Der ›Garten der Silbernen Winde‹ war überhaupt kein Garten, sondern ein riesiges Weinlokal, eigentlich viel zu groß, um es noch als ›Wirtshaus‹ zu bezeichnen. Er lag oben auf einem Hügel mitten auf der Calpene, der westlichsten der drei Halbinseln Tanchicos, gleich unterhalb des Großen Kreises. Ein Teil des Namens zumindest entsprach der Wahrheit und rührte von der Brise her, die ständig auf einer Seite hereinwehte, wo statt einer Wand glänzende, grün gemaserte Marmorsäulen und eine Steinbalustrade standen. Nur im Obergeschoß war hier eine Wand durchgezogen. Goldfarbene, geölte Seidenvorhänge konnten unten vorgezogen werden, falls es gerade regnete. Auf dieser Seite fiel der Hügel steil ab und von den Tischen aus, die an der Balustrade standen, hatte man eine prächtige Aussicht über weiße Kuppeln und Türme und über den großen Hafen hinweg, in dem jetzt noch mehr Schiffe lagen als sonst schon. Tanchico benötigte praktisch alles äußerst dringend, und man konnte gutes Gold verdienen — zumindest solange, bis das Gold und die Zeit aufgebraucht waren.
Selbst in der Zeit vor den Unruhen war der ›Garten der Silbernen Winde‹ das teuerste Weinlokal in der Stadt gewesen. Vergoldete Lampen hingen von einer mit auf goldenen Hochglanz polierten Messingfriesen verzierten Decke. Die Bedienungen, gleich ob männlich oder weiblich, hatte man auf Grund ihrer Schönheit, Grazie und Diskretion ausgewählt. Die Preise waren mittlerweile völlig überhöht. Aber diejenigen, die täglich mit großen Summen Geldes umgingen oder die Macht und Einfluß besaßen oder es sich zumindest einbildeten, kamen immer noch. In mancher Hinsicht gab es weniger als zuvor, mit dem man handeln konnte, in mancher Hinsicht aber auch mehr.
Jeder Tisch war von einer niedrigen Mauer umgeben und wirkte wie eine Insel auf den grünen und goldfarbenen Fußbodenkacheln. Jedes Mäuerchen war wie geklöppelte Spitzen durchbrochen, so daß kein Lauscher sich ungesehen anschleichen konnte, und gerade hoch genug, um den vor flüchtigen Blicken zu verbergen, der sich dort mit jemand anderem getroffen hatte. Trotzdem liefen die Gäste gewöhnlich maskiert umher, besonders in letzter Zeit, und manche hatten Leibwächter neben ihrem Tisch stehen. Selbst diese waren bei besonders vorsichtigen Gästen ebenfalls maskiert, damit man auch sie nicht erkannte und auf den Gast schließen konnte. Kein Wächter führte sichtbare Waffen mit sich. Das gestattete die Besitzerin des ›Gartens der Silbernen Winde‹ nicht, eine schlanke Frau von unbestimmbarem Alter namens Selindrin. Waffen mußte man draußen abgeben. Ihre Vorschrift wurde zumindest nicht offen mißachtet.
Von ihrem üblichen Tisch an der Balustrade aus beobachtete Egeanin die Schiffe im Hafen, besonders die unter vollen Segeln. Sie wünschte sich bei diesem Anblick, wieder an Deck zu stehen und Befehle zu geben. Sie hatte nicht erwartet, daß die Pflicht sie einmal dahin führen würde, wo sie sich nun befand.
Unbewußt rückte sie die Samtmaske zurecht, die die obere Hälfte ihres Gesichts verbarg. Sie kam sich lächerlich vor mit diesem Ding, aber es war doch notwendig, sich den örtlichen Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grad anzupassen. Die Maske — sie war blau und paßte somit zu ihrer hochgeschlossenen Seidenrobe —, die Robe selbst und ihr dunkles, mittlerweile schulterlanges Haar waren auch wirklich alles, was sie an Anpassung fertigbrachte. Es war unnötig, daß sie für eine Bewohnerin Tarabons gehalten wurde, denn Tanchico platzte aus allen Nähten vor Flüchtlingen, und viele davon waren Fremde, die vor den Unruhen geflohen waren. Außerdem hätte sie sowieso keine Tarabonerin darstellen können. Diese Leute waren Tiere; sie hatten keine Disziplin und kannten keine Ordnung.
Bedauernd wandte sie sich vom Hafen ab und wieder ihrem Tischgenossen zu, einem Burschen mit schmalem Gesicht und dem gierigen Lächeln eines Wiesels. Floran Gelbs ausgefranster Kragen paßte nicht in den ›Garten der Silbernen Winde‹, und er wischte sich ständig die Hände am Wams ab. Sie traf sich immer hier mit ihnen, diesen schmierigen kleinen Männern, mit denen sie gezwungenermaßen zusammenarbeiten mußte. Für sie war es eine Belohnung und ein Mittel, um sie dauernd in Spannung zu halten.
»Was habt Ihr für mich, Meister Gelb?« Er wischte sich noch mal die Hände ab und hob einen grobgewebten Jutesack hoch. Er legte ihn auf den Tisch und sah sie erwartungsvoll an. Sie nahm den Sack vom Tisch und hielt ihn neben sich, bevor sie ihn öffnete. Drinnen lag ein aus silbrigem Metall gefertigter Adam,
Halsband und Armband, durch eine raffiniert gearbeitete Leine verbunden. Sie schloß den Sack und stellte ihn auf den Boden. Das war der dritte, den Gelb wieder aufgefunden hatte, mehr als jeder andere.
»Sehr gut, Meister Gelb.« Eine kleine Börse wanderte in seiner Richtung über den Tisch. Gelb ließ sie unter seinem Wams verschwinden, als stecke die Krone der Kaiserin drinnen und nicht nur eine Handvoll Silber. »Habt Ihr sonst noch etwas?« »Diese Frauen. Diejenigen, nach denen ich für Euch suchen soll?« Sie hatte sich an die abgehackte Sprache dieser Leute gewöhnt, aber sie wünschte, er würde sich nicht auf diese Art die Lippen lecken. Sie konnte ihn deshalb genausogut verstehen, aber es sah ekelhaft aus.
Sie hätte ihm beinahe gesagt, sie habe kein Interesse mehr. Aber es war ein Teil des Grundes, aus dem heraus sie sich überhaupt in Tanchico befand und jetzt vielleicht sogar der Hauptgrund. »Was ist mit ihnen?« Die Tatsache, daß sie überhaupt daran gedacht hatte, ihre Pflichten zu vernachlässigen, ließ sie nun härter mit ihm umgehen, als sie vorgehabt hatte, und Gelb zuckte bei ihrem Tonfall prompt zusammen.
»Ich... ich glaube, ich habe wieder eine gefunden.« »Seid Ihr sicher? Es hat schon... Fehler gegeben.« Das Wort ›Fehler‹ war viel zu sanft ausgedrückt. Beinahe ein Dutzend Frauen, die den Beschreibungen nur in etwa ähnlich sahen, hatte sie noch als Ärgernisse betrachten können, sobald sie sie gesehen hatte. Aber dann diese Adlige, die von ihren im Krieg niedergebrannten Gütern geflohen war. Gelb hatte die Frau von der Straße weg entführt, weil er glaubte, mehr zu verdienen, wenn er sie ablieferte, als nur zu erzählen, wo er sie angetroffen hatte. Zu seiner Verteidigung mußte man ihm zugestehen, daß Lady Leilwin einer der Frauen, die Egeanin suchte, sehr ähnlich sah, aber sie hatte ihm auch gesagt, daß diese Frauen mit einem Akzent sprächen, den er bestimmt hier noch nicht gehört habe, und sich ganz sicher nicht im taraboner Dialekt verständigten. Egeanin hatte die Frau nicht töten wollen, aber selbst in Tanchico hätte ihr vielleicht jemand ihre Geschichte abgenommen. Leilwin war mitten in der Nacht gefesselt und geknebelt auf eines der Kurierboote gebracht worden. Sie war jung und hübsch, und irgend jemand würde sie vielleicht nützlich finden. Das war besser, als ihr die Kehle durchzuschneiden. Aber Egeanin befand sich nicht in Tanchico, um für den Heimatadel Dienerinnen zu suchen.
»Kein Fehler diesmal, Frau Elidar«, sagte er schnell, und seine Zähne blitzten in einem nervösen Lächeln auf. »Diesmal wirklich nicht. Aber... ich brauche ein wenig Gold. Um sicher zu gehen. Um nahe genug heranzukommen. Vier oder fünf Kronen?« »Ich zahle nur für Ergebnisse«, sagte Egeanin mit entschlossener Stimme zu ihm. »Nach Euren... Fehlern habt Ihr Glück, daß ich Euch überhaupt noch bezahle.« Gelb leckte sich unsicher die Lippen. »Ihr habt gesagt... Damals, zu Anfang, habt Ihr gesagt, Ihr hättet ein paar Münzen übrig für diejenigen, die besondere Arten von Arbeit für Euch verrichten.« Ein Muskel in seiner Wange zuckte. Sein Blick huschte unstet umher, als lausche jemand hinter der durchbrochenen Mauer, die drei Seiten des Tisches umgab. Dann senkte er die Stimme zu einem heiseren Flüstern: »Schürt Ihr die Unruhen hier noch weiter? Ich habe ein Gerücht gehört — von einem Burschen, der Leibdiener bei Lord Brys ist — über die Versammlung und daß sie einen neuen Panarchen wählen wollten. Ich halte das für wahr. Der Mann war betrunken, und als ihm klar wurde, was er gesagt hatte, hätte er sich beinahe in die Hose gemacht. Aber selbst, wenn es nicht stimmt, würde es in Tanchico für neue Unruhen sorgen.« »Glaubt Ihr wirklich, es sei in dieser Stadt noch notwendig, Unruhen durch Geld hintenherum zu schüren?« Tanchico war wie ein überreifer Apfel, den der erste Windstoß vom Baum fallen läßt. Das traf für dieses ganze armselige Land zu. Einen Augenblick lang war sie sogar versucht, sein ›Gerücht‹ zu kaufen. Man nahm von ihr an, sie handle mit allen Gütern und Informationen, über die sie stolperte, und sie hatte tatsächlich einige davon weiterverkauft, um diesen Eindruck zu untermauern. Aber mit Gelb umgehen zu müssen machte sie krank. Und sie fürchtete sich vor ihren eigenen Zweifeln. »Das war dann alles, Meister Gelb. Ihr wißt ja, wie Ihr mit mir Verbindung aufnehmen könnt, falls ihr eine weitere dieser Frauen aufspürt.« Sie berührte dabei den groben Jutesack.
Statt sich zu erheben, blieb er sitzen und blickte sie unverwandt an, als wolle er durch ihre Maske hindurchsehen. »Wo kommt Ihr her, Frau Elidar? So, wie Ihr sprecht, so langgezogen, undeutlich und weich, kann ich Euch nirgends unterbringen. Verzeiht, ich wollte nicht unhöflich sein.« »Das war alles, Meister Gelb.« Vielleicht war es ihr Befehlston, oder die Maske konnte ihren kalten Blick nicht verbergen, jedenfalls sprang Gelb auf, verbeugte sich hastig mehrmals und stammelte Entschuldigungen, während er ungeschickt die kleine Tür in dem Mäuerchen öffnete.
Sie blieb sitzen und gab ihm Zeit, den ›Garten der Silbernen Winde‹ zu verlassen. Draußen würde ihm jemand folgen, um sicherzugehen, daß er nicht auf sie wartete, um sie zu beschatten. Dieses ganze Herumdrücken und die Versteckspielerei ekelte sie an. Sie wünschte sich beinahe, jemand würde ihre Maskerade auffliegen lassen und ehrlich und offen mit ihr kämpfen.
Ein neues Schiff lief unten gerade in den Hafen ein. Es war ein Klipper des Meervolks mit hochaufragenden Masten und ganzen Wolken von Segeln. Sie hatte einmal einen gekaperten Klipper besichtigt, und nun hätte sie beinahe alles darum gegeben, als Kapitän mit einem davon in See zu stechen. Wahrscheinlich bräuchte sie eine Besatzung von Meerleuten, um wirklich alles aus dem Schiff herausholen zu können. Die Atha'an Miere weigerten sich aber stur, die Eide abzulegen. Es wäre nicht so gut, wenn sie die Besatzung kaufen müßte. Aber eine ganze Schiffsbesatzung kaufen! Ihr stieg wohl das viele Gold zu Kopfe, das ihr von Kurierbooten gebracht wurde, um es hier auszugeben.
Sie nahm den Jutesack und wollte aufstehen, setzte sich dann aber schnell wieder hin, als sie sah, wie ein breitschultriger Mann am nächsten Tisch aufstand und ging. Sein dunkles Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und ein Bart, der seine Oberlippe frei ließ, rahmte Bayle Domons rundes Gesicht ein. Er war natürlich nicht maskiert. Er hatte ein Dutzend Küstenschiffe, die in Tanchico stationiert waren, und offensichtlich war es ihm gleich, wo man ihn sah. Maskiert. Sie konnte einfach nicht mehr normal denken. Er würde sie mit der Maske nicht erkennen. Trotzdem wartete sie, bis er weg war, und verließ erst dann ihren Tisch. Falls dieser Mann zur Gefahr wurde, würde sie sich um ihn kümmern müssen.
Selindrin nahm das angebotene Gold mit verbindlichem Lächeln entgegen und murmelte etwas von guten Wünschen und möge Egeanin wiederkommen. Die Wirtin des ›Gartens der Silbernen Winde‹ trug ihr Haar zu Dutzenden kleiner Zöpfe geflochten und bevorzugte eng anliegende Kleider aus weißer Seide, beinahe so dünn wie das eines der Mädchen, die hier bedienten, und dazu einen dieser durchsichtigen Schleier, bei deren Anblick Egeanin immer versucht war, die Trägerin zu fragen, welche Tänze sie denn vorführen wolle. Die Shea-Tänzerinnen trugen beinahe identische Schleier und sonst nicht viel mehr. Andererseits, dachte Egeanin, als sie zur Straße ging, hatte die Frau einen scharfen Verstand, sonst könnte sie sich nicht so geschickt in Tanchico durchmanövrieren und ihr Etablissement halten. Sie mußte jedermann freundlich bewirten und sich keine Feinde machen, und das war nicht gerade einfach hier.
Ein typisches Beispiel dafür war der hochgewachsene Mann mit weißem Umhang und grauen Schläfen, mit hartem Gesicht und harten Augen, der an Egeanin vorbeiging und von Selindrin begrüßt wurde. Auf Jaichim Carridins Umhang war vorn ein goldenes Sonnenbanner aufgestickt, und dazu noch vier goldene Knoten mit einem roten Hirtenstab dahinter. Ein Inquisitor der Hand des Lichts und somit hochrangiger Offizier der Kinder des Lichts. Allein schon das Konzept hinter diesen Kindern des Lichts empörte Egeanin. Eine militärische Organisation, die nur sich selbst verantwortlich war. Aber Carridin und seine paar hundert Soldaten hatten in Tanchico eine gewisse Machtposition, wo die meiste Zeit über sowieso eine Autorität völlig fehlte. Die Miliz ließ sich nicht mehr auf den Straßen blicken, und das Heer — soweit es überhaupt noch zum König stand — war zu sehr damit beschäftigt, wenigstens die Festungen in der Umgebung der Stadt zu halten. Egeanin bemerkte, daß Selindrin noch nicht einmal einen Blick auf das Schwert an Carridins Hüfte warf. Der Mann hatte eindeutig eine Machtposition inne.
Sobald sie auf die Straße kam, liefen ihre Träger mit der Sänfte aus dem Gewühl der Diener herbei, die auf ihre Herrschaften warteten. Ihre Leibwächter formierten sich mit ihren Speeren um sie herum. Sie waren ein ziemlich bunter Haufen. Manche trugen Stahlhelme, und drei von ihnen Lederhemden mit aufgenähten Stahlschuppen. Es waren Männer mit groben Gesichtern, vielleicht Deserteure aus dem Heer des Königs, aber sehr wohl bewußt, daß ihre gefüllten Mägen und das Silber, das sie ausgeben konnten, ganz auf ihrer fortgesetzten Sicherheit beruhten. Selbst die Träger hatten feste Messer am Gürtel, und aus ihren Schärpen ragten Knüppel heraus. Keiner, der irgendwie nach Geld roch, wagte sich ohne Wächter aus dem Haus. Und wenn sie es dennoch riskiert hätte, hätte es zuviel Aufmerksamkeit erregt.
Die Leibwächter bahnten ihr mühelos einen Weg durch die Menge. Die Menschenmassen strömten durch die engen Straßen, die sich um die Hügel der Stadt wanden, stauten sich hier und da, ließen aber genug Freiraum für die von Wächtern umgebenen Sänften. Es waren kaum Kutschen zu sehen. Pferde wurden allmählich hier zu Luxusgütern.
Der Ausdruck ›ausgelaugt‹ kam ihr in den Sinn, als sie die sich drängende Menge beobachtete — erschöpft und verängstigt. Erschöpfte Gesichter, abgetragene Kleidung, zu stark glänzende, verängstigte Augen, Hoffnung im Blick, obwohl sie wußten, daß es keine Hoffnung gab. Viele hatten aufgegeben, hockten an Hauswände gelehnt da, kauerten in Eingängen, hielten sich an ihren Frauen, Männern, Kindern fest, nicht nur ausgelaugt, sondern abgerissen und mit ausdruckslosen Gesichtern. Manchmal erwachten sie zu vorübergehender Aktivität, riefen den Passanten etwas zu und bettelten sie um eine Münze, ein Stück Brotrinde oder sonst irgend etwas an.
Egeanin richtete den Blick geradeaus und vertraute zwangsläufig darauf, daß die Leibwächter etwaige Gefahren entdecken würden. Einen Bettler direkt anzusehen hätte bedeutet, daß sich innerhalb von Sekunden zwanzig um ihre Sänfte drängen würden. Eine Münze zu werfen führte dazu, daß sich hundert schreiend und weinend herandrängten. Sie benützte ja bereits einen Teil des Geldes, das ihr die Kurierboote brachten, um eine Suppenküche zu unterhalten, genauso, als sei sie eine vom Blut. Sie schauderte, als sie daran dachte, welche Folgen es für sie haben könnte, wenn man entdeckte, wie sie Dinge tat, die ihrem Rang nicht entsprachen. Da konnte sie gleich ihren Kopf rasieren und eine Brokatrobe anlegen.
Aber all das konnte man wieder richtigstellen, wenn Tanchico einmal gefallen war. Dann würde jeder richtig ernährt und an seinen ihm zustehenden Platz gestellt. Und sie mußte sich nicht mehr mit schönen Kleidern und anderen Dingen abgeben, mit denen sie keine Erfahrung hatte, und konnte auf ihr Schiff zurückkehren. Zumindest Tarabon und vielleicht auch Arad Doman waren soweit, daß sie als Staaten beim geringsten Druck zusammenbrechen würden — wie verkohlte Seide. Warum griff Hochlady Suroth immer noch nicht an? Warum?
Jaichim Carridin saß bequem auf seinem Stuhl, den Umhang über die Armlehnen gelegt, und musterte die Adligen aus Tarabon, die auf den anderen Stühlen in diesem Separee saßen. Sie saßen steif da in ihren goldbestickten Mänteln, die Lippen zusammengekniffen unter kunstvoll gearbeiteten Masken in Form von Habicht-, Löwen- und Leopardenköpfen. Er hatte bestimmt mehr Sorgen als sie, aber äußerlich hielt er sich ganz gelassen. Es war zwei Monate her, da hatte man ihm berichtet, daß man seinen Cousin tot im Schlafzimmer aufgefunden hatte. Man hatte ihm die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Vor drei Monaten war seine jüngste Schwester Dealda bei ihrer Hochzeit von einem Myrddraal entführt worden. Der Haushofmeister der Familie schrieb ihm verzweifelte Briefe über all die Tragödien, die sich in der Familie Carradin abspielten. Zwei Monate. Er hoffte, daß Dealda schnell gestorben war. Man sagte, daß eine Frau in den Händen eines Myrddraal schnell den Verstand verlor. Zwei ganze Monate. Jeder andere als Jaichim Carridin hätte längst Blut geschwitzt.
Jeder Mann hielt einen goldenen Pokal mit Wein in der Hand. Diener waren nicht zu sehen. Selindrin hatte sie persönlich bedient, bevor sie mit der Versicherung gegangen war, daß sie nicht gestört würden. Es befand sich auch sonst niemand mehr in diesem Obergeschoß des ›Gartens der Silbernen Winde‹. Zwei Männer, die mit den Adligen gekommen waren — vermutlich Mitglieder der königlichen Leibgarde —, standen am Fuß der Treppe und ließen niemanden nach oben, so daß sie dort ihre Ruhe hatten.
Carridin schlürfte seinen Wein. Keiner der Taraboner hatte bisher an seinem auch nur genippt. »Also«, sagte er im Plauderton, »König Andric möchte, daß die Kinder des Lichts ihm behilflich sind, in der Stadt wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wir lassen uns nicht oft in die Angelegenheiten eines Staats verwickeln.« Jedenfalls nicht offiziell. »Ich kann mich nicht erinnern, ein solches Ansuchen schon einmal gehört zu haben. Ich weiß nicht, was der kommandierende Lordhauptmann dazu sagen wird.« Pedron Niall würde sagen, er solle tun, was notwendig sei, und sicherstellen, daß die Taraboner wußten, sie schuldeten den Kindern des Lichts einen Gefallen, für den eines Tages in vollem Maße bezahlt werden mußte.
»Die Zeit reicht nicht aus, um Euch Instruktionen aus Amador zu holen«, sagte ein Mann mit einer schwarzgefleckten Leopardenmaske in eindringlichem Tonfall. Keiner hatte seinen Namen gesagt, aber die brauchte Carridin gar nicht.
»Was wir von Euch verlangen, ist pure Notwendigkeit«, fauchte ein anderer empört, dessen dicker Schnurrbart unter einer Habichtsmaske ihn wie eine etwas eigenartige Eule aussehen ließ. »Ihr müßt wissen, daß wir Euch nicht darum bitten würden, wäre es nicht außerordentlich notwendig. Wir brauchen Einigkeit und nicht noch mehr Streit, der unser Land spaltet. Es gibt so viele Streitpunkte, selbst hier in Tanchico. Alles, was die Uneinigkeit schürt, muß unterdrückt werden, wenn wir auch nur etwas Hoffnung haben wollen, den Frieden im Land wiederherzustellen.« »Der Tod der Panarchin hat alles noch viel komplizierter gemacht«, fügte der erste Bursche hinzu.
Carridin zog fragend eine Augenbraue hoch: »Habt Ihr bereits ermittelt, wer sie tötete?« Seiner eigenen Meinung nach hatte Andric selbst den Befehl dazu gegeben, und zwar im Glauben, die Panarchin bevorzuge einen der Rebellen auf dem Königsthron. Da hatte der König möglicherweise sogar recht, aber nachdem er alles zusammengerufen hatte, was von der Versammlung der Lords erreichbar war — viele befanden sich bei einer der Rebellengruppen draußen auf dem Land —, fand er heraus, daß sie mit bemerkenswerter Sturheit seinen Vorschlag ablehnten. Und hätte auch Lady Amathera gerade nicht mit Andric das Bett geteilt, so wäre doch die Wahl des Königs und der Panarchin die einzige wirkliche Chance der Versammlung geblieben, politischen Einfluß auszuüben, und die wollten sie auf keinen Fall aufgeben. Außerdem waren die Differenzen in bezug auf Amathera offiziell nicht bekannt. Selbst die Versammlung hatte begriffen, daß diese Nachrichten aus dem Königshaus beim Volk Aufstände hervorgerufen hätten.
»Sicher einer von diesen drachenverschworenen Verrückten«, sagte der Mann, der wie eine Eule aussah, und zupfte heftig an seinem Schnurrbart. »Kein wahrer Taraboner würde der Panarchin etwas tun, oder?« Es klang beinahe, als glaube er selbst daran.
»Selbstredend«, sagte Carridin verbindlich. Er nippte wieder an seinem Wein. »Wenn ich den Panarchenpalast für die Thronbesteigung von Lady Amathera sichern soll, muß ich das vom König selbst hören. Sonst könnte es aussehen, als griffen die Kinder des Lichts in Tarabon nach der Macht, obwohl doch alles, was wir wollen, ist, die Spaltung zu beenden und den Frieden unter dem Licht wiederherzustellen. So sagtet Ihr ja.« Ein älterer Leopard mit kantigem Kinn und grauen Strähnen im blonden Haar sagte in kaltem Tonfall: »Ich habe gehört, daß Pedron Niall Einigkeit gegen die Drachenverschworenen erreichen will. Einigkeit unter seiner Führung, oder?« »Der kommandierende Lordhauptmann strebt nicht nach Macht und Herrschaft«, erwiderte Carradin genauso eisig. »Die Kinder dienen dem Licht, wie alle Menschen guten Willens.« »Es kann gar keine Frage sein«, warf der erste Leopard ein, »daß Tarabon in irgendeiner Weise Amador untertan ist. Keine Frage!« Zornige Zustimmung erhob sich von beinahe jedem Stuhl.
»Natürlich nicht«, sagte Carridin, als sei ihm dieser Gedankengang völlig fremd. »Wenn Ihr mich um Hilfe bittet, bekommt Ihr sie — unter den von mir genannten Bedingungen. Wenn nicht, nun, es gibt immer Arbeit für die Kinder. Der Dienst im Namen des Lichts endet nie, denn überall wartet der Schatten.« »Ihr werdet Sicherheiten bekommen, die vom König unterzeichnet und gesiegelt wurden«, sagte ein ergrauter Mann mit Löwenmaske. Es waren die ersten Worte, die er gesprochen hatte. Das war natürlich Andric selbst, aber man nahm an, daß Carridin nicht einmal eine Ahnung davon habe. Der König konnte sich nicht mit einem Inquisitor der Hand des Lichts treffen, ohne größtes Aufsehen zu erregen. Genauso konnte er öffentlich kein Weinlokal betreten, nicht einmal den ›Garten der Silbernen Winde‹.
Carridin nickte. »Wenn ich sie in Händen halte, werde ich den Panarchenpalast absichern, und die Kinder des Lichts werden alle... subversiven Elemente unterdrücken, die... die versuchen, die Thronbesteigung zu stören. Das schwöre ich unter dem Licht.« Die Spannung unter den Tarabonern ließ fühlbar nach. Nun kippten sie praktisch ihren Wein in einem Zug herunter, sogar Andric.
Soweit es die Einwohner Tarabons betraf, würden die Kinder des Lichts an dem unvermeidlichen Gemetzel die Schuld tragen und nicht der König oder das Heer von Tarabon. Sobald Amathera gekrönt und mit dem Stab des Baumes versehen war, konnte es geschehen, daß noch ein paar Mitglieder der Versammlung sich den Rebellen anschlossen, aber wenn die anderen zugaben, daß sie diese Frau gar nicht gewählt hatten, würde diese Nachricht in Tanchico ein Feuer entzünden. Was die Berichte derjenigen betraf, die geflüchtet waren — nun, Rebellen erzählten natürlich alle möglichen verräterischen Lügen. Und sowohl König wie auch Panarchin hingen dann an einem Gängelband, das Carridin Pedron Niall übergeben würde, der dann damit machen konnte, was er wollte.
Sicher bedeutete das nicht schrecklich viel, da der König von Tarabon lediglich ein paar hundert Quadratmeilen Fläche rund um Tanchico herum beherrschte, aber das Gebiet konnte ja wieder wachsen. Mit Hilfe der Kinder des Lichts, die dafür bestimmt ein oder zwei Legionen benötigten und nicht nur Carridins fünfhundert Mann, konnte man die Drachenverschworenen vielleicht doch noch zurückschlagen, die verschiedenen Rebellengruppen besiegen und sogar den Krieg mit Arad Doman erfolgreich beenden. Falls eines dieser Länder überhaupt noch wußte, daß es sich mit dem anderen im Krieg befand. Carridin hatte gehört, die Zustände in Arad Doman seien noch chaotischer als die in Tarabon.
In Wirklichkeit war es ihm völlig egal, ob Tarabon zum Herrschaftsbereich der Kinder des Lichts gehörte, oder Tanchico oder überhaupt etwas. Er tat das alles mechanisch, wie er es immer getan hatte, aber es fiel ihm schwer, dabei an etwas anderes zu denken als daran, wann man ihm die Kehle durchschneiden werde. Vielleicht würde er sich sogar eines Tages danach sehnen. Zwei Monate seit dem letzten Bericht.
Er blieb nicht länger, um mit den Tarabonern zu trinken, sondern verabschiedete sich so knapp, wie es nur möglich war. Falls sie sich dadurch beleidigt fühlten, so brauchten sie ihn doch zu nötig, um es sich anmerken zu lassen. Selindrin sah, wie er herunterkam, und als er auf die Straße trat, war da bereits ein Stallbursche, der sein Pferd zum Vordereingang führte. Er warf dem Jungen eine Kupfermünze zu und gab dem Wallach die Sporen, der daraufhin in einen schnellen Trab verfiel. Das zerlumpte Volk in den gewundenen Straßen sprang aus dem Weg, wenn er durchkam, und das war auch gut so. Er war nicht sicher, ob er es überhaupt bemerken würde, wenn er einen davon niedertrampelte. Nicht, daß es einen Verlust bedeutet hätte. Die Stadt war voll von Bettlern. Er konnte kaum einatmen, ohne den Gestank nach altem, saurem Schweiß und Schmutz zu riechen. Tamrin sollte sie zusammentreiben und hinauswerfen. Sollten doch die Rebellen auf dem Land mit ihnen fertigwerden.
Immer wieder beschäftigte ihn das Land draußen, aber nicht die Rebellen. Mit denen wurde man schnell genug fertig, wenn man das Gerücht verbreitete, dieser oder jener sei ein Schattenfreund. Und sobald er es geschafft hatte, daß ein paar davon der Hand des Lichts übergeben wurden, würden sie öffentlich erklären und gestehen, wie sie dem Dunklen König gedient und selbst Kinder aufgegessen hätten. Sie würden überhaupt alles gestehen, was man ihnen sagte. Danach würden sich die Aufständischen kaum noch halten können, und die paar, die immer noch zu kämpfen versuchten, stünden plötzlich allein da. Aber diese Drachenverschworenen, die Männer und Frauen, die sich als Anhänger des Wiedergeborenen Drachen zu erkennen gegeben hatten, konnte man nicht einfach dadurch wegfegen, daß man sie zu Schattenfreunden erklärte. Die meisten Leute hielten sie sowieso dafür, weil sie sich einem Mann verschworen hatten, der die Macht benutzen konnte.
Das eigentliche Problem war der Mann, dem sie Treue geschworen hatten. Man kannte noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Rand al'Thor? Wo befand er sich? Da draußen gab es hundert Banden von Drachenverschworenen. Mindestens zwei davon waren groß genug, um Heere genannt zu werden. Sie kämpften gegen das Heer des Königs, soweit es überhaupt noch Andric gehorchte, und gleichzeitig kämpfte es gegen die Rebellen, die wiederum untereinander ganz fleißig kämpften und natürlich gegen die Drachenverschworenen und den König... Doch Carridin hatte keine Ahnung, bei welcher dieser Banden sich Rand al'Thor aufhielt. Er konnte sich sowohl auf der Ebene von Almoth befinden wie auch in Arad Doman, wo die Lage sowieso die gleiche war. Sollte das der Fall sein, war Jaichim Carridin vermutlich bereits ein toter Mann.
In dem Schloß auf der Verana, das er als Hauptquartier für die Kinder des Lichts requiriert hatte, warf er die Zügel einem der weißgekleideten Wächter zu und stolzierte hinein, ohne ihren Gruß zu erwidern. Der Eigentümer dieser Ansammlung heller Kuppeln und zierlicher Türmchen und schattiger Gärten hatte seinen Anspruch auf den Thron des Lichts verkündet, und niemand beklagte sich nun über ihre Besetzung. Am wenigsten beklagte sich der Eigentümer. Was von seinem Kopf übriggeblieben war, steckte immer noch auf einem Spieß über der Treppe der Verräter auf der Maseta.
Diesmal verschwendete Carridin kaum einen Blick an die feingewebten Taraboner Teppiche oder die mit Gold und Silber verzierten Möbel oder die Innenhöfe mit ihren Brunnen, deren plätschernde Wasser allein durch ihr Geräusch schon kühlten. Die breiten Gänge mit ihren goldenen Lampen und den hohen, mit Goldfriesen verzierten Decken interessierten ihn überhaupt nicht. Dieser Palast hielt mit den schönsten in Amadicia mit und vielleicht auch mit den größten, doch er hatte im Augenblick nur den starken Branntwein im Kopf, der in dem Zimmer stand, das er als Arbeitszimmer erwählt hatte.
Er war schon halbwegs über den kostbaren blau- und rot- und goldgemusterten Teppich geschritten, den Blick auf das geschnitzte Schränkchen gerichtet, in dem die silberne Karaffe mit dem extrastarken Branntwein stand, da wurde ihm bewußt, daß er nicht allein war. Eine Frau in einem enganliegenden hellroten Kleid stand an einem der schmalen, hohen Fenster und blickte auf den Garten mit seinen vielen schattenspendenden Bäumen hinab. Ihr honigfarbenes Haar fiel, zu vielen Zöpfen geflochten, auf ihre Schultern herunter. Ein Nichts von Schleier verbarg kaum ihr Gesicht. Jung und hübsch war sie, hatte einen Rosenknospenmund und große, braune Augen. Sie war keine Dienerin — bei dem Kleid, das sie trug.
»Wer seid Ihr?« fragte er ärgerlich. »Wie seid Ihr hier hereingekommen? Geht sofort wieder, oder ich lasse Euch hinauswerfen!« »Drohungen, Bors? Ihr solltet einen Gast willkommen heißen, oder?« Der Name erschütterte ihn bis ins Innerste. Ohne nachzudenken, riß er sein Schwert heraus und hieb nach ihrem Hals. Die Luft verwandelte sich in eine wabbelnde, klebrige Masse und packte ihn, zwang ihn auf die Knie, schloß ihn vom Hals bis an die Füße ein. Sie schloß sich besonders hart um das Handgelenk seines Schwertarms, bis die Knochen beinahe nachgaben. Seine Hand sprang auf und das Schwert polterte zu Boden. Die Macht. Sie band ihn mit Hilfe der Einen Macht. Eine Hexe aus Tar Valon. Und da sie diesen Namen kannte...
»Erinnert Ihr euch«, fragte sie und näherte sich ihm, »an ein Zusammentreffen, auf dem Ba'alzamon persönlich erschien und uns die Gesichter von Matrim Cauthon, Perrin Aybara und Rand al'Thor zeigte?« Sie spie die Namen aus, besonders den letzten, und zeigte ihre Abscheu deutlich. Ihr Blick hätte Löcher in Stahl bohren können. »Alles klar?
Ich weiß, wer Ihr seid, oder? Ihr habt Eure Seele dem Großen Herrn der Dunkelheit verschrieben, Bors.« Ihr unvermitteltes Lachen war wie ein melodisches Klingeln von Glöckchen.
Schweiß rann ihm über das Gesicht. Nicht nur einfach eine der verachteten Hexen von Tar Valon. Eine Schwarze Ajah. Sie gehörte zu den Schwarzen Ajah. Er hatte geglaubt, wenn schon, dann werde ihn ein Myrddraal heimsuchen. Er hatte geglaubt, er habe noch etwas Zeit. Mehr Zeit. Noch nicht. »Ich habe versucht, ihn zu töten«, platzte er heraus. »Rand al'Thor. Ich habe es versucht. Aber ich kann ihn nicht finden. Ich kann nicht! Man hat mir gesagt, meine Familie werde getötet, wenn ich versage, einer nach dem anderen. Man hat mir versprochen, daß ich der letzte sein werde. Ich habe aber noch Cousins. Neffen. Nichten. Ich habe noch eine zweite Schwester! Ihr müßt mir mehr Zeit geben!« Sie stand da und beobachtete ihn mit diesen scharfen braunen Augen, lächelte mit diesem süßen Schmollmund und lauschte, während er alles herausplapperte... Wo Vanora zu finden sei wo ihr Schlafzimmer sich befand, wie sie es liebe, allein in den Wald hinter Carmera auszureiten. Wenn er schrie, würden vielleicht ein paar Wachsoldaten kommen. Vielleicht könnten sie sie töten? Er öffnete den Mund etwas weiter, und diese dicke, zähe und unsichtbare Flüssigkeit schwappte hinein und zwang seine Kiefer auseinander, bis es in seinen Ohren knackte. Mit flatternden Nasenflügeln sog er verzweifelt Luft ein. Er konnte immer noch atmen, aber nicht schreien. Alles, was er herausbrachte, war ein gedämpftes Stöhnen, wie eine Frau, die hinter einer Mauer jammert. Er hätte so gern geschrien.
»Ihr seid sehr amüsant«, sagte die Frau mit dem Honighaar schließlich. »Jaichim. Das ist ein guter Name für einen Hund, glaube ich. Würdet Ihr gern mein Hund sein, Jaichim? Wenn Ihr ein sehr braver Hund seid, erlaube ich Euch eines Tages, Rand al'Thor beim Sterben zuzuschauen. Möchtet Ihr das?« Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was sie gesagt hatte. Wenn er Rand al'Thor sterben sehen würde, dann wollte sie ihn nicht... Sie würde ihn nicht töten, ihm nicht bei lebendigem Leib die Haut abziehen, nichts von alledem tun, was sein Verstand heraufbeschworen hatte. Und er hatte geglaubt, selbst das Abhäuten werde ihn noch Erleichterung sein. Tränen rollten ihm über das Gesicht. Er schluchzte erleichtert und zitterte heftig, so sehr es eben in seinem gefesselten Zustand möglich war. Mit einemmal verschwand das, was ihn fesselte, und er brach zusammen, lag auf Händen und Knien und weinte weiter. Er konnte nicht mehr aufhören.
Die Frau kniete neben ihm nieder, fuhr ihm mit einer Hand ins Haar und zog seinen Kopf hoch. »Werdet Ihr mir jetzt endlich zuhören? Der Tod des Rand al'Thor liegt in der Zukunft und Ihr werdet ihn nur erleben, wenn Ihr ein braver Hund seid. Ihr werdet Eure Weißmäntel zum Panarchenpalast verlagern.« »Wo... woher wißt Ihr das?« Sie schüttelte seinen Kopf recht unsanft. »Ein guter Hund stellt seinem Frauchen keine Fragen. Ich werfe den Stock, und Ihr holt ihn. Wenn ich sage: Tötet, dann tötet Ihr. Ja? Ja.« Ihr Lächeln war nur ein kurzes Aufblitzen der Zähne. »Wird es Schwierigkeiten bei der Besetzung des Palastes geben? Die Legion der Panarchin befindet sich dort. Es sind tausend Mann, und sie schlafen sogar in den Gängen, den Ausstellungsräumen und den Innenhöfen. Ihr habt doch nicht so viele Weißmäntel, oder?« »Sie...« Er mußte innehalten und schlucken. »Sie werden keine Schwierigkeiten machen. Sie werden glauben, die Versammlung habe Amathera gewählt. Es ist die Versammlung, die... « »Langweilt mich nicht, Jaichim. Es ist mir gleich, ob ihr die gesamte Versammlung umbringt, solange Ihr nur den Panarchenpalast besetzt. Wann werdet Ihr losschlagen?« »Es... es dauert noch drei oder vier Tage, bis Andric mir die Sicherheiten übergeben läßt.« »Drei oder vier Tage«, murmelte sie, als sei es nur für die eigenen Ohren bestimmt. »Also gut. Noch ein wenig Verzögerung sollte eigentlich nicht schaden.« Er fragte sich, wie das mit der Verzögerung gemeint sei, aber dann zog sie ihm den Boden unter den Füßen weg. »Ihr werdet den Palast unter Kontrolle halten und die schönen Soldaten der Panarchin wegschicken.« »Das ist unmöglich!« stieß er hervor, und sie riß seinen Kopf so hart nach hinten, daß er die Wahl hatte, ob zuerst sein Genick brechen oder die Kopfhaut weggerissen werde. Er wagte es nicht, sich dagegenzustemmen. Tausend unsichtbare Nadeln stachen auf ihn ein, in sein Gesicht, seine Brust, seinen Rücken, in Arme, Beine, überallhin. Unsichtbar, aber trotzdem äußerst real in ihrer Wirkung.
»Unmöglich, Jaichim?« fragte sie mit sanfter Stimme. »Unmöglich ist ein Wort, das ich nicht gern höre.« Die Nadeln wanden sich tiefer in ihn hinein. Er stöhnte, aber er mußte es ihr einfach erklären. Was sie wollte, war wirklich unmöglich. Er atmete schwer und sprudelte heraus: »Sobald Amathera zur Panarchin gewählt wird, ist sie Befehlshaberin der Legion. Wenn ich versuche, den Palast endgültig zu besetzen, wird sie die Legion gegen mich stellen, und Andric wird sie dabei unterstützen. Es gibt keine Möglichkeit, daß wir uns gegen die gesamte Legion stemmen können und noch dazu gegen die Soldaten, die Andric aus den Ringforts abziehen kann.« Sie betrachtete ihn so lang, daß er wieder ins Schwitzen kam. Er wagte nicht, sich zu rühren und auch nur mit der Wimper zu zucken. Diese tausend schmerzenden kleinen Nadelstiche ließen es nicht zu. »Wir werden uns selbst um die Panarchin kümmern«, sagte sie schließlich. Die Nadeln waren mit einemmal weg, und sie stand auf. Auch Carridin rappelte sich mühsam hoch und bemühte sich, ruhig dazustehen. Vielleicht konnte man sich irgendwie einigen. Die Frau schien ja jetzt gewillt, sich der Vernunft zu beugen. Seine Beine schlotterten noch vor Angst, aber er zwang sich, ruhig zu sprechen. »Selbst, wenn Ihr Amathera beeinflussen könnt... « Sie unterbrach ihn. »Ich sagte Euch doch, Ihr solltet mir keine Fragen stellen, Jaichim. Ein braver Hund gehorcht seinem Frauchen, ja? Ich verspreche Euch, wenn Ihr nicht folgsam seid, werdet Ihr mich noch darum anbetteln, einen Myrddraal zu suchen, der mit Euch spielt. Versteht Ihr mich?« »Ich verstehe«, sagte er bleiern. Sie sah ihn weiter unverwandt an, und einen Augenblick später verstand er wirklich. »Ich werde tun, was Ihr wollt... Herrin.« Ihr kurzes, zustimmendes Lächeln ließ ihn erröten. Sie ging zur Tür und wandte ihm den Rücken zu, als sei er wirklich ein Hund, und ein zahnloser noch dazu. »Wie... Wie heißt Ihr eigentlich?« Diesmal war ihr Lächeln besonders süß und spöttisch. »Ja. Ein Hund sollte den Namen seines Frauchens kennen. Ich heiße Liandrin. Aber dieser Name darf einem Hund niemals über die Lippen kommen. Sollte das doch passieren, werde ich sehr ungehalten sein.« Als sich die Tür hinter ihr schloß, taumelte er hinüber zu einem mit Elfenbein eingelegten Lehnstuhl und ließ sich fallen. Den Branntwein ließ er stehen. Sein Magen rebellierte derart, daß er sich sonst bestimmt übergeben hätte. Welches Interesse konnte sie am Panarchenpalast haben? Vielleicht war das eine äußerst gefährliche Frage in dieser Lage, aber obwohl sie dem gleichen Herrn diente, empfand er nichts als Abscheu vor dieser Hexe aus Tar Valon.
Sie wußte auch nicht soviel, wie sie glaubte. Mit den Sicherheiten des Königs in der Hand konnte er sich Tamrin und das Heer vom Hals halten, wenn er drohte, alles dem Volk zu verraten. Auch Amathera war dann erpreßbar. Doch natürlich konnten sie immer noch versuchen, das Volk gegen ihn aufzuwiegeln. Und der kommandierende Lordhauptmann hatte vielleicht auch einiges gegen die ganze Unternehmung, weil er sie möglicherweise für einen Versuch Carridins hielt, selbst an die Macht zu kommen. Er ließ den Kopf auf seine Hände sinken und stellte sich vor, wie Niall sein Todesurteil unterzeichnete. Seine eigenen Männer würden ihn festnehmen und hängen. Falls er aber für den Tod der Hexe sorgen könnte... Andererseits hatte sie versprochen, ihn vor den Myrddraal zu beschützen. Er hätte am liebsten wieder geweint. Sie war noch nicht einmal hier, und doch saß er so fest wie zuvor in ihrer Falle. Die Stahlklammern hatten sich um seine beiden Beine geschlossen, und um den Hals lag eine dicke Schlinge.
Es mußte einen Ausweg geben, aber wohin er auch blickte, standen überall nur neue Fallen.
Liandrin huschte wie ein Geist durch die Säle und mied ohne Schwierigkeiten Diener ebenso wie Weißmäntel. Als sie aus einer kleinen Hintertür auf eine enge Gasse hinter dem Palast trat, sah der hochgewachsene junge Wächter dort sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Unsicherheit im Blick an. Bei Carridin hatte sie nicht einmal den kleinen Trick anwenden müssen, jemanden für ihre Suggestionen aufnahmebereit zu machen, indem sie nur ein ganz klein wenig von der Macht benützte. Aber bei diesem Narren hier hatte es bewirkt, ihn davon zu überzeugen, daß er sie einlassen mußte. Lächelnd winkte sie ihm, näher zu kommen. Der schlaksige Tor grinste, als erwarte er einen Kuß. Das Grinsen erfror ihm jedoch auf dem Gesicht, als ihr schmaler Dolch direkt durch sein Auge gestoßen wurde.
Sie sprang gelenkig zurück, als er wie ein Sack voll Fleisch, aber ohne Knochen zusammensackte. Jetzt konnte er nichts mehr über sie ausplaudern, nicht mal durch einen Zufall. Und nicht einmal ein einziger Tropfen Blut beschmutzte ihre Hand. Sie wünschte sich Chesmals Geschick, mit Hilfe der Macht zu töten, oder auch nur Riannas geringer einzuschätzendes Talent. Seltsam, daß die Fähigkeit, durch die Macht zu töten, ein Herz einfach anzuhalten oder das Blut in den Venen zum Kochen zu bringen, so eng mit der Fähigkeit zu heilen verbunden war.
Sie selbst konnte kaum mehr heilen als ein paar Kratzer oder Prellungen und hatte auch gar kein Interesse daran.
Ihre Sänfte, rot lackiert und mit Elfenbein und Gold verziert, wartete am Ende der Gasse, und mit ihr warteten ihre Leibwächter, ein Dutzend kräftige Männer mit Gesichtern wie verhungernde Wölfe. Einmal im Gewühl der Straße angekommen, bahnten sie ihr problemlos einen Weg durch die Menge mit Hilfe ihrer Speere, mit denen sie jedem einen kurzen Schlag versetzten, der nicht schnell genug aus dem Weg sprang. Sie waren alle dem Großen Herrn der Dunkelheit verschworen — selbstverständlich —, und obwohl sie nicht wußten, wer sie wirklich war, wußten sie, daß andere Männer verschwunden waren, die ihr nicht so gut gedient hatten.
Das Haus, das sie und die anderen bewohnten, zwei ausgedehnte Stockwerke hoch, mit flachem Dach und weiß getüncht, am Abhang eines Hügels eingangs der Verana, der östlichsten Halbinsel Tanchicos gelegen, gehörte einem Kaufmann, der ebenfalls seine Eide auf den Großen Herrn abgelegt hatte. Liandrin hätte ja lieber ein Schloß gehabt. Vielleicht würde ihr eines Tages der Königspalast auf der Maseta gehören. Wo sie aufgewachsen war, hatte sie immer neidvoll die Schlösser der Lords angesehen, aber warum sollte sie sich jetzt mit so einem begnügen? Doch trotz ihrer Vorliebe war es nur vernünftig, noch eine Weile versteckt auszuharren. Es war wohl unmöglich, daß die Närrinnen in Tar Valon auch nur auf die Idee kommen konnten, daß sie sich in Tarabon aufhielten, aber die Burg suchte gewiß noch nach ihnen, und Siuan Sanches Lieblinge konnten ja überall herumschnüffeln.
Ein Tor führte in einen kleinen Hof, der unten von fensterlosen Mauern umgeben war. Nur im Obergeschoß gab es Fenster. Sie verließ die Wächter und Träger dort und eilte hinein. Der Kaufmann hatte ihnen ein paar Dienerinnen zur Verfügung gestellt, wie er ihnen versicherte, alle im Dienst des Großen Herrn, aber es waren kaum genug für elf Frauen, die sich noch dazu kaum jemals nach draußen begaben. Eine der Dienerinnen, eine auf ihre stämmige Art gutaussehende Frau mit dunklen Zöpfen namens Gyldin, fegte gerade die roten und weißen Bodenplatten in der Eingangshalle, als Liandrin eintrat.
»Wo sind die anderen?« wollte sie wissen.
»Im vorderen Ruheraum.« Gyldin zeigte auf die große Doppeltür zur Rechten, als wisse Liandrin nicht, wo sich dieser Raum befand.
Liandrin verzog den Mund. Die Frau knickste nicht einmal und gebrauchte keine Titel und ähnliches. Sicher, sie wußte nicht, wer Liandrin wirklich war, aber Gyldin wußte auf jeden Fall, daß sie hoch genug gestellt war, um Befehle zu geben, denen man gehorchen mußte, und um den fetten Kaufmann mitsamt seiner Familie unter vielen Verbeugungen und Kratzfüßen wegzuschicken in irgendeinen Schuppen, den sie inzwischen bewohnen konnten. »Man erwartet von dir, daß du hier putzt, oder? Und nicht herumstehst? Also, dann putz gefälligst! Überall liegt hier Staub. Wenn ich heute abend auch nur noch ein Staubkorn entdecke, dumme Kuh, dann werde ich dich prügeln lassen!« Sie biß die Zähne zusammen. Sie hatte die Manieren der Adligen und Reichen mittlerweile schon so lange nachgeahmt, daß sie manchmal ihren Vater vergaß, der Obst vom Karren weg verkauft hatte. Aber in diesem einen Augenblick voller Zorn hatte sie sich vergessen und einen Ausdruck aus der Gassensprache verwendet. Zuviel Streß. Zu viel Warterei. Mit einem letzten harten »Arbeite!« trat sie in den Ruheraum und knallte die Tür zu.
Nicht alle der anderen befanden sich darin, und das regte sie noch mehr auf, aber es waren genug. Eldrith Jhondar mit dem runden Gesicht saß an einem mit Lapislazuli eingelegten Tischchen unter einem Behang an einer ansonsten weiß getünchten Wand und machte sich sorgfältig Notizen aus einem zerfledderten Manuskript. Manchmal wischte sie geistesabwesend die Spitze ihrer Feder am Ärmel ihres dunklen Wollkleides ab. Marillin Gemalphin saß neben einem der schmalen Fenster und blickte mit ihren blauen Augen verträumt hinunter auf den winzigen Brunnen, aus dem in einem kleinen Innenhof das Wasser plätscherte. Sie kraulte gelangweilt eine magere gelbe Katze hinter den Ohren und schien die Haare nicht zu bemerken, die das Tier auf ihrem grünen Seidenkleid hinterließ. Sie und Eldrith waren beide Braune Schwestern, aber falls Marillin jemals herausfand, daß Eldrith der Grund war, warum die streunenden Katzen ständig verschwanden, die sie von der Straße aufgelesen hatte, dann würde es Zunder geben.
Sie waren Braune gewesen. Manchmal war es schwierig, nicht zu vergessen, daß sie keine mehr waren, oder daß sie selbst keine Rote mehr war. So vieles von dem, was sie vorher eindeutig als Mitglieder ihrer alten Ajahs geprägt hatte, war auch jetzt noch zu spüren, obwohl sie sich ganz offen den Schwarzen verschworen hatten. Da waren zum Beispiel die beiden ehemaligen Grünen. Jeaine Caide mit dem Schwanenhals trug auf ihrer kupferfarbenen Haut die dünnsten, am engsten anliegenden Seidenkleider, die sie hatte auftreiben können — heute trug sie ein weißes —, und meinte lachend, sie müsse damit auskommen, denn in Tarabon gebe es nichts, was einen Mann aufmerksam machen könne. Jeaine kam aus Arad Doman, und die Domanifrauen waren berüchtigt für ihre skandalöse Kleidung. Asne Zeramene mit ihren dunklen Augen und der auffallenden Nase wirkte dagegen züchtig in ihrem hellgrauen, einfach geschnittenen und hochgeschlossenen Kleid, aber Liandrin hatte oft genug gehört, wie sie ihren Behütern nachtrauerte, die sie zurückgelassen hatte. Und was Rianna Andomeran betraf... Schwarzes Haar mit einer auffälligen weißen Strähne über dem linken Ohr umrahmte ein Gesicht, dessen kaltes, arrogantes Selbstbewußtsein nur bei einer Weißen so ausgeprägt zu finden war.
»Es ist geschafft«, verkündete Liandrin nun. »Jaichim Carridin wird seine Weißmäntel zum Panarchenpalast verlegen und ihn für uns besetzen. Er weiß natürlich noch nicht, daß er... Gäste haben wird.« Ein paar verzogen das Gesicht. Der Wechsel der Ajahs hatte die Gefühle Männern gegenüber nicht geändert, die Frauen haßten, weil sie die Macht benutzen konnten. »Es gibt da noch eine interessante Tatsache. Er glaubte, ich sei gekommen, um ihn zu töten, da er es nicht geschafft hatte, Rand al'Thor umzubringen.« »Das ergibt aber keinen Sinn«, sagte Asne mit gerunzelter Stirn. »Wir sollen ihn binden, überwachen, aber ihn nicht töten.« Sie lachte plötzlich weich und leise auf und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Falls es möglich ist, ihn zu überwachen, hätte ich nichts dagegen, ihn an mich zu binden. Ich habe nicht viel von ihm gesehen, aber er scheint ein gutaussehender junger Mann zu sein.« Liandrin schnaubte. Sie konnte Männer grundsätzlich nicht leiden.
Rianna schüttelte besorgt den Kopf. »Es ergibt schon einen Sinn, auch wenn mich der nicht gerade beruhigt. Unsere Befehle waren ganz eindeutig, aber genauso klar ist ja wohl, daß Carridin seine eigenen Befehle bekommen hat. Ich kann nur glauben, daß unter den Verlorenen Uneinigkeit herrscht.« »Die Verlorenen«, murmelte Jeaine und faltete die Arme. Unter der dünnen weißen Seide zeichneten sich ihre Brüste so noch deutlicher ab. »Was taugen schon Versprechen, daß wir die Welt regieren werden, wenn der Große Herr zurückkehrt, und zuerst werden wir zwischen den sich streitenden Verlorenen aufgerieben? Glaubt eine von Euch, wir könnten auch nur einem davon entgegentreten?« »Baalsfeuer.« Asne sah sich um und ihre dunklen, schrägstehenden Augen blickten die anderen herausfordernd an. »Baalsfeuer vernichtet sogar einen der Verlorenen. Und wir haben die Mittel, es hervorzubringen.« Einer der Ter'Angreal, die sie aus der Burg mitgenommen hatten, eine etwa einen Schritt lange schwarze Hohlröhre, diente genau diesem Zweck. Keine von ihnen wußte, warum ihnen aufgetragen worden war, sie mitzunehmen, nicht einmal Liandrin selbst. Das war das gleiche wie bei vielen Ter'Angreal, die sie auf Befehl mitgenommen hatten. Der Befehl war nicht begründet worden, aber es gab eben Aufträge, denen man einfach nachkommen mußte. Liandrin bedauerte, daß sie statt dessen keinen einzigen Angreal mitnehmen durften.
Jeaine schnaubte hörbar. »Falls eine von uns das unter Kontrolle halten könnte. Oder habt Ihr vergessen, daß ich bei der einen einzigen Probe fast getötet worden wäre? Und wie es sich durch beide Seiten des Schiffes hindurchbrannte, bevor ich es verhindern konnte? Es hätte uns ganz gewiß genützt, wenn wir vor der Ankunft in Tanchico ertrunken wären.« »Wozu brauchen wir denn schon das Baalsfeuer?« fragte Liandrin. »Wenn wir den Wiedergeborenen Drachen am Gängelband haben, dann sollen die Verlorenen mal sehen, wo sie bleiben.« Plötzlich wurde ihr bewußt, daß noch jemand anders sich im Raum befand: die Frau Gyldin, die gerade einen geschnitzten Stuhl mit niedriger Lehne in einer Ecke des Raums abwischte. »Was tust du hier, Frau?« »Saubermachen.« Die Frau mit den dunklen Zöpfen richtete sich unbeeindruckt auf. »Ihr habt mir aufgetragen, sauberzumachen.« Liandrin hätte beinahe mit der Macht zugeschlagen. Beinahe. Aber Gyldin wußte mit Sicherheit nicht, daß sie Aes Sedai waren. Wieviel hatte die Frau gehört? Nichts Wichtiges wohl. »Du wirst zum Koch gehen«, sagte sie von kalter Wut erfüllt, »und ihm sagen, er solle dich mit dem Riemen prügeln. Hart! Und du wirst nichts zu essen bekommen, bis aller Staub weg ist!« Schon wieder. Wieder hatte dieses Weib es fertiggebracht, daß sie sich wie eine gewöhnliche Frau verhielt.
Marillin stand auf, hob die Katze empor und stupste ihre Nase gegen die des Tieres. Dann reichte sie es Gyldin. »Seht zu, daß er eine Schale Sahne bekommt, wenn der Koch mit Euch fertig ist. Und etwas von diesem guten Lammbraten. Schneidet das Fleisch für ihn in kleine Häppchen; er hat nicht mehr viele Zähne, der arme Kerl.« Gyldin sah sie mit großen Augen an und so fügte sie hinzu: »Gibt es etwas, das Ihr nicht versteht?« »Ich verstehe schon.« Gyldins Mund war eine straffe Linie. Vielleicht verstand sie es nun endlich, daß sie nämlich eine Dienerin war und ihnen nicht gleichgestellt.
Liandrin wartete noch einen Moment, nachdem sie mit der Katze im Arm gegangen war, und dann riß sie plötzlich den einen Türflügel auf. Doch die Eingangshalle war leer. Gyldin lauschte nicht. Sie traute dieser Frau einfach nicht. Allerdings kannte sie überhaupt niemanden, dem sie traute. »Wir müssen uns mit unseren eigenen Problemen beschäftigen«, sagte sie nervös und schloß die Tür. »Eldrith, habt Ihr in diesen Papieren neue Hinweise gefunden?
Eldrith?« Die mollige Frau fuhr zusammen und blickte sich blinzelnd um. Es war das erste Mal, daß sie den Blick von dem zerfledderten, alten Manuskript hob. Sie schien überrascht, daß Liandrin anwesend war. »Was? Hinweise? O nein. Es ist schon schwierig genug, in die Bibliothek des Königs hineinzukommen. Falls ich nur eine Seite entnehme, merken die Bibliothekare es sofort. Aber wenn ich sie beseitige, finde ich überhaupt nichts mehr. Der Ort ist ein Labyrinth. Nein, das hier habe ich bei einem Buchhändler in der Nähe des Königspalastes gefunden. Es ist eine interessante Abhandlung über... « Liandrin griff nach Saidar und verstreute die Blätter über den ganzen Fußboden. »Laß sie verbrennen, außer es ist eine Abhandlung darüber, wie man Rand al'Thor in die Hand bekommt! Was habt Ihr über das erfahren, was wir herausfinden müssen?« Eldrith betrachtete blinzelnd die verstreuten Blätter.
»Also, es befindet sich im Panarchenpalast.« »Das habt Ihr vor zwei Tagen erfahren.« »Und es muß sich um einen Ter'Angreal handeln. Um jemanden zu lenken, der die Macht benützen kann, braucht man selbst die Macht, und da dieser Zweck hochspezialisiert ist, muß man einen Ter'Angreal haben. Wir werden ihn im Ausstellungssaal finden oder vielleicht in der Sammlung der Panarchen.« »Etwas Neues, Eldrith.« Mit Mühe beherrschte Laindrin sich, damit ihre Stimme nicht so schrill klang. »Habt Ihr etwas Neues herausgefunden? Irgend etwas?« Die Frau mit dem runden Gesicht blinkerte unsicher. »Tatsächlich... Nein.« »Es spielt keine Rolle«, sagte Marillin. »In ein paar Tagen, wenn sie endlich ihre kostbare neue Panarchin ins Amt eingeführt haben, können wir mit Suchen anfangen. Und wenn wir jeden Kerzenhalter untersuchen müssen: Wir werden es finden. Wir stehen an der Schwelle, Liandrin. Wir werden Rand al'Thor an die Leine legen und ihm beibringen, Männchen zu machen.« »O ja«, sagte Eldrith mit glückseligem Lächeln. »An die Leine.« Liandrin hoffte, es werde tatsächlich so kommen. Sie hatte genug vom Warten und von diesem Versteckspiel. Sollte die Welt sie doch endlich kennenlernen. Die Menschen sollten die Knie vor ihr beugen, wie es ihr versprochen worden war, als sie statt der alten Eide die neuen wählte.
Egeanin wußte, daß sie nicht allein war, sobald sie durch die Küchentür in ihr kleines Haus trat. Sie ließ ihre Maske und den Jutesack achtlos auf den Tisch fallen und ging hinüber zu dem gemauerten Kamin, neben dem ein Eimer Wasser stand. Als sie sich bückte, um den kupfernen Schöpflöffel zu nehmen, schoß ihre rechte Hand in eine kleine Öffnung hinter dem Eimer, wo sie zwei Backsteine herausgenommen hatte. Sie richtete sich blitzschnell auf und hielt eine kleine Armbrust in der Hand. Sie war wohl nicht mehr als einen Fuß lang und hatte weder viel Durchschlagskraft noch eine große Reichweite, aber sie hatte sie immer an diesem Ort bereits gespannt liegen, und der dunkle Fleck von einer Flüssigkeit an der Spitze des Stahlbolzens würde jeden innerhalb eines Herzschlags töten.
Falls der Mann, der entspannt in der Ecke an die Wand gelehnt dastand, die Armbrust sah, war zumindest kein äußeres Anzeichen dafür sichtbar. Er hatte blondes Haar und blaue Augen, war von mittleren Jahren und sah gut aus, wenn er auch für ihren Geschmack etwas zu schlank war. Ganz klar, daß er sie durch das mit einem Eisengitter versehene Fenster neben ihm beobachtet hatte, wie sie über den kleinen Hof schritt. »Glaubt Ihr, daß ich Euch bedrohe?« fragte er nach einem Augenblick des Wartens.
Sie bemerkte, daß er den vertrauten Dialekt ihrer Heimat sprach, senkte aber die Armbrust nicht. »Wer seid Ihr?« Statt einer Antwort griff er vorsichtig und langsam mit zwei Fingern in seine Gürteltasche und holte etwas Kleines und Flaches heraus. Sie bedeutete ihm, den Gegenstand auf den Tisch zu legen und sich wieder zur Wand zurückzubegeben.
Erst als er wieder in seiner Ecke stand, ging sie zum Tisch vor, um zu nehmen, was er dort hingelegt hatte. Sie wandte den Blick nicht von ihm, und die Armbrust zeigte weiter auf seine Brust. So hob sie den Gegenstand auf und hielt ihn in ihr Sichtfeld. Es war eine kleine Elfenbeinplakette mit Goldrand, auf die ein Rabe und ein Turm eingraviert waren. Die Augen des Raben waren kleine schwarze Saphire. Ein Rabe, das Symbol der Kaiserfamilie, und der Turm der Raben, das Symbol der kaiserlichen Rechtsprechung.
»Normalerweise würde das ausreichen«, sagte sie zu ihm, »doch wir sind weit weg von Seanchan in einem Land, wo das Fremdartige beinahe schon alltäglich ist. Könnt Ihr mir noch weitere Beweise vorzeigen?« Er lächelte amüsiert, zog seinen Mantel aus, band sein Hemd auf und entfernte auch das. Auf jeder Schulter waren der Rabe und der Turm eintätowiert.
Die meisten der Wahrheitssucher benützten sowohl den Raben wie auch den Turm, aber nicht einmal jemand, der es gewagt hatte, einem von ihnen die Plakette zu stehlen, würde sich selbst auf diese Art zeichnen. Wenn man den Raben trug, war man Eigentum der kaiserlichen Familie. Es gab da eine alte Geschichte über einen idiotischen jungen Lord und seine Lady, die sich im betrunkenen Zustand so tätowieren ließen. Das mußte ungefähr dreihundert Jahre her gewesen sein. Als die Kaiserin davon erfuhr, ließ sie die beiden zum Hof der Neun Monde bringen und von da ab nur noch Fußböden schrubben. Dieser Bursche hier konnte vielleicht einer ihrer Nachkommen sein. Das Zeichen des Raben trug man ein ganzes Leben lang.
»Verzeiht mir, Sucher«, sagte sie und legte die Armbrust weg. »Warum seid Ihr hier?« Sie fragte ihn nicht nach seinem Namen — er könnte so oder so falsch sein.
Er überließ ihr noch die Plakette und zog sich in aller Ruhe wieder an. Damit wollte er sie gewiß an ihre unterschiedlichen Positionen erinnern. Sie war wohl Kapitän und er Eigentum, aber er war eben auch einer der Sucher und konnte sie ganz legal auf eigene Verantwortung verhören. Er hätte tatsächlich das Recht gehabt, sie wegzuschicken, um das Seil zu kaufen, mit dem er sie für das Verhör fesseln würde. Und — er konnte erwarten, daß sie tatsächlich mit dem Seil wiederkam. Flucht vor einem Sucher galt als Verbrechen. Sich zu weigern, mit einem der Sucher zusammenzuarbeiten, war ebenfalls ein Verbrechen. Sie hatte noch nie in ihrem ganzen Leben ein Verbrechen geplant, genausowenig wie Verrat am Kristallthron. Doch falls er die falschen Fragen stellte, die falschen Antworten forderte... Die Armbrust lag ja immer noch in ihrer Nähe, und Cantorin war weit weg. Wilde Gedanken. Gefährliche Gedanken.
»Ich diene der Hochlady Suroth und der Corenne für die Kaiserin«, sagte er. »Ich überprüfe die Fortschritte der Agenten, die von der Hochlady in diese Regionen gesandt wurden.« Überprüfen? Was mußte da überprüft werden und noch dazu von einem der Sucher? »Ich habe von den Kurierbooten nichts darüber erfahren.« Sein Lächeln vertiefte sich, und sie errötete. Natürlich würde die Besatzung nicht über einen Sucher sprechen. Doch er beantwortete ihre Frage, während er sich das Hemd zuband.
»Ich darf bei meinen Reisen die Kurierboote nicht benützen — das Risiko für sie wäre zu groß. Ich fahre statt dessen auf den Schiffen eines der hier ansässigen Schmuggler mit. Das ist ein Mann namens Bayle Domon. Seine Schiffe legen überall in Tarabon und Arad Doman und dazwischen an.« »Ich habe von ihm gehört«, sagte sie gelassen. »Alles geht gut?« »Jetzt schon. Ich bin froh, daß wenigstens Ihr Eure Anweisungen richtig verstanden habt. Unter den anderen war das nur bei den Suchern der Fall. Es ist bedauerlich, daß sich nicht mehr Sucher bei den Hailene befinden.« Er zog sich das Wams über und nahm ihr die Plakette aus der Hand. »Es hat einige Verlegenheit ausgelöst, daß Deserteure aus den Reihen der Sul'dam zurückgekehrt sind. Solche Desertationen dürfen nicht allgemein bekannt werden. Es ist viel besser, wenn sie einfach für immer verschwinden.« Sie konnte ihre Gesichtszüge auch nur deshalb beherrschen, weil sie ein wenig Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Bei dem Debakel von Falme waren einige Sul'dam zurückgeblieben, wie man ihr gesagt hatte. Möglicherweise waren also bei der Gelegenheit einige desertiert. Ihren Anweisungen von Hochlady Suroth zufolge, sollte sie jede zurückschicken, die sie aufspüren konnte, ob sie wollte oder nicht, und wenn das nicht möglich war, sollten sie beseitigt werden. Das letzere war ihr nur als eine Notlösung erschienen. Bisher.
»Ich bedaure, daß man in diesen Ländern keinen Kaf kennt«, sagte er und setzte sich an den Tisch. »Selbst in Cantorin haben mittlerweile nur noch die vom Blute Kaf. Wenigstens war es so, als ich abfuhr. Vielleicht sind seither Frachtschiffe aus Seanchan angekommen und haben mehr mitgebracht. Jetzt muß eben Tee ausreichen. Bereitet mir Tee zu.« Sie hätte ihn am liebsten vom Stuhl geworfen. Der Mann war Eigentum. Und ein Sucher. Also kochte sie Tee. Und sie servierte ihm diesen Tee und blieb mit der Kanne neben seinem Stuhl stehen, um ihm nachzuschenken. Sie war überrascht, daß er sie nicht auch noch aufforderte, einen Schleier anzulegen und auf dem Tisch zu tanzen.
Schließlich gestattete er ihr, sich hinzusetzen, nachdem sie eine Feder, Tinte und Papier geholt hatte, und nun mußte sie für ihn Pläne von Tanchico und seinen Verteidigungsanlagen zeichnen, und dazu noch jede andere größere und kleinere Stadt, von der sie auch nur das Geringste wußte. Sie führte die einzelnen Streitkräfte auf, soweit sie darüber informiert war, berichtete über ihre Stärke und wo ihre Loyalität lag und was sie von ihren Absichten hielt.
Als sie fertig war, steckte er alles in seine Tasche, befahl ihr, den Inhalt des Jutesacks mit dem nächsten Kurierboot wegzuschicken und verließ sie wieder mit amüsiertem Lächeln. Er sagte noch, er werde in ein paar Wochen wieder nach ihr sehen.
Sie saß noch lange Zeit da, nachdem er gegangen war. Jede Karte, die sie gezeichnet hatte, jede Liste, war ein genaues Duplikat von einem Bericht, den sie bereits vor einiger Zeit mit dem Kurierboot abgeschickt hatte. Daß er sie gezwungen hatte, das alles noch mal zu machen, konnte ja eine Strafe dafür gewesen sein, daß sie ihn seine Tätowierungen hatte zeigen lassen. Die Gardesoldaten der Totenwache gaben mit ihren Raben an, die Sucher aber kaum jemals. Das konnte der Grund sein. Wenigstens war er nicht hinunter in den Keller gegangen, bevor sie zurückkehrte. Oder doch? Hatte er nur darauf gewartet, daß sie etwas davon erwähnte?
Das schwere Eisenschloß hing anscheinend unberührt an der Tür im Flur gegenüber der Küche. Aber man behauptete auch, daß die Sucher Schlösser ohne jeden Schlüssel öffnen könnten. Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Gürteltasche, schloß auf und ging die schmale Treppe hinunter.
Eine Lampe auf einem Regalbrett beleuchtete den Kellerraum mit dem Natursteinboden. Lediglich vier Backsteinwände umgaben ihn, und an denen hing nichts, was bei einer Flucht behilflich sein konnte. Ein schwacher Latrinengeruch hing in der Luft. Auf der Seite der Lampe gegenüber saß eine Frau in einem schmutzigen Kleid verzagt auf einigen groben Wolldecken. Sie hob den Kopf, als sie Egeanins Schritte hörte. Ihre dunklen Augen waren voller Furcht und blickten sie bettelnd an. Sie war die erste Sul'dam gewesen, die Egeanin aufgespürt hatte. Die erste und die einzige, denn Egeanin hatte die Suche praktisch aufgegeben, seit sie Bethamin gefunden hatte. Und seither war Bethamin in diesem Kellerraum geblieben, während die Kurierboote kamen und gingen.
»Ist jemand hier herunter gekommen?« fragte Egeanin.
»Nein. Ich hörte Schritte oben, aber... Nein.« Bethamin streckte ihr die Hände entgegen. »Bitte, Egeanin. Das ist nur ein großer Fehler. Ihr kennt mich doch seit zehn Jahren. Nehmt mir dieses Ding ab.« Um ihren Hals lag ein silbernes Band. Es war durch eine dicke Silberleine mit einem Armband aus dem gleichen Metall verbunden, das an einem Haken ein paar Fuß über ihrem Kopf hing. Sie hatte das Bethamin eigentlich nur aus der Absicht heraus umhängen wollen, weil sie die Sul'dam ein paar Minuten lang festhalten wollte — als normale Fessel mehr oder weniger. Doch dann hatte sie Egeanin zu Boden gestoßen und versucht, zu entkommen.
»Wenn Ihr es zu mir bringt, dann nehme ich es Euch ab«, sagte Egeanin zornig. Sie war einfach wütend, aber nicht auf Bethamin. »Bringt den Adam her, und Ihr seid ihn los.« Bethamin schauderte und ließ die Hände sinken. »Es ist ein Fehler«, flüsterte sie. »Ein schrecklicher Fehler.« Aber sie machte keine Bewegung in Richtung des Armbands. Nach ihrem ersten Fluchtversuch hatte sie oben auf dem Boden gelegen, sich vor Schmerzen gewunden, und ihr war furchtbar schlecht und schwindlig gewesen — zu Egeanins völliger Verblüffung.
Die Sul'dam beherrschten die Damane, Frauen, die mit der Macht arbeiten konnten, mit Hilfe des A'dam. Doch die Damane war es, die mit der Macht umging, und nicht die Sul'dam! Andererseits konnte ein Adam ausschließlich eine Frau beherrschen, die die Macht benutzte. Keine gewöhnliche Frau und keinen Mann junge Männer mit dieser Fähigkeit wurden sowieso hingerichtet —, sondern nur eine Frau mit der Eigenschaft, die Macht lenken zu können. Eine solche Frau, die das Halsband umhatte, konnte nicht mehr als ein paar Schritte tun, ohne daß das dazugehörige Armband am Arm einer Sul'dam die Verbindung schloß.
Egeanin war sehr müde, nachdem sie die Treppe wieder hinaufgestiegen war und die Tür abgeschlossen hatte. Sie hätte nun selbst gern etwas Tee getrunken, aber das wenige, was der Sucher übriggelassen hatte, war kalt, und sie hatte einfach nicht mehr die Energie, sich neuen zu kochen. Statt dessen setzte sie sich an den Tisch und zog den A'dam aus dem Jutesack. Für sie war es nur ein Gegenstand aus unglaublich feingliedrigem Silber. Sie konnte ihn nicht benutzen und er konnte ihr keinen Schaden zufügen, es sei denn, jemand schlug ihn ihr über den Kopf.
Aber sogar diese Art von Körperkontakt mit einem A'dam, der sie ja gar nicht beeinflussen konnte, jagte ihr einen Schauer den Rücken hinab. Frauen, die mit der Macht umgehen konnten, waren keine Menschen, sondern gefährliche Tiere. Sie waren es gewesen, die einst die Welt zerstörten. Man mußte sie beherrschen, denn sonst würden sie bald jeden anderen zu Eigentum degradieren. So hatte man es ihr beigebracht und so hatte man es in Seanchan tausend Jahre lang gelehrt. Seltsam, aber hier schien sich das nie durchgesetzt zu haben. Nein. Selbst das war ein gefährlicher Gedankengang, und unsinnig obendrein.
So stopfte sie den A'dam in den Sack zurück und spülte das Teegeschirr ab, damit sie auf andere Gedanken kam. Sie liebte die Ordnung und empfand ein wenig Befriedigung dabei, die Küche wieder richtig aufzuräumen. Bevor es ihr bewußt wurde, braute sie sich doch eine Kanne Tee. Sie wollte nicht über Bethamin nachdenken, und auch das war gefährlich und närrisch dazu. Also setzte sie sich bequem an den Tisch und rührte Honig in eine Tasse des schwärzesten Tees, den sie nur fertigbrachte. Immer noch kein Kaf, aber es ging auch so.
Trotz ihres Leugnens, trotz ihrer Bitten, war ihr klar, daß Bethamin die Macht benutzen konnte. Wie war das bei anderen Sul'dam? War das der Grund, warum die Hochlady Suroth so großen Wert darauf legte, daß diejenigen getötet wurden, die in Falme zurückblieben? Das war undenkbar. Es war unmöglich. Bei den jährlichen Überprüfungen in Seanchan fand man jedes Mädchen, das auch nur den Anflug einer solchen Fähigkeit zeigte. Jede von ihnen wurde aus der Liste der Bürger Seanchans gestrichen, wurde aus den Familienstammbäumen gestrichen und wurde fortgebracht, um sie mit dem Halsband der Damane auszustatten. Bei den gleichen Überprüfungen fand man auch die Mädchen mit der Fähigkeit, zu lernen, mit dem Armband der Sul'dam zu arbeiten. Keine Frau konnte diesen Überprüfungen entkommen, und zwar so lange, bis sie in dem Alter war, wo sie in jedem Fall auch auf eigene Faust mit dem Gebrauch der Macht begonnen hätte, sollte der Funke bei ihr vorhanden sein. Wie konnte man auch nur ein einziges Mädchen zur Sul'dam machen, wenn sie in Wirklichkeit eine Damane war? Und doch saß nun Bethamin in ihrem Keller und wurde von einem A'dam festgehalten, als sei er ein Anker um ihren Hals.
Eines war jedenfalls gewiß: Die Möglichkeiten, die sich aus dieser Sache ergaben, brachten tödliche Gefahren mit sich. Hier waren die vom Blute verwickelt und die Sucher. Vielleicht sogar der Kristallthron. Würde es Hochlady Suroth wagen, solche Kenntnisse der Kaiserin vorzuenthalten? In deren Gesellschaft konnte auch ein einfacher Kapitän eines Schiffes bereits schreiend sterben, wenn sie sich nur ein Stirnrunzeln erlaubt hatte. Oder sie könnte aus einer Laune heraus zum Eigentum degradiert werden. Sie mußte mehr erfahren, um auch nur hoffen zu können, dem Tod der Zehntausend Tränen zu entrinnen.
Das bedeutete in diesem frühen Stadium, daß sie Gelb und anderen miesen Spitzeln wie ihm mehr Geld zuschieben mußte, mehr Sul'dam aufspüren und feststellen, ob auch sie von einem Adam beherrscht wurden. Darüber hinaus... Darüber hinaus befuhr sie ein unbekanntes Meer ohne Navigator und Kompaß.
Als sie die Armbrust mit ihrem tödlichen Bolzen berührte, die immer noch auf dem Tisch lag, wurde ihr klar, daß noch etwas sicher war: Sie würde sich nicht von einem der Sucher umbringen lassen. Nicht, um lediglich Hochlady Suroth zu helfen, ein Geheimnis zu wahren. Überhaupt nicht, gleich aus welchem Grund. Der Gedanke kam einem Verrat so nahe, daß sie schauderte, aber er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.