Als Elayne mit ihren sauber im Bündel verpackten Sachen an Deck kam, schien die untergehende Sonne das Wasser genau vor der Einfahrt in den Hafen von Tanchico zu küssen. Schnell war es soweit, daß die dicken Taue festgemacht wurden und der Wogentänzer als eines von vielen Schiffen am Kai der westlichsten Halbinsel der Stadt lag. Ein paar Besatzungsmitglieder falteten die letzten Segel ein. Jenseits der langen Hafenanlagen erhob sich die Stadt auf ihren Hügeln, blendend weiß, mit Kuppeln und Türmen, auf denen die metallnen Wetterfahnen im letzten Sonnenschein blitzten. Etwa eine Meile nördlich sah sie gerade noch eine hohe, runde Mauer. Wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte, mußte das der Große Kreis sein.
Sie hängte sich ihr Bündel über die gleiche Schulter, von der ihre Ledermappe hing, und ging hinüber zu Nynaeve, die mit Coine und Jorin an der Landungsbrücke stand. Es erschien ihr fast eigenartig, die beiden Schwestern wieder vollständig angezogen zu erblicken, mit blütenreinen, brokatbesetzten Seidenblusen, passend zu ihren Pumphosen. Sie hatte sich ja an die Ohrringe und sogar an die Nasenringe gewöhnt, und selbst die feine Goldkette, die über die dunkle Wange jeder der beiden Frauen hing, ließ sie mittlerweile kaum noch zusammenzucken.
Thom und Juilin standen mit ihren eigenen Bündeln ein Stückchen entfernt. Sie blickten etwas mürrisch drein.
Nynaeve hatte recht gehabt. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen entwickelt, seit man ihnen vor zwei Tagen den wirklichen Zweck — oder zumindest einiges davon —ihrer Reise mitgeteilt hatte. Beide schienen zu glauben, zwei junge Frauen seien einfach nicht fähig — fähig! — die Schwarzen Ajah aufzuspüren. Das war allerdings im Keim erstickt worden, als Nynaeve ihnen drohte, sie auf ein anderes Schiff des Meervolks bringen zu lassen, das wieder zurückfuhr. Die Drohung hatte aber schon massiv sein müssen und erst gewirkt, nachdem Toram und ein Dutzend Besatzungsmitglieder sie umstellt hatten, bereit, sie sofort zu packen, in ein Boot zu stecken und hinüberzurudern. Elayne blickte sie forschend an. Unzufriedenheit bedeutete Rebellion. Die beiden würden ihnen noch Schwierigkeiten bereiten.
»Wo werdet Ihr als nächstes hinfahren, Coine?« fragte Nynaeve gerade, als sich Elayne ihnen anschloß.
»Nach Dantora und zur Aile Jafar«, antwortete die Segelherrin, »und von dort nach Cantorin und zur Aile Somera, um die Nachricht vom Coramoor zu verbreiten, wenn es dem Licht gefällt. Aber ich muß zuerst einmal Toram gestatten, hier seinen Handel abzuwickeln, sonst platzt er mir noch.« Ihr Mann befand sich bereits unten auf dem Kai, diesmal ohne seine eigenartigen Augengläser, aber mit nacktem Oberkörper und all seinen Ringen, und er diskutierte ernsthaft mit Männern in bauschigen weißen Hosen und kurzen Mänteln, die auf den Schultern mit Runen bestickt waren. Jeder dieser Männer aus Tanchico trug eine dunkle, zylindrische Kappe auf dem Kopf und dazu einen durchsichtigen Schleier vor dem Gesicht. Diese Schleier wirkten wirklich lächerlich, besonders bei Männern mit dichten Schnurrbärten.
»Das Licht gebe Euch eine sichere Reise«, sagte Nynaeve und verlagerte das Gewicht der Bündel auf ihrem Rücken. »Falls wir hier auf irgendeine Gefahr stoßen, die Euch bedroht, bevor Ihr wieder absegelt, werden wir Euch benachrichtigen.« Coine und ihre Schwester wirkten bemerkenswert ruhig. Das Wissen von den Schwarzen Ajah berührte sie nicht besonders. Für sie spielte nur der Coramoor, also Rand, eine Rolle.
Jorin küßte ihre Fingerspitzen und drückte sie auf Elaynes Lippen. »So das Licht will, treffen wir uns wieder.« »So das Licht will«, gab Elayne zurück und imitierte die Geste der Windsucherin. Es kam ihr wohl noch immer eigenartig vor, doch es war auch eine Ehre, so verabschiedet zu werden. Man sah das eigentlich nur unter Familienmitgliedern und bei Liebenden. Sie würde diese Meervolkfrau sehr vermissen. Sie hatte eine Menge von ihr gelernt und ihr auch ein wenig von ihrem Wissen beigebracht. Jorin konnte jetzt beispielsweise mit dem Element Feuer viel besser umgehen.
Als sie den Landesteg hinuntergegangen waren, seufzte Nynaeve erleichtert auf. Wohl hatte eine ölige Tinktur, die ihr Jorin verpaßt hatte, nach etwa zwei Tagen auf See ihren Magen einigermaßen beruhigt, aber sie war trotzdem verkrampft und unsicher gewesen, bis Tanchico endlich in Sicht kam.
Die beiden Männer nahmen sie sofort unaufgefordert in die Mitte. Juilin übernahm die Führung mit seinem Bündel auf dem Rücken und dem hellen, daumendicken Stock in beiden Händen. Seine dunklen Augen blickten sich wachsam um. Thom machte den Abschluß und brachte es irgendwie fertig, trotz seiner weißen Haare, seines Hinkens und des Gauklerumhangs einen gefährlichen Eindruck zu erwecken.
Nynaeve schürzte die Lippen einen Augenblick lang, sagte aber nichts, und Elayne hielt das auch für weise. Bevor sie auch nur fünfzig Schritt weit über den langen, gepflasterten Kai gegangen waren, waren sie bereits von ebenso vielen Männern mit zusammengekniffenen Augen und hungrigen Gesichtern gemustert worden. Überall um sie herum trugen Hafenarbeiter ihre Kisten und Ballen und Säcke zu und von den Schiffen. Sie vermutete, daß beinahe jeder von diesen Männern ihr durchaus die Kehle durchschneiden würde, in der Hoffnung, ihr teures Seidenkleid bedeute gleichzeitig, daß sie einiges Geld im Beutel habe. Sie jagten ihr aber keine Angst ein. Mit zwei oder drei von denen würde sie bestimmt fertigwerden. Doch sie und Nynaeve trugen ihre Schlangenringe in den Gürteltaschen, um nicht erkannt zu werden. Wenn sie aber vor hundert Männern die Macht gebrauchte, wäre es sinnlos, noch die Verbindung zur Weißen Burg leugnen zu wollen. Also war es am besten, wenn Thom und Juilin so wild dreinblickten wie möglich. Sie hätte nichts dagegen gehabt, noch zehn Mann mehr von der Sorte dabei zu haben.
Plötzlich erscholl ein Brüllen vom Deck eines der kleineren Schiffe her: »Ihr! Es sein wirklich Ihr!« Ein untersetzter Mann mit rundem Gesicht und einem grünen Seidenwams sprang herunter auf den Kai und beachtete Juilins drohend erhobenen Stock gar nicht. Er starrte sie und Nynaeve aus der Nähe an. Der Bart, der die Oberlippe frei ließ, zeigte, daß er aus Illian kam, und sein Akzent stammte auch von dort. Er kam ihr bekannt vor.
»Meister Domon?« fragte Nynaeve nach einem Augenblick des Überlegens, wobei sie wieder an ihrem Zopf zupfte. »Bayle Domon?« Er nickte. »Ja. Ich niemals glauben, Euch wiederzusehen. Ich... ich warten solange es ging in Falme, aber Zeit kommen, wo ich entweder auslaufen müssen oder sehen, wie mein Schiff brennen.« Elayne erkannte ihn nun auch wieder. Er hatte sie damals aus Falme herausbringen wollen, aber die Stadt war im Chaos versunken, bevor sie sein Schiff erreichten. Dem Wams nach war es ihm seither nicht schlecht ergangen.
»Wir freuen uns, Euch wiederzusehen«, sagte Nynaeve kühl, »doch jetzt müßt Ihr uns entschuldigen, denn wir müssen uns Zimmer in der Stadt suchen.« »Das werden aber schwer. Tanchico platzen aus allen Nähten. Aber ich kennen einen Ort, wo mein Wort werden helfen. Ich können nicht länger warten in Falme, aber ich fühlen in Eurer Schuld.« Domon schwieg einen Moment und runzelte mit einemmal besorgt die Stirn. »Ihr hier sein. Bedeuten das, dasselbe werden geschehen wie in Falme?« »Nein, Meister Domon«, sagte Elayne, als Nynaeve zögerte. »Selbstverständlich nicht. Und wir schätzen uns glücklich, Eure Hilfe in Anspruch nehmen zu können.« Sie erwartete beinahe einen Protest von Nynaeve, aber die etwas ältere Frau nickte nur nachdenklich und stellte die Männer sich gegenseitig vor. Beim Anblick von Thoms Umhang runzelte Domon die Stirn wieder, aber der finstere Blick, den er Juilin zuwarf, als er dessen Tairener Kleidung wahrnahm, wurde von diesem mit gleicher Münze erwidert. Keiner der beiden sagte allerdings etwas. Vielleicht wollten sie die Feindseligkeit zwischen Tear und Illian wenigstens aus Tanchico heraushalten. Falls nicht, würde sie ein ernstes Wort mit den beiden reden.
Domon erzählte, was ihm seit den Ereignissen von Falme alles passiert war, und begleitete sie den Kai entlang. Es war ihm wirklich nicht schlecht gegangen. »Ein Dutzend gute Küstenschiffe, von denen wissen die Steuereintreiber der Panarchin«, lachte er, »und vier Hochseeschiffe sie wissen nichts darüber.« Soviel konnte er auf ehrliche Art in dieser kurzen Zeit gar nicht verdient haben. Sie war aber doch überrascht, daß er auf einem Kai voller Menschen so offen darüber sprach.
»Ja, ich tun schmuggeln und machen soviel Gewinn, ich nie haben geträumt von. Zehnte Teil von Steuer in Taschen von Zollmänner und sie wegschauen und Mund halten.« Zwei typische Männer aus Tanchico schlenderten vorbei die Schleier vor dem Gesicht, runde Hüte auf dem Kopf und die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Jeder hatte einen schweren Messingschlüssel an einer dicken Goldkette um den Hals hängen. Es sah so aus, als seien das Kennzeichen ihrer Ämter. Sie nickten Domon vertraut zu. Thom wirkte belustigt, aber Juilin blickte sowohl Domon wie auch die beiden Tanchicaner finster an. Als Diebfänger konnte er eben Leute nicht leiden, die das Gesetz mißachteten. »Ich aber nicht glauben, es noch lange so weitergehen«, sagte Domon, als die beiden weg waren. »Es sein noch schlimmer in Arad Doman als hier, und hier alles sein schon schlimm genug. Vielleicht der Lord Drache nicht zerstören werden die Welt, aber er haben zerstört Arad Doman und Tarabon.« Elayne hatte schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber sie hatten das Ende des Kais erreicht, und so sah sie schweigend zu, als er Sänften und Träger auswählte und bezahlte, und dazu noch ein Dutzend Männer mit festen Stöcken und harten Gesichtern engagierte. Am Ende des Kais standen Wachen mit Schwertern und Speeren. Sie wirkten wie Söldner und nicht wie reguläre Soldaten. Von der anderen Seite der breiten Hafenstraße her blickten Hunderte von niedergeschlagenen, eingefallenen Gesichtern die Wächter an. Manchmal huschten die Blicke zu den Schiffen hinüber, aber meist waren sie auf die Männer gerichtet, die sie am Erreichen dieser Schiffe hinderten. Elayne schauderte, als sie daran dachte, was Coine erzählt hatte — wie die Menschen sie auf ihrem eigenen Schiff überrannt hatten und verzweifelt versuchten, sich eine Passage irgendwohin zu erkaufen, nur weg von Tanchico. Wenn diese hungrigen Augen die Schiffe ansahen, glühte die blanke Not in ihnen. Elayne saß steif in ihrer Sänfte, als sie hinter den die Menge zurückdrängenden Stöcken durch die Straßen schwankte. Sie bemühte sich, niemanden direkt anzusehen. Sie wollte diese Gesichter nicht sehen. Wo war denn ihr König? Warum kümmerte er sich nicht um sie?
Das Schild über der Toreinfahrt zu der weißgetünchten Schenke, zu der Domon sie brachte, verkündete stolz den ›Hof der Drei Pflaumen‹. Aber der einzige Hof, den Elayne entdecken konnte, war der von hohen Wänden umgebene und mit großen Steinplatten gepflasterte vor der Schenke, auf dem sie standen. Das Gebäude war quadratisch und dreistöckig. Das Erdgeschoß wies keine Fenster auf, und die Fenster oben hatten alle schmiedeeiserne Gitter.
Drinnen drängten sich Männer und Frauen im Schankraum. Die meisten trugen einheimische Kleidung. Das Stimmengewirr übertönte beinahe noch den Klang eines Hackbretts.
Nynaeve schnappte unwillkürlich nach Luft, als sie den ersten Blick auf die Wirtin erhaschte, eine hübsche Frau, nicht viel älter als sie selbst, mit braunen Augen und hellen, honigfarbenen Zöpfen, deren Schleier den Schmollmund mit seinen vollen Lippen nicht verbarg. Auch Elayne fuhr erst einmal zusammen, aber es war nicht Liandrin. Die Frau, sie hieß Rendra, kannte Domon offensichtlich gut. Mit freundlichem Lächeln hieß sie Elayne und Nynaeve willkommen, und besonders schien ihr zu gefallen, daß Thom ein Gaukler war. Sie gab ihnen ihre letzten beiden Zimmer zu einem Preis, der Elaynes Vermutung nach unter dem augenblicklich Üblichen lag. Elayne überzeugte sich zuerst davon, daß sie und Nynaeve das Zimmer mit dem größeren Bett bekamen. Sie hatte schon öfters das Bett mit Nynaeve geteilt und wußte deshalb, daß die andere nachts ziemlich mit den Ellbogen herumfuhrwerkte.
Rendra ließ ihnen auch von zwei verschleierten jungen Kellnern ein Abendessen in einem separaten Speisezimmer servieren. Elayne ertappte sich dabei, wie sie lediglich den Teller anstarrte: Lammbraten mit Apfelgelee und eine Art langer, gelblicher Bohnen in Nußsauce. Sie brachte es nicht fertig, davon zu essen. All diese hungrigen Gesichter! Domon schlug dagegen kräftig zu. Er mit seiner Schmuggelei und seinem Gold! Auch Thom und Juilin übten keine Zurückhaltung.
»Rendra«, sagte Nynaeve leise, »hilft hier eigentlich niemand den Armen? Falls es helfen würde, kann ich über einiges Gold verfügen.« »Ihr könnt es Bayles Küche spenden«, antwortete die Wirtin mit einem verschmitzten Lächeln in Richtung Domon. »Der Mann meidet wohl alle Steuern, aber er besteuert sich selbst. Für jede Krone, die er als Bestechungsgeld zahlt, spendet er zwei für Suppe und Brot für die Armen. Er hat sogar mich zum Spenden überredet, und ich zahle meine Steuern.« »Es sein weniger als die Steuern«, murmelte Domon, und er zog abwehrend die Schultern ein. »Ich machen wirklich guten Profit. Glück stech mich, wenn nicht.« »Es ist eine gute Eigenschaft, daß Ihr gern anderen Menschen helft, Meister Domon«, sagte Nynaeve, als Rendra und die Kellner weg waren. Thom und Juilin standen beide auf, um nachzusehen, ob die anderen wirklich gegangen waren und nicht lauschten. Mit einer leichten Verbeugung überließ Thom Juilin den Vortritt. Der Flur draußen war leer. Nynaeve fuhr fort: »Wir brauchen vielleicht auch Eure Hilfe.« Messer und Gabel des Illianers unterbrachen ihren Weg zu einer Scheibe Lammbraten. »Wie?« fragte er mißtrauisch.
»Ich weiß nicht genau, Meister Domon. Ihr habt Schiffe. Ihr müßt ja auch Männer zur Verfügung haben. Wir brauchen vielleicht Augen und Ohren. Ein paar der Schwarzen Ajah halten sich möglicherweise in Tanchico auf, und wenn, dann müssen wir sie aufspüren.« Nynaeve führte eine Gabel mit Bohnen zum Mund, als habe sie nichts Ungewöhnliches gesagt. In letzter Zeit erzählte sie ja wohl jedem von den Schwarzen Ajah.
Domon starrte zuerst sie mit offenem Mund an und warf dann Thom und Juilin ungläubige Blicke zu, als die sich wieder hinsetzten. Sie nickten, und er schob resigniert seinen Teller weg und legte den Kopf auf die Arme. Beinahe hätte er ja eine Kopfnuß von Nynaeve abbekommen, so indigniert sah sie ihn an. Elayne hätte ihr keinen Vorwurf gemacht. Warum suchte er noch eine Bestätigung für ihre Worte? Glaubte er ihr vielleicht nicht?
Schließlich raffte sich Domon auf. »Es werden doch wieder geschehen. Schon wieder Falme. Vielleicht es sein Zeit für mich, einzupacken und zu fahren weg. Wenn ich bringen meine Schiffe nach Illian, ich auch sein dort ein reicher Mann.« »Ich glaube nicht, daß Ihr Illian heute als gutes Pflaster bezeichnen könnt«, sagte Nynaeve mit energischer Stimme. »Soviel ich weiß, regiert dort mittlerweile Sammael, vielleicht nun schon ganz offen. Unter einem der Verlorenen werdet Ihr Euren Reichtum kaum genießen können.« Domon fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, doch sie fuhr gelassen fort: »Es gibt keine sicheren Orte mehr. Ihr könnt wie ein Kaninchen wegrennen, aber verstecken könnt Ihr euch nicht. Ist es da nicht besser, Ihr tut Euer bestes, um wie ein Mann dagegen anzukämpfen?« Nynaeve ging zu hart mit ihm um. Sie mußte eben immer die Leute herumschubsen. Elayne lächelte und beugte sich vor, um eine Hand auf Domons Arm zu legen. »Wir wollen Euch nicht herumscheuchen, Meister Domon, aber wir benötigen vielleicht wirklich Eure Hilfe. Ich kenne Euch als tapferen Mann, denn sonst hättet Ihr in Falme nicht so lange auf uns gewartet. Wir wären Euch sehr dankbar.« »Ihr machen das äußerst geschickt«, knurrte Domon.
»Die eine mit Ochsenpeitsche und die andere mit Honig im Mund. Oh, also gut. Ich werden helfen, wie ich können. Aber ich nicht versprechen, daß ich bleiben, wenn neues Falme passieren.« Thom und Juilin knöpften ihn sich anschließend beim Essen vor und fragten ihn über Tanchico aus. Jedenfalls stellte Juilin die allgemeinen Fragen und legte Thom einige Fragen in den Mund, wie beispielsweise, in welchen Vierteln vor allem Räuber, Taschendiebe und Einbrecher ihr Unwesen trieben, welche Weinlokale sie bevorzugten und wer ihre gestohlenen Waren kaufe. Der Diebfänger beharrte nämlich darauf, daß solche Leute mehr von dem wußten, was in der Stadt vor sich ging, als die Stadtverwaltung. Er schien sich nicht unmittelbar mit dem Illianer unterhalten zu wollen, und Domon schnaubte immer, wenn er eine der Fragen des Taireners beantwortete, die Thom weitergegeben hatte. Er beantwortete sie überhaupt erst, wenn Thom sie gestellt hatte. Thoms eigene Fragen schienen keinen Sinn zu ergeben, jedenfalls nicht, wenn ein Gaukler sie stellte. Er fragte nach Adligen und politischen Parteien, wer mit wem verbündet sei und gegen wen, wer welche Ziele verfolge und was sie erreicht hatten und ob die Resultate anders ausgefallen seien, als sie erwartet hatten. Das waren ganz und gar nicht die Fragen, die sie von ihm erwartet hatte, trotz all ihrer Unterhaltungen an Bord des Wogentänzers. Er hatte sich durchaus gern mit ihr unterhalten — es schien ihm Spaß zu machen —, aber jedesmal, wenn sie glaubte, ihn soweit zu haben, daß er etwas über seine Vergangenheit erzählte, schaffte er es, sie durch irgend etwas abzulenken und wegzuschicken. Domon beantwortete Thoms eigene Fragen denn auch eifriger als die Juilins. Auf jeden Fall schien er Tanchico sehr gut zu kennen, sowohl die Lords und Stadtoberen, wie auch die düstere Unterschicht. So, wie er davon erzählte, klang es, als bestehe da kein großer Unterschied.
Nachdem die beiden Männer den Schmuggler ausgequetscht hatten, holte Nynaeve Rendra und ließ sie gleich Feder, Tinte und Papier mitbringen. Dann schrieb sie eine Liste mit Beschreibungen aller Schwarzen Schwestern. Domon hielt anschließend das Bündel Blätter mißtrauisch in der Hand und runzelte nervös die Stirn, als seien es die Frauen selbst, aber er versprach, daß diejenigen seiner Männer, die er hier im Hafen zur Verfügung hatte, die Augen nach ihnen offenhalten würden. Als Nynaeve ihn mahnte, daß sie alle extrem vorsichtig sein müßten, da lachte er, als habe sie ihm geraten, sich nicht selbst mit seinem Schwert zu durchbohren.
Juilin ging gleich nach Domon. Er wirbelte seinen dünnen Stock und bemerkte, die Nacht sei die beste Zeit, um Diebe aufzuspüren und die Leute, die von der Arbeit der Diebe lebten. Nynaeve verkündete, sie werde sich in ihr Gemach zurückziehen — ihr Gemach! — und sich eine Weile hinlegen. Sie schien ein wenig unsicher auf den Beinen, und plötzlich war Elayne klar, warum. Nynaeve hatte sich an das Schwanken des Wogentänzers gewöhnt, und nun hatte sie Probleme, weil der feste Boden eben nicht schwankte. Der Magen dieser Frau war kein angenehmer Reisebegleiter.
Sie selbst folgte Thom hinunter in den Schankraum, denn er hatte Rendra versprochen, dort aufzutreten. Erstaunlicherweise fand sie eine Bank an einem unbesetzten Tisch, und kühle Blicke reichten aus, um die Männer zu verscheuchen, die mit einemmal gerade dort sitzen wollten. Rendra brachte ihr einen silbernen Becher mit Wein, und sie nippte daran, während sie Thom lauschte, der seine Harfe spielte und Liebeslieder sang, wie ›Die erste Rose des Sommers‹ und ›Der Wind, der die Weide beugt‹, und lustige Lieder wie ›Nur ein Stiefel‹ und ›Die alte graue Gans‹. Seine Zuhörer genossen die Lieder und klatschten Beifall auf die Tischflächen. Nach einer Weile machte Elayne es ihnen nach. Sie hatte nicht mehr als den halben Becher leergetrunken, doch ein gutaussehender junger Bediensteter lächelte sie an und füllte ihr nach. Es war alles so eigenartig und erregend. In ihrem ganzen Leben war sie noch nicht einmal ein halbes Dutzend Mal in einem Schankraum gewesen, und sie hatte noch nie dort ihren Wein getrunken und sich wie jemand aus dem gewöhnlichen Volk unterhalten lassen.
Thom spreizte seinen Umhang, daß die bunten Flicken flatterten, und erzählte Geschichten — ›Mara und die drei närrischen Könige‹ und mehrere über Anla, die weise Ratgeberin, und dann rezitierte er einen langen Ausschnitt aus Die Große Jagd nach dem Horn, und das so gut, daß die Rösser vor ihren Augen tänzelten und die Trompeten im Schankraum erschollen und Männer und Frauen vor ihnen kämpften und liebten und starben. Bis spät in die Nacht hinein sang und rezitierte er und schwieg nur dann und wann, um seine Kehle mit einem Schluck Wein zu befeuchten, während die Gäste eifrig nach mehr verlangten. Die Frau mit dem Hackbrett saß verloren in einer Ecke mit ihrem Instrument auf den Knien und einem sauren Gesichtsausdruck. Die Leute warfen Thom öfters Münzen zu. Er hatte einem kleinen Jungen als seinem Helfer den Auftrag gegeben, sie aufzusammeln. Es war unwahrscheinlich, daß sie für ihre Musik genausoviel gespendet hatten.
Das schien alles so gut zu Thom zu passen — die Harfe und besonders das Rezitieren. Nun, er war ja ein Gaukler, aber an ihm war eben noch mehr als nur das. Elayne hätte schwören können, daß sie ihn schon zuvor Die Große Jagd hatte rezitieren hören, aber im Hochgesang und nicht der modernen Sprache. Doch wie konnte das sein? Er war doch nur ein einfacher, alter Gaukler.
Schließlich, es war schon mitten in der Nacht, verbeugte sich Thom ein letztes Mal mit weitgespreiztem Umhang und schritt dann unter heftigstem Tischklatschen zur Treppe. Elayne klatschte genauso enthusiastisch wie die anderen auf die Tischfläche.
Sie wollte sich ebenfalls erheben, rutschte jedoch aus und landete ziemlich hart auf ihrem Hinterteil. Sie blickte finster ihren silbernen Becher an. Er war voll. Aber sie hatte doch bestimmt ein wenig getrunken? Aus irgendeinem Grund war ihr schwindlig. Ja. Dieser süße junge Mann mit den warmen braunen Augen hatte ihren Becher wieder aufgefüllt — aber wie oft? Nicht, daß es eine Rolle spielte. Sie trank niemals mehr als einen Becher Wein. Niemals. Das kam nur davon, daß sie sich nicht mehr auf dem Wogentänzer befand, sondern auf festem Land. Sie reagierte darauf genau wie Nynaeve. Das war alles.
Sie stand vorsichtig wieder auf, wobei sie die äußerst rücksichtsvolle Hilfe des süßen jungen Mannes ablehnte, und brachte es fertig, die Treppen hochzusteigen, obwohl sie doch derart schwankten. Sie blieb aber nicht im zweiten Stock, wo ihr und Nynaeves Zimmer lag, sondern stieg hoch in den dritten und klopfte an Thoms Tür. Er öffnete sie ganz langsam und spähte mißtrauisch hinaus. Er schien erst ein Messer in der Hand zu halten, doch dann war es weg. Seltsam. Sie packte ihn an einem Zipfel seines langen, weißen Schnurrbarts.
»Ich erinnere mich«, sagte sie. Sie konnte ihre Zunge nicht so richtig bewegen, und die Worte klangen etwas... verschwommen. »Ich habe auf Euren Knien gesessen und an Eurem Schnurrbart gezupft...« Sie zog daran, um es ihm zu demonstrieren, und er zuckte zusammen und verzog das Gesicht. »... und meine Mutter hat sich über Eure Schulter gebeugt und mich angelacht.« »Ich halte es für das Beste, wenn Ihr euch jetzt in Euer Zimmer begebt«, sagte er und versuchte, ihre Hand von seinem Schnurrbart zu lösen. »Ich denke, Ihr braucht Schlaf.« Sie ließ aber nun nicht mehr locker. Es schien ihr sogar, sie habe ihn einfach in sein Zimmer zurückgezerrt. An seinem Schnurrbart. »Meine Mutter hat auch auf Eurem Schoß gesessen. Ich habe es gesehen. Ich erinnere mich ganz deutlich.« »Schlafen müßt Ihr jetzt, Elayne. Am Morgen fühlt Ihr euch wieder wohl.« Er löste endlich ihren Griff und bemühte sich, sie zur Tür zu drängen, doch sie schlüpfte an ihm vorbei wieder ins Zimmer hinein. Das Bett hatte leider keine Pfosten. Wenn sie sich an einem Bettpfosten festhalten könnte, würde das Zimmer vielleicht mit der Schaukelei aufhören.
»Ich will wissen, warum Mutter auf Eurem Schoß saß.« Er trat zurück und ihr wurde bewußt, daß sie schon wieder nach seinem Schnurrbart griff. »Ihr seid ein Gaukler. Meine Mutter sitzt doch nicht auf dem Schoß eines Gauklers herum.« »Geht ins Bett, Kind.« »Ich bin kein Kind mehr!« Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf und wäre beinahe gestürzt. Der Fußboden war näher, als es aussah. »Kein Kind. Ihr werdet es mir sagen. Jetzt gleich!« Thom seufzte und schüttelte den Kopf. Schließlich sagte er unwillig: »Ich war nicht immer Gaukler. Einst war ich Barde. Hofbarde. Wie der Zufall will, ausgerechnet in Caemlyn. Bei Königin Morgase. Ihr wart noch ein Kind. Ihr habt nur ein wenig verdrehte Erinnerungen an diese Zeit, das ist alles.« »Ihr wart ihr Liebhaber, nicht wahr?« Ein Zucken seiner Augenlider reichte ihr. »Es stimmt also! Ich habe immer schon in bezug auf Gareth Bryne Bescheid gewußt. Zumindest habe ich es mir gedacht. Aber ich habe immer gehofft, sie werde ihn heiraten. Gareth Bryne und Ihr und dann dieser Lord Gaebril, von dem Mat behauptet, daß sie ihm schöne Augen macht, und... Wie viele noch? Wie viele? Worin besteht da noch ein Unterschied zu Berelain, die jeden Mann in ihr Bett zieht, auf den sie ein Auge wirft? Sie ist auch nicht anders... « Ihr Gesichtsfeld wankte und ihr Kopf schmerzte plötzlich. Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, daß er sie geohrfeigt hatte. Ihr eine Ohrfeige zu geben! Sie richtete sich auf und wünschte sich dabei, er würde nicht so schwanken. »Wie könnt Ihr das wagen? Ich bin die Tochter-Erbin von Andor und ich lasse mich nicht... « »Ihr seid ein kleines Mädchen, das zuviel Wein getrunken und einen Wutanfall bekommen hat«, schnauzte er sie an. »Und wenn ich jemals wieder höre, daß Ihr so etwas über Morgase sagt, ob betrunken oder nüchtern, dann lege ich Euch übers Knie, und wenn Ihr noch so sehr versucht, die Macht dagegen einzusetzen! Morgase ist eine gute Frau — es gibt keine bessere!« »Tatsächlich?« Ihre Stimme schwankte und ihr wurde bewußt, daß sie weinte. »Warum hat sie dann... ? Warum...?« Auf irgendeine Art war ihr Gesicht plötzlich an sein Wams gepreßt, und er streichelte ihr über das Haar. »Als Königin zu regieren ist eine ziemlich einsame Sache«, sagte er leise. »Weil die meisten Männer, die sich für eine Königin interessieren, nur ihre Macht sehen und nicht die Frau. Ich habe sie nur als Frau angesehen, und das wußte sie. Ich denke, auch Bryne hat in ihr die Frau gesehen, und dieser Gaebril wohl ebenfalls. Das müßt Ihr verstehen, Kind. Jeder sucht im Leben einen Menschen, der einen liebt und den man lieben kann. Selbst eine Königin.« »Warum seid Ihr weggegangen?« murmelte sie an seine Brust gewandt. »Ihr habt mich zum Lachen gebracht. Daran kann ich mich erinnern. Ihr habt auch sie zum Lachen gebracht. Und Ihr habt mich auf den Schultern getragen.« »Das ist eine lange Geschichte.« Er seufzte, als habe er Schmerzen. »Ich erzähle es Euch ein andermal. Wenn Ihr mich danach fragt. Mit Glück habt Ihr es bis morgen vergessen. Es ist Zeit, daß Ihr ins Bett kommt, Elayne.« Er führte sie zur Tür und sie nutzte die Gelegenheit und zupfte noch mal an seinem Schnurrbart. »So wie früher«, sagte sie zufrieden. »Genauso habe ich daran gezupft.« »Ja, stimmt. Könnt Ihr allein hinuntersteigen?« »Natürlich kann ich.« Sie sah ihn so hochmütig wie möglich an, und er erweckte daraufhin noch mehr den Eindruck, er wolle sie hinunterbegleiten. Um zu beweisen, daß es nicht notwendig sei, schritt sie — äußerst vorsichtig —bis zur Treppe. Er blickte ihr noch immer besorgt von der Tür her nach, als sie hinunterging.
Glücklicherweise kam sie nicht ins Stolpern, solange er hinsah, aber dafür lief sie an ihrer Zimmertür vorbei, bemerkte ihren Irrtum und ging zurück. Zwei Lampen brannten im Zimmer, eine auf dem kleinen runden Tisch am Bett und die andere auf dem weißen Gipssims über dem gemauerten Kamin. Nynaeve lag vollständig angezogen und lang ausgestreckt auf der Bettdecke. Ihre Ellbogen standen weit ab, wie Elayne bemerkte.
Sie platzte mit der ersten Bemerkung heraus, die ihr in den Kopf kam: »Rand muß glauben, daß ich spinne. Thom ist ein Barde und Berelain ist doch nicht meine Mutter.« Nynaeve sah sie ganz eigenartig an. »Mir ist ein wenig schwindlig, ich weiß nicht, warum. Ein netter Junge mit süßen braunen Augen hat mir angeboten, mich hinaufzubringen.« »Ich wette, das hätte ihm Spaß gemacht«, sagte Nynaeve grimmig. Sie stand vom Bett auf, kam herüber und legte Elayne einen Arm um die Schultern. »Komm einen Moment lang mit dort hinüber. Es gibt etwas, das du sehen solltest.« Sie schien auf einen Eimer Wasser neben dem Waschtischchen zu deuten. »Hier. Wir knien uns hin, damit du es richtig sehen kannst.« Elayne schaute hinein, aber außer ihrem Spiegelbild konnte sie nichts im Wasser erkennen. Sie fragte sich, warum Nynaeve so komisch grinste. Dann spürte sie Nynaeves Hand in ihrem Nacken und plötzlich war ihr Kopf im Wasser.
Sie fuchtelte mit den Händen und versuchte, sich aufzurichten, aber Nynaeves Arm war wie aus Eisen. Man sollte unter Wasser eigentlich die Luft anhalten. Das war Elayne klar. Sie konnte sich nur nicht daran erinnern, wie man das machte. Alles, was sie fertigbrachte, war, herumzufuchteln, zu gurgeln und halb zu ersticken.
Nynaeve zog sie hoch. Wasser strömte ihr über das Gesicht und sie holte tief Luft. »Wie — kannst du es —wagen«, keuchte sie. »Ich bin — die Tochter-Erbin von...«, brachte sie gerade noch heraus, und dann klatschte ihr Kopf wieder ins Wasser. Sie packte wohl den Eimer mit beiden Händen und wollte ihn wegschieben, doch das half nichts. Auch mit den Füßen auf den Boden trommeln half nichts. Sie würde ertrinken. Nynaeve wollte sie ersäufen.
Nach einer Ewigkeit befand sie sich wieder an der Luft. Klitschnasse Haarsträhnen hingen ihr über das Gesicht. »Ich glaube«, sagte sie mit der festesten Stimme, die sie fertigbrachte, »ich muß mich übergeben.« Nynaeve konnte ihr gerade noch die weiß emaillierte Schüssel vom Waschtisch vor die Nase stellen. Sie hielt Elaynes Kopf fest, während die alles herauswürgte, was sie je in ihrem Leben gegessen hatte. Ein Jahr später — nun ja, es waren vielleicht nur ein paar Stunden, aber so lang kam es ihr halt vor — wusch Nynaeve ihr Gesicht, wischte ihr den Mund, die Hände und Unterarme ab. In ihrem Tonfall lag allerdings nichts Beruhigendes.
»Wie konntest du das tun? Was ist denn in dich gefahren? Ich hätte ja von einem idiotischen Mann erwartet, daß er sich total betrinkt, aber von dir? Und das heute abend!« »Ich hatte doch nur einen Becher«, murmelte Elayne erschlagen. Auch wenn dieser junge Mann nachgefüllt hatte, konnte sie nicht mehr als zwei Becher voll getrunken haben. Bestimmt nicht.
»Ein Becher so groß wie ein ganzer Krug«, schnaubte Nynaeve und half ihr auf die Beine. Es war mehr ein Hochzerren. »Kannst du wach bleiben? Ich will nach Egwene suchen, und ich traue mir noch nicht zu, allein wieder aus Tel'aran'rhiod zu kommen, ohne jemanden, der mich aufweckt.« Elayne blinzelte sie müde an. Sie hatten erfolglos nach Egwene gesucht seit jener Nacht, in der sie so plötzlich aus ihrem Treffen im Herz des Steins verschwunden war. »Wach bleiben? Nynaeve, ich bin mit Suchen dran und das ist auch besser so. Du weißt, daß du die Macht nicht benützen kannst, wenn du nicht gerade wütend bist, und... « Dann wurde ihr bewußt, daß die andere Frau vom Glühen Saidars umgeben war. Und das war schon seit einiger Zeit der Fall gewesen; sie hatte es nur nicht bewußt bemerkt. Sie hatte ein Gefühl im Kopf, als hätte man ihn voll Wolle gestopft, und jeder Gedanke mußte sich erst hindurchwühlen. Sie konnte kaum die Wahre Quelle wahrnehmen. »Na, vielleicht gehst du doch besser. Ich werde wach bleiben.« Nynaeve runzelte die Stirn, nickte aber schließlich. Elayne versuchte, ihr beim Ausziehen zu helfen, aber ihre Finger waren heute irgendwie ungeschickt, als sie diese kleinen Knöpfe aufmachen wollte. Nynaeve grollte leise vor sich hin und schaffte es dann auch allein. Nur mit ihrem Unterhemd angetan, steckte sie den verdrehten Steinring an die Lederschnur, die sie um den Hals trug, neben einen schweren, goldenen Männerring. Das war Lans Ring. Nynaeve trug ihn immer zwischen den Brüsten.
Elayne zog einen niedrigen Holzhocker neben das Bett, während sich Nynaeve wieder ausstreckte. Sie fühlte sich wohl sehr schläfrig, aber wenn sie auf diesem Hocker saß, würde sie nicht einschlafen. Das einzige Problem war wohl, nicht zu Boden zu fallen. »Ich werde etwa eine Stunde abschätzen und dich dann wecken.« Nynaeve nickte und schloß dann die Augen. In ihren Händen hielt sie die beiden Ringe. Nach einer Weile wurden ihre Atemzüge tiefer und ruhiger.
Das Herz des Steins war leer. Nynaeve spähte in die Dämmerung zwischen den mächtigen Säulen hinein, nachdem sie Callandor umrundet hatte, das aus den Fußbodenplatten herausfunkelte. Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß sie immer noch ihr Unterhemd trug und die Lederschnur mit beiden Ringen um den Hals hatte. Sie runzelte die Stirn, und einen Augenblick später trug sie ein typisches Kleid, wie es an den Zwei Flüssen üblich war, aus guter, brauner Wolle gestrickt und mit festen Wanderschuhen dazu. Elayne und Egwene schien dieser Kleidungswechsel in der Welt der Träume leicht zu fallen, aber sie hatte ihre Probleme damit. Bei früheren Besuchen in Tel'aran'rhiod hatte es peinliche Momente gegeben, meistens wenn sie zumindest flüchtig an Lan gedacht hatte, aber ganz bewußt ihre Kleidung zu ändern fiel ihr noch immer schwer. Es genügte schon, wenn sie sich wieder daran erinnerte, und sie trug ein Seidenkleid, so durchsichtig wie Rendras Schleier. Selbst Berelain wäre darin errötet. So ging es nun Nynaeve bei der Vorstellung, Lan könne sie so sehen. Mit einiger Mühe holte sie das braune Wollkleid zurück.
Noch schlimmer: Ihr Zorn war verraucht. Dieses närrische Mädchen! War ihr nicht klar, was geschah, wenn man zuviel Wein trank? Hatte sie noch nie allein in einem Schankraum gesessen? Nun ja, möglicherweise wirklich noch nicht. Jedenfalls war mit ihrer Wut auch der Kontakt zur Wahren Quelle abgerissen. Vielleicht spielte es keine Rolle. Nervös überblickte sie den Wald der riesigen Sandsteinsäulen und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse. Wieso war Egwene so plötzlich von hier verschwunden?
Im Stein war es still — eine hohle Leere. Sie konnte das eigene Blut in den Ohren rauschen hören. Und doch prickelte es zwischen ihren Schulterblättern, als beobachte jemand sie.
»Egwene?« In der Tiefe des Säulenwaldes hallten Echos. »Egwene?« Nichts.
Als sie die Hände an ihrem Rock abwischen wollte, wurde ihr bewußt, daß sie einen verknorzten Stock mit einem dicken Knauf am Ende festhielten. Nun, das war einmal eine Hilfe! Trotzdem umklammerte sie ihn fester. Ein Schwert könnte schon mehr ausrichten. Einen Moment lang flackerte der Stock und änderte bereits seine Form zu der eines Schwertes, doch sie erinnerte sich daran, daß sie nicht einmal mit einem solchen umgehen konnte. Sie lachte bedauernd. Hier war ein Knüppel genausogut wie ein Schwert — nämlich so gut wie nutzlos. Die einzige wirkliche Verteidigung lag in der Anwendung der Macht, nun, und wegrennen konnte sie natürlich auch noch. Damit reduzierten sich ihre sämtlichen Alternativen auf eine einzige.
Sie wäre jetzt schon am liebsten weggelaufen, bei diesem Gefühl, beobachtet zu werden, doch so schnell gab sie nicht auf. Nur, was sollte sie unternehmen? Egwene war nicht hier. Sie befand sich irgendwo in der Wüste. In Rhuidean, hatte Elayne gesagt. Wo immer das auch sein mochte.
Von einem Schritt zum anderen befand sie sich plötzlich an einem Berghang. Eine gleißende Sonne erhob sich über weiteren zerklüfteten Bergen jenseits des Tales unter ihr und erhitzte die trockene Luft. Die Wüste. Sie war in der Wüste. Einen Augenblick lang überraschte die Sonne sie, doch die Wüste lag weit genug im Osten, daß sich dort die Sonne erhob, obwohl es in Tanchico noch Nacht war. Aber das spielte in Tel'aran'rhiod sowieso keine Rolle. Sonnenschein und Dunkelheit hatten in der Welt der Träume nichts mit den gleichen Erscheinungen in der Wirklichkeit gemein, soweit sie das beurteilen konnte.
Lange, blasse Schatten hüllten immer noch das halbe Tal ein, aber seltsamerweise quoll dort unten eine dichte Nebelwand empor, die trotz des stärker werdenden Sonnenscheins nicht zu schrumpfen schien. Hohe Türme ragten aus diesem Nebel auf. Einige davon schienen ihr unvollendet. Eine Stadt. In der Wüste?
Mit zusammengekniffenen Augen konnte sie dort unten im Tal eine Person ausmachen. Einen Mann, obwohl sie auf diese Entfernung nur jemanden erkannte, der Hosen und ein hellblaues Wams trug. Bestimmt also kein Aiel. Er schritt am Rand der Nebelwand entlang und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um die Hand nach dem Nebel auszustrecken und hineinzustoßen. Sie war nicht ganz sicher, glaubte aber zu erkennen, daß seine Hand jedesmal vorher aufgehalten wurde. Vielleicht war es überhaupt kein Nebel.
»Ihr müßt weg von hier«, warnte eine Frauenstimme eindringlich. »Wenn der Euch sieht, seid Ihr tot oder noch Schlimmeres.« Nynaeve fuhr zusammen und wirbelte mit erhobenem Knüppel herum, wobei sie beinahe ihr Gleichgewicht verlor.
Die Frau, die ein wenig oberhalb ihres Standorts am Hang stand, trug ein kurzes, weißes Wams und eine bauschige, hellgelbe Hose, die über den kurzen Stiefletten zugebunden war. Ihr Umhang blähte sich in einem trockenen Windstoß. Es waren ihr langes, goldenes Haar, zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, und der silberne Bogen in ihren Händen, die Nynaeve sofort ungläubig einen bestimmten Namen ins Gedächtnis riefen.
»Birgitte?« Birgitte, Heldin hundert verschiedener Sagen, und der silberne Bogen, mit dem sie nie ihr Ziel verfehlte. Birgitte, eine der toten Helden, die das Horn von Valere aus dem Grab zurückrufen würde, um in der Letzten Schlacht zu kämpfen. »Das ist unmöglich. Wer seid Ihr?« »Ihr habt keine Zeit, Frau. Ihr müßt weg, bevor er Euch sieht!« Mit einer geschmeidigen Bewegung zog sie einen silbernen Pfeil aus dem Köcher an ihrer Hüfte, legte ihn auf und zog die Sehne bis an ihr Ohr. Die silberne Pfeilspitze zeigte direkt auf Nynaeves Herz. »Geht!« Nynaeve floh.
Sie war sich nicht im klaren darüber, wie sie hierher gekommen war, aber sie stand auf dem Anger von Emondsfeld und blickte direkt auf die Weinquellenschenke mit ihren Schornsteinen und dem roten Ziegeldach. Strohgedeckte Dächer umgaben den Anger, an dessen einer Seite der Weinquellenbach sich aus einem Felsvorsprung heraus ergoß. Hier stand die Sonne hoch am Himmel, obwohl die Zwei Flüsse weit im Westen von der Wüste aus lagen. Doch trotz des wolkenlosen Himmels lag ein tiefer Schatten über dem Dorf.
Sie hatte nur einen Augenblick lang Zeit, sich zu fragen, wie sie wohl ohne sie auskamen. Dann erregte eine blitzschnelle Bewegung ihre Aufmerksamkeit, ein Aufblitzen von Silber, und eine Frau duckte sich hinter die Ecke von Ailys Candwins sauberem Häuschen auf der anderen Seite des Weinquellenbachs. Birgitte.
Nynaeve zögerte nicht. Sie rannte auf eine der Fußgängerbrücken über den schmalen, reißenden Bach. »Kommt hierher zurück!« rief sie. »Kommt gefälligst zurück und beantwortet meine Fragen! Wer war das vorhin? Ihr kommt hierher, oder ich gebe Euch Eure Heldin! Ich werde Euch so verhauen, daß Ihr euch einbildet, Ihr hättet ein Abenteuer erlebt!« Sie kam um die Ecke von Ailys Haus, wobei sie eigentlich kaum noch erwartete, Birgitte zu sehen. Wen sie aber bestimmt nicht zu sehen erwartete, war ein Mann in dunklem Wams, der weniger als hundert Schritt entfernt auf der Lehmstraße auf sie zukam. Ihr stockte der Atem. Lan. Nein, aber sein Gesichtsschnitt, seine Augen, waren Lans sehr ähnlich. Er blieb stehen, hob seinen Bogen und schoß den Pfeil ab. Direkt auf sie. Schreiend warf sie sich zur Seite und versuchte, mit aller Macht aufzuwachen.
Elayne sprang auf, so daß der Hocker nach hinten umfiel, als Nynaeve schrie und mit aufgerissenen Augen vom Bett hochfuhr.
»Was ist passiert, Nynaeve? Was ist los?« Nynaeve schauderte. »Er sah wie Lan aus. Er sah wie Lan aus und versuchte, mich zu töten.« Sie legte eine zitternde Hand auf ihren linken Arm, wo Blut aus einer Fleischwunde ein paar Zentimeter unterhalb ihrer Schulter drang. »Wenn ich nicht weggesprungen wäre, hätte der Pfeil mein Herz durchbohrt.« Elayne setzte sich auf die Bettkante und untersuchte den Schnitt. »Das ist nicht so schlimm. Ich werde die Wunde auswaschen und verbinden.« Sie wünschte, sie könne statt dessen Wunden mit Hilfe der Macht heilen. Aber es jetzt ohne wirkliche Vorkenntnisse einfach zu versuchen könnte alles nur noch schlimmer machen. Es war auch wirklich nicht viel mehr als ein Kratzer. Ganz zu schweigen davon, daß sie immer noch ein so eigenartiges Gefühl im Kopf hatte. Wie wabbelnde Gelatine statt eines Gehirns. »Das war nicht Lan. Beruhige dich. Wer es auch war, Lan war es bestimmt nicht.« »Das weiß ich«, sagte Nynaeve beißend. Dann berichtete sie mit zorniger Stimme, was inzwischen mit ihr geschehen war. Sie war nicht einmal sicher, ob der Mann, der in Emondsfeld auf sie geschossen hatte, und der in der Wüste ein und derselbe seien. Doch schon Birgitte war unglaublich genug.
»Bist du sicher?« fragte Elayne. »Birgitte?« Nynaeve seufzte. »Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß ich Egwene nicht gefunden habe. Und daß ich heute nacht nicht mehr dorthin gehen werde.« Sie schlug sich mit der Faust auf die Hüfte. »Wo ist sie? Was ist mit ihr geschehen? Falls sie diesem Burschen mit dem Bogen begegnet ist... O Licht!« Elayne mußte eine Weile nachdenken. Sie brauchte so dringend Schlaf, daß ihre Gedanken ständig verschwammen. »Sie sagte, daß sie vielleicht nicht dasein wird, wenn wir uns wie verabredet treffen wollen. Vielleicht ist sie deshalb so schnell verschwunden. Aus dem Grund, aus dem sie nicht... Ich meine...« Es schien nicht viel Sinn zu ergeben, aber sie brachte es nicht richtig heraus.
»Ich hoffe es«, sagte Nynaeve erschöpft. Als sie Elayne ansah, fügte sie dann noch hinzu: »Wir müssen dich wohl besser ins Bett bringen. Du siehst aus, als würdest du gleich umfallen.« Elayne war dankbar dafür, daß Nynaeve ihr aus den Kleidern half. Sie dachte wohl daran, deren Arm noch schnell zu bandagieren, aber ansonsten hatte sie nur den Anblick des verlockenden Bettes vor Augen. Am Morgen würde vielleicht auch das Zimmer aufhören, langsam um das Bett zu kreisen. Ihr Kopf berührte kaum das Kopfkissen, da war sie schon eingeschlafen. Am Morgen wünschte sie sich, sie könnte sterben.
Die Sonne stand noch kaum am Himmel und der Schankraum war bis auf Elayne ganz leer. Sie stützte den Kopf auf die Hände und starrte eine Tasse an, die Nynaeve vor sie hingestellt hatte, bevor sie wegging, um die Wirtin zu suchen. Bei jedem Atemzug roch sie den Inhalt und ihre Nase hätte sich fast verkrampft. Im Kopf hatte sie ein Gefühl... Es war einfach unbeschreiblich. Hätte ihr jemand angeboten, ihren Kopf abzuschneiden, wäre dieses Angebot dankend angenommen worden.
»Geht es Euch gut?« Beim Klang von Thoms Stimme zuckte sie zusammen und konnte gerade noch ein leises Wimmern unterdrücken. »Es geht mir gut, danke.« Beim Sprechen pulsierte ihr ganzer Kopf. Er zwirbelte unsicher an seinem Schnurrbart herum. »Eure Geschichten gestern abend waren wunderbar, Thom. Jedenfalls das, woran ich mich noch erinnere.« Sie brachte ein leicht schuldbewußt klingendes Lachen zustande. »Ich fürchte allerdings, ich kann mich an nicht gerade vieles erinnern, außer daß ich dasaß und zuhörte. Ich habe anscheinend verdorbenes Apfelgelee gegessen.« Sie würde bestimmt nicht zugeben, daß sie zuviel getrunken hatte. Wieviel es gewesen war, wußte sie selbst nicht. Genausowenig konnte sie zugeben, daß sie sich in seinem Zimmer zum Narren gemacht hatte. Das noch weniger. Er schien ihr zu glauben, denn es wirkte erleichtert, als er sich neben sie setzte.
Nynaeve erschien und reichte ihr ein feuchtes Tuch, bevor sie sich hinsetzte. Sie schob auch die Tasse mit diesem furchtbaren Gebräu näher vor sie hin. Elayne drückte dankbar das Tuch an die Stirn.
»Hat eines von Euch heute morgen schon Meister Sandar gesehen?« fragte die ältere der beiden Frauen.
»Er hat jedenfalls nicht in unserem Zimmer geschlafen«, antwortete Thom. »Dafür sollte ich ja dankbar sein, wenn man bedenkt, welche Größe unser Bett hat.« Wie gerufen erschien in diesem Moment Juilin durch den Vordereingang. Sein Gesicht war erschöpft und das sonst eng anliegende Wams verknittert. Unter dem linken Auge hatte er eine Schramme, und das kurze, schwarze Haar, das er normalerweise glatt angekämmt trug, wirkte, als sei er lediglich mit den Fingern einmal durchgefahren. Doch er lächelte, als er sich zu ihnen setzte. »Die Diebe sind in dieser Stadt genauso zahlreich wie die Elritzen im seichten Wasser, und sie sind durchaus zum Reden bereit, wenn man ihnen etwas zum Trinken spendiert. Ich habe mit zwei Männern gesprochen, die behaupteten, sie hätten eine Frau mit einer weißen Haarsträhne über dem linken Ohr gesehen. Ich glaube, einer von beiden war vertrauenswürdig.« »Also sind sie hier«, sagte Elayne, doch Nynaeve schüttelte den Kopf.
»Vielleicht. Mehr als nur eine Frau trägt eine weiße Strähne im Haar.« »Er konnte nicht sagen, wie alt sie sei«, sagte Juilin und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Überhaupt kein Alter, behauptete er. Er riß einen Witz darüber, daß sie vielleicht eine Aes Sedai sei.« »Ihr geht zu schnell vor«, sagte Nynaeve mit nervösem Unterton zu ihm. »Ihr helft uns nicht, falls Ihr sie auf uns aufmerksam macht.« Juilin lief dunkelrot an. »Ich bin schon vorsichtig. Ich sehne mich nicht gerade danach, daß mich Liandrin wieder in die Finger bekommt. Ich stelle keine Fragen. Ich unterhalte mich. Manchmal erzähle ich von Frauen, die ich einmal kannte. Zwei Männer haben bei der Erwähnung dieser weißen Strähne angebissen, und keiner von ihnen hielt es für mehr als eine belanglose Unterhaltung über einem Krug billigen Bieres. Heute abend geht mir vielleicht ein anderer ins Netz, nur daß es diesmal eine zerbrechlich wirkende Frau aus Cairhien mit sehr großen blauen Augen betreffen wird.« Das war Temaile Kinderode. »Ganz langsam werde ich die Orte einkreisen, an denen man sie gesehen hat, bis ich weiß, wo sie sich aufhalten. Ich werde sie für Euch finden.« »Oder ich finde sie.« Bei Thom klang das, als halte er es für viel wahrscheinlicher. »Sie werden sich wohl kaum mit Dieben abgeben, sondern sich statt dessen in die Politik und die Angelegenheiten des Adels einmischen. Irgendein Lord in dieser Stadt wird etwas Ungewöhnliches tun und mich damit in ihre Nähe führen.« Die beiden Männer blickten sich an. Elayne erwartete jeden Moment, daß der eine den anderen zum Ringkampf herausfordern werde. Männer. Erst Juilin und Domon, nun Juilin und Thom. Höchstwahrscheinlich würden am Ende noch Thom und Domon mit Fäusten aufeinander einschlagen. Männer. Das war ihr einziger Kommentar, aber sie sprach ihn nicht aus.
»Vielleicht werden Elayne und ich Erfolg haben, ohne einen von Euch zu brauchen«, sagte Nynaeve trocken. »Wir werden auch heute unsere Suche beginnen.« Ihr Blick wanderte ganz kurz zu Elayne hinüber. »Ich jedenfalls. Elayne braucht womöglich noch etwas Ruhe, um sich von... der Reise zu erholen.« Elayne legte das Tuch vorsichtig auf den Tisch und griff mit beiden Händen nach der Tasse vor sich. Die dicke, graugrüne Flüssigkeit schmeckte noch übler, als sie roch. Schaudernd zwang sie sich, alles zu schlucken. Als sie ihren Magen erreichte, fühlte sie sich einen Augenblick lang wie ein Umhang, der in starkem Wind flattert. »Zwei Augenpaare sehen mehr als eines«, sagte sie zu Nynaeve und stellte die leere Tasse hart auf den Tisch zurück.
»Hundert Paare sehen noch besser«, sagte Juilin schnell, »und wenn dieser Illianer Aal wirklich seine Leute ausschickt, haben wir mindestens so viele, zusammen mit all den Räubern und Taschendieben.« »Ich — wir — werden diese Frauen für Euch finden, falls sie überhaupt zu finden sind«, sagte Thom. »Es ist nicht notwendig, daß Ihr aus der Schenke geht. Diese Stadt ist wie ein gefährliches Raubtier, auch ohne Liandrins Anwesenheit.« »Außerdem«, fügte Juilin hinzu, »kennen sie Euch zwei. Sie kennen Eure Gesichter. Viel besser, Ihr bleibt hier in der Schenke außer Sicht.« Elayne sah die Männer verblüfft an. Noch vor einem Moment waren sie wie Hund und Katze gewesen, und nun hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Nynaeve hatte recht gehabt, daß sie ihnen Schwierigkeiten bereiten würden. Nein, die Tochter-Erbin von Andor würde sich nicht hinter Meister Juilin Sandar und Meister Thom Merrilin verstecken. Sie öffnete den Mund, um ihnen das mitzuteilen, aber Nynaeve ergriff zuerst das Wort.
»Ihr habt recht«, sagte sie gelassen. Elayne starrte sie ungläubig an. Thom und Juilin wirkten überrascht und gleichzeitig entschieden zufriedengestellt. »Sie kennen uns wirklich«, fuhr Nynaeve fort. »Ich habe dieses Problem heute morgen gelöst, glaube ich. Ach, da ist ja Frau Rendra mit unserem Frühstück.« Thom und Juilin tauschten einen besorgten Blick, aber sie konnten nichts sagen, da die Wirtin dabei stand und hinter ihrem Schleier lächelte.
»Wie steht es mit dem, worum ich Euch gebeten hatte?« fragte Nynaeve, als die Frau eine Schüssel Haferbrei vor sie stellte.
»Ach, ja. Es wird keine Schwierigkeiten geben, Kleidung zu finden, die Euch beiden paßt. Und das Haar —Ihr habt so wunderschönes, langes Haar — wird im Nu hochgesteckt sein.« Sie faßte an ihre eigenen goldenen Zöpfe.
Thoms und Juilins Gesichter brachten Elayne zum Lächeln. Sie waren vielleicht auf eine heiße Diskussion gefaßt gewesen, aber sie hatten kein Mittel dagegen, einfach ignoriert zu werden. Ihrem Kopf ging es jetzt auch ein wenig besser. Nynaeves üble Mixtur schien zu wirken. Während Nynaeve und Rendra über die Kosten, die Schnitte und Stoffe sprachen — Rendra wollte ihnen Kleider im Stil ihres eigenen enganliegenden Kleides beschaffen, das sie heute in Hellgrün trug, doch Nynaeve war dagegen, wurde aber langsam schwankend —, begann Elayne ihren Haferbrei zu essen, um den Geschmack dieses Gebräus im Mund loszuwerden. Das brachte ihr zu Bewußtsein, daß sie tatsächlich ziemlichen Hunger hatte.
Es gab noch ein Problem bei der ganzen Sache, das keine von beiden erwähnt hatte. Thom und Juilin wußten gar nichts davon. Wenn sich die Schwarzen Ajah in Tanchico befanden, befand sich auch das hier was Rand so in Gefahr brachte. Etwas, das ihn mit seiner eigenen Macht fesseln konnte. Es reichte nicht, Liandrin und die anderen aufzuspüren. Sie mußten auch das finden, was immer es auch war. Mit einemmal war ihr gerade erst aufgekommener Appetit vollständig verflogen.