Die goldene Sonne stand noch nicht weit über dem Horizont, als die glänzendschwarz lackierte Kutsche schaukelnd am Ende des Landestegs stehenblieb. Vier zusammenpassende Graue hatten sie gezogen und nun sprang der langhaarige, dunkle Kutscher im schwarzgold gestreiften Livree vom Bock und öffnete die Tür. An dieser Tür war allerdings diesmal kein Wappen angebracht. Tairenische Adelige halfen den Aes Sedai nur gezwungenermaßen, obwohl ihr Lächeln dabei so strahlend wirkte, denn niemand wollte seinen Namen mit der Weißen Burg in Verbindung bringen lassen.
Elayne war dankbar, aussteigen zu können. Sie wartete nicht erst auf Nynaeve, die ihren leichten blauen Leinenumhang zurechtzupfte. Die Straßen der Maule waren wegen der vielen Karren und Planwagen von tiefen Furchen durchzogen, und die Lederfederung der Kutsche war nicht gerade weich. Die Brise, die über den Erinin wehte, schien ihnen kühl nach der Hitze im Stein. Sie hatte sich die Anstrengung der Fahrt nicht anmerken lassen wollen, aber sobald sie draußen stand, rieb sie sich doch den Rücken. Wenigstens war es durch den Regen letzte Nacht nicht so staubig, dachte sie. Sie vermutete, daß man ihnen absichtlich eine Kutsche ohne Vorhänge zur Verfügung gestellt hatte.
Nördlich und südlich von ihr erstreckten sich weitere Landestege wie breite steinerne Finger in den Fluß hinaus. Es roch nach Teer und Tauen, nach Fisch und Gewürzen und Olivenöl, nach namenlosen Dingen, die im trüben Brackwasser zwischen den Stegen verrotteten, und nach eigenartigen, gelbgrünen Früchten, die in riesigen Bündeln vor einem Lagerhaus in ihrem Rücken aufgestapelt lagen. Trotz der frühen Stunde eilten Männer mit Lederwämsern auf den nackten Schultern geschäftig hin und her, schleppten auf gekrümmtem Buckel große Bündel einher oder schoben Handwagen mit aufgestapelten Fässern oder Kisten herum. Keiner warf ihr mehr als einen kurzen, mürrischen Blick zu. Die dunklen Augen wandten sich schnell ab, die Stirn wurde unwillig zum Gruß berührt, und die meisten hoben dabei noch nicht einmal den Kopf. Es stimmte sie traurig, das zu sehen.
Diese Adeligen aus Tear behandelten ihr Volk schlimm. ›Mißhandeln‹ war ein besserer Ausdruck dafür. In Andor wären ihr ein freundliches Lächeln und respektvolle Grüße gewiß gewesen, freiwillig dargebracht von stolz aufgerichteten Menschen, die ihren eigenen Wert genauso kannten wie den ihren. Fast hätte sie es bereut, jemals von zu Hause fortgegangen zu sein. Sie war dazu erzogen worden, eines Tages ein stolzes Volk zu führen und zu regieren, und sie wünschte sich, diesen Menschen hier etwas über Würde erzählen zu dürfen. Aber das war Rands Aufgabe und nicht ihre. Und wenn er das nicht gut macht, werde ich ihm einiges erzählen. Eine ganze Menge sogar! Zumindest hatte er damit angefangen und ihre Ratschläge beherzigt. Und sie mußte zugeben, daß er wußte, wie man Menschen gewann. Es würde interessant sein, bei ihrer Rückkehr festzustellen, was er zuwege gebracht hatte.
Wenn die Rückkehr überhaupt noch einen Sinn hat.
Von ihrem Standort aus konnte sie ein Dutzend Schiffe klar ausmachen, und jenseits von ihnen lagen weitere. Doch eines davon, am Ende des Piers vertäut, auf dem sie stand, den schmalen Bug flußaufwärts gerichtet, stach ihr besonders ins Auge. Der Klipper der Meerleute war bestimmt hundert Schritt lang und damit um die Hälfte größer als das ihr nächstgelegene Schiff. Drei hoch aufragende Maste befanden sich mittschiffs und dazu am Heck noch ein kleinerer auf dem erhöhten Achterdeck. Sie war schon zuvor an Bord von Schiffen gewesen, doch nie auf einem so großen, das auch noch das offene Meer befuhr. Allein schon der Name der Eigentümer sprach von fernen Ländern und fremden Häfen: die Atha'an Miere. Das Meervolk. In Geschichten, die exotisch klingen sollten, kam immer das Meervolk vor, außer wenn es um die Aiel ging.
Nynaeve kletterte hinter ihr aus der Kutsche, band sich den grünen Reiseumhang am Hals zu und fluchte leise über den Kutscher, so daß auch er es verstehen konnte. »Wie eine Henne im Sturm hin und her geschleudert! Wie ein staubiger Läufer durchgeklopft! Wie hat er es nur geschafft, zwischen dem Stein und dem Hafen jede Furche und jedes Schlagloch aufzuspüren? Dazu gehört wirklich Geschick. Wie schade, daß ihm das bei der Behandlung von Pferden dafür abgeht.« Der Kutscher bemühte sich mit saurem Gesichtsausdruck, ihr herunterzuhelfen, doch sie nahm seine Hilfe nicht an.
Seufzend verdoppelte Elayne die Menge der Silbermünzen, die sie gerade aus ihrer Börse nahm. »Danke, daß Ihr uns sicher und schnell hergebracht habt.« Sie lächelte, als sie ihm die Münzen in die Hand drückte. »Wir hatten Euch ja schließlich gebeten, schnell zu fahren, und Ihr seid unserem Wunsch nachgekommen. Für die schlechten Straßen könnt Ihr nichts, und Ihr habt unter diesen Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet.« Ohne die Münzen anzublicken, verbeugte sich der Bursche tief vor ihr, warf ihr einen dankbaren Blick zu und murmelte: »Ich danke Euch, Lady.« Das galt ihren Worten bestimmt genauso wie dem Geld. Sie hatte gelernt, daß ein paar freundliche Worte und ein wenig Lob gewöhnlich mindestens ebensoviel bewirkten wie Silber, manchmal sogar noch mehr. Obwohl das Silber natürlich immer gut ankam.
»Das Licht schenke Euch eine sichere Reise, Lady«, fügte er hinzu. Das kaum sichtbare Zucken seines Blickes zu Nynaeve hinüber sagte ihr, daß sein Wunsch nur ihr allein gelte. Nynaeve mußte noch lernen, tolerant zu handeln und auch an andere zu denken; das hatte sie bitter nötig.
Als der Kutscher ihre Bündel und anderen Habseligkeiten ausgeladen hatte, ließ er sein Gespann drehen und fuhr davon. Nynaeve sagte mürrisch: »Ich denke, ich hätte mich nicht so über den Mann beklagen sollen, solange er in Hörweite war. Diese Straßen wären selbst für einen Vogel zu holprig. Eine Kutsche mußte da wohl schlecht aussehen. Aber nach all dieser Schaukelei den ganzen Weg über hatte ich das Gefühl, eine Woche lang geritten zu sein.« »Es ist ja nicht seine Schuld, daß du nun einen wunden... Rücken hast«, sagte Elayne lächelnd, um ihren Worten die Spitze zu nehmen, während sie ihre Sachen aufhob.
Nynaeve lachte trocken auf. »Ich habe es nun mal gesagt, oder? Du wirst ja hoffentlich nicht von mir erwarten, daß ich ihm hinterherrenne und mich entschuldige. Die Handvoll Silber, die du ihm verehrt hast, sollte wohl auch die schlimmsten Wunden heilen. Du mußt wirklich lernen, mit Geld vorsichtiger umzugehen, Elayne. Wir haben ja nicht den Kronschatz von Andor zur Verfügung. Von dem, was du jedem gibst, der die Arbeit tut, für die er sowieso bezahlt wird, könnte eine Familie bequem einen Monat lang leben.« Elayne warf ihr einen entrüsteten Blick zu. Nynaeve schien immer zu glauben, sie müßten ärmer als Dienerinnen leben, anstatt andersherum, obwohl es noch keinen unmittelbaren Grund dafür gab. Doch die Ältere bemerkte offensichtlich diesen Blick gar nicht, der noch jedesmal die Palastwache in Panik versetzt hatte. Statt dessen wuchtete Nynaeve ihre Bündel und Kleiderbeutel hoch und wandte sich dem Landesteg zu. »Wenigstens wird dieses Schiff ruhiger fahren als die Kutsche. Ich hoffe es jedenfalls. Sollen wir an Bord gehen?« Als sie sich den Weg zum Pier durch das Gewirr von Hafenarbeitern und gestapelten Fässern und schwerbeladenen Karren suchten, sagte Elayne: »Nynaeve, die Meerleute können etwas schwierig sein, solange sie einen nicht kennen, hat man mir beigebracht. Glaubst du, du könntest etwas...?« »Etwas?« »Taktvoller sein, Nynaeve.« Elayne kam beinahe ins Stolpern, als vor ihr jemand auf den Boden spuckte. Sie konnte nicht sagen, welcher dieser Burschen es gewesen war. Als sie sich umblickte, hatten alle den Blick gesenkt und waren außerordentlich beschäftigt. Ob sie nun vom Adel mißhandelt wurden oder nicht, sie hätte dem Sünder gern ein paar ruhige, aber scharfe Worte gesagt, die er nicht so schnell vergessen würde. Doch sie entdeckte ihn nicht. »Du könntest dich bemühen, künftig ein wenig taktvoller vorzugehen.« »Selbstverständlich.« Nynaeve ging die seitlich mit Tauen bespannte Planke des Klippers hinauf. »Solange sie mich nicht derart herumschaukeln.« Elaynes erster Eindruck an Deck war der, daß der Klipper für seine Länge reichlich schmal erschien. Sie wußte natürlich nicht sehr viel über Schiffe, aber das hier kam ihr wie ein riesiger Holzsplitter vor. O Licht, dieses Ding wird noch mehr schwanken als die Kutsche, so groß es auch ist. Der zweite Gedanke danach galt der Besatzung. Sie hatte viel von den Atha'an Miere gehört, aber noch nie welche kennengelernt. Und auch in den Erzählungen wurde eigentlich nicht viel über sie ausgesagt. Ein geheimnisvolles Volk, beinahe wie die Aiel, das sich anderen gegenüber ziemlich zurückhielt. Höchstens die Länder jenseits der Wüste waren noch etwas geheimnisvoller, und alles, was man über diese Gegenden wußte, stammte von den Meerleuten, die von dort Elfenbein und Seide herüberbrachten.
Diese Atha'an Miere waren dunkelhäutige, barfüßige Männer mit nacktem Oberkörper, alle glattrasiert, mit glattem schwarzen Haar und tätowierten Händen, die sich mit der Sicherheit jener bewegten, die ihre Aufgaben gut genug kennen, um sie automatisch ausführen zu können, sich aber trotzdem darauf konzentrierten. In ihren Bewegungen lag ein Sich-Wiegen, eine Eleganz, als fühlten sie die Bewegung der See noch immer, obwohl sie im Hafen lagen. Die meisten trugen goldene oder silberne Ketten um den Hals und Ringe in den Ohren, manchmal sogar zwei oder drei in einem, und ein paar davon wiesen glänzende Halbedelsteine auf.
Die Besatzung bestand zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen, und auch die holten Taue ein oder führten andere Männerarbeiten aus, trugen die gleichen Tätowierungen auf den Händen und hatten die gleichen Pumphosen aus dunklem Ölzeug an, die an den Fußgelenken offenstanden und oben von bunten, schmalen Schärpen gehalten wurden. Aber die Frauen trugen dazu lose hängende bunte Blusen in leuchtendem Rot oder Blau oder Grün, und man sah bei ihnen mindestens ebenso viele Halsketten und Ohrringe wie bei den Männern. Elayne bemerkte leicht erschrocken, daß zwei oder drei Frauen sogar Ringe in ihrem Nasenflügel stecken hatten.
Die Grazie in den Bewegungen der Frauen übertraf sogar die der meisten Männer und rief Elayne einige Geschichten in Erinnerung, die sie als Kind aufgeschnappt hatte, als sie eigentlich nicht hatte lauschen dürfen. Die Frauen der Atha'an Miere waren darin der Inbegriff verlockender Schönheit und unwiderstehlicher Reize gewesen, denen sich kein Mann entziehen konnte. Die Frauen auf diesem Schiff waren in Wirklichkeit auch nicht schöner als andere, aber wenn sie ihre Bewegungen beobachtete, verstand sie diese alten Erzählungen.
Zwei der Frauen, die auf dem erhöhten Achterdeck standen, gehörten offensichtlich nicht zur normalen Besatzung. Auch sie waren barfuß, und ihre Kleidung entsprach dem üblichen Schnitt auf diesem Schiff, doch die eine war ganz in kunstvoll umsäumte blaue Seide gekleidet und die andere in ebensolche grüne. Die ältere der beiden, die in Grün, trug in jedem Ohrläppchen vier kleine, in der Morgensonne glitzernden Goldringe und einen weiteren im linken Nasenflügel. Von dem winzigen Nasenring zog sich ein ganz feines Kettchen zu einem Ohrring hinüber, und daran baumelte eine Reihe kleiner Goldmedaillons. An einer ihrer Halsketten hing ein kleiner goldener Behälter, kunstvoll verarbeitet wie zu Goldspitze, den sie von Zeit zu Zeit leicht anhob, um daran zu riechen. Die andere, etwas größere Frau trug insgesamt nur sechs Ohrringe und auch weniger Medaillons; aber der durchbrochene Goldbehälter, an dem auch sie in Abständen roch, war mindestens genauso fein gearbeitet. Das war nun wirklich exotisch. Elayne verzog allerdings das Gesicht, wenn sie an diese Nasenringe dachte. Und dann auch noch die Kette!
Etwas Eigenartiges am Heck des Schiffes fiel ihr auf, aber zunächst war ihr selbst nicht klar, was es sein könne. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es gab keinen Ruderbaum. Anstelle des üblichen Steuerruders stand hinter den beiden Frauen eine Art hölzernes Speichenrad, das festgebunden war, damit es sich nicht drehen konnte. Aber kein Ruderbaum! Wie steuern sie das Ding? Selbst der kleinste Flußkahn, den sie gesehen hatte, besaß noch ein Steuerruder, so wie auch jedes der anderen Schiffe, die hier im Hafen vertäut lagen. Immer geheimnisvoller wurde ihr dieses Meervolk.
»Denk daran, was Moiraine dir gesagt hat«, mahnte sie Nynaeve zur Vorsicht, als sie zum Achterdeck gingen. Es war nicht viel gewesen; selbst die Aes Sedai hatte nur wenig von den Atha'an Miere gewußt. Moiraine hatte ihnen gesagt, wie man die höhergestellten Mitglieder des Meervolks ansprechen solle und was bei ihnen als gute Manieren galt. »Und denk auch daran, taktvoll zu sein«, flüsterte sie energisch.
»Ich werde schon daran denken«, erwiderte Nynaeve in scharfem Ton. »Ich kann durchaus taktvoll sein.« Elayne hoffte inbrünstig, daß dem so sei.
Die beiden Meervolk-Frauen warteten am oberen Ende der Treppe auf sie. Elayne erinnerte sich daran, daß man die Treppe an Bord eines Schiffes eigentlich Leiter nannte. Sie verstand nicht, warum man bei einem Schiff andere Bezeichnungen für so alltägliche Dinge verwandte. Ein Fußboden war ein Fußboden, ob in einer Scheune, einer Schenke oder einem Palast. Warum nicht auch auf einem Schiff? Eine Parfumwolke umgab die beiden. Der Duft erinnerte leicht an Moschus und kam aus den kleinen Goldbehältern. Die Tätowierungen auf ihren Händen stellten Sterne und Seevögel dar, umgeben von stilisierten Meereswogen.
Nynaeve senkte kurz den Kopf. »Ich heiße Nynaeve al'Meara und bin eine Aes Sedai der Grünen Ajah. Ich suche die Segelherrin dieses Schiffes und Passage, so es das Licht will. Das ist meine Begleiterin und Freundin Elayne Trakand, ebenfalls eine Aes Sedai der Grünen Ajah. Das Licht leuchte Euch und Eurem Schiff und sende Euch günstigen Wind für eine schnelle Fahrt.« Fast genauso hatte es ihnen Moiraine beigebracht. Nicht das von den Aes Sedai der Grünen Ajah allerdings — darüber hatte sich Moiraine lediglich amüsiert.
Die ältere Frau, die schon graue Strähnen im schwarzen Haar und kleine Fältchen um ihre großen, braunen Augen hatte, senkte genauso formell den Kopf. Trotzdem schien sie sie von Kopf bis Fuß sehr genau zu mustern und betrachtete besonders lang die Ringe mit der Großen Schlange, die beide an der rechten Hand trugen. »Ich bin Coine din Jubai Wilde Winde, Segelherrin des Wogentänzers. Das hier ist Jorin din Jubai Weiße Schwinge, meine Blutschwester und die Windsucherin des Wogentänzers. Es könnten für Euch noch Passagen frei sein, wenn es dem Licht gefällt. Das Licht leuchte Euch und bringe Euch sicher ans Ende Eurer Reise.« Es war überraschend, daß die beiden Schwestern sein sollten. Elayne sah wohl gewisse Ähnlichkeiten, doch Jorin wirkte viel jünger. Sie wünschte sich, die Windsucherin sei diejenige, mit der sie vor allem zu tun haben würden. Beide Frauen schienen wohl gleichermaßen zurückhaltend, aber etwas an der Windsucherin erinnerte sie an Aviendha. Das war natürlich unsinnig. Diese Frauen waren nicht größer als sie, ihr Teint entsprach ganz und gar nicht dem einer Aielfrau, und die einzige Waffe, die sie bei diesen Frauen hier entdecken konnte, war jeweils ein festes Messer, das sie in die Schärpen gesteckt hatten. Sie sahen eher nach Handwerkszeug aus als nach Waffen, trotz der Schnitzereien und Einlegearbeiten aus Golddraht am jeweiligen Griff. Dennoch konnte sich Elayne nicht helfen: Sie sah irgendeine Ähnlichkeit zwischen Jorin und Aviendha!
»Laßt uns also darüber sprechen, Segelherrin, wenn es Euch recht ist«, sagte Nynaeve ganz im Sinne Moiraines, »über das Segeln und die Häfen und das Geschenk einer Passage.« Das Meervolk ließ sich die Überfahrt nicht bezahlen, hatte Moiraine behauptet. Es sei ein Geschenk, und nur ganz zufällig wurde es gegen ein Geschenk gleichen Wertes eingetauscht.
Dann sah Coine hinüber, über das Achterdeck hinweg zum Stein und dem weißen Banner, das darüber flatterte. »Wir sprechen in meiner Kabine weiter, Aes Sedai, wenn es Euch recht ist.« Sie deutete auf eine offene Luke hinter dem eigenartigen Rad. »Seid willkommen auf meinem Schiff, und die Gnade des Lichts leuchte Euch, bis Ihr sein Deck wieder verlaßt.« Eine weitere enge Leiter — Treppenhaus wäre die richtige Bezeichnung gewesen — führte hinab in ein sauberes und gemütliches Zimmer, das geräumiger und höher war, als Elayne von ihrer Erfahrung mit kleineren Schiffen her gewohnt war. Fenster zogen sich über die ganze Breite des Raums, und an den Wänden hingen aus Ringen gefertigte Lampen. Fast alles schien man in den Raum eingebaut zu haben, bis auf ein paar bemalte Truhen verschiedener Größe. Das Bett war breit und niedrig. Es befand sich direkt unter der Reihe der Heckfenster. Ein schmaler Tisch, von Lehnstühlen umgeben, stand in der Mitte.
Das übliche Durcheinander fehlte hier fast vollständig. Auf dem Tisch lagen ein paar zusammengerollte Karten, auf den Regalbrettern mit ihren hochgezogenen Umrandungen, um alle Gegenstände bei Seegang zu sichern, standen einige Elfenbeinschnitzereien, die seltsame Tiere darstellten, und ein halbes Dutzend Schwerter unterschiedlicher Formen, wie sie Elayne zum Teil noch nie gesehen hatte, hing zwischen Haken eingekeilt mit bloßen Klingen an den Wänden. Von einem Balken über dem Bett hing ein eigenartig gehämmerter, quadratischer Gong herunter. Direkt vor den Heckfenstern, als habe man ihm einen Ehrenplatz geben wollen, steckte auf einem grob geschnitzten hölzernen Kopf ein Helm, geformt wie der Kopf eines ungeheuren Insekts, rot und grün bemalt, mit einer schmalen weißen Feder an jeder Seite, von denen eine allerdings geknickt war. Den Helm erkannte Elayne sehr wohl. »Seanchan«, stieß sie, ohne nachzudenken, hervor. Nynaeve warf ihr einen irritierten Blick zu, und den hatte sie auch verdient. Sie hatten sich darauf geeinigt, daß Nynaeve als die Ältere die Führung übernehmen und die Verhandlungen führen sollte. Das schien ihnen glaubwürdiger.
Coine und Jorin sahen sich ausdruckslos an. »Ihr wißt von ihnen?« fragte die Segelherrin. »Natürlich. Von Aes Sedai muß man wohl erwarten, Bescheid zu wissen. Soweit im Osten wie hier hören wir viele Gerüchte, und die wahrscheinlichsten sind wohl noch immer weniger als zur Hälfte wahr.« Elayne wußte, daß es besser war, jetzt den Mund zu halten, doch die Neugier kitzelte ihre Zunge: »Wie seid Ihr an diesen Helm gekommen? Falls ich das fragen darf?« »Der Wogentänzer hat letztes Jahr ein Schiff der Seanchan angetroffen«, antwortete Coine. »Sie wünschten, mein Schiff einzunehmen, doch ich wollte es nicht aufgeben.« Sie zuckte leicht die Achseln. »Ich habe den Helm behalten, damit er mich immer daran erinnert, und die See hat die Seanchan behalten. Das Licht sei allen gnädig, die segeln. Ich werde mich nie mehr einem Schiff mit gerippten Segeln nähern.« »Ihr hattet Glück«, sagte Nynaeve knapp. »Die Seanchan haben Frauen gefangen, die die Macht gebrauchen können, und sie verwenden sie als Waffen. Falls sie eine davon auf diesem Schiff gehabt hätten, hättet Ihr bereut, es jemals gesichtet zu haben.« Elayne schnitt ihr eine Grimasse, doch es war zu spät. Sie wußte nicht, ob die Meervolk-Frauen an Nynaeves Tonfall Anstoß genommen hatten. Das Paar behielt den gleichen neutralen Gesichtsausdruck bei, aber Elayne war mittlerweile auch klar geworden, daß sie Fremden gegenüber wohl kaum jemals Gefühlsregungen zeigten.
»Laßt uns über Eure Passage sprechen«, sagte Coine. »Falls es dem Licht gefällt, legen wir dort an, wo Ihr hinzureisen wünscht. Alles ist möglich unter dem Licht. Setzen wir uns doch.« Man konnte die Stühle am Tisch nicht zurückschieben, denn sie waren am Boden befestigt. Statt dessen klappte man die Armlehnen wie kleine Torflügel heraus, und wieder zu, wenn man sich gesetzt hatte. Dies schien Elaynes düstere Ahnungen in bezug auf Schwanken und Rollen eines Schiffes zu bestätigen. Sie hatte natürlich kaum Schwierigkeiten damit, aber Nynaeves Magen vertrug die Schaukelei auf einem Schiff nun einmal nicht. Auf dem Meer mußte das wohl noch schlimmer sein als auf einem Fluß, und je schlechter es Nynaeves Magen ging, desto schlimmer würde ihre Laune werden. Nynaeve seekrank und noch dazu übler Laune: viel schlimmer konnte es Elaynes Erfahrung nach nicht mehr kommen.
Sie und Nynaeve setzten sich an die eine Längsseite des Tisches, während die Segelherrin und die Windsucherin an den beiden Tischenden saßen. Das kam ihr zuerst seltsam vor, bis ihr auffiel, daß sie auf diese Art gezwungen waren, immer diejenige anzublicken, die gerade sprach, während die andere sie ungesehen beobachten konnte. Machen sie das immer so mit Passagieren, oder nur mit uns, weil wir Aes Sedai sind? Oder weil sie uns für solche halten. Es war jedenfalls eine Warnung, denn nicht alles war bei diesem Volk so einfach, wie es äußerlich schien. Sie hoffte, Nynaeve habe das auch bemerkt.
Elayne hatte nicht gesehen, daß irgendein Befehl gegeben worden war, doch nun tauchte eine schlanke junge Frau mit nur einem Ring in jedem Ohr auf, die ein Tablett trug. Darauf standen eine eckige, weiße Teekanne mit Messinggriff und vier große, henkellose Tassen, allerdings nicht, wie man hätte erwarten können, aus dem feinen Porzellan des Meervolks, sondern einfache dicke Keramiktassen. Die zerbrachen bei schwerem Seegang wohl nicht so leicht, dachte sie düster. Aber vor allem die jung Frau erregte ihre Aufmerksamkeit. Beinahe hätte sie nach Luft geschnappt: Sie war nämlich genau wie die Männer oben bis zur Hüfte nackt. Elayne verbarg ihre Entrüstung recht gut, aber Nynaeve schnaubte laut.
Die Segelherrin wartete ab, bis das Mädchen ihnen fast schwarzen Tee eingegossen hatte, und sagte dann: »Sind wir abgesegelt, Dorele, als ich gerade nicht hinsah? Ist kein Land mehr in Sicht?« Die schlanke Frau errötete stark. »Es ist Land in Sicht, Segelherrin.« Es war ein klägliches Flüstern.
Coine nickte. »Bis kein Land mehr in Sicht ist und einen vollen Tag danach wirst du die Kielräume säubern, wo Kleidung ein Hindernis beim Putzen wäre. Du kannst gehen.« »Ja, Segelherrin«, sagte das Mädchen noch niedergeschlagener. Sie wandte sich zum Gehen und löste hängenden Kopfes die Schleife an ihrem Gürtel, während sie durch die Tür am anderen Ende des Raums verschwand.
»Teilt den Tee mit uns, wenn es Euch recht ist«, sagte die Segelherrin, »und sprecht mit uns in Frieden.« Sie nippte an ihrem Tee und fuhr fort, während Elayne und Nynaeve ihren probierten. »Ich hoffe, Ihr vergebt uns diesen Ärger, Aes Sedai. Dies ist Doreles erste Seereise außerhalb der Inseln. Die Jungen vergessen oft die Sitten der Landgebundenen. Ich werde sie noch weiter bestrafen, falls sie Euch beleidigt hat.« »Das ist nicht nötig«, sagte Elayne schnell und benützte die Gelegenheit, ihre Tasse abzustellen. Der Tee war sogar noch stärker, als er aussah, dazu noch sehr heiß, ungesüßt und ziemlich bitter. »Wir waren wirklich nicht beleidigt. Die Sitten sind unterschiedlich bei verschiedenen Völkern.« Das Licht gebe, daß wir nicht viele weitere kennenlernen, die sich so von unseren unterscheiden. Licht, was ist, wenn sie überhaupt nichts mehr tragen, sobald sie auf See sind? Licht! »Nur ein Narr ist beleidigt, wenn er fremde Sitten kennenlernt.« Nynaeve warf ihr einen gelassenen Blick zu, nichtssagend genug für eine Aes Sedai, die sie zu sein vorgaben, und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Tasse. Alles, was sie sagte, war: »Denkt nicht weiter daran.« Man konnte nicht sagen, ob sie damit Elayne meinte oder die Meervolk-Frauen.
»Dann werden wir auf Eure Passage zu sprechen kommen, wenn es Euch recht ist«, sagte Coine. »Zu welchem Hafen wünscht Ihr zu segeln?« »Tanchico«, sagte Nynaeve ein wenig zu scharf. »Vielleicht wollt Ihr gar nicht dorthin segeln, aber wir müssen schnell dorthin, so schnell, wie die Strecke nur einer Eurer Klipper zurücklegen kann, und das, wenn möglich ohne Zwischenaufenthalt. Ich biete Euch dieses kleine Geschenk für Eure Mühe.« Sie nahm ein Dokument aus ihrer Gürteltasche, entfaltete es und schob es über den Tisch der Segelherrin hin.
Moiraine hatte es ihnen gegeben und noch ein weiteres, ähnliches — jeweils eine Art Wechsel. Jeder erlaubte dem Überbringer, dreitausend Goldkronen von den Bänkern und Geldwechslern in vielen Städten zu verlangen, obwohl es ungewiß war, ob diese Männer und Frauen überhaupt wußten, daß es sich um Geld der Weißen Burg handelte. Elayne hatte große Augen gemacht, als sie den Betrag las, und Nynaeve hatte den Mund gar nicht mehr zubekommen. Aber Moiraine meinte, es sei notwendig, damit die Segelherrin überzeugt werden konnte, eventuell vorgesehene Häfen zu meiden und statt dessen gleich nach Tanchico zu segeln.
Coine berührte den Wechsel mit einem Finger und las sie dann. »Eine enorme Summe für das Geschenk der Passage«, murmelte sie. »Selbst wenn man bedenkt, daß Ihr mich bittet, meinen Reiseablauf zu ändern. Ich bin noch überraschter als zuvor. Ihr wißt, wir befördern selten Aes Sedai auf unseren Schiffen. Sehr selten. Von allen, die uns um eine Passage bitten, können wir dies nur den Aes Sedai verweigern und tun das auch fast immer, seit dem ersten Tag der ersten Reise. Die Aes Sedai wissen das und kommen so gut wie nie zu uns.« Sie blickte in ihre Teetasse, aber Elayne schaute schnell in die andere Richtung und sah, daß die Windsucherin ihre auf dem Tisch liegenden Hände musterte. Nein, ihre Ringe!
Moiraine hatte davon nichts erwähnt. Sie hatte ihnen nur gesagt, dieser Klipper sei das schnellste erreichbare Schiff und sie sollten es benützen. Dann wieder hatte sie ihnen diese Wechsel gegeben, mit denen man vermutlich eine ganze Flotte von Schiffen hätte chartern können. Oder wenigstens ein paar. Wußte sie, daß soviel nötig ist, um sie zu bestechen, damit sie uns mitnehmen? Aber warum hatte sie solche Dinge vor ihnen geheimgehalten? Eine dumme Frage; Moiraine tat immer geheimnisvoll. Doch warum ihre Zeit so verschwenden?
»Soll das heißen, daß Ihr uns keine Passage gewähren wollt?« Nynaeve hatte ihr Taktgefühl wieder aufgegeben und den direkten Weg gewählt. »Wenn Ihr keine Aes Sedai befördert, warum habt Ihr uns dann überhaupt hierher mitgenommen? Warum es nicht gleich oben sagen und uns gehen lassen?« Die Segelherrin klappte eine Armlehne ihres Stuhls heraus, erhob sich und spähte durch eines der Heckfenster auf den Stein hinaus. Ihre Ohrringe und Medaillons, die ihr über die linke Wange hingen, glitzerten im Schein der aufgehenden Sonne. »Er benützt die Eine Macht, wie ich gehört habe, und er hält das Unberührbare Schwert. Die Aiel sind auf seinen Ruf hin über die Drachenmauer gekommen. Ich habe ein paar auf der Straße gesehen, und man sagt, sie füllten den ganzen Stein. Der Stein von Tear ist gefallen, und Krieg überzieht die Staaten auf dem Festland. Diejenigen, die einst herrschten, sind zurückgekehrt und zuerst einmal zurückgeschlagen worden. Die Prophezeiungen werden erfüllt.« Nynaeve blickte ob dieses Themenwechsels genauso verwundert drein wie Elayne. »Die Prophezeiungen des Drachen?« fragte Elayne nach einem Augenblick des Zögerns. »Ja, sie werden erfüllt. Er ist der Wiedergeborene Drache, Segelherrin.« Er ist ein sturer Mann, der seine Gefühle so gut verbirgt, daß ich sie nicht finden kann. So ist das!
Coine wandte sich um. »Nicht die Prophezeiungen des Drachen, Aes Sedai. Die Jendai-Prophezeiung, die Prophezeiung des Coramoor. Nicht diejenige, auf die Ihr wartet und die Ihr fürchtet, sondern diejenige, auf deren Erfüllung wir begierig warten, den Anbruch eines neuen Zeitalters. Während der Zerstörung der Welt flohen unsere Vorfahren und suchten die Sicherheit auf dem Meer, während sich das Land aufbäumte und wie im Sturm wogte. Man erzählt, daß sie nichts von den Schiffen verstanden, auf denen sie dem Untergang entkamen, aber das Licht schützte sie, und sie überlebten. Sie sahen das Land erst wieder, als es sich beruhigt hatte, und da hatte sich viel verändert. Alles — die ganze Welt — trieb vor dem Wind auf dem Wasser. In den Jahren danach wurden die Jendai-Prophezeiungen zuerst mündlich weitergegeben. Wir müssen ruhelos über die Wasser wandern, bis der Coramoor wiederkehrt, und bei seiner Ankunft müssen wir ihm dienen.
Wir sind ans Meer gebunden; in unseren Adern fließt Salzwasser. Die meisten von uns setzen keinen Fuß an Land, außer, um auf ein anderes Schiff, eine andere Reise zu warten. Starke Männer weinen, wenn sie an Land Dienst tun müssen. Frauen, die sich an Land aufhalten, gehen an Bord eines Schiffes, um ihr Kind zu gebären, und wenn kein Schiff zur Hand ist, zur Not auch auf ein Ruderboot, denn wir müssen auf dem Wasser geboren werden und auf dem Wasser sterben und nach unserem Tod den Wogen übergeben werden.
Die Prophezeiung wird erfüllt. Er ist der Coramoor. Aes Sedai dienen ihm. Ihr seid der Beweis dafür, weil Ihr euch hier in dieser Stadt befindet. Auch das wurde prophezeit. ›Die Weiße Burg wird in seinem Namen geschleift, und Aes Sedai werden vor ihm knien und seine Füße waschen und sie mit ihrem Haar trocknen.‹« »Da könnt Ihr lange warten, um zuzusehen, wie ich irgendeinem Mann die Füße wasche«, sagte Nynaeve trocken. »Was hat das mit unserer Passage zu tun? Nehmt Ihr uns mit oder nicht?« Elayne zuckte zusammen, aber die Segelherrin antwortete genauso geradeheraus: »Warum wollt Ihr nach Tanchico fahren? Das ist mittlerweile ein unangenehmer Ort zum Anlegen geworden. Ich habe dort letzten Winter angelegt. Die Landbewohner haben beinahe mein Schiff überrannt, so viele wollten als Passagiere von dort fort. Es war ihnen gleich, wohin, wenn sie nur von Tanchico wegkamen. Ich kann nicht glauben, daß die Bedingungen dort jetzt besser geworden sind.« »Verhört Ihr immer Eure Passagiere derart?« fragte Nynaeve. »Ich habe Euch genug geboten, um ein ganzes Dorf zu kaufen. Zwei Dörfer! Wenn Ihr mehr wollt, dann nennt Euren Preis.« »Keinen Preis«, zischte ihr Elayne ins Ohr. »Ein Geschenk!« Falls Coine beleidigt war oder ihr überhaupt zugehört hatte, ließ sie sich nichts anmerken. »Warum?« Nynaeve packte ihren Zopf, aber Elayne legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. Sie hatten ein paar Dinge für sich behalten wollen, aber seit sie sich hier hingesetzt hatten, hatten sie wohl auch genug gelernt, um ihre Pläne zu ändern. Es gab Gelegenheiten, Geheimnisse zu wahren, und andere, die Wahrheit zu sagen. »Wir verfolgen die Schwarzen Ajah, Segelherrin. Wir glauben, einige von ihnen halten sich in Tanchico auf.« Sie erwiderte Nynaeves wütenden Blick mit Gelassenheit. »Wir müssen sie finden, bevor sie dem... dem Wiedergeborenen Drachen Schaden zufügen. Dem Coramoor.« »Das Licht lasse uns in Sicherheit Anker werfen«, hauchte die Windsucherin. Es war das erste Mal, daß sie sprach, und Elayne sah sie überrascht an. Jorin runzelte die Stirn und sah niemanden direkt an, doch dann sagte sie zur Segelherrin: »Wir können sie mitnehmen, meine Schwester. Wir müssen.« Coine nickte.
Elayne tauschte einen Blick mit Nynaeve und erblickte ihre eigenen Fragen in den Augen der anderen Frau wieder. Warum war es die Windsucherin, die so etwas entschied? Warum nicht die Segelherrin? Sie war doch Kapitän, auch wenn der Titel anders lautete. Aber wenigstens würden sie nun ihre Passage erhalten. Wieviel werden wir dafür bezahlen? fragte sich Elayne. Wie groß wird das ›Geschenk‹ sein müssen? Sie verwünschte Nynaeve, die verraten hatte, daß sie mehr als nur dieser einen Wechsel in Händen hielten. Und sie beschuldigt mich, mit Gold nur so herumzuwerfen.
Die Tür öffnete sich, und ein breitschultriger, grauhaariger Mann in weiten grünen Seidenhosen und Schärpe kam herein. Dabei blätterte er in einem kleinen Stapel Papiere, die er in einer Hand hielt. In jedem Ohr steckten vier Goldringe, und um seinen Hals hingen drei schwere Goldketten, darunter eine mit einem Parfumbehälter. Eine lange Narbe auf der einen Wange und zwei krumme Messer in der Gürtelschärpe verliehen seiner Erscheinung etwas Gefährliches. Er hatte ein eigenartiges Drahtgestell über seine Ohren gehängt, um durchsichtige Gläser vor seinen Augen zu halten. Das Meervolk machte natürlich die besten Glaswaren und Brenngläser und dergleichen, irgendwo dort auf ihren Inseln, aber so etwas wie diese Vorrichtung hatte Elayne noch nie gesehen.
Er spähte durch die Gläser auf die Papiere und begann zu sprechen, ohne erst aufzublicken: »Coine, dieser Narr ist doch tatsächlich gewillt, mir fünfhundert Schneefuchsfelle aus Kandor für diese drei kleinen Fässer Zwei-FlüsseTabak zu bieten, die ich in Ebou Dar bekam. Fünfhundert! Er kann sie bis Mittag herschaffen.« Er hob den Blick und fuhr zusammen. »Vergebt mir, meine Gemahlin. Ich wußte nicht, daß Ihr Gäste habt. Das Licht leuchte Euch allen.« »Bis zum Mittag, mein Gemahl«, sagte Coine, »werde ich flußabwärts unterwegs sein. Bei Sonnenuntergang bin ich auf See.« Er versteifte sich. »Bin ich immer noch Zahlmeister, Gemahlin, oder ist meine Position anders besetzt worden, als ich nicht hinsah?« »Du bist Zahlmeister, Gemahl, aber das Handeln muß jetzt aufhören, und die Reisevorbereitungen müssen beginnen. Wir segeln nach Tanchico.« »Tanchico!« Er zerknüllte die Papiere in seiner Faust und brachte sich nur mit Mühe unter Kontrolle. »Gemahlin — Nein! Segelherrin, Ihr hattet mir gesagt, unser nächster Hafen sei Mayene und dann würden wir nach Osten nach Schara segeln. Das hatte ich bei allen Geschäften im Kopf. Schara, Segelherrin, und nicht Tarabon. Was ich im Frachtraum habe, wird in Tanchico nicht viel einbringen. Vielleicht gar nichts! Darf ich fragen, warum nein ganzes Handeln ruiniert und der Wogentänzer in Armut gestürzt werden soll?« Coine zögerte, aber als sie sprach, klang ihre Stimme noch ganz formell: »Ich bin die Segelherrin, mein Gemahl. Der Wogentänzer segelt, wann ich es sage und wohin ich sage. Das muß im Augenblick genügen.« »Wie Ihr befehlt, Segelherrin«, brachte er mit rauher Stimme heraus, »so wird es geschehen.« Er berührte seine Herzgegend, wobei Elayne glaubte, Coine zusammenzucken zu sehen, und verließ die Kabine mit steifem Kreuz, als habe er einen Mast verschluckt.
»Ich muß das an ihm wiedergutmachen«, murmelte Coine leise und sah immer noch die Tür an. »Natürlich ist es angenehm, sich wieder mit ihm zu versöhnen. Normalerweise. Er hat wie ein Schiffsjunge salutiert, Schwester.« »Wir bedauern es, der Grund für Euren Streit zu sein, Segelherrin«, sagte Elayne reuig. »Und wir bedauern auch, dies miterlebt zu haben. Wenn wir irgend jemand in Verlegenheit gebracht haben, dann nehmt bitte unsere Entschuldigung an.« »Verlegenheit?« Coine klang überrascht. »Aes Sedai, ich bin die Segelherrin. Ich bezweifle, daß Eure Anwesenheit Toram in Verlegenheit brachte, und ich würde mich bei ihm keineswegs entschuldigen, wenn es der Fall gewesen wäre. Der Handel untersteht ihm, aber ich bin die Segelherrin. Ich werde es an ihm wiedergutmachen, und das wird nicht einfach, da ich die Gründe ja geheimhalten muß, und er hat an sich recht. Diese Narbe auf seiner Wange hat er abbekommen, als er an Deck des Wogentänzers gegen die Seanchan kämpfte. Er hat noch ältere Narben davongetragen, als er mein Schiff verteidigte, und ich muß nur die Hand nach dem Gold ausstrecken, das er durch seinen Handel hineinlegt. Ich muß die Dinge an ihm wiedergutmachen, die ich ihm nicht sagen kann, denn er verdient es, über alles Bescheid zu wissen.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Nynaeve. »Wir bitten Euch, die Schwarzen Ajah geheimzuhalten... « Sie sah Elayne zornig an. Der Blick versprach ihr einige harte Worte, sobald sie allein waren. Elayne wollte ihr aber auch einiges sagen, was mit Takt und Ähnlichem zu tun hatte. »... aber dreitausend Kronen sind doch sicher Grund genug, um uns nach Tanchico zu bringen.« »Ich muß Euer Geheimnis wahren, Aes Sedai. Was Ihr seid und warum Ihr auf diesem Schiff reist. Viele unter meinen Seeleuten würden Aes Sedai als schlechtes Omen betrachten. Falls sie wüßten, daß sie nicht nur Aes Sedai an Bord haben, sondern sie auch noch zu einem Hafen bringen, in dem andere Aes Sedai vielleicht dem Vater der Stürme dienen... Die Gnade des Lichts war mit uns, daß sich niemand nahe genug befand, um zu hören, wie ich Euch dort oben benannte. Beleidigt es Euch, wenn ich Euch bitte, soviel wie möglich unter Deck zu bleiben und Eure Ringe oben an Deck nicht zu tragen?« Zur Antwort zog Nynaeve ihren Schlangenring vom Finger und steckte ihn in ihre Gürteltasche. Elayne tat es ihr nach, wenn auch ein wenig zögernd. Sie genoß es ansonsten, wenn die Leute ihren Ring sahen. An diesem Punkt traute sie den diplomatischen Fähigkeiten Nynaeves nicht so ganz und sagte deshalb, noch bevor ihre Gefährtin zu Wort kam: »Segelherrin, wir haben Euch ein Geschenk für eine Passage angeboten, wenn es Euch recht ist. Falls nicht, darf ich dann fragen, was Ihr wünscht?« Coine kam zum Tisch zurück und sah sich den Wechsel an. Dann schob sie das Dokument zu Nynaeve hinüber. »Ich tue das für den Coramoor. Ich werde Euch sicher an Land setzen, wo Ihr an Land zu gehen wünscht, so das Licht es will. So soll es sein.« Sie berührte mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand ihre Lippen. »Wir erklären uns damit einverstanden, das Licht sei Zeuge.« Jorin gab einen erstickten Laut von sich. »Meine Schwester, hat je ein Zahlmeister eine Meuterei gegen seine Segelherrin angezettelt?« Coine sah sie ausdruckslos an. »Ich werde das Geschenk der Passage aus meiner eigenen Geldtruhe begleichen. Und falls Toram jemals etwas davon erfährt, meine Schwester, werde ich dich zusammen mit Dorele in die Kielräume schicken. Vielleicht als Ballast.« Daß die beiden Meervolkfrauen alle Formalität hatten fallen lassen, wurde deutlich, da die Windsucherin schallend loslachte. »Und dann würdet Ihr als nächsten Hafen vermutlich Chachin anlaufen, meine Schwester, oder auch Caemlyn, denn ohne mich könntet Ihr kein Wasser mehr finden.« Die Segelherrin wandte sich bedauernd an Elayne und Nynaeve. »Eigentlich, Aes Sedai, da Ihr ja dem Coramoor dient, sollte ich Euch ehren, wie ich die Segelherrin und die Windsucherin eines anderen Schiffes ehren würde. Wir sollten zusammen baden und Honigwein trinken und uns gegenseitig Geschichten erzählen, die uns zum Lachen oder zum Weinen bringen. Aber ich muß das Schiff auf die Abfahrt vorbereiten und... « Der Wogentänzer bäumte sich auf und schlug gegen die Kaimauer. Elayne riß es in ihrem Stuhl nach vorn und dann zurück. Als das Auf- und Abtanzen nicht aufhörte, fragte sie sich, ob es nicht besser wäre, nach draußen an Deck zu stürzen, als hier im Stuhl gefangen zu sitzen.
Dann endlich war es vorbei; die Sprünge wurden schwächer und flacher. Coine krabbelte auf die Beine und rannte zur Leiter, Jorin auf ihren Fersen. Sie schrie bereits wieder Befehle, nach möglichen Schäden am Rumpf zu suchen.