen immer noch panische Schreie. Jenseits der kleinen Tür tobte der Mob.

»Aber wie steht's mit dir?« fuhr Elayne stirnrunzelnd fort. »Du hättest schon vor einer halben Stunde hier sein sollen. Hast du all dieses Durcheinander angerichtet? Ich habe gespürt, wie zwei Frauen genug Macht lenkten, um den ganzen Palast zu erschüttern, und ein wenig später hat sich offensichtlich jemand bemüht, ihn abzureißen. Ich dachte, das seist du gewesen. Ich mußte Egeanin davon abhalten, loszugehen, um dich zu suchen.« Egeanin? Nynaeve zögerte und dann überwand sie sich soweit, die Schulter der Seanchanfrau zu berühren. »Danke schön.« Egeanin wirkte, als verstünde sie selbst nicht, warum sie das getan hatte, aber sie nickte zur Erwiderung. »Moghedien hatte mich aufgespürt, und weil ich noch überlegte, wie ich sie heraus und vor Gericht bringen solle, hat mir Jeaine Caide beinahe mit ihrem Baalsfeuer den Kopf abrasiert.« Elayne quiekte erschreckt und Nynaeve beeilte sich, ihr zu versichern: »Na ja, so eng war es gar nicht.« »Du hast Moghedien gefangen? Du hast es geschafft, eine der Verlorenen zu besiegen?« »Ja, aber sie ist entkommen.« So, nun hatte sie alles zugegeben. Sie war sich der Blicke der anderen bewußt und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Sie fühlte sich nicht gern im Unrecht. Besonders mißfiel ihr es, etwas getan zu haben, vor dem sie selbst die anderen zuvor gewarnt hatte. »Elayne, ich weiß, was ich in bezug auf Vorsicht gesagt habe, aber als ich sie in den Fingern hatte, habe ich eben an nichts anderes mehr gedacht, als sie vor Gericht zu bringen.« Sie atmete tief durch und bemühte sich, reumütig zu klingen, auch wenn sie das haßte. Wo blieben denn diese verdammten Männer? »Ich habe alles in Gefahr gebracht, weil ich nicht an unsere Aufgabe dachte, aber sei mir bitte deswegen nicht böse.« »Bin ich auch nicht«, sagte Elayne mit fester Stimme.

»Solange du wenigstens künftig daran denken wirst.« Egeanin räusperte sich. »Oh, ja«, fügte Elayne hastig hinzu. Die Warterei schien ihr auf die Nerven zu gehen. Auf ihren Wangen blühten rote Flecke. »Hast du das Halsband und das Siegel gefunden?« »Habe ich.« Sie tätschelte ihre Gürteltasche. Die Schreierei draußen schien lauter zu werden. Genauso wie die Schreie, die durch den Gang hallten. Liandrin stellte wahrscheinlich den Palast auf den Kopf, um herauszufinden, was passiert war. »Was hält die Männer nur so lange auf?« »Meine Legion...«, begann Amathera. Elayne sah sie an und daraufhin klappte sie den Mund wieder zu. Dieses ›Gespräch‹ der beiden mußte ja wohl einiges bewirkt haben. Die Panarchin schmollte wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, ohne Abendessen ins Bett geschickt zu werden.

Nynaeve blickte Egeanin an. Die Seanchanfrau beobachtete angestrengt die Tür. Sie hatte ihr zur Hilfe kommen wollen. Warum läßt sie nicht zu, daß ich sie hasse? Bin ich soviel anders als sie?

Plötzlich schwang die Tür auf. Juilin zog zwei dünne, gebogene Drahtstücke aus dem Schloß und richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. An der Seite seines Gesichts lief Blut herunter. »Macht schnell. Wir müssen weg von hier, bevor uns die Lage aus der Hand gleitet.« Nynaeve blickte mit weit aufgerissenen Augen an ihm vorbei nach draußen und fragte sich, was bei ihm wohl ›aus der Hand gleiten‹ bedeuten mochte. Bayle Domons Seeleute, mindestens dreihundert waren es, bildeten einen doppelten Halbkreis um den Eingang, während Domon selbst einen Knüppel schwang und sie anfeuerte. Er mußte laut brüllen, um den Lärm auf der breiten Straße zu übertönen. Männer drängten sich, kämpften und schrien in einer überkochenden Menge durcheinander. Die Knüppel und Stöcke der Seeleute konnten sie kaum noch zurückhalten. Die Leute waren allerdings an den Matrosen gar nicht interessiert. Mitten in der Menge hieben berittene Weißmäntel mit ihren Schwertern auf Männer ein, die sie mit Mistgabeln, Faßdauben und bloßen Händen angriffen. Ganze Steinschauer hagelten auf sie herab, krachten auf ihre Helme, aber man hörte in dem allgemeinen Lärm nichts davon. Das Pferd eines einzelnen Weißmantels wieherte plötzlich in Panik, bäumte sich auf und stürzte nach hintenüber. Es kam jedoch schnell wieder auf die Beine — nur der Reiter fehlte. In der Menschenmenge liefen noch weitere reiterlose Pferde herum. Hatten sie das alles angerichtet, nur um ihren Rückzug zu decken? Sie bemühte sich, den Zweck dieses Unternehmens in ihr Gedächtnis zurückzurufen, indem sie die Hand auf ihre Gürteltasche legte und nach dem Siegel aus Cuendillar, dem Halsband und den Armbändern tastete, aber es fiel ihr schwer. Dort draußen starben bestimmt Männer ihretwegen.

»Bewegt Ihr Frauen Euch endlich?« rief Thom und winkte ihnen zu, damit sie herauskämen. Er hatte über einer buschigen Augenbraue eine blutende Wunde, vielleicht von einem Stein, und sein brauner Umhang war mittlerweile nicht einmal mehr als Putzlumpen zu gebrauchen. »Falls die Legion der Panarchen ausnahmsweise einmal nicht davonläuft, wird die Sache blutig werden.« Amathera gab einen überraschten Laut von sich, doch dann schob Elayne sie energisch hinaus. Nynaeve und Egeanin folgten, und sobald alle vier Frauen draußen waren, formierten sich die Seeleute in einem engen Ring um sie und begannen, sich vom Palast weg durch die Menge zu kämpfen. Nynaeve mußte alle Kraft aufwenden, um überhaupt auf den Beinen zu bleiben, so drängten sich auf allen Seiten die Männer um sie, die sie ja beschützen sollten. Einmal rutschte Egeanin aus und wäre fast gestürzt, doch Nynaeve fing sie am Arm ab und half ihr wieder auf die Beine. Sie bekam ein dankbares Grinsen dafür ab. Wir sind gar nicht so verschieden, dachte sie. Nicht gleich, aber zumindest recht ähnlich. Sie mußte sich überhaupt nicht mehr zwingen, der Seanchanfrau ermutigend zuzulächeln.

Erst als sie mehrere Straßen weit vom Palast entfernt waren, ließ das Gedränge nach, und bald konnten sie durch beinahe menschenleere, enge, gewundene Straßen gehen. Diejenigen, die nicht eigentlich in die Ausschreitungen verwickelt waren, hüteten sich, in die Nähe zu kommen. Die Seeleute schwärmten ein wenig aus und ließen den Frauen mehr Platz. Doch jeder einzelne, der neugierig in ihre Richtung sah, bekam ein paar harte Blicke zurück. Die Straßen von Tanchico waren immer noch die Straßen von Tanchico. Irgendwie überraschte das Nynaeve. Ihr schien, sie hätten Wochen im Palast verbracht. Die Stadt sollte sich doch verändert haben in der Zwischenzeit!

Als sich der Lärm hinter ihnen legte, brachte Thom Amathera gegenüber eine elegante Verbeugung zustande, während er neben ihnen einherhumpelte. »Eine Ehre, Panarchin«, sagte er. »Wenn ich Euch irgendwie dienlich sein kann, müßt Ihr es nur sagen.« Zu Nynaeves Verblüffung blickte Amathera erst zu Elayne hinüber, verzog leicht das Gesicht und erwiderte: »Ihr verwechselt mich, guter Herr. Ich bin nur ein armer Flüchtling vom Land und wurde von diesen guten Frauen gerettet.« Thom tauschte einen erstaunten Blick mit Juilin und Domon, aber als er den Mund öffnete, sagte Elayne: »Könnten wir weitergehen zur Schenke, Thom? Hier ist nicht der richtige Ort für eine gepflegte Unterhaltung.« Als sie den ›Hof der Drei Pflaumen‹ erreichten, überraschte es die Männer ein weiteres Mal, daß Elayne die Panarchin Rendra als Thera vorstellte, einen mittellosen Flüchtling, die eine Schlafstelle brauchte und vielleicht Arbeit, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Die Wirtin zuckte resignierend die Achseln, aber als sie ›Thera‹ in die Küche führte, machte sie der Frau bereits Komplimente über ihr schönes Haar und wie gut sie im richtigen Kleid aussehen werde.

Nynaeve wartete ab, bis sich alle in der Kammer der Fallenden Blüten einfanden, und dann schloß sie die Tür. Erst jetzt kommentierte sie: »Thera? Und sie hat tatsächlich mitgemacht! Elayne, Rendra wird die Frau in den Schankraum zum Servieren schicken!« Elayne schien keineswegs überrascht. »Ja, wahrscheinlich.« Sie sank seufzend auf einen Stuhl, trat sich die Schuhe von den Füßen und begann, diese lebhaft zu massieren. »Es war nicht schwierig, Amathera davon zu überzeugen, daß sie sich ein paar Tage lang verbergen müsse. Das Gerücht vom Tod der Panarchin könnte leicht ins Gegenteil umschlagen. Statt ›Die Panarchin ist tot‹ hieße es dann ›Tod der Panarchin!‹ So etwas geht schnell. Ich glaube, es hat auch geholfen, daß sie die Auseinandersetzungen so direkt miterlebt hat. Sie will sich nicht darauf verlassen, daß Andric ihr wieder zu ihrem Thron verhilft. Sie wünscht, von ihren eigenen Soldaten wiedereingesetzt zu werden, auch wenn das bedeutet, daß sie sich verstecken muß, bis sie sich mit dem Lordhauptmann der Legion verständigen kann. Ich glaube, Andric wird bei ihr noch einige Überraschungen erleben. Zu schade, daß nicht statt dessen er sie überrascht. Sie hätte es verdient.« Domon und Juilin tauschten einen Blick und schüttelten verständnislos die Köpfe. Egeanin allerdings nickte in sich hinein, als verstünde sie es und halte Elaynes Kommentar für gerechtfertigt.

»Aber warum?« wollte Nynaeve wissen. »Du warst vielleicht wütend, weil sie sich fortschleichen wollte, aber das jetzt? Wie hat sie das überhaupt schaffen können, obwohl ihr sie zu zweit im Auge hattet?« Egeanins Blick huschte zu Elayne hinüber, so schnell, daß Nynaeve aber nicht ganz sicher war, das wirklich gesehen zu haben.

Elayne bückte sich und rieb sich die eine Fußsohle. Sie mußte weh getan haben, denn ihre Wangen waren gerötet. »Nynaeve, die Frau hat keine Ahnung davon, wie das Leben einfacher Menschen aussieht.« Als habe sie eine Ahnung! »Ihr scheint tatsächlich einiges an Gerechtigkeit zu liegen — ich glaube es jedenfalls —, aber es störte sie überhaupt nicht, daß im Palast Lebensmittel für ein ganzes Jahr gehortet liegen, während draußen die Leute hungern. Ich habe ihr gegenüber die öffentlichen Suppenküchen erwähnt, und sie wußte nicht einmal, wovon ich spreche! Wenn sie ein paar Tage lang ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muß, kann ihr das nur guttun.« Sie streckte die Beine unter dem Tisch aus und bewegte dankbar die Zehen. »Ach, das ist ein schönes Gefühl. Amathera wird das wohl kaum empfinden. Vor allem, weil sie ja die Legion der Panarchen benützen will, um Liandrin und die anderen aus dem Palast zu vertreiben. Schade für sie, aber so ist es nun mal.« »Klar, das muß sie ja tun«, bestätigte Nynaeve energisch. Es war gut, sich hinsetzen zu können, doch sie verstand nicht, warum das Mädchen so mit den Füßen zu tun hatte. Sie waren heute doch kaum gelaufen. »Und je eher, desto besser. Wir brauchen die Panarchin, aber nicht gerade in Rendras Küche.« Sie glaubte nicht, daß es nötig sei, sich über Moghedien Gedanken zu machen. Die Frau hatte alle möglichen Gelegenheiten gehabt, aktiv zu werden, nachdem sie sich befreit hatte. Das war ihr immer noch ein Rätsel. Sie mußte die Abschirmung wohl nachlässig verknotet und abgenabelt haben. Aber wenn Moghedien selbst in dieser Lage nicht gewillt gewesen war, ihr noch einmal gegenüberzutreten, obwohl ihr klar sein mußte, daß sie erschöpft war, dann würde sie wahrscheinlich auch jetzt nicht mehr eingreifen. Nicht wegen einer Sache, die ihren eigenen Worten nach nicht viel wert war. Das gleiche galt aber bestimmt nicht für Liandrin. Falls Liandrin auch nur die Hälfte von dem herausfand, was geschehen war, wäre sie gewiß hinter ihnen her.

»Die Rechtsprechung der Tochter-Erbin«, murmelte Thom, »dürfte noch Vorrang haben vor der der Panarchin. Es sind Männer durch den Eingang in den Palast eingedrungen, als wir weggingen, und ich glaube, andere waren da schon zum Haupteingang hineingelangt. Ich sah aus mehreren Fenstern Rauch dringen. Bis heute abend wird vielleicht nicht mehr als eine glimmende Ruine übrig sein. Dann ist es nicht mehr nötig, daß die Soldaten nach den Schwarzen Ajah suchen, und so gewinnt »Thera« Zeit, um ein paar Tage lang Erfahrungen zu sammeln, wie Ihr es wünscht. Ihr werdet eines Tages eine prächtige Königin abgeben, Elayne von Andor.« Elaynes geschmeicheltes Lächeln verflog, als sie ihn ansah. Schnell erhob sie sich, ging um den Tisch herum, kramte in seinen Taschen nach einem Taschentuch und begann damit, ihm trotz seiner Proteste das Blut von der Stirn zu tupfen. »Haltet still«, befahl sie ihm, aber es klang wie bei einer Mutter, die sich um ihr krankes Kind kümmert.

»Könnten wir wenigstens zu sehen bekommen, wofür wir unsere Hälse riskierten?« fragte er, als ihm klar wurde, daß Elayne genau das tun werde, was sie wollte.

Nynaeve öffnete ihre Gürteltasche und legte den Inhalt vor sie auf den Tisch: die schwarzweiße Scheibe, die geholfen hatte, den Dunklen König in seinem Gefängnis festzuhalten, und Halsband und Armbänder, die solche Wellen von Trauer und Schmerz bei ihr verursachten, bis sie sie hingelegt hatte. Alle versammelten sich um den Tisch, um diese Gegenstände zu betrachten.

Domon befühlte das Siegel. »Ich haben einst ein Ding wie dieses in Besitz.« Nynaeve bezweifelte das. Es waren ja nur sieben angefertigt worden. Drei waren jetzt kaputt, ob sie nun aus Cuendillar bestanden oder nicht. Eine befand sich in Moiraines Händen. Vier blieben übrig. Wie gut konnten vier davon das Gefängnis im Shayol Ghul abriegeln? Der Gedanke ließ ihr einen Schauder den Rücken herunterlaufen.

Egeanin berührte das Halsband und schob dann die Armbänder ein Stück davon weg. Falls sie die darin gefangenen Gefühle irgendwie empfangen konnte, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. Vielleicht konnte man das auch nur fühlen, wenn man den Gebrauch der Macht beherrschte. »Es ist kein Adam«, sagte die Seanchanfrau. »Der besteht aus einem silbrigen Metall und ist in einem Stück gefertigt, nicht in Gliedern.« Nynaeve wäre es lieber gewesen, die andere hätte den Adam nicht erwähnt. Aber sie hat noch nie ein Armband zu einem A'dam getragen. Und diese arme Frau, von der sie erzählte, hat sie gehen lassen. Arme Frau, ha! Sie — diese Bethamin — war doch diejenige, die andere Frauen mit Hilfe eines A'dam unterdrückte. Egeanin hatte mehr Mitgefühl bewiesen, als Nynaeve zu zeigen bereit gewesen wäre. »Es ist mindestens einem A'dam genauso ähnlich, wie Ihr und ich uns ähnlich sind, Egeanin.« Die Frau blickte überrascht auf, aber nach einem Augenblick nickte sie. Gar nicht so viel anders. Zwei Frauen, von denen jede ihr Bestes gab.

»Wollt Ihr jetzt Liandrin immer noch weiterverfolgen?« Juilin setzte sich mit verschränkten Armen an den Tisch und betrachtete die Gegenstände noch etwas eingehender. »Ob sie nun aus Tanchico verjagt wird oder nicht, jedenfalls befindet sie sich immer noch in Freiheit. Und die anderen auch. Aber sie scheinen mir zu wichtig, um sie einfach nicht mehr zu beachten. Ich bin nur ein Diebfänger, aber ich würde sagen, man muß sie zur Weißen Burg bringen, um sie dort gefangenzusetzen.« »Nein!« Nynaeve war über ihre eigene Vehemenz erstaunt. Die anderen aber auch, so, wie sie Nynaeve mit großen Augen anblickten. Gemächlich nahm sie das Siegel wieder in die Hand und steckte es in ihre Tasche zurück. »Das hier muß in die Burg. Aber die anderen... « Sie wollte die schwarzen Gegenstände gar nicht mehr berühren. Falls sich die auch in der Burg befanden, würden möglicherweise die Aes Sedai entscheiden, sie genauso zu verwenden, wie es die Schwarzen Ajah vorgehabt hatten. Um Rand unter ihre Kontrolle zu bringen. Würde Moiraine das wirklich tun? Oder Siuan Sanche? Sie konnte ein solches Risiko nicht eingehen. »Das ist alles zu gefährlich, als daß wir riskieren könnten, es jemals wieder in die Hände von Schattenfreunden fallen zu lassen. Elayne, kannst du die Sachen zerstören? Vielleicht schmelzen? Es ist mir gleich, ob der Tisch mit draufgeht. Wenn du sie nur zerstörst!« »Ich verstehe«, sagte Elayne, wobei sie das Gesicht verzog. Nynaeve bezweifelte das, denn Elayne stand mit ganzem Herzen hinter der Burg, aber sie stand auch hinter Rand.

Nynaeve konnte im Moment natürlich das Glühen Saidars nicht wahrnehmen, aber die eindringliche Art, wie das Mädchen diese furchtbaren Objekte anblickte, zeigte deutlich, daß sie die Macht einsetzte. Elayne runzelte die Stirn. Ihr Blick wurde womöglich noch eindringlicher. Mit einemmal schüttelte sie den Kopf. Ihre Hand schwebte einen Augenblick lang in der Nähe eines der Armbänder, und dann hob sie es auf. Und ließ es mit einem Keuchen wieder fallen. »Es ist ein Gefühl... Es ist so voll von...« Sie atmete tief ein und sagte dann: »Ich habe versucht, was du wolltest, Nynaeve. Ein Hammer würde zu einer Pfütze schmelzen, soviel Feuer habe ich hineingewebt, aber es ist nicht einmal warm geworden.« Also hatte Moghedien nicht gelogen. Zweifellos hatte sie geglaubt, gar nicht lügen zu müssen, weil sie sowieso siegen werde. Wie ist diese Frau nur freigekommen? Was sollten sie jetzt mit diesen Gegenständen anfangen? Sie würde sie in niemandes Hände fallen lassen, soviel stand fest.

»Meister Domon, kennt Ihr ein sehr tiefes Gebiet des Meeres unweit dieser Küste?« »Ja, ich kennen eines, Frau al'Meara«, sagte er bedächtig.

Vorsichtig, um nicht zuviel von diesem Schwall an Gefühlen abzubekommen, schob Nynaeve Halsband und Armbänder über den Tisch zu ihm hin. »Dann versenkt die hier dort, wo niemand sie jemals mehr herausfischen kann.« Nach einem Augenblick der Überlegung nickte er. »Ich werden das tun.« Er stopfte alles hastig in seine Tasche, da er offensichtlich nicht gern mit Dingen zu tun hatte, die durch die Macht erschaffen worden waren. »Im tiefsten Teil des Meeres, den ich kennen, in der Nähe der Aile Somera.« Egeanin blickte finster zu Boden, zweifellos der drohenden Abreise des Illianers wegen. Nynaeve hatte nicht vergessen, daß sie ihn bewundernd als einen ›gut aussehenden Mann‹ bezeichnet hatte. Sie hatte das Gefühl, lachen zu müssen. Es war fast alles geschafft. Sobald Domon auslaufen konnte, würden das unheilvolle Halsband und die Armbänder für immer verschwunden sein. Dann konnten sie nach Tar Valon abreisen. Und dann... Dann zurück nach Tear oder wo auch immer sich al'Lan Mandragoran befand. Die Tatsache, daß sie Moghedien gegenübergestanden hatte, daß sie dem Tod oder noch Schlimmerem nahe gewesen war, machte es für sie noch dringlicher, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ein Mann, den sie mit einer ihr verhaßten Frau teilen mußte, aber wenn Egeanin einem Mann schöne Augen machen konnte, den sie einmal gefangengenommen hatte — nun, und Domon hatte ganz gewiß auch ein Auge auf sie geworfen —, und wenn Elayne einen Mann lieben konnte, der einst dem Wahnsinn verfallen würde, dann würde sie doch wohl auch in der Lage sein, einen Weg zu finden, soviel wie möglich von Lan zu haben.

»Sollen wir hinuntergehen und nachsehen, wie sich ›Thera‹ als Dienerin macht?« schlug sie vor. Und bald nach Tar Valon. Bald.

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