22 Aus dem Stein

Es war eine seltsame Prozession, die Rand da aus dem Stein nach Osten führte. Weiße Wolken verdeckten die Mittagssonne, und eine leichte Brise wehte über die Stadt. Auf seinen Befehl hin war der Abmarsch nicht öffentlich bekannt gegeben worden. Es hatte auch keine offizielle Proklamation gegeben, doch Gerüchte breiteten sich schnell aus. Die Bürger hielten in ihrer Arbeit inne und rannten zu den Punkten in der Stadt, von denen aus man die beste Sicht hatte. Die Aiel marschierten durch die Stadt und aus der Stadt hinaus. Menschen, die sie bei ihrer Ankunft nicht bemerkt hatten, die kaum glauben konnten, daß sie sich tatsächlich im Stein befanden, standen in immer größerer Zahl an den Straßen, an den Fenstern, kletterten auf die Ziegeldächer, saßen auf dem einen oder anderen Dachfirst und auf den Mauervorsprüngen von Häusern. Erstauntes Stimmengewirr erklang, wo man die Aiel zählte. Diese paar Hundert konnten doch unmöglich den Stein erobert haben! Das Drachenbanner flatterte immer noch über der Festung. Dort mußten sich bestimmt noch Tausende von Aiel befinden. Und der Lord Drache.

Rand ritt in Hemdsärmeln, sicher, daß ihn keiner der Umstehenden für jemanden Besonderes halten werde. Ein Ausländer, reich genug, um zu reiten — und das auf einem wunderbaren Apfelschimmelhengst von bester tairenischer Zucht —, ein reicher Mann also, der in sehr eigenartiger Gesellschaft ausritt, aber eben nicht mehr als das. Er war nicht einmal der Anführer dieser seltsamen Gruppe; dieser Rang stand sicherlich Lan oder Moiraine zu, obwohl sie ein wenig hinter ihm ritten, direkt vor den Aiel. Das beeindruckte Gemurmel, das seinen Ritt begleitete, wurde der Aiel wegen hinter ihm überall lauter, wo sie durchkamen. Es konnte sogar sein, daß diese Tairener ihn für einen Knappen hielten, der das Pferd seines Herrn ritt. Nun, das doch wohl nicht, da er ja ganz vorn ritt. Aber es war überhaupt ein schöner Tag. Nicht so drückend, sondern lediglich warm. Niemand erwartete von ihm, Gerechtigkeit zu üben oder einen Staat zu regieren. Er genoß einfach, als einer unter vielen mitreiten zu können, und er genoß die angenehme Brise. Eine Weile lang vergaß er sogar das leichte Brennen seiner Reiher-Brandzeichen auf den Handflächen, wenn sie sich am Zügel rieben. Noch ein bißchen länger, dachte er. Ein bißchen länger.

»Rand«, sagte Egwene, »glaubst du wirklich, es war gut, die Aiel all jene Dinge mitnehmen zu lassen?« Er blickte zurück, als sie ihre graue Stute an seine Seite trieb. Von irgendwoher hatte sie sich ein dunkelgrünes Kleid mit einem engen Hosenrock besorgt, und ein grünes Samtband hielt ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Moiraine und Lan ritten ein Dutzend Schritt hinter ihnen, sie auf ihrer weißen Stute, in ein langes, blauseidenes Reitkleid gehüllt, das einen grünen Schrägstreifen aufwies, das dunkle Haar in einem goldenen Netz gefangen, und er auf seinem mächtigen schwarzen Streitroß, angetan mit dem farbverändernden Umhang eines Behüters, der ihm möglicherweise genauso viele Ooohs und Aaahs einbrachte wie den Aiel. Als der Umhang im Wind flatterte, flossen Grün und Braun und Grau darüber hinweg. Wenn er unbeweglich herunterhing, paßte er seine Farbe irgendwie dem an, was sich jeweils dahinter befand, so daß dem Auge vorgegaukelt wurde, es könne durch Lan und sein Reittier hindurchblicken. Es war unangenehm hinzusehen.

Auch Mat war dabei, hing zusammengesackt und resigniert in seinem Sattel und hielt sich fern von der Aes Sedai und dem Behüter. Er hatte einen unauffälligen braunen Wallach ausgewählt, ein Tier, das er Pips nannte. Man brauchte ein gutes Auge und Pferdeverstand, um den kräftigen Brustkorb und die starken Fesseln zu erkennen, die andeuteten, daß der Wallach mit der breiten Nase durchaus mit Rands Hengst oder auch dem von Lan in puncto Schnelligkeit und Ausdauer mithalten konnte. Mats Entschluß mitzukommen hatte die anderen überrascht. Rand wußte immer noch nicht, warum er mitkam. Vielleicht aus Freundschaft, vielleicht aber auch nicht. Mat verhielt sich manchmal recht eigenartig.

»Hat dir deine Freundin Aviendha nichts von ›dem Fünftel‹ erklärt?« fragte er.

»Sie hat etwas erwähnt, aber... Rand, du glaubst doch nicht, daß sie auch Sachen... mitgenommen hat?« Hinter Moiraine und Lan, hinter Mat und hinter Rhuarc, der an ihrer Spitze schritt, marschierten die Aiel in zwei langen Reihen außen neben schwer beladenen Packeseln, immer vier nebeneinander in einer Reihe. Wenn die Aiel eine der Festungen ihrer verfeindeten Clans in der Wüste einnahmen, dann verlangte die Sitte — Rand verstand auch nicht genau, warum —, daß sie als Beute genau ein Fünftel von allem mitnahmen, ausgenommen Lebensmittel. Sie hatten keinen Grund, den Stein auszunehmen. Allerdings enthielten die Lasten der Maulesel nicht einmal den fünften Teil eines Fünftels der Schätze des Steins. Rhuarc meinte, die Gier habe schon mehr Menschen umgebracht als Stahl. Die Tragkörbe waren nur leicht beladen. Obenauf lagen zusammengerollte Teppiche und Wandbehänge. Vor ihnen lag ein möglicherweise schwerer Übergang über das Rückgrat der Welt und dann ein noch viel beschwerlicherer Weg durch die Wüste.

Wann sage ich es ihnen? fragte er sich. Bald, es muß bald geschehen. Moiraine würde es zweifellos für wagemutig halten, einen kühnen Streich. Vielleicht stimmte sie sogar zu. Vielleicht. Sie glaubte, nun seinen ganzen Plan zu kennen und machte kein Hehl aus ihrer Mißbilligung. Ohne Zweifel wollte sie, daß er es schnell hinter sich brachte. Aber die Aiel... Und wenn sie sich weigern? Nun, wenn sie sich sperren, dann sollen sie. Ich muß es tun. Was das Fünftel betraf... Er glaubte nicht, daß es möglich gewesen wäre, die Aiel davon abzuhalten, etwas mitzunehmen, und er hatte es gar nicht versucht. Sie hatten sich eine Belohnung verdient, und er hatte nicht vor, den tairenischen Lords zu helfen, einen Besitz zu wahren, den sie über Jahrhunderte hinweg ihren Untertanen geraubt hatten. »Ich habe gesehen, wie sie Rhuarc eine silberne Schüssel zeigte«, sagte er zu Egwene. »Es hat in ihrem Sack geklappert, als sie die Schüssel hineinsteckte. Da war noch mehr Silber drin, oder auch Gold. Mißbilligst du das?« »Nein.« Sie zog das Wort in die Länge, um ein wenig Zweifel anzudeuten, aber dann klang ihre Stimme wieder fester. »Ich hatte einfach nicht daran gedacht... Die Tairener hätten nicht nur ein Fünftel mitgenommen, wäre die Lage umgekehrt gewesen. Sie hätten alles weggekarrt, was nicht festgenagelt war, und sie hätten noch Karren gestohlen, um alles wegzutransportieren. Nur weil sich die Sitten unterscheiden, heißt das nicht, daß einer recht hat und der andere nicht, Rand. Das solltest du doch wissen.« Er lachte leise. Das war fast wie in alten Zeiten. Er wollte ihr erklären, warum sie unrecht hatte, und sie nahm plötzlich seine Position ein und gab ihm seine eigene noch nicht ausgesprochene Begründung zu verstehen. Sein Hengst tänzelte ein wenig. Er hatte wohl seine heitere Stimmung mitempfunden. Er tätschelte den Hals des Apfelschimmels. Ein guter Tag.

»Das ist ein schönes Pferd«, sagte sie. »Wie hast du ihn genannt?« »Jeade'en«, sagte er vorsichtig, und etwas von seiner guten Laune ging verloren. Er schämte sich ein wenig des Namens und der Gründe, aus denen er ihn so genannt hatte. Eines seiner Lieblingsbücher war immer schon Die Reisen des Jain Fernstreicher gewesen, und dieser große Reisende hatte sein Pferd Jeade'en genannt — der ›Heimkehrer‹, in der Alten Sprache — denn das Tier war immer in der Lage gewesen, wieder nach Hause zurückzufinden. Es war ein schöner Gedanke, daß Jeade'en auch ihn eines Tages nach Hause zurücktragen könne. Schön, aber unwahrscheinlich, und er wollte nicht, daß irgend jemand den Grund seiner Namensgebung erfuhr. Jungenhafte Launen hatten jetzt in seinem Leben keinen Platz mehr. Es gab überhaupt keinen Platz mehr, außer eben für das, was er tun mußte.

»Ein schöner Name«, sagte sie abwesend. Er wußte, auch sie hatte das Buch gelesen, und erwartete fast, daß sie den Namen erkannte, aber sie schien über etwas anderem zu brüten. Sie kaute die ganze Zeit auf ihrer Unterlippe.

Er beließ es bei dem Schweigen. Die letzten Ausläufer der Stadt machten dem bebauten Land und vereinzelten Bauernhöfen Platz. Nicht einmal ein Congar oder ein Coplin, Leute von den Zwei Flüssen, die berüchtigt waren für ihre Faulheit — unter anderem — würden ihre Höfe derart herunterkommen lassen, wie es diese groben Steinhäuser waren. Die Wände standen schief, als würden sie jeden Moment über den davor scharrenden Hühnern zusammenbrechen. Windschiefe Scheunen wurden von Lorbeerbäumen und Gewürzsträuchern gerade noch am Einstürzen gehindert. Durch die Dächer mit ihren gesprungenen und teilweise fehlenden Ziegeln regnete es bestimmt herein. Ziegen meckerten einsam in Steinpferchen, die aussahen, als habe man diesen Morgen erst die Steine einfach aufgeschüttet. Barfüßige Männer und Frauen hackten gebückt und mit traurig hängenden Schultern in Feldern herum, die nicht einmal Zäune oder Begrenzungshecken aufwiesen. Sie blickten gar nicht auf, als die Prozession vorbeikam. Das leise Zwitschern von Rotschnäbeln und Drosseln im Gebüsch reichte nicht, um die bedrückende Atmosphäre aufzulockern.

Ich muß etwas gegen diese Armut unternehmen. Ich... Nein, nicht jetzt. Zuerst kommen noch wichtigere Dinge. Ich habe für sie getan, was ich in diesen wenigen Wochen tun konnte. Jetzt kann ich weiter nichts mehr machen. Er bemühte sich, die heruntergekommenen Höfe nicht erst zu betrachten. Stand es um die Olivenplantagen im Süden genauso schlecht? Die Menschen, die dort arbeiteten, besaßen nicht einmal eigenes Land — es gehörte alles den Hochlords. Nein. Die Brise. Schön, wie sie die Macht der Hitze bricht. Ich werde sie noch ein wenig länger genießen können. Jetzt muß ich es ihnen bald sagen.

»Rand«, sagte Egwene mit einemmal, »ich möchte mit dir reden.« Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war es etwas Ernstes. Diese großen, dunklen Augen, die unverwandt auf ihn gerichtet waren, glänzten auf die gleiche Art wie die Nynaeves, wenn sie ihm einen Vortrag halten wollte. »Ich will mit dir über Elayne sprechen.« »Was ist mit ihr?« fragte er mißtrauisch. Er berührte seinen Beutel, in dem zwei Briefe von ihr hinter einem kleinen, harten Gegenstand steckten. Wären sie nicht beide in der gleichen eleganten Handschrift geschrieben, hätte er nicht glauben können, daß sie von derselben Frau stammten. Und das nach all den Küssen und Zärtlichkeiten. Die Hochlords waren leichter zu verstehen als die Frauen.

»Warum hast du sie so einfach gehen lassen?« Er blickte sie fragend an. »Sie wollte doch gehen. Ich hätte sie festbinden müssen, um sie aufzuhalten. Außerdem ist sie selbst in Tanchico noch sicherer als in meiner und Mats Umgebung, falls wir, wie Moiraine sagt, diese Blasen des Bösen anlocken. Du wärst bei ihnen auch sicherer.« »Das habe ich überhaupt nicht gemeint. Natürlich wollte sie gehen. Und du hattest auch kein Recht, sie aufzuhalten. Aber warum hast du ihr nie gesagt, daß du dir wünscht, sie würde bleiben?« »Sie wollte doch gehen«, wiederholte er, und dann wuchs seine Verwirrung, denn sie rollte mit den Augen, als rede er baren Unsinn. Wenn er kein Recht hatte, Elayne aufzuhalten, und sie ja gehen wollte, warum sollte er sie dann zum Bleiben zu überreden versuchen? Und dann war sie ja auch sicherer als bei ihm, wenn sie ging.

Moiraine sagte gleich hinter ihm: »Seid Ihr bereit, mir das nächste Geheimnis zu eröffnen? Es ist ja klar, daß Ihr mir etwas verschwiegen habt. Wenigstens könnte ich es Euch rechtzeitig sagen, falls Ihr uns über eine Klippe führt.« Rand seufzte. Er hatte überhört, daß sie und Lan herangeritten waren. Und auch Mat, obwohl der noch Abstand zu der Aes Sedai und dem Behüter hielt. Mats Gesicht zeigte die vielfältigsten Gefühle — Zweifel und Zögern und grimmige Entschlossenheit wechselten sich darauf ab, besonders, wenn er zu Moiraine hinüberblickte. Er sah sie nie direkt an; immer nur aus dem Augenwinkel. »Bist du sicher, daß du mitkommen willst, Mat?« fragte Rand.

Mat zuckte die Achseln und grinste, allerdings nicht sehr selbstbewußt. »Wer möchte denn schon eine Chance verpassen, dieses verfluchte Rhuidean kennenzulernen?« Egwene zog die Augenbrauen hoch. »Ach, verzeiht mir die unhöflichen Worte, Aes Sedai. Ich habe von dir schon schlimmere gehört und aus weniger triftigen Gründen, möchte ich wetten.« Egwene sah ihn verärgert an, aber die roten Flecken auf ihren Wangen zeugten davon, daß sie sich getroffen fühlte.

»Seid froh, daß Mat hier ist«, sagte Moiraine mit kühler und mißbilligender Stimme zu Rand. »Ihr habt einen schweren Fehler begangen, daß Ihr Perrin weggehen ließt und das auch noch vor mir verbargt. Die Welt ruht auf Euren Schultern, und beide müssen Euch unterstützen, sonst fallt Ihr und die Welt mit Euch.« Mat zuckte zusammen und Rand hatte das Gefühl, daß der Freund beinahe seinen Wallach hätte wenden lassen und davongeritten wäre.

»Ich kenne meine Pflicht«, sagte er zu ihr. Und ich kenne mein Schicksal, dachte er, doch das sprach er nicht aus. Er wollte nicht um Sympathie betteln. »Einer von uns mußte zurück, Moiraine, und Perrin wollte das übernehmen. Ihr seid gewillt, alles sausen zu lassen, um die Welt zu retten. Ich... ich tue, was ich tun muß.« Der Behüter nickte, sagte aber nichts dazu. Lan wollte vor anderen keine Meinungsverschiedenheit mit Moiraine austragen.

»Und das nächste Geheimnis?« fragte sie nachdrücklich. Sie würde nicht aufgeben, bis sie es herausgefunden hatte, und er hatte keinen Grund, es noch länger geheimzuhalten. Jedenfalls nicht diesen Teil.

»Portalsteine«, sagte er schlicht. »Falls wir Glück haben.« »O Licht«, stöhnte Mat. »Verdammtes, flammendes Licht! Verzieh nicht so dein Gesicht, Egwene. Glück? Ist einmal nicht genug, Rand? Du hast uns damals beinahe umgebracht, weißt du noch? Nein, schlimmer als nur umgebracht. Ich würde lieber zurückreiten zu einem dieser Bauernhöfe und darum bitten, den Rest meines Lebens Schweine hüten zu dürfen.« »Du kannst deiner eigenen Wege gehen, wenn du willst, Mat«, sagte Rand zu ihm. Moiraines ruhiger Gesichtsausdruck war eine Maske, die ihre Wut verbarg, doch er ignorierte ihren eisigen Blick, der versuchte, ihn am Weitersprechen zu hindern. Selbst Lan schaute drein, als sei er nicht mit seinen Worten einverstanden, obwohl er dabei sein Gesicht kaum verzog. Dem Behüter ging Pflichterfüllung über alles andere. Rand würde seine Pflicht tun, aber seine Freunde... Er mochte es nicht, andere Menschen zu etwas zu zwingen, und schon gar nicht seine Freunde. Das wenigstens konnte er vermeiden. »Du hast keinen Grund, mit in die Wüste zu gehen.« »O doch, habe ich. Zumindest... Ach, seng mich doch! Ich habe ein Leben zu verschenken, oder? Warum dann nicht auf diese Art?« Mat lachte nervös und ein bißchen wild. »Verfluchte Portalsteine! Licht!« Rand runzelte die Stirn. Alle sagten, sie erwarteten, daß er auf die Dauer wahnsinnig würde, aber im Moment schien Mat kurz davor zu stehen.

Egwene blinzelte Mat besorgt an, aber dann beugte sie sich zu Rand herüber. »Rand, Verin Sedai hat mir ein wenig über die Portalsteine erzählt. Sie berichtete mir auch von der... Reise, die du unternommen hast. Hast du wirklich das gleiche wieder vor?« »Ich muß es wagen, Egwene.« Er mußte schnell handeln, und es gab keinen schnelleren Weg als den durch die Portalsteine, Überreste eines Zeitalters noch vor dem der Legenden. Selbst die Aes Sedai im Zeitalter der Legenden hatten sie nicht verstanden, wie es schien. Aber es gab eben keinen schnelleren Weg. Falls sie so funktionierten, wie er hoffte.

Moiraine hatte geduldig ihrer Unterhaltung gelauscht; besonders dem, was Mat gesagt hatte, obwohl Rand nicht wußte, warum. Nun sagte sie: »Verin hat mir auch von Eurer Reise durch die Portalsteine erzählt. Das waren nur wenige Menschen und Pferde, nicht Hunderte, und wenn Ihr auch nicht gerade jeden umzubringen versucht habt, wie Mat meinte, war es doch eine Erfahrung, die keiner wiederholen möchte. Und es ist ja auch nicht so ausgegangen, wie Ihr erwartet hattet. Dazu war eine große Menge der Macht notwendig, beinahe genug, um Euch am Ende doch noch umzubringen, wie Verin berichtete. Selbst, wenn Ihr die meisten der Aiel zurücklaßt: Wollt Ihr das riskieren?« »Ich muß«, antwortete er. Dabei fühlte er nach seiner Gürteltasche und dem kleinen, harten Umriß vor den Briefen, doch sie fuhr fort, als habe er nichts gesagt: »Seid Ihr überhaupt sicher, daß es in der Wüste einen Portalstein gibt? Verin weiß bestimmt mehr darüber als ich, aber ich habe noch nie von einem gehört. Und falls es einen gibt, wird uns der dann näher an Rhuidean heranbringen, als wir uns jetzt befinden?« »Etwa vor sechshundert Jahren«, erzählte er ihr daraufhin, »hat ein Händler versucht, einen Blick auf Rhuidean zu erhaschen.« Zu jeder anderen Zeit wäre es ihm ein Vergnügen gewesen, zur Abwechslung einmal ihr einen Vortrag zu halten. Aber nicht heute. Es gab zuviel, was er nicht wußte. »Dieser Bursche hat offensichtlich nichts davon zu Gesicht bekommen. Er behauptete, eine goldene Stadt hoch oben in den Wolken gesehen zu haben, die über die Berge hinwegtrieb.« »Es gibt keine Städte in der Wüste«, sagte Lan, »weder in den Wolken, noch auf der Erde. Ich habe gegen die Aiel gekämpft. Sie haben keine Städte.« Egwene nickte. »Aviendha hat mir erzählt, daß sie noch nie eine Stadt gesehen habe, bevor sie die Wüste verließ.« »Vielleicht«, sagte Rand. »Aber der Händler sah auch etwas aus dem Abhang eines dieser Berge herausragen. Einen Portalstein. Er hat ihn genau beschrieben. Es gibt nichts, was genauso aussähe wie ein Portalstein. Als ich dem Bibliothekar im Stein einen beschrieb...« Was er nicht erwähnte, war, daß er dem Mann natürlich nicht auf die Nase gebunden hatte, worauf er hinauswollte. »... hat er es erkannt, obwohl er nicht wußte, was es war, und dann hat er mir gleich vier davon auf einer alten Karte von Tear gezeigt... « »Vier?« Moiraines Stimme klang überrascht. »Alle in Tear? Portalsteine findet man doch nicht so häufig.« »Vier«, sagte Rand eindeutig. Der knochige alte Bibliothekar war sicher gewesen. Er hatte sogar ein zerfleddertes und vergilbtes Manuskript ausgegraben, in dem von Bemühungen die Rede war, die ›unbekannten Artefakte eines früheren Zeitalters‹ in die Große Sammlung einzugliedern und herzutransportieren. Jeder Versuch war jedoch fehlgeschlagen, und schließlich hatten es die Tairener aufgegeben. Das war die Bestätigung für Rand: Portalsteine konnte man nicht verlegen. »Einer befindet sich keine Stunde Ritt von unserem jetzigen Standpunkt entfernt«, fuhr er fort. »Die Aiel gestatteten dem Händler, wieder abzureisen, da er ja nur ein Kaufmann war. Mit einem seiner Maultiere und soviel Wasser, wie er auf seinem Rücken schleppen konnte. Irgendwie kam er bis zu einem Stedding im Rückgrat der Welt, wo er einen Mann namens Soran Milo traf, der ein Buch mit dem Titel Die Mörder mit den schwarzen Schleiern schrieb. Der Bibliothekar brachte mir ein ziemlich zerfleddertes Exemplar, als ich ihn um Bücher über die Aiel bat. Milo hat sich offenbar ganz auf Aiel verlassen, die zum Handeln in das Stedding kamen, und er schrieb so ziemlich nur Falsches, wie Rhuarc meinte, aber ein Portalstein ist so unverwechselbar, daß es sich um nichts anderes als einen solchen handeln kann.« Er hatte weitere Karten und Manuskripte studiert, Dutzende, angeblich, um über Tear und dessen Geschichte mehr zu erfahren, und hatte sich des Landes kundig gemacht. Bis vor wenigen Minuten hatte niemand auch nur ahnen können, was er vorhatte.

Moiraine schnaubte, und ihre weiße Stute Aldieb tänzelte nervös ein paar Schritte weiter. Sie spürte die Nervosität ihrer Reiterin. »Eine angebliche Geschichte, die ein angeblicher Händler angeblich erzählte, und die von einer goldenen Stadt berichtete, die in den Wolken schwebte. Hat Rhuarc diesen Portalstein jemals gesehen? Er war doch wirklich in Rhuidean. Und selbst wenn dieser Händler tatsächlich in die Wüste zog und einen Portalstein sah, kann das ja wohl überall gewesen sein. Ein Mann, der seine Geschichte erzählt, schmückt sie gewöhnlich reichlich aus. Eine Stadt, die in den Wolken schwebte?« »Woher wißt Ihr, daß es sie nicht gibt?« fragte er. Rhuarc hatte über all die falschen Einzelheiten gelacht, von denen Milo berichtete, aber er hatte nichts über Rhuidean sagen wollen. Der Aielmann hatte sich sogar geweigert, Teile des Buchs zu beurteilen, in denen es angeblich um Rhuidean ging. ›Rhuidean im Lande der Jenn Aiel, des Clans, den es nicht gibt‹, und das war dann schon so ziemlich alles, was Rhuarc dazu zu sagen hatte. Über Rhuidean sprach man nicht.

Der Aes Sedai paßte seine leichthin gesprochene Bemerkung gar nicht, doch das war ihm gleich. Sie hatte schon zu viele Geheimnisse für sich behalten und ihn gezwungen, ihr blind zu vertrauen und zu folgen. Jetzt war sie an der Reihe. Sie mußte lernen, daß er keine Marionette war. Ich akzeptiere ihren Rat, wenn ich ihn für richtig halte, aber ich tanze nicht mehr nach der Pfeife Tar Valons. Er würde nach eigener Fasson sterben.

Egwene trieb ihr graues Pferd näher an seines heran, bis sie beinahe Knie an Knie mit ihm ritt. »Rand, willst du wirklich unsere Leben riskieren, dieser... dieser Möglichkeit wegen? Rhuarc hat dir nichts erzählt, oder? Wenn ich Aviendha nach Rhuidean frage, macht sie den Mund zu, und es ist nichts mehr aus ihr herauszubringen.« Mat sah aus, als sei ihm schlecht.

Rand verzog das Gesicht nicht und ließ sich nichts von seiner augenblicklichen Scham anmerken. Er hatte seine Freunde nicht ängstigen wollen. »Es gibt dort einen Portalstein«, beharrte er. Er rieb erneut über den harten Umriß in seinem Beutel. Es mußte funktionieren.

Die Landkarten des Bibliothekars waren alt gewesen, aber auf gewisse Weise war das hilfreich. Als man diese Karten zeichnete, waren auf dem Steppenland, das sie durchritten, Wälder gewachsen, aber heute waren nur wenige Bäume übrig, weit verstreute und zerzauste Grüppchen von weißen Eichen und Kiefern und Jungfernhaar, und hohe, einzelnstehende Bäume, die er nicht kannte, mit dünnen, verkrüppelt wirkenden Stämmen. Er konnte die Form des Landes gut ausmachen. Die Hügel wurden jetzt von dem hohen Gras kaum noch verborgen.

Auf den Landkarten hatten zwei gekrümmte Bergrücken, einer knapp hinter dem anderen, auf eine Gruppe runder Hügel gezeigt, wo sich der Portalstein befand. Falls die Karten genau waren. Falls der Bibliothekar wirklich nach seinen Beschreibungen die Portalsteine erkannt hatte, und falls das Zeichen des grünen Diamanten wirklich uralte Ruinen bedeutete, wie er behauptet hatte. Warum sollte er lügen? Ich bin viel zu mißtrauisch. Nein. Ich muß schon mißtrauisch sein. So vertrauensvoll und kalt wie eine Viper. Es paßte ihm aber gar nicht.

Im Norden konnte er gerade noch völlig von Bäumen freie Hügel erkennen, auf denen sich Umrisse bewegten. Das mußten Pferde sein. Die Herden der Hochlords, die dort auf dem Gebiet des früheren Ogierhains grasten. Er hoffte, daß Perrin und Loial sicher davongekommen waren. Hilf ihnen, Perrin, dachte er. Hilf ihnen irgendwie, denn ich kann es nicht.

Der Ogierhain bedeutete, daß die gekrümmt verlaufenden Bergrücken nahe sein mußten, und bald entdeckte er sie auch ein wenig weiter südlich, wie zwei Pfeile, einer innerhalb des anderen, mit ein paar Bäumen obenauf, die eine dünne Linie am Horizont zogen. Dahinter sah er eine Gruppe von niedrigen, runden Hügeln, die sich gegenseitig verdeckten. Mehr Hügel als auf der alten Karte. Zu viele, denn die ganze Fläche umschloß weniger als eine Quadratmeile. Wenn sie nicht mit der Karte übereinstimmten — auf welchem stand dann der Portalstein?

»Es sind doch viele Aiel dabei«, sagte Lan ruhig, »und sie haben scharfe Augen.« Mit einem dankbaren Nicken zog Rand an Jeade'ens Zügeln und ließ sich zurückfallen, um das Problem mit Rhuarc durchzusprechen. Er beschrieb ihm lediglich den Portalstein, ohne zu sagen, worum es sich handelte, denn dazu war noch genug Zeit, wenn sie ihn einmal gefunden hatten. Er konnte Geheimnisse mittlerweile gut für sich behalten. Rhuarc hatte wahrscheinlich sowieso keine Ahnung, was ein Portalstein war. Das wußten nur wenige außer den Aes Sedai. Er hatte auch nichts davon gewußt, bis es ihm jemand erklärt hatte.

Als er neben dem Apfelschimmelhengst herschritt, runzelte der Aielmann leicht die Stirn. Bei den meisten Männern wäre daraus eine besorgte Miene geworden, doch er zeigte ansonsten keine Regung und nickte bloß. »Wir können dieses Ding finden.« Er erhob seine Stimme. »Aehtan Dor! Far Aldazar Din! Duadhe Mahdi'in! Far Dareis Mai! Seia Doon! Sha'mad Conde!«

Als er sie so rief, traten Mitglieder dieser Kriegergemeinschaften vor, bis ein gutes Viertel der Aiel ihn und Rand umstand. Rote Schilde. Brüder der Adler. Wassersucher. Töchter des Speers. Schwarzaugen. Donnergänger.

Rand suchte nach Egwenes Freundin Aviendha, einer großen, hübschen Frau mit einem verschleierten Blick, die selten lächelte. Töchter hatten seine Tür bewacht, aber er glaubte nicht, daß er sie schon einmal gesehen habe, bevor sich die Aiel versammelten, um den Stein zu verlassen. Sie erwiderte seinen Blick, stolz wie ein grünäugiger Habicht, doch dann warf sie den Kopf hoch und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Clanhäuptling zu.

Nun, ich wollte ja wieder ein ganz gewöhnlicher Mensch sein, dachte er mit einem Anflug von Reue. Dieses Gefühl gaben ihm die Aiel. Selbst dem Clanhäuptling brachten sie nur respektvolles Zuhören dar und nichts von der ausgefeilten Unterwürfigkeit, die ein Lord von seinen Untergebenen verlangt hätte. Ihr Gehorsam war der von Gleichgestellten. Er konnte sich selbst gegenüber kaum mehr erwarten.

Rhuarc gab mit wenigen Worten seine Anweisungen, und die lauschenden Aiel schwärmten nacheinander zu dieser Hügelgruppe aus. Sie liefen mit leichten Schritten. Ein paar zogen ihre Schleier vor die Gesichter für den Fall der Fälle. Der Rest wartete, stand herum oder hockte sich neben die beladenen Maulesel.

Sie repräsentierten beinahe jeden der Clans, außer natürlich den der Jenn Aiel. Rand wurde nicht schlau daraus, ob die Jenn nun wirklich existierten oder nicht. Beides konnte der Fall sein, da die Aiel sie gelegentlich, wenn auch nicht häufig, erwähnten. Es waren hier sogar Clans vertreten, die Blutfehden miteinander austrugen, und andere, die sich oft gegenseitig bekämpften. Soviel hatte er über sie erfahren. Nicht zum erstenmal fragte er sich, was sie bisher zusammengehalten hatte. Hatte es lediglich mit ihren Prophezeiungen vom Fall des Steins zu tun und ihrer Suche nach dem, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt?

»Mehr als das«, sagte Rhuarc, und Rand wurde bewußt, daß er seine Frage laut ausgesprochen hatte. »Die Prophezeiung brachte uns über die Drachenmauer, und der Name, den man nicht ausspricht, lockte uns zum Stein von Tear.« Der Name, den er meinte, war ›Das Volk des Drachen‹, eine geheime Bezeichnung für die Aiel. Nur Clanhäuptlinge und Weise Frauen kannten sie und gebrauchten sie selten und ausschließlich untereinander. »Was den Rest angeht? Nun, natürlich darf keiner das Blut eines anderen aus der gleichen Gemeinschaft vergießen, aber Shaarad und Goshien, Taardad und Nakai und Shaido miteinander zu vermischen... Selbst ich hätte vielleicht den Tanz der Speere mit den Shaido getanzt, wenn nicht die Weisen Frauen jeden einen Wassereid hätten schwören lassen, der die Drachenmauer überquert, daß er auf dieser Seite der Berge alle anderen Aiel wie einen Bruder oder eine Schwester aus der gleichen Gemeinschaft behandeln werde. Selbst die hinterhältigen Shaido... « Er zuckte leicht die Achseln. »Seht Ihr? Es ist nicht leicht, nicht einmal für mich.« »Diese Shaido sind Eure Feinde?« Rand stolperte etwas über den Namen. Im Stein hatte man die Aiel nur nach Gemeinschaften aufgeteilt und nicht nach Clans.

»Wir haben Blutfehden vermieden«, sagte Rhuarc, »aber die Taardad und die Shaido haben sich noch niemals freundlich gegenübergestanden. Die Septimen überfallen sich manchmal gegenseitig und stehlen Ziegen oder Rinder. Aber die Eide haben uns alle zurückgehalten, trotz dreier Blutfehden und einem Dutzend alter Gründe, aus denen sich die Clans oder Septimen gegenseitig hassen. Und nun hilft es uns, daß wir in Richtung Rhuidean ziehen, obwohl uns einige schon früher verlassen werden. Niemand darf das Blut eines Aiel vergießen, der nach Rhuidean zieht oder von dort her kommt.« Der Aielmann blickte mit völlig ausdruckslosem Gesicht zu Rand auf. »Vielleicht wird bald keiner von uns mehr das Blut des anderen vergießen.« Es war unmöglich, festzustellen, ob er diese Aussicht als angenehm betrachtete oder nicht.

Eine der Töchter des Speers stand auf einem Hügel, winkte mit beiden Armen und stieß eine Art klagendes Heulen aus, das weithin hallte.

»Sie haben Eure Steinsäule gefunden, wie es scheint«, sagte Rhuarc. Moiraine straffte ihre Zügel und sah Rand ruhig an, als der an ihr vorbeiritt und Jeade'en mit den Fersen zum Galopp antrieb. Egwene lenkte ihre Stute zu Mat hin, beugte sich aus dem Sattel, ergriff mit einer Hand Mats Sattelhorn und unterhielt sich leise mit ihm. Sie schien sich zu bemühen, ihn dazu zu bringen, daß er ihr etwas verriet oder etwas zugab, und seinen Gesten nach war Mat entweder vollkommen unschuldig, oder er log wie gedruckt.

Rand sprang aus dem Sattel und kletterte hastig den sanften Abhang hinauf, um nachzusehen, was die Tochter —es war übrigens Aviendha — halb im Boden versunken und von dem hohen Gras verdeckt aufgefunden hatte. Es war eine verwitterte, graue Steinsäule, mindestens drei Spannen lang und einen Schritt dick. Fremdartige Symbole bedeckten jeden freiliegenden Fleck, immer umgeben von einer schmalen Reihe von Zeichen, die er für Schrift hielt. Doch hätte er auch die Sprache verstanden, falls es eine war, dann war doch die Schrift, sofern es Schrift war, bis zur Unleserlichkeit verwittert. Die Symbole konnte er ein wenig besser ausmachen. Zumindest einige davon; viele konnten auch durch Regen und Wind in den Stein gegraben worden sein.

Er riß büschelweise Gras aus, um besser sehen zu können, und blickte zu Aviendha auf. Sie hatte die Schufa um ihre Schultern gelegt, das kurzgeschnittene rötliche Haar entblößt und betrachtete ihn mit einem harten Gesichtsausdruck. »Ihr mögt mich nicht«, sagte er. »Warum?« Er mußte ein bestimmtes Zeichen finden, das einzige, das er kannte.

»Euch mögen?« fragte sie. »Ihr seid wahrscheinlich der, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, ein Mann des Schicksals. Wer könnte Euresgleichen mögen oder nicht? Außerdem seid Ihr frei, trotz Eures Gesichts ein Feuchtländer und geht doch der Ehre wegen nach Rhuidean, während ich... « »Während Ihr was?« wollte er wissen, als sie schwieg. Er suchte an der Säule entlang und schob sich so langsam den Hang hinauf. Wo befand es sich? Zwei parallele Wellenlinien, die von einem eigenartigen Schnörkel geschnitten wurden. Licht, wenn es unter der Erde liegt, brauchen wir vielleicht Stunden, um sie herumzuwuchten. Plötzlich lachte er. Keine Stunden. Er konnte die Macht benützen und dieses Ding damit hochheben. Oder Moiraine oder Egwene konnten das besorgen. Ein Portalstein widerstand vielleicht Bemühungen, ihn wegzuschaffen, aber so weit konnte man ihn bestimmt bewegen. Doch die Macht würde ihm nicht helfen, die Wellenlinien zu finden. Er konnte das nur erreichen, wenn er den Stein entlangtastete.

Statt einer Antwort hockte sich die Aielfrau nieder und legte den Kurzspeer über ihre Knie. »Ihr habt Elayne schlecht behandelt. Es wäre mir ja gleich, aber Elayne ist beinahe eine Schwester für Egwene, die wiederum meine Freundin ist. Doch Egwene mag Euch immer noch, also will ich es ihr zuliebe versuchen.« Er suchte weiter die dicke Säule ab und schüttelte dabei den Kopf. Wieder Elayne. Manchmal glaubte er, alle Frauen gehörten einer Gilde an, so wie die Handwerker in der Stadt. Mache bei einer einen falschen Schritt, und die nächsten zehn, die du triffst, wissen Bescheid und mißbilligen deine Handlung.

Seine Finger hielten inne und kehrten zu dem Fleck zurück, den er gerade untersucht hatte. Der Stein war so verwittert, daß er fast nichts feststellen konnte, und doch war er sicher, es handle sich um die Wellenlinien. Sie waren das Symbol für einen Portalstein auf der TomanHalbinsel und nicht in der Wüste, doch sie befanden sich genau an der Basis des Dings, als das noch aufrecht gestanden hatte. Die Symbole an der Spitze hatten für Welten gestanden, die ganz unten für Portalsteine. Wenn er ein Symbol von oben und eines von unten benützte, konnte er wahrscheinlich zu einem bestimmten Portalstein auf einer bestimmten Welt reisen. Wenn er nur eines von unten benützte, konnte er den entsprechenden Portalstein in dieser Welt erreichen. Zum Beispiel den in der Nähe von Rhuidean. Falls er dessen Zeichen kannte. Jetzt brauchte er Glück. Jetzt mußte sich die Formkraft des TaVeren auf das Schicksal bewähren.

Eine Hand faßte über seine Schulter, und Rhuarc sagte mit zögernder Stimme: »Die zwei werden in alten Schriften immer für Rhuidean benützt. Vor langer Zeit hat man noch nicht einmal den Namen geschrieben.« Er fuhr zwei Dreiecke nach, die jeweils etwas wie gespaltene Blitze einschlossen. Der eine zeigte nach links, der andere nach rechts.

»Wißt Ihr, was das hier ist?« fragte Rand. Der Aielmann wandte den Kopf ab. »Seng mich, Rhuarc, ich muß das wissen. Ich weiß, daß Ihr nicht darüber sprechen wollt, aber ihr müßt es mir sagen. Los schon, Rhuarc. Habt Ihr so etwas jemals schon gesehen?« Der andere Mann atmete tief durch, bevor er schließlich antwortete: »Ich habe das gleiche schon einmal gesehen.« Jedes Wort kam, als müsse er es herauszwingen. »Wenn ein Mann nach Rhuidean geht, dann warten Weise Frauen und Clanmitglieder am Abhang des Chaendaer in der Nähe eines Steines wie diesem hier.« Aviendha stand auf und schritt steif davon. Rhuarc blickte ihr nach und runzelte die Stirn. »Mehr weiß ich nicht darüber, Rand al'Thor. Falls doch, soll ich nie wieder Schatten finden.« Rand fuhr die unlesbare Schrift, die beide Dreiecke umgab, mit der Fingerspitze nach. Welches von beiden? Nur eines würde ihn dorthin bringen, wo er hinwollte. Das zweite brachte ihn womöglich auf die andere Seite der Welt oder zum Grund des Ozeans.

Der Rest der Aiel hatte sich mit ihren Packeseln am Fuß des Hügels versammelt. Moiraine und die anderen stiegen nun ab und kamen den sanft geneigten Abhang hoch, die Pferde am Zügel hinter sich. Mat hielt neben denen seines braunen Wallachs auch die von Jeade'en und hielt den Hengst möglichst weit entfernt von Lans Mandarb. Die beiden Hengste beäugten einander wild, jetzt, da sie ihre Reiter los waren.

»Du weißt wirklich nicht, was du da tust, oder?« protestierte Egwene. »Moiraine, haltet ihn doch zurück. Wir können auch nach Rhuidean reiten. Warum laßt Ihr ihn weitermachen? Warum sagt Ihr nichts?« »Was würdet Ihr denn vorschlagen, das ich tun soll?« fragte die Aes Sedai trocken. »Ich kann ihn wohl kaum am Ohr packen und wegziehen. Es könnte sein, daß wir nun bald erleben werden, wie nützlich das Träumen wirklich ist.« »Träumen?« fragte Egwene in scharfem Ton. »Was hat das Träumen mit dem hier zu tun?« »Würdet Ihr beiden bitte ruhig sein?« Rand gab sich Mühe, die Worte geduldig klingen zu lassen. »Ich versuche, mich zu entscheiden.« Egwene starrte ihn verärgert an, während Moiraine überhaupt keine Gefühlsregung zeigte. Doch sie sah konzentriert zu.

»Müssen wir es wirklich so machen?« fragte Mat noch einmal. »Was hast du gegen das Reiten?« Rand sah ihn nur an und darauf zuckte er bedrückt die Achseln. »Ach, seng mich. Wenn du versuchst, dich zu entscheiden...« Er nahm die Zügel beider Pferde in die eine Hand und holte mit der anderen eine Münze aus der Manteltasche, eine Goldmark aus Tar Valon. Er seufzte: »Es ist natürlich die gleiche Münze. Wie könnte es auch anders sein.« Er ließ die Münze über seine Fingerrücken rollen. »Ich... ich habe manchmal Glück, Rand. Laß mein Glück entscheiden. Kopf — das Dreieck, das auf deine rechte Seite zeigt. Flamme — die andere Richtung. Was meinst du?« »Das ist doch einfach lächerlich«, begann Egwene, doch Moiraine brachte sie durch eine kurze Berührung ihres Arms zum Schweigen.

Rand nickte. »Warum nicht?« Egwene knurrte etwas in sich hinein. Alles, was er verstand, waren die Worte ›Männer‹ und ›kleine Jungen‹, aber es klang nicht wie ein Kompliment.

Die Münze flog von Mats Daumen aus in die Luft. Sie glänzte matt im Sonnenschein. Auf dem höchsten Punkt der Flugkurve schnappte Mat sie sich und klatschte sie auf den anderen Handrücken. Dann zögerte er. »Es ist schon verflucht leichtsinnig, sich auf einen Münzwurf zu verlassen, Rand.« Rand legte seine Hand auf eines der Symbole, ohne dabei hinzuschauen. »Dieses«, sagte er. »Du hast dieses hier gewählt.« Mat spähte die Münze an und blinzelte überrascht. »Du hast recht. Woher weißt du das?« »Früher oder später muß das auch bei mir so funktionieren.« Keiner von ihnen verstand ihn, das konnte er spüren, aber es spielte auch keine Rolle. Er hob die Hand und sah das Zeichen an, das Mat und er erwählt hatten. Das Dreieck zeigte nach links. Die Sonne war bereits ein Stück des Zenits. Er mußte alles richtig machen. Ein Fehler, und sie würden Zeit verlieren, anstatt sie zu gewinnen. Das wäre das schlimmste Ergebnis. Hoffentlich.

Er stand auf, kramte in seinem Beutel herum und zog den harten Gegenstand heraus, eine kleine, dunkelgrüne, glänzende Steinplastik, die genau in seine Hand paßte und einen Mann mit rundem Gesicht und rundem Körper zeigte, der mit übergeschlagenen Beinen und einem Schwert auf den Knien dasaß. Er rieb mit dem Daumen über den kahlen Kopf der Figur. »Alle sollen sich hier auf engem Raum versammeln. Rhuarc, laß sie die Tiere auch alle heraufbringen. Jeder muß sich so nahe bei mir befinden wie möglich.« »Warum?« fragte der Aielmann.

»Wir gehen nach Rhuidean.« Rand stellte die kleine Figur auf seine Handfläche und bückte sich, um den Portalstein zu berühren. »Nach Rhuidean. Jetzt gleich.« Rhuarc warf ihm einen langen, ausdruckslosen Blick zu, richtete sich dann auf und rief die anderen Aiel.

Moiraine trat einen Schritt näher heran. »Was ist das?« fragte sie neugierig. »Ein Angreal«, sagte Rand und drehte ihn auf seiner Hand um. »Einer, der nur bei Männern funktioniert. Ich fand ihn in der Großen Sammlung, als ich nach dieser Tür suchte. Des Schwertes wegen habe ich ihn aufgehoben, und dann wußte ich Bescheid. Falls Ihr euch also gefragt habe, wo ich die Macht hernehme, um uns alle — die Aiel, die Packtiere, jeden und alles — durchzutransportieren, dann habt Ihr hier die Antwort.« »Rand«, sagte Egwene ängstlich, »ich bin ja sicher, daß du glaubst, das Richtige zu tun, aber bist du dir selbst sicher? Glaubst du wirklich, der Angreal sei stark genug? Ich weiß noch nicht einmal, ob es wirklich einer ist. Ich glaube dir, wenn du das sagst, aber die Angreal unterscheiden sich gewaltig. Jedenfalls diejenigen, die wir Frauen benützen. Manche sind erheblich stärker als andere, und Größe genau wie Form sagen dabei gar nichts.« »Natürlich bin ich sicher«, log er. Er hatte keine Möglichkeit gehabt, seine Kraft zu überprüfen, jedenfalls nicht, was diese enormen Energiemengen betraf, ohne halb Tear wissen zu lassen, daß er etwas vorhatte. Doch er glaubte schon, daß es ausreichen werde. Und so klein, wie der Angreal war, würde ihn niemand im Stein vermissen, wenn man nicht gerade in der Sammlung Inventur machte. Ziemlich unwahrscheinlich.

»Ihr laßt Callandor zurück und bringt das hier dafür mit«, murmelte Moiraine. »Ihr scheint doch einiges vom Gebrauch der Portalsteine zu verstehen. Mehr, als ich geglaubt hätte.« »Verin hat mir einiges beigebracht«, sagte er. Das stimmte, aber es war Lanfear gewesen, die ihm zuerst alles erklärt hatte. Er hatte sie damals als Selene gekannt, doch von all dem wollte er Moiraine genausowenig berichten wie von Lanfears Angebot, ihm zu helfen. Die Aes Sedai hatte die Neuigkeit, daß Lanfear aufgetaucht sei, selbst an ihrem normalen Verhalten gemessen etwas zu ruhig aufgenommen. Und sie hatte diesen abschätzenden Blick im Auge, als sehe sie ihn im Geist auf einer Waagschale.

»Seid vorsichtig, Rand al'Thor«, sagte sie mit dieser eisigen und doch melodiösen Stimme. »Jeder TaVeren verändert das Muster auf die eine oder andere Art, aber ein Ta'veren von Eurer Macht könnte das Gewebe des Zeitalters für alle Ewigkeit zerreißen.« Er wünschte, er kenne ihre Gedanken. Er wünschte auch, er wisse, was sie plante.

Die Aiel kamen mit ihren Mauleseln den Abhang herauf und bedeckten den ganzen Gipfel, als sie sich um ihn und den Portalstein versammelten. Sie standen Schulter an Schulter. Nur Moiraine und Egwene standen ein wenig abseits. Rhuarc nickte ihm zu, als wolle er sagen: Es ist soweit, nun liegt es in Eurer Hand.

Er nahm den glänzend grünen Angreal fest in die Hand. Der Gedanke kam ihm, den Aiel zu befehlen, ihre Packtiere zurückzulassen, aber er wußte nicht, ob er sie wirklich dazu bringen konnte, und wollte auch mit allen dort ankommen, allen das Gefühl geben, er habe seine Sache gut gemacht. In der Wüste könnte ihr Wohlwollen von entscheidender Bedeutung sein. Sie beobachteten ihn mit unbeeindruckten Gesichtern. Einige hatten ihre Gesichter allerdings verschleiert. Mat rollte nervös die Goldmark aus Tar Valon über seinen Handrücken und zwischen den Fingern hindurch, und Egwene stand der Schweiß auf der Stirn. Die beiden waren jedoch die einzigen, denen man die Angst anmerkte. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Er mußte einfach schneller handeln, als ihm jeder zutraute.

Er hüllte sich ins Nichts ein und faßte nach der Wahren Quelle. Dieses kränklich flackernde Licht war auch wieder da, gleich hinter seiner Schulter. Die Macht erfüllte ihn, der Atem des Lebens, ein Wind, der Eichen entwurzeln konnte, eine Sommerbrise, die den Duft von Blüten mit sich brachte, den fauligen Gestank eines Misthaufens. Er schwebte im Leeren, hielt das blitzdurchzuckte Dreieck vor sich und faßte durch den Angreal hindurch. Tief sog er aus dem tobenden Strom Saidins. Er mußte alle mitbringen. Es mußte einfach gehen. Er hielt das Symbol fest, sog die Eine Macht in sich auf, ließ nicht los, bis er glaubte, platzen zu müssen. Und dann noch ein wenig. Und noch mehr.

Die Welt verschwand von einem Augenblick zum anderen.

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