In den auf ihrem Schreibtisch verteilten Papieren stand wenig von Interesse für Siuan Sanche, doch sie gab nicht auf. Natürlich wurden die routinemäßigen Verwaltungsarbeiten der Weißen Burg von anderen erledigt, damit die Amyrlin Zeit hatte, wichtige Entscheidungen zu treffen, aber sie hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, jeden Tag ohne Vorwarnung ein paar Dinge genauer zu überprüfen, die sie sich einfach herausgriff, und das würde sich auch jetzt nicht ändern. Sie würde sich nicht von Sorgen lähmen lassen. Alles entwickelte sich doch planmäßig. Sie rückte ihre gestreifte Stola zurecht, tauchte die Feder sorgfältig in das Tintenglas und hakte eine weitere korrigierte Abrechnung ab.
Heute überprüfte sie Listen mit Einkäufen für die Küche des Weißen Turms und den Bericht des Poliers über einen Anbau an der Bibliothek. Die enorme Anzahl kleiner und kleinster Unterschlagungen, von denen die Leute glaubten, sie würden nicht bemerkt, überraschte sie immer wieder. Und auch die Anzahl derer, die tatsächlich den Frauen entgingen, die für diese Dinge verantwortlich waren. So schien Laras zum Beispiel die Überprüfung von Abrechnungen für etwas zu halten, das unter ihrer Würde war, seit sie offiziell vom Rang einer Chefköchin zur Herrin der Küchen erhoben worden war. Danelle andererseits, die junge Braune Schwester und verantwortliche Aufseherin über Meister Jovarin, den Polier, und die anderen Handwerker der Burg, ließ sich wahrscheinlich durch die Bücher ablenken, die der Kerl immer für sie auftrieb. Nur so ließ sich erklären, wieso Danelle die Zahl der Arbeiter nicht aufgefallen war, die Jovarin angeblich eingestellt hatte, als die ersten Schiffsladungen mit Stein aus Kandor im Nordhafen eingetroffen waren. Mit so vielen Männern hätte er ja die gesamte Bibliothek neu bauen können. Danelle war einfach zu verträumt, selbst für eine Braune. Vielleicht würde ihr eine Weile Arbeitsdienst auf dem Bauernhof guttun. Bei Laras war das schon schwieriger. Sie war keine Aes Sedai und konnte zu leicht ihre Autorität den Unterköchinnen und Mägden und Küchenjungen gegenüber verlieren. Aber vielleicht konnte man ja auch sie ›zur Erholung‹ aufs Land schicken. Das würde...
Mit angewidertem Schnauben warf Siuan ihre Feder zur Seite und schnitt dem Klecks, der sich daraufhin auf einer Seite mit sauber geschriebenen Abrechnungen ausbreitete, eine Grimasse. »Ich verschwende meine Zeit damit, zu überlegen, ob ich Laras zum Unkrautjäten schicken soll«, knurrte sie. »Die Frau ist einfach zu fett, um sich richtig zu bücken!« Ihre schlechte Laune rührte aber nicht von Laras' Übergewicht her, das war klar. Die Frau war jetzt nicht schwerer, als sie anscheinend immer schon gewesen war, und das hinderte sie niemals daran, aufgeregt durch die Küche zu rennen. Es gab keine neuen Nachrichten und Botschaften. Dieser Zustand erboste sie wie einen Kormoran, dessen gerade erbeuteten Fisch ein anderer Vogel gestohlen hatte. Eine Botschaft von Moiraine, daß der al'Thor-Junge Callandor habe, und dann nichts mehr in den nachfolgenden Wochen, obwohl in den Gerüchten, die auf den Straßen umgingen, allmählich bereits sein richtiger Name die Runde machte. Immer noch nichts.
Sie hob den Deckel des kunstvoll geschnitzten, schwarzen Holzkästchens an, in dem sie ihre geheimsten Dokumente aufbewahrte, und kramte darin herum. Eine leichte Abschirmung, die sie um den Kasten herum gewoben hatte, sorgte dafür, daß keine Hand außer ihrer eigenen ihn unbeschadet öffnen konnte.
Das erste Blatt, das sie herausnahm, war ein Bericht darüber, wie die Novizin, die Mins Ankunft mitbekommen hatte, von dem Bauernhof verschwunden war, auf den sie sie geschickt hatte, genau wie die Frau, der dieser Hof gehörte. Es kam natürlich öfters vor, daß eine Novizin weglief, aber daß auch die Bäuerin verschwunden war, gab Anlaß zur Sorge. Man mußte Sahra auf jeden Fall wiederfinden, da sie in ihrer Ausbildung noch nicht weit genug gekommen war, um sie einfach laufen zu lassen, aber eigentlich war das kein Grund, den Bericht in diesem Kasten aufzubewahren. Weder wurde Mins Name darin erwähnt noch der Grund, warum sie dieses Mädchen fortgeschickt hatte, Kohlköpfe zu ernten. Trotzdem legte sie ihn wieder an seinen Platz zurück. Heutzutage mußte man um so vieles vorsichtiger sein, als es früher notwendig gewesen wäre.
Dann eine Beschreibung einer Volksversammlung in Ghealdan, um einer Rede dieses Mannes zu lauschen, der sich Prophet des Lord Drache nannte. Masema war wohl sein richtiger Name. Seltsam. Der Name stammte aus Schienar. Beinahe zehntausend Menschen waren gekommen, um ihn vom Abhang eines Hügels aus sprechen zu hören. Er verkündete die Wiederkehr des Drachen, und auf die Rede folgte eine Schlägerei mit Soldaten, die versuchten, die Menge auseinanderzutreiben. Abgesehen von der Tatsache, daß die Soldaten dabei erheblich schlechter davonkamen, war das Interessanteste daran, daß dieser Masema Rand al'Thors Namen kannte. Dieser Bericht gehörte ganz bestimmt in den Kasten.
Ein weiterer Bericht, daß man immer noch keine Spur von Mazrim Taim gefunden hatte. Kein Grund, den hier aufzubewahren. Noch einer, diesmal über die Verschlimmerung der Zustände in Arad Doman und Tarabon. Schiffe verschwanden in Küstennähe des Aryth-Meeres. Gerüchte von Übergriffen Tears auf Cairhien. Sie hatte sich schon angewöhnt, einfach alles in diesen Kasten zu stecken; nichts von alledem mußte geheimgehalten werden. Zwei Schwestern waren in Illian verschwunden und eine weitere in Caemlyn. Sie schauderte und fragte sich, wo sich die Verlorenen aufhielten. Zu viele ihrer Spione waren bereits ausgefallen. Dort draußen gab es Haie, und sie schwamm in tiefer Dunkelheit. Da war es. Der hauchdünne Papierstreifen knisterte ein wenig, als sie ihn aufrollte.
Die Schleuder wurde benützt. Der Schafhirte hat das Schwert.
Der Burgsaal hatte sich entschieden, wie sie es erwartet hatte, einstimmig und ohne die Notwendigkeit, ein paar von ihnen zu erpressen oder ihre ganze Autorität auszuspielen. Wenn ein Mann Callandor herausgezogen hatte, dann mußte er der Wiedergeborene Drache sein, und dieser Mann mußte von der Weißen Burg gelenkt werden. Drei der Sitzenden aus drei verschiedenen Ajahs hatten vorgeschlagen, alle Pläne der Burg geheimzuhalten, bevor sie es selbst vorschlagen konnte. Zu ihrer Überraschung war Elaida eine davon gewesen, aber andererseits würden natürlich gerade die Roten einem Mann, der die Macht benützen konnte, die Trossen besonders eng anziehen. Das einzig Problem hatte darin bestanden, sie davon abzuhalten, eine Delegation nach Tear zu schicken, um ihm die Zügel anzulegen, und das war auch nicht zu schwierig gewesen, da sie ihnen erklären konnte, die Botschaft sei von einer Aes Sedai gekommen, die sich bereits in der Nähe des Mannes aufhielt.
Doch was machte er nun? Warum hatte Moiraine nichts mehr von sich hören lassen? Die Ungeduld hing so fühlbar in der Luft, daß sie beinahe schon Funken erwartete. Sie beherrschte sich mühevoll. Die Frau soll doch verdammt sein! Warum schickt sie keine weitere Botschaft?
Die Tür schlug auf, und sie richtete sich zornig auf. Mehr als ein Dutzend Frauen traten in ihr Arbeitszimmer, angeführt von Elaida. Alle trugen ihre Stolen, die meisten davon mit roten Fransen verziert, aber an Elaidas Seite befanden sich auch Alviarin, eine Weiße, und Joline Maza, eine schlanke Grüne. Die mollige Gelbe Schemerin folgte zusammen mit Danelle dicht dahinter. Diesmal wirkten Danelles Augen gar nicht verträumt. Schließlich war Siuan klar, daß zumindest eine Frau aus jeder Ajah hier war, mit Ausnahme der Blauen. Einige wirkten nervös, doch auf den meisten Gesichtern zeigte sich grimmige Entschlossenheit. Elaidas dunkle Augen blickten ernst und selbstbewußt drein. Sogar ein wenig Triumph lag in ihrem Blick.
»Was soll das bedeuten?« fauchte Siuan und klappte den schwarzen Holzkasten mit einem scharfen Knall zu. Sie sprang auf und schritt um den Schreibtisch herum auf die anderen zu. Erst Moiraine und dann dies! »Falls das mit den Ereignissen in Tear zu tun hat, Elaida, solltet Ihr wissen, daß Ihr keine anderen darin verwickeln dürft. Und Ihr solltet wissen, daß man hier nicht einfach hereinläuft wie in die Küche Eurer Mutter! Entschuldigt Euch und geht, bevor ich Euch wünschen mache, Ihr wärt wieder eine unwissende Novizin!« Ihre kalte Wut hätte sie eigentlich sofort vertreiben sollen, aber obwohl ein paar unangenehm berührt wirkten, bewegte sich keine einzige in Richtung Tür. Die kleine Danelle grinste sie sogar noch frech an. Und Elaida griff ganz gelassen nach ihrer gestreiften Stola und zog sie von Siuans Schultern. »Ihr werdet das nicht mehr brauchen«, sagte sie. »Ihr wart niemals dafür geeignet, Siuan.« Der Schreck verwandelte Siuans Zunge zu Stein. Das war der blanke Wahnsinn. Das war unmöglich. In ihrem Zorn griff sie nach Saidar und erlebte den zweiten Schock: Zwischen ihr und der Wahren Quelle lag eine Barriere, wie eine Wand aus dickem Glas. Sie starrte Elaida ungläubig an.
Wie zum Hohn erglühte der Glanz Saidars nun um Elaida. Sie stand hilflos da, als die Rote Schwester Stränge des Elements Luft um sie webte und sie von den Schultern bis zur Taille band. Ihre Arme wurden schmerzhaft an ihren Körper gepreßt. Sie konnte kaum atmen. »Ihr müßt verrückt geworden sein!« keuchte sie. »Ihr alle. Ich werde Euch dafür bestrafen! Laßt mich sofort frei!« Keine antwortete. Sie schienen sie schon gar nicht mehr wahrzunehmen.
Alviarin durchblätterte die Papiere auf ihrem Schreibtisch, schnell, aber nicht überhastet, während Joline und Danelle und andere damit begannen, die Bücher auf den Lesepulten aufzuheben und auszuschütteln, um festzustellen, ob irgend etwas herausfallen würde, was zwischen den Seiten verborgen gelegen hatte. Die Weiße zischte leicht frustriert durch die Zähne, als sie nicht fand, was sie auf dem Tisch wohl gesucht hatte. Dann schlug sie den Deckel des schwarzen Holzkastens auf. Sofort flammte der Kasten wie eine Feuerkugel auf.
Alviarin sprang mit einem Schrei zurück und schüttelte ihre Hand, an der sich bereits Blasen bildeten. »Abgeschirmt«, knurrte sie, offensichtlich blankem Zorn so nah, wie es einer Weißen nur möglich war. »So gering, daß ich es nicht bemerkt habe, bis es zu spät war.« Nichts war von dem Kasten und seinem Inhalt übriggeblieben, als ein Häufchen grauer Asche auf einem Brandfleck an der Tischoberfläche.
Auf Elaidas Gesicht war jedoch keine Enttäuschung zu bemerken. »Ich verspreche Euch, Siuan, daß Ihr mir noch jedes Wort sagen werdet, das hier verbrannte, für wen es bestimmt war und zu welchem Zweck.« »Euch muß ja wohl der Drache gepackt haben!« brauste Siuan auf. »Ich werde Euch dafür das Fell über die Ohren ziehen, Elaida! Euch allen! Ihr müßt Glück haben, wenn der Burgsaal nicht dafür stimmt, Euch alle einer Dämpfung zu unterziehen!« Elaidas leichtes Lächeln reichte nicht bis an ihre kalten Augen heran. »Der Saal hat vor nicht einmal einer Stunde getagt. Es waren genug Sitzende anwesend, um ein gültiges Abstimmungsergebnis zu erzielen. Es wurde einstimmig beschlossen, so wie es vorgeschrieben ist, daß Ihr nicht mehr die Amyrlin seid. Es ist beschlossen, und wir sind gekommen, um den Beschluß durchzuführen.« Siuans Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen und eine dünne Stimme in ihrem Hinterkopf schrie: Wieviel wissen sie? Licht, wieviel wissen sie? Närrin! Blinde, dumme Närrin! Sie verzog das Gesicht jedoch nicht. Das war nicht die erste Zwangslage, in der sie sich befunden hatte. Als fünfzehn Jahre altes Mädchen, mit nichts als einem Fischermesser bewaffnet, war sie einst von vier völlig betrunkenen Schlägern in eine Gasse gezerrt worden... Es war schwerer gewesen, ihnen zu entkommen, als denen hier. Das redete sie sich jedenfalls ein.
»So, wie das Gesetz es vorschreibt?« höhnte sie. »Gerade die kleinstmögliche Anzahl und dann überfrachtet mit Euren Freunden und denen, die Ihr beeinflussen oder einschüchtern könnt.« Ihre Kehle wurde trocken bei dem Gedanken daran, daß Elaida auch nur eine relativ kleine Anzahl von Schwestern dazu hatte überreden können. Doch das ließ sie sich nicht anmerken. »Wenn die Vollversammlung mit allen Sitzenden zusammentritt, dann werdet Ihr euren Fehler bereuen! Zu spät! Es hat in der Burg noch nie eine Rebellion gegeben. In tausend Jahren noch werden sie Euer Schicksal den Novizinnen als Beispiel dafür erzählen, was mit denen geschieht, die eine Rebellion anzetteln.« Auf einigen Gesichtern begann sich Zweifel zu zeigen. Anscheinend hatte Elaida ihre Verschwörer doch nicht so gut in der Hand, wie sie glaubte. »Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, ein Leck in den Rumpf zu schlagen, und statt dessen mit Schöpfen zu beginnen. Selbst Ihr könnt Euren Fehler noch wiedergutmachen, Elaida.« Elaida wartete mit eisiger Ruhe, bis sie ausgesprochen hatte. Dann schlug sie Siuan mit voller Kraft ihre Hand ins Gesicht. Siuan taumelte und vor ihren Augen flimmerte alles.
»Ihr seid am Ende«, sagte Elaida. »Habt Ihr geglaubt, ich — wir — würden Euch gestatten, die Burg zu zerstören? Nehmt sie mit!« Siuan stolperte, als zwei der Roten sie vorwärts stießen. Sie konnte nur mühsam auf den Beinen bleiben und funkelte die beiden zornig an, doch sie ging in die gewünschte Richtung. Wen mußte sie von den Ereignissen in Kenntnis setzen? Welche Anklagen sie auch gegen sie vorgebracht hatten: wenn ihr genug Zeit blieb, würde sie alles widerlegen. Selbst Anklagen, die Rand einschlossen. Sie konnten ihr nicht mehr als Gerüchte anhängen, und sie hatte das Große Spiel schon zu lange gespielt, um sich von Gerüchten unterkriegen zu lassen. Es sei denn, sie hatten Min. Min könnte aus den Gerüchten Wahrheiten machen. Sie knirschte mit den Zähnen. Seng meine Seele, ich werde dieses Pack zu Fischfutter verarbeiten! Im Vorzimmer kam sie erneut ins Stolpern, aber diesmal war sie nicht geschubst worden. Sie hatte so halb gehofft, Leane sei nicht auf ihrem üblichen Posten gewesen, doch die Behüterin der Chronik stand genauso da wie Siuan, die Arme steif am Körper, der Mund formte lautlose Worte, zornige Worte, doch nichts drang durch den Knebel aus Luft. Nun wurde ihr auch bewußt, daß sie gespürt hatte, wie man Leane band, doch sie hatte das Gefühl nicht beachtet, denn in der Burg spürte man immer, wenn Frauen die Macht benützten.
Aber es war nicht der Anblick Leanes gewesen, der sie ins Stolpern kommen ließ, sondern der hochgewachsene, schlanke grauhaarige Mann, der mit einem Messer im Rücken ausgestreckt auf dem Fußboden lag. Alric war nahezu zwanzig Jahre lang ihr Behüter gewesen und hatte sich nie beklagt, weil er ständig in der Burg bleiben mußte, und auch nicht, wenn er es der Tatsache, daß sie die Amyrlin war, zu verdanken hatte, daß er sich manchmal Hunderte von Wegstunden von ihr entfernt aufhalten mußte. Das gefiel keinem der Gaidin.
Sie räusperte sich, aber ihre Stimme klang immer noch rauh, als sie sagte: »Dafür lasse ich Euch die Haut abziehen und salzen und in der Sonne trocknen, Elaida. Das schwöre ich!« »Hütet Eure eigene Haut, Siuan«, sagte Elaida. Sie kam näher, um ihr in die Augen sehen zu können. »Es steckt mehr dahinter, als bisher aufgedeckt wurde. Das ist mir klar. Und Ihr werdet mir auch die kleinste Einzelheit erzählen. Je-des-biß-chen!« Die plötzliche Ruhe in ihrem Tonfall war beängstigender als alle bösen Blicke zuvor. »Das verspreche ich Euch, Siuan. Bringt sie hinunter!« Min hielt Rollen blauer Seide in beiden Händen, als sie kurz vor Mittag durch den Nordeingang hereintrat. Ihr affektiertes Lächeln sollte den Wächtern mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust gelten. Ihr grüner, weiter Rock schwankte aufreizend beim Gehen. Ganz so würde sich Elmindreda verhalten. Sie hatte schon damit begonnen, bevor ihr bewußt wurde, daß heute überhaupt keine Wächter am Eingang standen. Die schwere eisenbeschlagene Tür am Wachhaus stand offen, und das Haus machte einen leeren Eindruck. Das war unmöglich! Kein Tor zur Weißen Burg war jemals unbewacht. Ungefähr auf halbem Weg zu den blendend weißen Mauern der Burg erhob sich eine Rauchwolke über die Baumwipfel. Sie kam aus der Nähe der Wohnquartiere der jungen Männer, die von den Behütern ausgebildet wurden. Vielleicht hatte das Feuer die Wachen weggelockt?
Sie war noch ein wenig nervös, als sie den Gartenpfad durch den bewaldeten Teil des Burggeländes entlangschritt. Sie verlagerte das Gewicht der Seidenrollen. Eigentlich wollte sie ja gar kein neues Kleid, aber wie konnte sie es Laras abschlagen, als die ihr einen Beutel Silber in die Hand drückte und ihr sagte, sie solle dafür diese Seide kaufen. Die dicke Frau hatte sie in einem Laden entdeckt. Sie behauptete, es sei genau die Farbe, die zu ›Elmindredas‹ Teint passe. Ob sie wollte oder nicht, war dabei weniger wichtig, als sich die Zuneigung Laras zu erhalten.
Das Klappern von Schwertern machte sich hinter den Bäumen bemerkbar. Die Behüter ließen ihre Schüler diesmal wohl noch härter arbeiten als sonst.
Es war alles sehr verwirrend. Laras mit ihren Andeutungen in Bezug auf Schönheit, Gawyn und seine Witze, Galad, der ihr Komplimente machte und dem überhaupt nicht klar war, was sein Gesicht und sein Lächeln mit dem Pulsschlag einer Frau machten... Ob Rand sie so haben wollte? Würde er sie überhaupt bemerken, wenn sie Kleider trug und ihn anhimmelte wie eine hirnlose Schlampe?
Er hat kein Recht darauf, so etwas zu erwarten, dachte sie wütend. Das war überhaupt alles seine Schuld. Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre sie jetzt auch nicht hier, trüge keine idiotischen Kleider und müßte nicht lächeln wie eine Blöde. Ich werde Wams und Hose tragen, basta! Vielleicht gelegentlich auch einmal ein Kleid — vielleicht aber nicht, um die Männerblicke anzuziehen. Ich wette, er himmelt in diesem Moment gerade irgendeine Frau aus Tear an, die den halben Busen aus dem Kleid hängen läßt. Ich kann auch solche Kleider tragen. Wollen doch mal sehen, was er denkt, wenn er mich in dieser blauen Seide sieht. Und mit einem Ausschnitt bis... Was dachte sie da eigentlich? Der Mann brachte sie noch um den Verstand! Die Amyrlin ließ sie nutzlos hier herumhocken und Rand al'Thor brachte sie um den Verstand. Seng ihn! Verdammt soll er sein für das, was er mir antut!
Wieder erklang das Klappern von Schwertern aus einiger Entfernung, und sie blieb stehen, als eine Horde junger Männer ein Stück vor ihr aus dem Gebüsch brach. Sie trugen Speere und hatten die Schwerter gezogen. An ihrer Spitze befand sich Gawyn. Sie erkannte auch andere von denen, die gekommen waren, um sich von den Behütern ausbilden zu lassen. Irgendwo auf dem großen Gelände erklangen Schreie; das Brüllen zorniger Männer.
»Gawyn! Was ist denn los?« Er wirbelte herum, als er ihre Stimme vernahm. Sorge und Furcht standen in seinen blauen Augen und sein Gesicht wirkte zum Äußersten entschlossen. »Min. Was tust du...? Raus, weg von der Burg, Min! Es ist gefährlich!« Eine Handvoll der jungen Männer rannte weiter, doch die meisten warteten ungeduldig auf ihn. Wie ihr schien, befanden sich fast alle Schüler der Behüter in dieser Gruppe.
»Sag mir doch, was los ist, Gawyn!« »Heute morgen haben sie die Amyrlin beseitigt. Geh weg, Min!« Die Seidenrollen fielen ihr aus den Händen. »Beseitigt? Das kann doch nicht sein! Wie? Warum? Im Namen des Lichts, warum denn?« »Gawyn!« rief einer der jungen Männer. Andere machten es ihm nach und reckten ihre Waffen hoch. »Gawyn! Der Weiße Keiler! Gawyn!« »Ich habe keine Zeit«, sagte er atemlos zu ihr. »Überall wird gekämpft. Man behauptet, Hammar versuche, Siuan Sanche zu befreien. Ich muß in die Burg, Min. Geh bitte!« Er wandte sich um und rannte los in Richtung der Burg. Die anderen folgten ihm mit erhobenen Waffen. Einige riefen immer noch: »Gawyn! Der Weiße Keiler! Gawyn! Die Jünglinge greifen an!« Min blickte ihnen hinterher. »Du hast nicht gesagt, für welche Seite du kämpfst, Gawyn«, flüsterte sie.
Der Kampfeslärm war lauter und deutlicher, nun, da sie genauer hinhörte, und die Rufe und Schreie, das Hämmern von Stahl auf Stahl, schienen von allen Seiten her zu kommen. Bei diesem Lärm bekam sie eine Gänsehaut, und ihre Knie zitterten. Das konnte doch nicht wahr sein, nicht hier geschehen! Gawyn hatte recht. Es wäre viel sicherer und klüger, sofort das Burggelände zu verlassen. Nur konnte sie dann nicht vorhersehen, wann — falls überhaupt — sie zurückkehren durfte, und ihr fiel nicht viel ein, was sie in der Zwischenzeit draußen erreichen könne.
»Und was kann ich hier drinnen erreichen?« fragte sie sich in einer heftigen Gefühlsaufwallung.
Doch sie kehrte nicht um. Sie ließ die Seide liegen, wo sie zu Boden gefallen war, und eilte zwischen die Bäume, um sich ein Versteck zu suchen. Sie glaubte ja nicht, daß jemand ›Elmindreda‹ wie eine Gans aufschlitzen würde —schaudernd verwünschte sie diese Vorstellung —, aber sie mußte ja kein unnötiges Risiko eingehen. Früher oder später würden die Kämpfe abebben, und dann mußte sie sich entschließen, was sie als nächstes unternehmen wollte.
In der vollkommenen Dunkelheit der Zelle öffnete Siuan die Augen, rührte sich, zuckte unter dem Schmerz zusammen und lag wieder still. War es draußen noch Morgen? Sie war lange Zeit über verhört worden. Nun bemühte sie sich, ihre Schmerzen hinunterzuschlucken und sich lieber daran zu erfreuen, daß sie überhaupt noch atmete. Der rauhe Stein unter ihr tat den Schwellungen und Abschürfungen an ihrem Rücken nicht gerade gut. Schweiß brannte in allen Wunden, und die zogen sich von den Schultern bis hinab zu den Knien, so daß sie vor Kälte zitterte. Sie hätten mir wenigstens die Unterwäsche lassen können. Die Luft roch nach altem Staub und trockenem Moder. Eine der ganz unten liegenden Zellen. Hier war keiner mehr eingesperrt worden seit den Zeiten Artur Falkenflügels. Bonwhin war wohl die letzte gewesen.
Sie verzog das Gesicht im Dunkeln. Es gab kein Vergessen. So biß sie die Zähne zusammen und richtete sich mühsam zu einer sitzenden Position auf dem Steinboden auf. Sie fühlte nach einer Wand, an die sie sich lehnen konnte. Dann endlich lehnte ihr Rücken an den kühlen Steinblöcken. Kleinigkeiten, sagte sie sich. Denke an Kleinigkeiten. Hitze. Kälte. Ich frage mich, wann sie mir wohl etwas Wasser bringen werden. Falls überhaupt. Sie konnte nicht anders, als nach ihrem Ring mit der Großen Schlange zu tasten. Nicht, daß sie wirklich erwartete, noch in seinem Besitz zu sein. Sie glaubte sogar, sich dunkel daran zu erinnern, wie man ihn ihr abgerissen hatte. Nach einer Weile war ihr alles nur noch ganz verschwommen erschienen. Sie war dankbar dafür. Doch sie erinnerte sich auch, ihnen am Ende ziemlich alles erzählt zu haben. Aber nicht wirklich alles. Sie empfand einen gewissen Triumph dabei, hier ein kleines Stückchen und dort einen Fetzen zurückgehalten zu haben. Aber meist hatte sie die Antworten herausgeheult, wollte alles gestehen, wenn sie nur aufhörten, wenigstens eine kleine Weile, wenn sie nur... Sie wickelte die Arme um ihren Körper und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Es half nicht viel. Ich muß ruhig bleiben. Ich bin noch am Leben. Daran muß ich vor allem denken. Ich bin nicht tot.
»Mutter?« Leanes schwankende Stimme erklang aus der Dunkelheit. »Seid Ihr wach, Mutter?« »Ich bin wach«, seufzte Siuan. Sie hatte gehofft, man habe Leane entlassen und sie vielleicht aus der Stadt geschickt. Sie empfand ein Schuldgefühl dabei, daß sie froh war, die andere Frau bei sich in der Zelle zu haben. »Es tut mir leid, daß ich Euch in diese Sache verwickelt habe, Toch...« Nein. Sie hatte kein Recht mehr, die andere so zu bezeichnen. »Es tut mir leid, Leane.« Es folgte ein langer Augenblick des Schweigens. »Geht es... Euch gut, Mutter?« »Siuan, Leane. Nur noch Siuan.« Unwillkürlich griff sie nach Saidar. Da war nichts. Nicht für sie jedenfalls. Nur die Leere in ihrem Innern. Niemals mehr. Ein zweckerfülltes Leben, und nun trieb sie steuerlos auf einem Meer, das viel dunkler war als diese Zelle. Sie rieb sich eine Träne von der Wange und ärgerte sich über sich selbst. »Ich bin nicht mehr die Amyrlin, Leane.« Etwas von ihrem Zorn stahl sich in ihre Stimme. »Ich schätze, Elaida wird meinen Rang erhalten. Wenn es nicht schon der Fall ist. Ich schwöre, eines Tages werde ich diese Frau den Haien verfüttern!« Leanes einzige Antwort darauf war ein langezogenes, verzweifeltes Ausatmen.
Das Knirschen eines Schlüssels in dem rostigen Eisenschloß ließ Siuans Kopf hochfahren. Niemand hatte daran gedacht, das Schloß zu ölen, bevor man Leane und sie in die Zelle warf, und die vom Rost zerfressenen Teile wollten sich nicht drehen. Grimmig zwang sie sich zum Aufstehen. »Auf, Leane. Steht auf.« Einen Augenblick später hörte sie, wie die andere Frau folgte. Sie stöhnte leicht dabei und knurrte etwas in sich hinein.
Mit etwas lauterer Stimme sagte Leane dann: »Was soll uns das helfen?« »Wenigstens finden sie uns nicht heulend auf dem Boden vor.« Sie bemühte sich, ihre Stimme fester klingen zu lassen. »Wir können kämpfen, Leane. Solange wir leben, können wir auch kämpfen.« Oh, Licht, sie haben mich einer Dämpfung unterzogen! Sie haben es wirklich getan!
Sie zwang ihren Verstand zur Ruhe, ballte die Fäuste und versuchte, ihre Zehen in den unregelmäßigen Steinboden zu bohren. Sie wünschte sich, das Geräusch aus ihrem Mund klänge nicht wie ein Wimmern.
Min legte ihre Bündel auf den Boden und schlug den Umhang zurück, damit sie den Schlüssel mit beiden Händen drehen konnte. Er war doppelt so lang wie ihre Hand und genauso verrostet wie das Schloß. Doch auch die anderen Schlüssel an dem großen Eisenring sahen nicht anders aus. Die Luft war kalt und feucht, als käme der Sommer nicht bis hier herunter.
»Beeilt Euch, Kind«, wurde sie von Laras angetrieben. Die dicke Küchenherrin hielt die Laterne für Min und spähte immer wieder ängstlich den Flur hinauf und hinunter. Es fiel schwer, daran zu glauben, daß diese Frau mit ihrem schwabbelnden Mehrfachkinn einst eine Schönheit gewesen sein sollte, doch im Moment fand Min sie einfach wunderschön.
Sie kämpfte mit dem Schlüssel und schüttelte den Kopf. Sie war auf Laras gestoßen, als sie sich zu ihrem Zimmer zurückschleichen wollte, um das einfache graue Reitkleid zu holen, das sie jetzt trug, und noch ein paar andere Dinge. Tatsächlich war die massige Frau auf der Suche nach ihr gewesen, da sie sich wahnsinnig Sorgen um ›Elmindreda‹ gemacht hatte, und dann hatte sie ihr einen Vortrag gehalten, welches Glück sie gehabt habe, heil davonzukommen, und sie hätte sie am liebsten in ihr Zimmer eingeschlossen, bis alles vorüber war. Sie wußte nicht mehr genau, wie Laras aus ihr sämtliche Absichten herausgequetscht hatte, und sie konnte nicht darüber hinwegkommen, daß ausgerechnet diese Frau zögernd verkündet hatte, sie werde ihr helfen. Eine richtige Abenteurerin. Na ja, hoffen wir mal, daß sie mich — wie hat sie das ausgedrückt? — tatsächlich aus dem Salztopf heraushalten kann. Der verdammte Schlüssel wollte sich nicht drehen. Sie warf ihr ganzes Gewicht in die Waagschale und stemmte sich dagegen.
Natürlich war sie Laras mehr als nur dankbar. Sie bezweifelte, daß sie allein in der Lage gewesen wäre, alles vorzubereiten und alle Sachen zusammenzusuchen, die sie brauchte — jedenfalls nicht so schnell. Außerdem... Außerdem hatte sie sich zu dem Zeitpunkt, als sie auf Laras getroffen war, bereits einzureden versucht, es sei doch alles sinnlos und sie sollte sich besser auf ein Pferd setzen und nach Tear losreiten, solange sie die Chance dazu hatte, bevor jemand daran dachte, ihr Kopf stelle eine gute Dekoration für die Burgmauer dar. Sie vermutete, sie wäre selbst nie mehr mit ihrem Schuldgefühl fertiggeworden, wenn sie weggelaufen wäre. Das allein machte ihre Dankbarkeit Laras gegenüber so groß, daß sie nicht protestierte, als diese noch ein paar hübsche Kleider zu den Sachen packte, die sie bereits herausgesucht hatte. Sie konnte ja das Rouge und den Puder irgendwo ›verlieren‹. Warum dreht sich dieser verdammte Schlüssel nicht? Vielleicht kann Laras...
Plötzlich bewegte sich der Schlüssel und drehte sich mit einem lauten Krachen, daß Min schon fürchtete, er sei abgebrochen. Doch als sie gegen die grobe Holztür drückte, öffnete sie sich. Sie schnappte sich ihre Bündel vom Boden und trat in die kahle Steinzelle. Dann blieb sie jedoch verwirrt stehen.
Der Laternenschein enthüllte ihrem Blick zwei Frauen mit verschwollenen und geschundenen nackten Körpern, die ihre Augen vor dem plötzlichen Lichtschein schützten. Einen Augenblick lang war Min nicht sicher, ob es tatsächlich die Gesuchten seien. Die eine war groß, und ihre Haut war kupferfarben, die andere kleiner, stämmiger, mit hellerem Haar. Die Gesichter sahen aus wie die der Gesuchten — beinahe jedenfalls — und waren wohl von dem, was man ihnen angetan hatte, unberührt geblieben. Also hätte sie eigentlich sicher sein müssen. Aber jene Alterslosigkeit, die so typisch für die Aes Sedai war, schien von ihnen abgefallen zu sein. Sie hätte ansonsten nicht gezögert, diese Frauen für höchstens sechs oder sieben Jahre älter als sich selbst zu schätzen und sie bestimmt nicht für Aes Sedai zu halten. Bei diesem Gedanken lief sie vor Verlegenheit rot an. Sie sah auch keine Bilder, keine Visionen, um die beiden flimmern. Aber bei Aes Sedai sah sie doch immer welche. Hör auf damit, sagte sie sich.
»Wo...«, begann eine der beiden staunend, und dann unterbrach sie sich und räusperte sich erst einmal. »Woher habt Ihr diese Schlüssel?« Es war die Stimme Siuan Sanches.
»Sie ist es tatsächlich!« Laras' Stimme klang ungläubig. Sie stupste Min mit einem dicken Finger. »Schnell, Kind! Ich bin zu alt und zu langsam für solche Abenteuer.« Min warf ihr einen überraschten Blick zu. Die Frau hatte darauf bestanden, mitzukommen. Sie werde auf keinen Fall zurückbleiben, hatte sie gesagt. Min hätte Siuan am liebsten gefragt, wieso sie beide auf einmal soviel jünger aussähen, aber für solche Anzüglichkeiten blieb jetzt keine Zeit. Ich bin schon verdammt noch mal daran gewöhnt, Elmindreda sein zu müssen!
Sie drückte schnell jeder der Frauen eines ihrer Bündel in die Hand und sagte hastig: »Kleider. Zieht Euch so schnell wie möglich an. Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben. Ich habe dem Wächter vorgemacht, ich wolle Euch etwas heimzahlen, und ihm ein paar Küsse versprochen, wenn er mich hinunter läßt. Während ich ihn ablenkte, schlich sich Laras von hinten an und hat ihm mit dem Nudelholz eins über den Schädel verpaßt. Ich weiß aber nicht, wie lange er noch schlafen wird.« Sie beugte sich hinaus und blickte besorgt den Flur hinauf in Richtung Wachraum. »Wir sollten uns wirklich beeilen.« Siuan hatte bereits ihr Bündel geöffnet und begonnen, sich anzuziehen. Abgesehen von einem leinenen Unterhemd waren die mitgebrachten Kleidungsstücke alle aus einfacher, brauner Wolle gefertigt und paßten zu Bauersfrauen, die zur Weißen Burg gekommen waren, um die Aes Sedai um Rat zu bitten. Allerdings waren die Hosenröcke zum Reiten doch etwas ungewöhnlich. Laras hatte sie schnell abgenäht. Min stach sich immer nur in die Finger dabei; also hatte sie es sein lassen. Auch Leane kleidete sich an, doch ihr Interesse schien vor allem dem kurzen Messer zu gelten, das an ihrem Gürtel hing, und nicht ihrer Kleidung.
Drei einfach gekleidete Frauen sollten doch wenigstens eine Chance haben, das Burggelände zu verlassen, ohne besonders aufzufallen. Eine Anzahl von Menschen mit Bittschriften und andere Hilfesuchende waren von den Auseinandersetzungen in der Burg überrascht worden. Drei weitere, die sich aus ihrem Versteck herauswagten, würden wohl schlimmstenfalls auf die Straße hinausgeschoben werden. Solange man sie nicht erkannte. Die Gesichter der anderen könnten auch hilfreich sein. Keiner würde dieses Paar junger Frauen — jung erschienen sie jedenfalls — für die Amyrlin und die Behüterin der Chronik halten. Für die ehemalige Amyrlin und die ehemalige Behüterin, mußte sie sich selbst mahnen.
»Nur ein Wächter?« fragte Siuan, die vor Schmerz zusammengezuckt war, als sie die dicken Strümpfe übergezogen hatte. »Seltsam. Sie würden ja einen Taschendieb noch besser bewachen.« Sie blickte Laras an, während sie ihre Füße in die festen Schuhe schob. »Es ist gut, zu merken, daß nicht jeder den Anklagen gegen mich Glauben schenkt. Was immer sie auch besagen mögen.« Die dicke Frau runzelte die Stirn und senkte das Kinn, was zu einem vierten Wulst führte. »Ich verhalte mich loyal der Burg gegenüber«, sagte sie ernst. »Solche Dinge gehen über meinen Horizont. Ich bin nur Köchin. Dieses närrische Mädchen hier hat mich schon zuviel an die Zeiten erinnert, als ich selbst ein solch närrisches Mädchen war. Ich glaube — nachdem ich Euch jetzt sehe —, es ist an der Zeit, mich daran zu erinnern, daß ich kein schlankes Reh mehr bin.« Sie drückte Min die Laterne in die Hand.
Min packte ihren mächtigen Arm, als sie sich zum Gehen wandte. »Laras, Ihr verratet uns doch nicht? Nicht jetzt, nach alledem, was Ihr für uns getan habt.« Das breite Gesicht der Frau verzog sich zu einem Lächeln. Es wirkte halb in Erinnerung schwelgend, halb bedauernd. »Oh, Elmindreda, erinnert mich nicht daran, als ich noch in Eurem Alter war. Dumme Sachen habe ich da angerichtet. Manchmal war ich nahe daran, gehängt zu werden. Ich werde Euch nicht verraten, Kind, aber ich muß hier leben. Wenn die Zweite Stunde eingeläutet wird, schicke ich ein Mädchen mit Wein für den Wächter herunter. Falls er bis dahin noch nicht erwacht oder entdeckt worden ist, gibt Euch das mehr als eine Stunde Zeit.« Sie wandte sich den anderen beiden Frauen zu, und ihr Gesicht trug plötzlich den harten Ausdruck, den Min bei ihr gesehen hatte, wenn sie mit den Unterköchinnen oder den Küchenmägden gesprochen hatte. »Nützt diese Stunde gut, verstanden? Sie wollen Euch in die Spülküche stecken, wie ich weiß, damit sie Euch als Beispiel vorzeigen können. Mir ist das gleich. So etwas wird von Aes Sedai entschieden und nicht von Köchinnen. Für mich ist eine Amyrlin so gut wie die andere. Aber wenn Ihr es zulaßt, daß dieses Mädchen gefangen wird, werde ich Euch von früh bis spät das Fell über die Ohren ziehen, solange ihr nicht mit den Köpfen in schmierigen Töpfen steckt oder Spucknäpfe ausleert! Ihr werdet Euch wünschen, sie hätten Euch die Köpfe abgehackt, bevor ich mit Euch fertig bin. Und glaubt ja nicht, sie würden Euch abnehmen, daß ich Euch geholfen habe! Jeder weiß, daß ich immer in meiner Küche bleibe. Denkt daran und macht gefälligst schnell!« Das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück und sie kniff Min in die Wange. »Sorgt dafür, daß sie sich beeilen, Kind. Oh, wie es mir fehlen wird, Euch einkleiden zu dürfen. Ihr seid ein so hübsches Mädchen.« Sie kniff noch einmal richtig zu und watschelte im Eiltempo aus der Zelle.
Min rieb sich gereizt die Wange. Sie haßte das bei Laras. Die Frau war stark wie ein Pferd. Nahe daran, gehängt zu werden? Welche Art von ›lebhaftem Mädchen‹ war Laras denn gewesen?
Vorsichtig zog sich Leane das Kleid über den Kopf und schnaubte laut dabei. »Daß sie Euch in einem derartigen Ton anzusprechen wagte, Mutter!« Ihr Gesicht kam oben wieder heraus und sie machte eine finstere Miene. »Ich bin überrascht, daß sie uns überhaupt half, wenn sie es so sieht.« »Aber sie hat geholfen«, sagte Min zu ihr. »Denkt daran. Und ich glaube, sie wird Wort halten und uns nicht verraten. Da bin ich sicher.« Leane schnaubte noch mal.
Siuan legte sich den Umhang um. »Es ist eben ein Unterschied, Leane, daß ich diesen Titel jetzt nicht mehr beanspruchen kann. Es ist schon ein Unterschied, wenn Ihr und ich morgen vielleicht bei ihr das Geschirr spülen müssen.« Leane faltete die Hände, damit sie nicht so zitterten, und konnte sie nicht ansehen. Siuan fuhr gelassen in ihrem trockenen Tonfall fort: »Ich vermute auch, daß Laras ihr Wort in bezug auf... andere Dinge... halten wird. Also, selbst wenn es Euch gleich ist, ob Elaida uns wie ein paar gefangener Haie aufhängt, damit uns alle betrachten können, schlage ich doch vor, daß Ihr euch jetzt ein bißchen bewegt. Was mich betrifft, habe ich seit meiner Jugend schmierige Töpfe gehaßt, und das hat sich bis jetzt nicht gelegt.« Leane begann mürrisch damit, die Schnüre an ihrem Bauernkleid zuzubinden.
Siuan wandte ihre Aufmerksamkeit Min zu. »Ihr seid vielleicht nicht mehr so darauf erpicht, uns zu helfen, wenn ich Euch sage, daß man uns beide... einer Dämpfung unterzogen hat.« Ihre Stimme bebte nicht dabei, aber man merkte ihr die Mühe an, die sie sich geben mußte, um das auszusprechen, und in ihren Augen standen Schmerz und Einsamkeit. Min erschrak, als ihr klar wurde, daß die Ruhe der anderen nur äußerlich war. »Jede der Aufgenommenen könnte uns nun fesseln, wie es ihr beliebt, Min. Sogar die meisten Novizinnen würden so mit uns fertig.« »Ich weiß«, sagte Min und gab sich Mühe, nicht einmal eine Andeutung von Mitgefühl in ihrer Stimme anklingen zu lassen. Mitgefühl würde möglicherweise den beiden Frauen die Selbstbeherrschung vollends rauben, und sie mußten sich jetzt einfach zusammennehmen. »Man hat es auf jedem öffentlichen Platz in der Stadt bekanntgegeben und angeschlagen, wo immer man eine Mitteilung annageln konnte. Und doch lebt Ihr noch.« Leane lachte bitter auf, aber sie überhörte es. »Wir sollten jetzt gehen. Sonst wacht noch der Wächter auf, oder jemand findet ihn.« »Führt uns an, Min«, sagte Siuan. »Wir sind in Eurer Hand.« Einen Moment später nickte auch Leane kurz und legte sich hastig den Umhang um.
Im Wachraum ganz am Ende des dunklen Korridors lag der einzige Wächter ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten am Boden. Der Helm, der ihn vor einem Brummschädel hätte bewahren können, lag auf einem roh gezimmerten Tisch neben der einzigen Laterne, die ihr Licht in den Raum warf. Seine Atmung schien in Ordnung zu sein, und so warf ihm Min keinen weiteren Blick zu. Sie hoffte aber doch, daß er nicht ernsthaft verletzt sei. Er hatte sich trotz ihres frivolen Angebots anständig verhalten und seine überlegene Kraft nicht ausgenützt.
Sie schob Siuan und Leane schnell durch die Eingangstür mit ihren dicken Holzbohlen und Eisenstreben und dann die enge Steintreppe hinauf. Sie mußten immer in Bewegung bleiben. Sich als Bittsteller bei den Aes Sedai auszugeben würde sie nicht vor einem Verhör bewahren, falls man sie vom Zellentrakt her kommen sah.
Sie sahen keinen weiteren Wächter oder sonst irgend jemanden, als sie aus den Tiefen der Burg herausklommen, doch Min hielt immer wieder die Luft an, bis sie endlich die kleine Tür erreicht hatten, die in die eigentliche Burg hineinführte. Sie öffnete sie einen Spaltbreit, um hindurchspähen zu können, und musterte den Korridor zu beiden Seiten.
Vergoldete Lampen standen an den mit Friesen bedeckten weißen Marmorwänden. Zur Rechten verschwanden gerade zwei Frauen mit schnellen Schritten aus ihrem Gesichtsfeld, ohne sich umzublicken. Ihren selbstbewußten Schritten nach mußten sie Aes Sedai sein, obwohl sie ihre Gesichter nicht erkennen konnte. In der Burg schritt selbst eine Königin zögernd einher. In der anderen Richtung stolzierte ein halbes Dutzend Männer davon weg, genauso eindeutig Behüter mit der Grazie eines Wolfs und mit Umhängen, deren Farbe sich ihrer Umgebung anpaßte.
Sie wartete, bis auch die Behüter verschwunden waren, und schlüpfte dann durch die Tür hinaus. »Die Luft ist rein. Kommt mit. Laßt die Kapuzen oben und senkt die Köpfe. Benehmt Euch leicht verängstigt.« Was sie betraf, mußte sie keine Angst heucheln. Die beiden Frauen folgten ihr aus dem stillen Treppenhaus. Sie hatte auch bei ihnen das Gefühl, die Angst sei absolut keine Heuchelei.
Die Säle der Burg waren selten nur voll, doch nun schienen sie ihr geradezu leer. Gelegentlich tauchte vor ihnen oder in einem Seitenkorridor jemand auf, aber ob Aes Sedai oder Behüter oder Dienerin: alle eilten geschäftig einher und konzentrierten sich so auf ihre Aufgaben, daß sie niemand anderes bemerkten. Auch hier draußen in der Burg herrschte Stille.
Dann betraten sie einen Quergang und entdeckten auf dessen hellgrünen Fußbodenkacheln dunkle Flecken eingetrockneten Blutes. Zwei größere Flecke zogen sich zu langen Blutschmierern dahin, als habe man Leichen weggeschleift.
Siuan blieb stehen und betrachtete die Blutflecken. »Was ist denn geschehen?« wollte sie wissen. »Sagt es mir, Min!« Leane packte den Griff ihres Messers und sah sich um, als erwarte sie jeden Moment einen Angriff.
»Kämpfe«, sagte Min zögernd. Sie hatte gehofft, die beiden Frauen befänden sich bereits außerhalb der Burg und möglichst sogar außerhalb der Stadt, wenn sie davon erfuhren. Sie führte sie um die Blutflecken herum und stieß sie an, als sie zurückblicken wollten. »Es begann gestern, nachdem man Euch festgenommen hatte, und erst vor vielleicht zwei Stunden hat sich alles beruhigt. Aber noch nicht vollständig.« »Meint Ihr damit etwa die Gaidin?« rief Leane. »Behüter, die untereinander kämpften?« »Behüter, Wachsoldaten, jeder. Es begann, als eine Reihe von Männern, die man als angebliche Maurer hereingelassen hatte — zwei- oder dreihundert —, versuchte, die Macht in der Burg an sich zu reißen, kaum, daß Eure Gefangennahme bekanntgegeben worden war.« Siuan blickte finster drein. »Danelle! Ich hätte wissen müssen, daß mehr daran war als nur ihre Unaufmerksamkeit.« Ihr Gesicht verzog sich noch weiter, und Min glaubte schon, sie werde zu weinen anfangen. »Artur Falkenflügel hat es nicht geschafft, aber wir selbst haben es nun erreicht.« Ob sie den Tränen nah war oder nicht, ihre Stimme klang jedenfalls wild entschlossen. »Licht, hilf uns, wir haben die Macht der Burg zerstört.« Ihr Atem und gleichzeitig ihr Zorn entluden sich in einem langen Seufzen. »Ich denke schon«, sagte sie traurig einen Augenblick später, »ich sollte mich glücklich schätzen, daß mich einige in der Burg unterstützt haben, aber ich wünsche beinahe, sie hätten es unterlassen.« Min bemühte sich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, aber diese scharfen blauen Augen schienen jedes Wimpernzucken bei ihr wahrzunehmen und auszulegen. »Haben sie mich wirklich unterstützt, Min?« »Einige schon.« Sie hatte nicht die Absicht, ihr zu sagen, wie wenige es gewesen waren, noch nicht jedenfalls. Andererseits mußte sie Siuan klarmachen, daß sie innerhalb der Burg keine Unterstützung mehr hatte. »Elaida hat nicht abgewartet, ob die Blauen Ajah noch zu Euch hielten oder nicht. In der gesamten Burg befindet sich keine einzige Blaue Schwester mehr, jedenfalls keine, die noch am Leben wäre. Das weiß ich definitiv.« »Sheriam?« fragte Leane mit Angst in der Stimme. »Anaiya?« »Ich weiß nichts über sie. Es sind auch nicht mehr viele Grüne übrig. Nicht in der Burg jedenfalls. Die anderen Ajahs haben sich gespalten, die einen für die neuen Herrscher, die anderen dagegen. Die meisten Roten befinden sich noch hier. Soweit ich weiß, ist jede, die Elaida Widerstand leistete, entweder geflohen oder tot. Siuan... « Es war schon eigenartig, sie so anzureden. Leane knurrte deshalb auch etwas in sich hinein. Doch sie jetzt noch ›Mutter‹ zu nennen, wäre blanker Hohn. »Siuan, in den Anklagen gegen Euch und Leane, die man ausgehängt hat, wird behauptet, Ihr hättet die Flucht Mazrim Taims arrangiert. Logain ist während der Kämpfe entkommen, und auch das hat man Euch zugeschrieben. Sie nennen Euch nicht gerade Schattenfreunde — das würde wohl den Schwarzen Ajah zu nahe kommen —, aber es ist nicht weit davon entfernt. So, daß jeder es zwischen den Zeilen ablesen kann.« »Sie geben noch nicht einmal das zu, was sie in Wahrheit wollen«, sagte Siuan leise, »nämlich genau das, weswegen sie mich beseitigen mußten.« »Schattenfreunde?« murmelte Leane erstaunt. »Sie haben uns...?« »Warum sollten sie nicht?« hauchte Siuan. »Was sollten sie nicht wagen, wenn sie schon soviel gewagt haben?« Sie zogen unter den Umhängen ihre Schultern ein und ließen sich von Min führen, wohin sie wollte. Sie verwünschte den Ausdruck der Hoffnungslosigkeit auf ihren Gesichtern.
Als sie sich einer der Eingangstüren näherten, begann sie aufzuatmen. Sie hatte im bewaldeten Teil des Geländes unweit vom Westausgang Pferde versteckt. Es war natürlich noch eine Frage, wie leicht es ihnen fallen werde, tatsächlich hinauszureiten, aber sobald sie einmal die Pferde erreicht hatten, würde sie sich schon beinahe in Freiheit fühlen. Sicher würden doch die Torwächter drei Frauen nicht am Ausreiten hindern. Das redete sie sich jedenfalls ein.
Die Tür, nach der sie gesucht hatte, erschien vor ihnen. Es war eine kleine Tür mit glatter Holztäfelung, die auf einen selten benützten Weg hinausführte. Sie lag gegenüber der Einmündung des breiten Korridors, der sich um die ganze Burg herumzog. Und dann sah sie Elaida, die aus diesem Korridor heraus genau auf sie zukam.
Mins Knie schlugen auf den Fußbodenkacheln auf, und sie kauerte mit eingezogenem Kopf und durch die Kapuze verborgenem Gesicht da, während ihr Herz versuchte, die Rippen von innen zu durchschlagen. Eine Bittstellerin, mehr bin ich nicht. Nur eine einfache Frau, die nichts mit dem zu tun hat, was passiert ist. Oh, Licht, bitte! Sie hob den Kopf ein wenig, damit sie unter dem Rand der Kapuze hervorspähen konnte. Sie erwartete beinahe, Elaidas wütendes Gesicht auf sich herabblicken zu sehen.
Elaida fegte vorbei, ohne einen Blick in Mins Richtung zu werfen. Die breite, gestreifte Stola der Amyrlin lag um ihre Schultern. Alviarin folgte ihr in der Stola der Behüterin der Chronik, in Weiß gehalten, ihrer Ajah wegen. Auf ihren Fersen folgte ein Dutzend oder mehr Aes Sedai, die meisten Rote. Allerdings sah Min auch zwei Stolen mit gelben Fransen, eine grüne und eine braune. Sechs Behüter flankierten die Prozession, die Hände an den Schwertgriffen und die Augen wachsam. Ihre Blicke schweiften über die drei knienden Frauen und beachteten sie nicht weiter.
Sie knieten alle drei, wie Min jetzt erst bemerkte, und ihr wurde im selben Moment klar, daß sie befürchtet hatte, Siuan und Leane würden Elaida an die Kehle gehen. Beide Frauen hatten die Köpfe ebenfalls gerade so weit gehoben, daß sie den Weg der Prozession den Korridor hinunter verfolgen konnten.
»Sehr wenige Frauen nur sind bisher einer Dämpfung unterzogen worden«, sagte Siuan mehr zu sich selbst, »und niemand davon hat es lange überlebt, aber man behauptet, ein Weg zum Überleben sei, sich etwas zu suchen, was man mit der gleichen Leidenschaft erreichen will, wie man einst die Macht benützen wollte.« Die Hoffnungslosigkeit war aus ihren Augen gewichen. »Zuerst dachte ich, ich müßte Elaida aufschlitzen und in die Sonne zum Trocknen hängen. Jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher — nichts! —, als dieser Halsabschneiderin sagen zu können, daß sie noch lange leben wird, um als Beispiel dafür zu dienen, was mit jemandem geschieht, der mich als Schattenfreund bezeichnet!« »Und Alviarin«, fügte Leane mit gepreßter Stimme hinzu. »Und Alviarin!« »Ich hatte gefürchtet, sie würden meine Gegenwart spüren«, fuhr Siuan fort. »Aber es gibt jetzt nichts mehr, was man spüren könnte. Das ist ja wohl der Vorteil dabei... einer Dämpfung unterzogen worden zu sein, wie es scheint.« Leane schüttelte ärgerlich den Kopf, und Siuan sagte: »Wir müssen jeden Vorteil nützen, den wir haben. Und wir müssen froh sein über jeden davon.« Das letztere klang, als wolle sie es sich selbst einreden.
Der letzte Behüter verschwand in einiger Entfernung um eine Ecke, und Min schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. »Wir können später über Vorteile reden«, krächzte sie und hielt inne, um noch einmal schwer zu schlucken. »Gehen wir schnell zu den Pferden. Das muß ja wohl jetzt das Schlimmste gewesen sein, was wir zu überstehen hatten.« So schien es tatsächlich, als sie aus der Burg hinaus in den Mittagssonnenschein eilten. Das Schlimmste lag jetzt wohl hinter ihnen. Das einzige Anzeichen für etwas Außergewöhnliches war die Rauchwolke, die sich im Osten des Burggeländes in einen wolkenlosen Himmel erhob. In der Ferne liefen Gruppen von Männern herum, aber keiner warf den drei Frauen einen zweiten Blick zu, als sie an der Bibliothek vorbeigingen, die wie hoch aufragende Wogen aus Stein gebaut war. Ein kleiner Pfad führte von dort aus tiefer in das Gelände hinein in ein Wäldchen von Eichen und Nadelbäumen, wie man es ansonsten fern von den Städten fand. Mins Schritte wurden beschwingter, als sie die drei gesattelten Pferde immer noch dort vorfand, wo sie und Laras die Tiere zurückgelassen hatten — in einer kleinen Lichtung zwischen Lederblattbäumen und Birken.
Siuan begab sich sofort zu einer kräftigen, zottigen Stute, die zwei Handbreit kleiner war als die anderen. »Das richtige Reittier in meiner augenblicklichen Verfassung. Und sie wirkt friedlicher als die beiden anderen. Ich war noch nie eine gute Reiterin.« Sie streichelte die Nase der Stute und die steckte ihr die weiche Schnauze in die Hand. »Wie heißt sie, Min? Wißt Ihr das?« »Bela. Sie gehört...« »Ihr Pferd.« Gawyn trat hinter einem breiten Baumstamm hervor, die eine Hand auf dem langen Schwertgriff. Die Blutspritzer auf seinem Gesicht sahen genauso aus, wie Min es in ihrer Vision gesehen hatte an jenem ersten Tag in Tar Valon. »Ich wußte, daß du etwas vorhast, Min, als ich ihr Pferd sah.« Sein rotgoldenes Haar war blutverklebt, die blauen Augen blickten halb betäubt drein, doch er ging mit sicherem Schritt auf sie zu, ein hochgewachsener Mann mit katzengleicher Grazie. Eine Katze, die Mäusen auflauert.
»Gawyn«, begann Min, »wir... « Sein Schwert fuhr aus der Scheide und riß Siuans Kapuze von ihrem Kopf. Die scharfe Schneide lag blitzartig an ihrem Hals. Alles geschah so schnell, daß Min dem kaum folgen konnte. Siuan hielt hörbar die Luft an, und sie bewegte sich nicht, blickte nur zu ihm auf, äußerlich so würdevoll, als trüge sie noch die Stola.
»Nicht, Gawyn!« keuchte Min. »Das darfst du nicht!« Sie tat einen Schritt auf ihn zu, doch er erhob seine freie Hand gegen sie, ohne überhaupt hinzublicken, und sie blieb stehen. Er war angespannt wie eine Stahlfeder und konnte jeden Moment explodieren. Sie bemerkte, daß Leane ihren Umhang zur Seite geschoben hatte, um ihre eine Hand zu verbergen. Sie konnte nur hoffen, daß die Frau nicht so dumm war, ihr Messer zu ziehen.
Gawyn musterte Siuans Gesicht und nickte dann bedächtig. »Ihr seid es wirklich. Ich war nicht sicher, aber nun bin ich es. Diese... Verkleidung kann mich nicht... « Er schien sich nicht zu bewegen, doch ein plötzliches Aufreißen von Siuans Augen berichtete davon, daß die Schneide etwas stärker in ihre Haut drückte. »Wo sind meine Schwester und Egwene? Was habt Ihr mit ihnen gemacht?« Was Min am meisten ängstigte, mehr als das blutverschmierte Gesicht und die glasigen Augen, mehr als die angespannte Körperhaltung und die erhobene Hand, die er wohl vergessen hatte, war die Tatsache, daß er die Stimme nicht erhob und sie derart tonlos klang. Er klang außerdem müde, erschöpfter, als sie jemals jemand anderen empfunden hatte.
Siuans Stimme klang beinahe genauso leidenschaftslos. »Das letzte, was ich von ihnen hörte, war, daß sie sicher und wohlauf seien. Ich weiß aber nicht, wo sie sich jetzt befinden. Hättet Ihr es lieber, sie befänden sich hier mitten im Getümmel?« »Keine Wortspiele der Aes Sedai, bitte«, sagte er leise. »Sagt mir, wo sie waren, und zwar geradeheraus, damit ich weiß, Ihr sprecht die Wahrheit.« »In Illian«, sagte Siuan ohne Zögern. »In der Stadt selbst. Sie werden von einer Aes Sedai namens Mara Tomanes ausgebildet. Sie sollten eigentlich noch dort sein.« »Nicht in Tear«, murmelte er. Einen Augenblick lang schien er darüber nachzudenken. Mit einemmal sagte er: »Sie behaupten, Ihr wärt ein Schattenfreund. Das würde Euch zur Schwarzen Ajah machen, oder?« »Falls Ihr das glaubt«, sagte Siuan gelassen, »dann hackt mir den Kopf ab.« Min hätte beinahe aufgeschrien, als seine Knöchel sich weiß verfärbten vor Kraftaufwand. Langsam streckte sie die Hand aus und legte ihre Finger auf sein Handgelenk. Sie bewegte sich vorsichtig, damit er nicht glaubte, sie wolle mehr als ihn nur berühren. Es war, als ruhten ihre Finger auf Felsgestein. »Gawyn, du kennst mich doch. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich den Schwarzen Ajah helfen würde.« Sein Blick wandte sich keinen Moment klang von Siuans Gesicht. Er zuckte mit keiner Wimper. »Gawyn, Elayne unterstützt sie und alles, was sie getan hat. Deine eigene Schwester, Gawyn.« Seine Haut fühlte sich immer noch wie warmer Stein an. »Auch Egwene glaubt an sie, Gawyn.« Sein Handgelenk bebte unter ihren Fingern. »Ich schwöre, Gawyn. Egwene glaubt an sie.« Sein Blick huschte zu ihr herüber und dann zu Siuan zurück. »Warum sollte ich Euch nicht an den Haaren zurückzerren? Nennt mir einen stichhaltigen Grund!« Siuan begegnete seinem Blick viel ruhiger, als Min das gekonnt hätte. »Das könntet Ihr tun, und ich schätze, Ihr würdet mit mir genauso leicht fertigwerden, wie mit einem Kätzchen. Gestern war ich eine der mächtigsten Frauen der Welt. Vielleicht die mächtigste von allen. Könige und Königinnen folgten meinem Ruf, selbst dann, wenn sie die Burg haßten und all das, wofür sie steht. Heute muß ich fürchten, zur Nacht nicht einmal etwas zu Essen zu finden und unter einem Busch schlafen zu müssen. Innerhalb eines Tages bin ich von der mächtigsten Frau der Welt zu einer Bettlerin geworden, die hofft, einen Bauernhof zu finden, auf dem sie ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit verdienen kann. Was Ihr auch glaubt, das ich getan haben soll: Ist das keine würdige Strafe?« »Vielleicht«, sagte er nach einem Moment des Überlegens. Min atmete tief und erleichtert auf, als er mit einer eleganten Bewegung sein Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich Euch gehen lasse. Elaida wird vielleicht doch noch Euren Kopf bekommen, und das kann ich nicht zulassen. Ich will Euer Wissen zur Verfügung haben, wenn ich es brauche.« »Gawyn«, sagte Min, »komm mit uns.« Ein von den Behütern ausgebildeter Schwertkämpfer konnte in den kommenden Tagen sehr nützlich sein. »Auf diese Art hast du sie zur Hand, um deine Fragen zu beantworten.« Siuans Blick huschte zu ihr herüber, aber auch sofort wieder zu Gawyns Gesicht zurück. Er wirkte keineswegs zornig. Trotzdem bohrte Min weiter: »Gawyn, Egwene und Elayne vertrauen ihr wirklich. Kannst du ihr nicht auch vertrauen?« »Verlange nicht mehr von mir, als ich zu geben in der Lage bin«, sagte er ruhig. »Ich bringe Euch zum nächstgelegenen Ausgang. Ihr würdet ohne mich niemals hinauskommen. Das ist alles, was ich für Euch tun kann, Min, und es ist mehr, als ich tun sollte. Deine Festnahme wurde angeordnet; hast du das gewußt?« Sein Blick wanderte wieder zu Siuan hinüber. »Falls ihnen etwas zustößt«, sagte er in diesem ausdruckslosen Tonfall, »ich meine Egwene und meine Schwester, dann suche ich Euch. Ich werde Euch finden, wo immer Ihr euch aufhaltet, und sichergehen, daß Euch das gleiche zustößt.« Mit einemmal trat er ein Dutzend Schritte weit von ihnen weg und stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf da, als könne er es nicht länger ertragen, sie sehen zu müssen.
Siuan erhob eine Hand und faßte nach ihrem Hals. Eine dünne rote Linie auf ihrer blassen Haut zeigte, wo seine Klinge sich befunden hatte. »Ich habe mich zu lang auf die Macht verlassen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich hatte vergessen, wie es ist, wenn man jemandem gegenübersteht, der mich hochheben und wie einen Stock zerbrechen kann.« Dann blickte sie Leane an, als sehe sie die andere zum erstenmal, und berührte unsicher ihr eigenes Gesicht, da sie nicht wußte, wie sie wohl selbst aussehe. »Nach dem zu schließen, was ich gelesen habe, dauert es eigentlich länger, bis es aus dem Gesicht verschwunden ist, aber vielleicht wurde der Effekt durch Elaidas grobe Behandlung verstärkt. Es hilft möglicherweise dabei, unerkannt zu bleiben.« Sie kletterte ungeschickt auf Belas Rücken und handhabte die Zügel so vorsichtig, als sei die zottige Stute ein feuriger Hengst. »Noch ein Vorteil der D..., scheint mir. Ich muß noch lernen, das auszusprechen, ohne davor zurückzuschrecken. Ich wurde einer Dämpfung unterzogen.« Sie sprach die Worte langsam und betont aus und nickte dann. »Geschafft. Wenn ich nach Leanes Aussehen gehe, habe ich gute fünfzehn Jahre verloren, vielleicht auch mehr. Ich habe Frauen kennengelernt, die alles dafür gegeben hätten. Ein dritter Vorteil also.« Sie blickte zu Gawyn hinüber. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt, doch trotzdem senkte sie ihre Stimme. »Außerdem scheint mein Mundwerk auch schneller als bisher, oder? Ich hatte mich jahrelang nicht mehr an Mara erinnert. Sie ist eine Freundin aus meiner Kindheit.« »Werdet Ihr jetzt altern wie wir alle?« fragte Min, als sie ebenfalls auf ihr Pferd stieg. Besser, als jetzt vom Lügen zu sprechen. Sie sollte sich nur daran erinnern, daß Siuan und Leane jetzt tatsächlich wieder lügen konnten. Leane stieg mit einer geschmeidigen Bewegung auf ihre Stute und ließ sie als Gehorsamsübung kurz im Kreis gehen. Sie hatte ganz gewiß schon öfter auf einem Pferd gesessen.
Siuan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Keine Frau, die man einer Dämpfung unterzogen hat, hat jemals lang genug gelebt, um das herauszufinden. Ich habe es aber vor.« »Wollt Ihr eigentlich gehen oder Euch weiter hier unterhalten?« fragte Gawyn grob. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging zwischen den Bäumen durch voran.
Sie trieben ihre Stuten hinterher. Siuan zog ihre Kapuze wieder über, um ihr Gesicht zu verbergen. Ob sie nun schwer zu erkennen war oder nicht, sie wollte kein Risiko eingehen. Leane hatte sich ebenfalls so vollständig verhüllt, wie es möglich war. Einen Augenblick später folgte Min ihrem Beispiel. Elaida wollte, daß man sie gefangennahm? Das konnte nur eines bedeuten: Sie wußte, daß ›Elmindreda‹ in Wirklichkeit Min war. Wie lange hatte die Frau das schon gewußt? Wie lange war Min herumgelaufen in der Meinung, sie sei sicher, während Elaida sie beobachtete und sie hinter ihrem Rücken auslachte? Der Gedanke löste ein Schaudern aus.
Als sie auf dem Kiesweg Gawyn wieder einholten, erschienen zwanzig oder mehr junge Männer und schritten auf sie zu. Ein paar waren vielleicht etwas älter als er, andere dagegen kaum mehr als Knaben. Min vermutete, daß einige von ihnen sich noch nicht rasierten, jedenfalls nicht täglich. Alle trugen Schwerter an den Gürteln oder auf dem Rücken, und drei oder vier besaßen sogar Brustharnische. Mehr als einer hatte eine durchblutete Bandage aufzuweisen, und die Kleidung der meisten war blutbefleckt. Jeder stierte genauso glasig vor sich hin wie Gawyn. Als sie ihn sahen, blieben sie stehen und klopften sich mit der Faust auf die Brust. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, erwiderte Gawyn ihren Gruß mit einem Kopfnicken, und die jungen Männer schlossen sich ihnen hinter den Pferden der drei Frauen an. »Die Schüler?« murmelte Siuan. »Sie haben auch an den Kämpfen teilgenommen?« Min nickte und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. »Sie nennen sich die ›Jünglinge‹.« »Eine passende Bezeichnung«, seufzte Siuan.
»Ein paar davon sind nicht mehr als Kinder«, knurrte Leane.
Min hatte nicht vor, ihnen zu berichten, daß Behüter der Grünen und Blauen Ajahs geplant hatten, sie zu befreien, bevor sie der Dämpfung unterzogen wurden, und sie hätten wohl auch Erfolg gehabt, wenn nicht Gawyn die Schüler, diese ›Kinder‹ in die Burg und gegen sie geführt hätte, um sie aufzuhalten. Die Kämpfe hatten zu den tödlichsten überhaupt gezählt, Schüler gegen Lehrer, und es hatte keine Gnade gegeben, keine Rücksicht.
Die hohen, bronzebeschlagenen Torflügel des Alindrelle-Tores standen offen, waren aber schwer bewacht. Einige der Wächter trugen die Flamme von Tar Valon auf der Brust, andere dagegen waren wie Arbeiter gekleidet und hatten sich lediglich nicht einmal zueinanderpassende Harnische und Helme zugelegt. Das waren wohl die Kerle, die sich als Maurer verkleidet eingeschlichen hatten. Alle aber wirkten hart und kampferprobt, als könnten sie gut mit ihren Waffen umgehen. Die beiden Gruppen hielten sich allerdings voneinander fern und beäugten sich gelegentlich mißtrauisch. Ein grauhaariger Offizier hob sich von den anderen Burgwächtern ab, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete, wie sich Gawyn und die anderen näherten.
»Schreibutensilien, bitte!« befahl Gawyn herrisch. »Beeilt Euch!« »Also, Ihr müßt wohl diese Jünglinge sein, von denen ich gehört habe«, sagte der ergraute Mann. »Eine prima Truppe von jungen Kampfhähnen, aber ich habe Befehl, niemanden aus dem Bereich der Burg hinauszulassen. Von der Amyrlin selbst unterschrieben. Wer glaubt Ihr denn, daß Ihr seid, wenn Ihr dem zuwiderhandeln wollt?« Gawyn hob langsam den Kopf. »Ich bin Gawyn Trakand von Andor«, sagte er leise. »Und ich werde diese Frauen hinausgeleiten, oder Ihr seid ein toter Mann.« Die anderen Jünglinge traten näher zu ihm hin und bildeten eine Reihe, um sich den Wächtern mit den Händen an der Schwertgriffen entgegenzustellen. Sie taten das, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne sich darum zu kümmern, daß die anderen in der Überzahl waren.
Der ergraute Mann trat nervös von einem Fuß auf den anderen und einer der anderen murmelte: »Er ist derjenige, von dem sie behaupten, er habe Hammar und Coulin getötet.« Einen Augenblick später machte der Offizier eine Kopfbewegung in Richtung Wachhaus, und einer der Wächter rannte hinein und kam mit einem Schoßpult wieder. An einer Ecke davon befand sich ein Messingbehälter, in dem über einer kleinen Flamme ein rotes Stück Siegelwachs gerade zu schmelzen begann. Gawyn ließ das Pult von dem Mann festhalten und schrieb wild drauflos.
»Das wird Euch an den Brückenwärtern vorbeibringen«, sagte er, während er einen dicken Tropfen roten Siegelwachses unter seine Unterschrift klatschen ließ. Dann drückte er entschlossen seinen Siegelring hinein.
»Ihr habt Coulin getötet?« sagte Siuan mit kalter Stimme, wie es ihrem früheren Amt zugestanden hätte. »Und Hammar?« Mins Angst wuchs. Sei ruhig, Siuan! Denke daran, wer du jetzt bist, und halte den Mund!
Gawyn fuhr zu den drei Frauen herum, und seine Augen funkelten wie blaues Feuer. »Ja«, rief er verbittert. »Sie waren meine Freunde, und ich habe sie respektiert, aber sie stellten sich auf die Seite von... von Siuan Sanche und ich mußte...« Abrupt drückte er das von ihm versiegelte Dokument Min in die Hand. »Geht! Geht, bevor ich meine Meinung ändere!« Er klatschte ihrer Stute auf die Flanke und lief dann zu den beiden anderen Pferden hin, um auch sie anzutreiben, während Min bereits in vollem Galopp durch das offene Tor jagte. »Geht!« Min zügelte ihr Pferd und ließ es über den großen freien Platz traben, der das Burggelände umgab. Siuan und Leane ritten gleich hinter ihr her. Der Platz war wie leergefegt, genauso wie die Straßen dahinter. Das Hufgeklapper ihrer Pferde auf den Pflastersteinen warf ein hohles Echo. Wer noch nicht aus der Stadt geflohen war, versteckte sich offensichtlich.
Sie betrachtete beim Weiterreiten Gawyns Dokument. Auf dem großen roten Klecks aus Siegelwachs war ein angreifender Keiler eingeprägt. »Das sagt lediglich aus, daß wir die Erlaubnis haben, die Stadt zu verlassen. Wir können es benützen, um an Bord eines Schiffes zu kommen oder um die Brücken zu überqueren.« Es schien ihr raffiniert, einen Weg zu gehen, den niemand sonst kannte, nicht einmal Gawyn. Sie glaubte sowieso nicht, daß er seine Meinung ändern würde, doch er war psychisch angeschlagen und konnte bei jedem falschen Schlag zerbrechen.
»Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee«, meinte Leane. »Ich habe immer Galad für den gefährlicheren der beiden gehalten, aber jetzt bin ich nicht mehr sicher. Hammar und Coulin... « Sie schauderte. »Ein Schiff würde uns weiter weg befördern und schneller, als Pferde dazu in der Lage sind.« Siuan schüttelte den Kopf. »Die meisten der geflohenen Aes Sedai dürften über die Brücken gegangen sein, schätze ich. Das ist der schnellste Weg aus der Stadt, wenn einen jemand verfolgt, schneller, als zu warten, bis die Besatzung eines Schiffs schließlich ablegt. Ich muß in der Nähe von Tar Valon bleiben, wenn ich sie zusammenführen will.« »Sie werden Euch nicht mehr folgen«, sagte Leane bedeutungsschwanger. »Ihr habt kein Recht mehr auf die Stola. Nicht einmal eines auf die einfache Stola oder den Ring.« »Ich mag vielleicht die Stola nicht mehr tragen«, erwiderte Siuan im gleichen Tonfall, »aber ich weiß immer noch, wie man eine Besatzung auf einen Sturm vorbereitet. Und da ich die Stola nicht mehr tragen kann, muß ich die richtige Frau erwählen, um meinen Platz einzunehmen. Ich werde Elaida nicht so davonkommen lassen, daß sie sich einfach selbst zur Amyrlin macht. Es muß eine sein, die sehr große Kräfte besitzt, eine, die die Dinge auf die richtige Art sieht.« »Dann wollt Ihr etwa tatsächlich diesem... diesem Drachen helfen?« fauchte Leane.
»Was sonst soll ich denn Eurer Meinung nach tun? Mich einrollen und sterben?« Leane schauderte, als habe man sie ins Gesicht geschlagen, und eine Weile lang ritten sie schweigend weiter. All die prachtvollen Gebäude in ihrer Umgebung, erbaut wie vom Wind geformte Klippen und Wogen und Vogelschwärme, ragten beängstigend über ihnen auf, nun, da sich keine Menschenseele auf den Straßen zeigte. Ein einzelner Bursche, der weit vor ihnen um eine Ecke bog, huschte anschließend von einem sichtgeschützten Eingang zum anderen, als erkunde er den vor ihnen liegenden Weg. Irgendwie verstärkte er diesen Eindruck von Leere noch, statt ihn abzumildern.
»Was können wir denn sonst tun?« fragte Leane schließlich. Sie hing zusammengesunken wie ein halb leerer Getreidesack auf ihrem Pferd. »Ich fühle mich so... leer. Ausgebrannt.« »Sucht Euch etwas, die Leere zu füllen«, sagte Siuan energisch zu ihr. »Irgend etwas. Kocht für die Hungrigen, pflegt die Kranken, sucht Euch einen Mann und zieht einen Stall voll Kinder auf. Was mich betrifft, so habe ich vor, dafür zu sorgen, daß Elaida nicht so davonkommt. Ich könnte ihr ja noch vergeben, wenn sie wirklich der Meinung wäre, ich hätte die Burg in Gefahr gebracht. Beinahe jedenfalls. Beinahe. Aber sie war vom ersten Tag an, als man mich und nicht sie zur Amyrlin wählte, von Neid erfüllt. Das hat sie genauso angetrieben wie ihr Ehrgeiz, und dafür werde ich sie zu Fall bringen. Das erfüllt mich, Leane. Das und die Tatsache, daß ihr Rand al'Thor nicht in die Hände fallen darf.« »Vielleicht reicht das schon als Aufgabe.« Die Frau mit der kupferfarbenen Haut schien wohl Zweifel zu hegen, doch richtete sie sich jetzt wenigstens im Sattel auf. Bei ihrer offensichtlichen Erfahrung im Reiten, verglichen mit Siuans unsicherem Sitz auf der kleineren Stute, wirkte sie wie die Anführerin. »Aber wie können wir damit beginnen? Wir haben drei Pferde, die Kleider, die wir tragen und was Min in ihrer Geldbörse mit sich trägt. Kaum ausreichend, um die Burg zu bedrohen.« »Ich bin froh, daß du...« — Siuan wechselte die Anrede und verstärkte damit den Eindruck einer verschworenen Gemeinschaft — »daß du dich nicht für einen Mann und eine Familie entschieden hast. Wir werden schon andere... « Siuan verzog das Gesicht. »Wir werden andere Aes Sedai finden, die geflohen sind. Wir finden alles, was wir benötigen. Wir besitzen vielleicht schon jetzt mehr, als du glaubst, Leane. Min, was steht in diesem Paß, den uns Gawyn gab? Steht etwas von drei Frauen drin? Was? Beeil dich doch, Mädchen.« Min blickte böse ihren Rücken an. Siuan war vorgeritten, um den Mann zu beobachten, der sich vorn von Tür zu Tür vorarbeitete. Er war groß und dunkelhaarig und einfach, doch gut in dunklen Brauntönen gekleidet. Die Frau benahm sich, als sei sie immer noch die Amyrlin. Na ja, ich wollte ja, daß sie wieder Rückgrat zeigt, oder? Siuan drehte sich um und blickte sie mit diesen scharfen blauen Augen an. Irgendwie wirkten sie jedoch nicht mehr so einschüchternd wie zuvor. »›Die Träger erhalten auf Grund meiner Autorität die Erlaubnis, Tar Valon zu verlassen‹« zitierte Min schnell aus dem Gedächtnis. »›Wer sie aufhält, wird sich vor mir verantworten müssen.‹ Unterzeichnet... « »Ich kenne seinen Namen«, maulte Siuan. »Folgt mir.« Sie hieb die Fersen in Belas Flanken und verlor fast den Halt, als die zottige Stute schwerfällig losgaloppierte. Sie klammerte sich aber tapfer fest und blieb oben, wenn sie auch mächtig durchgeschüttelt wurde. Ja, sie spornte sogar Bela zu noch schnellerer Gangart an!
Min tauschte einen verblüfften Blick mit Leane, und dann galoppierten beide hinterher. Der Mann blickte sich um, als er den Hufschlag der Pferde hörte, und begann selbst zu laufen, doch Siuan überholte ihn und brachte Bela vor ihm zum Stehen, so daß er aufstöhnend auf die Stute prallte. Min erreichte sie gerade in dem Moment, als Siuan sagte: »Ich hatte nicht erwartet, Euch hier anzutreffen, Logain.« Min riß Augen und Mund auf. Er war es tatsächlich.
Diese Augen mit ihrem Ausdruck der Verzweiflung, das von dunklem, lockigem und langem schwarzen Haar eingerahmte gutgeschnittene Gesicht und die breiten Schultern — das alles war unverkennbar. Ausgerechnet auf ihn mußten sie stoßen. Er wurde wahrscheinlich von der Burg nun genauso energisch gesucht wie Siuan.
Logain fiel auf die Knie nieder, als versagten seine Beine nun endgültig den Dienst. »Ich kann doch jetzt niemandem mehr gefährlich sein«, sagte er müde und blickte auf die Pflastersteine vor Belas Hufen nieder. »Ich wollte nur weg, um irgendwo in Frieden zu sterben. Wenn Ihr nur wüßtet, wie es ist, wenn man das verloren hat, was ich... « Leane straffte ärgerlich die Zügel, als er immer leiser wurde. Da begann er erneut, ohne ihre Ungeduld bemerkt zu haben: »Die Brücken sind alle bewacht. Sie lassen niemanden hinüber. Sie kannten mich nicht, aber sie ließen mich nicht weg. Ich habe es überall probiert.« Mit einemmal lachte er müde auf, als sei das alles lustig. »Ich habe es überall probiert.« »Ich bin der Meinung«, sagte Min vorsichtig, »wir sollten jetzt schnell weg. Er versucht wahrscheinlich, denen zu entkommen, die ihn suchen.« Siuan warf ihr einen Blick zu, der sie beinahe rückwärts vom Pferd geworfen hätte. Die Augen der ehemaligen Amyrlin waren kalt wie Eis, und ihr Kinn hatte sie energisch vorgestreckt. Min wäre es lieber gewesen, die Frau zeigte noch ein wenig von der Unsicherheit, wie es vorher der Fall gewesen war.
Der große Mann hob den Kopf und blickte sie eine nach der anderen an. Nachdenklich runzelte er die Stirn. »Ihr seid keine Aes Sedai. Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir?« »Ich bin die Frau, die Euch aus Tar Valon hinausbringen kann«, sagte Siuan zu ihm. »Und die Euch vielleicht eine Möglichkeit verschaffen kann, Euch an den Roten Ajah zu rächen. Ihr hättet doch sicher gern eine Chance, denen etwas zurückzuzahlen, die Euch gefangennahmen, oder?« Er schauderte sichtlich. »Was muß ich tun?« fragte er dann bedächtig.
»Folgt mir«, antwortete sie. »Folgt mir und denkt immer daran, daß ich die einzige auf der ganzen Welt bin, die Euch eine Möglichkeit zur Rache verschaffen wird.« Von den Knien aus musterte er die drei Gesichter mit schräggehaltenem Kopf, und dann stand er langsam auf, den Blick auf Siuan gerichtet. »Ich bin Euer Mann«, sagte er schlicht.
Leanes Gesichtsausdruck zeigte die gleiche Ungläubigkeit, die Min empfand. Was beim Licht konnte Siuan ein Mann nützen, dessen geistige Gesundheit in Zweifel stand und der sich einst fälschlich als der Wiedergeborene Drache bezeichnet hatte? Wahrscheinlich würde er sich gegen sie wenden und versuchen, eins ihrer Pferde zu stehlen! Wenn Min so seinen Körperbau betrachtete, seine Größe und die Breite der Schultern, war sie sogar der Meinung, sie sollten lieber immer die Messer griffbereit haben. Plötzlich flammte einen Augenblick lang ein goldener und blauer Lichtschein um seinen Kopf herum auf, der genauso gewiß wie beim erstenmal, als sie ihn gesehen hatte, auf künftigen Ruhm und Ehre hindeutete. Sie schauderte. Visionen. Bilder.
Sie blickte sich nach hinten zur Burg um. Der mächtige, weiße Finger des Turms beherrschte die ganze Stadt. Gerade und hoch ragte er auf, und doch war seine Macht gebrochen, als sei er eine Ruine. Einen Augenblick lang gestattete sie sich die Erinnerung an die Visionen, die sie ganz kurz um Gawyns Kopf herum wahrgenommen hatte. Gawyn, der mit gesenktem Kopf zu Egwenes Füßen kniete, und Gawyn, der Egwene den Hals brach — erst die eine Vision und dann hinterher gleich die andere, als könne jede davon möglicherweise die Zukunft zeigen.
Was sie sonst sah, war nur selten so klar gewesen in bezug auf die Bedeutung, wie diese beiden Bilder, und sie hatte auch dieses Hin- und Herflackern noch nie erlebt, als könne ihr selbst die Vision nicht die wahre Zukunft zeigen, sondern nur zwei Möglichkeiten. Noch schlimmer war dieses Gefühl, sie selbst habe mit ihrem Handeln an diesem Tag Gawyn erst zu den beiden Möglichkeiten hingeführt.
Trotz des wärmenden Sonnenscheins schauderte sie erneut. Was geschah, ist nun einmal geschehen. Sie blickte zu den beiden Aes Sedai — ehemaligen Aes Sedai —hinüber, die auf Logain hinunterblickten, als sei er ein dressierter Hund, wild, möglicherweise gefährlich, aber auch nützlich. Siuan und Leane lenkten ihre Pferde nun in Richtung zum Fluß hin, und Logain marschierte zwischen den beiden mit. Min folgte ihnen etwas langsamer. Licht, ich hoffe, es war den Aufwand wert.