17 Irrtümer

Thom verlagerte sein Gewicht weg von seinem steifen rechten Bein und verbeugte sich mit weit gespreiztem Gauklerumhang. Die bunten Flicken flatterten bei der Bewegung. Er hätte sich gern die Augen ausgewischt, doch statt dessen sagte er in heiterem Tonfall: »Einen schönen guten Morgen wünsche ich!« Er richtete sich auf und strich mit großer Geste über seinen langen, weißen Schnurrbart.

Die in Schwarz und Gold gekleideten Diener blickten überrascht drein. Die beiden kräftigen jungen Burschen richteten sich von der goldverzierten, rotlackierten Truhe mit dem zersplitterten Deckel auf, die sie hatten hochheben wollen, und die drei Frauen hörten auf, den Boden daneben mit dem Mop zu bearbeiten. Bis auf sie war der Flur hier leer, und sie waren froh über jede Ausrede, mit deren Hilfe sie ihre Arbeit zu dieser Stunde unterbrechen konnten. Mit ihren hängenden Schultern und dunklen Ringen wirkten sie genauso müde, wie sich Thom fühlte.

»Guten Morgen auch Euch, Gaukler«, sagte die älteste der Frauen. Sie war ein wenig mollig und hatte ein nichtssagendes Gesicht, aber ein nettes Lächeln, obwohl sie offensichtlich erschöpft war. »Können wir Euch helfen?« Thom holte aus einem geräumigen Jackenärmel vier bunte Bälle hervor und begann, damit zu jonglieren.

»Ich gehe nur herum und versuche, ein wenig gute Laune zu verbreiten. Ein Gaukler muß tun, was ihm möglich ist.« Er hätte ansonsten mehr als vier Bälle benutzt, aber er war selbst so müde, daß ihn auch dieses bißchen Jonglieren alle Konzentration abforderte. Wie lang war es her, daß er den fünften Ball beinahe hätte fallen lassen? Zwei Stunden? Er unterdrückte ein Gähnen und wandelte es schnell in ein beruhigendes Lächeln um. »Eine furchtbare Nacht. Da muß die Laune etwas aufgebessert werden.« »Der Lord Drache hat uns gerettet«, sagte eine der jüngeren Frauen. Sie war hübsch und schlank, und in ihren dunklen Augen glitzerte ein wenig das Raubtier. Er war gewarnt und zügelte sein Lächeln. Natürlich könnte sie nützlich werden, wenn sie sowohl gierig wie auch ehrlich war und loyal, sobald sie einmal gekauft worden war. Es war immer gut, noch ein paar Hände aufzutreiben, die eine heimliche Botschaft überbringen konnten, und einen Mund, der ihm berichtete, was man so hörte, und ausrichtete, was er wollte und wo er es wollte. Alter Narr! Du hast genug Hände und Ohren, also laß dich nicht von einem schönen Busen beeindrucken! Denk an ihren Blick. Das Interessante war... nun, es klang, als meine sie ihre Worte ehrlich, und einer der jungen Burschen nickte zustimmend.

»Ja«, sagte Thom. »Ich frage mich, welcher Hochlord gestern eigentlich für die Bewachung des Hafens zuständig war?« Er hätte beinahe einen Ball verloren, so ärgerte er sich über sich selbst. Einfach so damit herauszuplatzen! Er war zu müde und sollte lieber im Bett liegen, und das seit Stunden.

»Für den Hafen sind die Verteidiger zuständig«, sagte ihm die älteste der Frauen. »Das könnt Ihr natürlich nicht wissen. Die Hochlords beschäftigen sich nicht mit sowas.« Thom wußte das sehr wohl. »Tatsächlich? Na ja, ich bin eben nicht aus Tear.« Er ließ die Bälle aus einem einfachen Kreis nun in einer Doppelschlinge wirbeln. Das sah schwieriger aus, als es tatsächlich war, und das Mädchen mit dem Raubtierblick klatschte in die Hände. Jetzt war er dran und konnte genausogut weitermachen. Danach allerdings würde er für diese Nacht Schluß machen. Nacht? Die Sonne ging schon auf. »Trotzdem ist es eine Schande, daß niemand gefragt hat, warum diese Schiffe eigentlich hier angelegt haben. Dazu noch alle Luken geschlossen, so daß sich diese Trollocs verbergen konnten. Ich will damit nicht sagen, daß jemand von den Trollocs wußte, aber... « Die Doppelschlinge kam ins Wanken, und schnell kehrte er zur Kreisform zurück. Licht, er war so erschöpft! »Man sollte aber doch denken, daß einer der Hochlords sich danach erkundigt hätte.« Die beiden jungen Männer sahen sich nachdenklich an, und Thom lächelte in sich hinein. Wieder ein Samenkorn eingepflanzt und genauso leicht, wenn auch ziemlich plump. Wieder ein Gerücht in Umlauf gebracht, gleich, was sie über den wußten, der für die Sicherheit des Hafens verantwortlich gewesen war. Und Gerüchte verbreiteten sich schnell. Eines wie dieses würde vor der Stadt nicht haltmachen. So wirkte es wieder als ein winziger Keil, der zwischen den Adel und das Volk getrieben wurde. Wem würde sich das Volk zuwenden, außer natürlich dem Mann, von dem sie wußten, daß ihn der Adel haßte? Dem Mann, der den Stein vor den Schattenwesen gerettet hatte: Rand al'Thor, ihrem Lord Drachen.

Es war Zeit, zu gehen und die Saat aufgehen zu lassen. Falls seine Saat hier Wurzeln geschlagen hatte, würde nichts von dem sie wieder ausreißen, was er jetzt noch sagen konnte, und diese Nacht hatte er bereits fleißig gesät. Aber es durfte nicht geschehen, daß irgend jemand merkte, wer die Saat gepflanzt hatte. »Sie haben letzte Nacht tapfer gekämpft, die Hochlords. Ich habe doch tatsächlich gesehen...« Er ließ die Worte verklingen, als die Frauen wieder an ihre Mops sprangen und die Männer die Kiste hochwuchteten und wegtrugen.

»Ich kann auch für einen Gaukler Arbeit finden«, sagte die Stimme der Majhere hinter ihm. »Müßige Hände sind müßige Hände.« Er wandte sich mit eleganter Bewegung um, wenn man sein steifes Bein mißachtete, und verbeugte sich tief vor ihr. Ihr Haarschopf befand sich noch unterhalb seiner Schultern, doch sie wog wahrscheinlich um die Hälfte mehr als er. Sie hatte ein Gesicht wie ein Amboß. Ihr Aussehen wurde auch durch die Bandage um ihre Schläfen nicht verbessert: Doppelkinn und tiefliegende Augen, die wie Splitter von schwarzem Feuerstein wirkten. »Einen schönen guten Morgen, verehrte Dame. Ein kleiner Vorgeschmack auf diesen frischen, neuen Tag gefällig?« Er bewegte geschickt und äußerst schnell die Hände, und dann hielt er plötzlich eine kleine, goldgelbe Blume darin, die nur ganz wenig gerupft aussah, trotz der Zeit, die sie in seinem Ärmel verbracht hatte, und die steckte er ihr ins graue Haar über der Bandage. Sie zog die Blume natürlich gleich wieder heraus und betrachtete sie mißtrauisch, aber das war es gerade, was er erreichen wollte. Im Augenblick ihres Zögerns machte er drei lange, wenn auch humpelnde Schritte, und als sie ihm noch etwas hinterherschrie, hörte er bereits nicht mehr darauf und war weg.

Furchtbare Frau, dachte er. Wenn wir sie auf die Trollocs losgelassen hätten, dann würden sie jetzt samt und sonders fegen und putzen.

Er hielt sich die Hand vor und gähnte mit knackendem Kiefer. Er war einfach zu alt für so etwas. Er war müde, und sein Knie schmerzte ziemlich stark. Nächte ohne Schlaf, Kämpfe, Intrigen. Zu alt. Er sollte eigentlich ein ruhiges Leben irgendwo auf einem Bauernhof führen. Mit Hühnern. Auf Bauernhöfen gab es immer Hühner. Und Schafe. Es konnte nicht schwer sein, sie zu hüten. Schafhirten schienen immer herumzulümmeln und Flöte zu spielen. Er würde natürlich Harfe spielen und nicht Flöte. Oder vielleicht doch; Wind und Wetter taten einer Harfe nicht gut. Und in der Nähe würde es eine kleine Stadt geben mit einer Schenke, und dort könnte er die Gäste im Schankraum mit ein paar Kunststücken erfreuen. Er schwang seinen Umhang, als er an zwei Dienern vorbeikam. Der einzige Sinn darin, ihn bei dieser Hitze zu tragen, war der, die Leute wissen zu lassen, daß er ein Gaukler sei. Ihre Mienen erhellten sich bei seinem Anblick regelmäßig, und sie hofften natürlich, daß er sich einen Moment Zeit nehmen werde, um sie zu unterhalten. Das war sehr erfreulich. Ja, ein Bauernhof hatte seine Vorteile. Ein ruhiger Ort. Keine Leute, die ihn belästigten. Solange sich in der Nähe eine Stadt befand.

Er drückte die Tür zu seinem Zimmer auf und blieb wie angewurzelt stehen. Moiraine richtete sich so selbstverständlich auf, als habe sie jedes Recht, die auf seinem Tisch verstreuten Papiere durchzugehen. Dann richtete sie seelenruhig ihren Rock und setzte sich auf den Hocker. Das war nun eine wirklich schöne Frau, so elegant und graziös, wie sie sich ein Mann nur wünschen konnte, und sie lachte sogar über seine Scherze und Kunststücke. Narr! Alter Narr! Sie ist eine Aes Sedai, und du bist zu müde, um noch klar zu denken.

»Guten Morgen, Moiraine Sedai«, sagte er und hängte seinen Umhang an einen Haken. Er vermied es, seinen Kasten mit den Schreibutensilien anzusehen, der noch immer unter dem Tisch stand, wie er ihn zurückgelassen hatte. Er wollte sie ja nicht wissen lassen, daß der wichtig war. Es war wahrscheinlich auch sinnlos nachzuschauen, wenn sie wieder weg war. Sie konnte das Schloß mit Hilfe der Macht geöffnet und wieder geschlossen haben, und er würde keinen Unterschied bemerken. So erschöpft wie er war, wußte er noch nicht einmal mit Sicherheit, ob er etwas Verdächtiges darin hinterlassen hatte oder irgendwo anders. Alles, was er sah, befand sich genau dort, wo es hingehörte. Er glaubte auch nicht, daß er so dumm gewesen war, irgend etwas liegenzulassen. Die Türen in den Quartieren der Diener hatten keine Schlösser oder Riegel. »Ich würde Euch gern ein erfrischendes Getränk anbieten, aber ich fürchte, ich habe nichts als Wasser.« »Ich habe keinen Durst«, sagte sie mit ihrer angenehmen, melodiösen Stimme. Sie beugte sich vor, und da das Zimmer klein war, reichte es, daß sie ihm eine Hand auf das rechte Knie legen konnte. Ein eiskalter Schauer durchlief seinen Körper. »Ich wünschte, es wäre eine gute Heilerin in der Nähe gewesen, als das passierte. Jetzt ist es leider viel zu spät.« »Ein Dutzend Heilerinnen hätten nicht ausgereicht«, gab er ihr zur Antwort. »Die Verletzung stammt von einem Halbmenschen.« »Ich weiß.« Was weiß sie sonst noch? fragte er sich. Er wandte sich um und wollte den einzigen Stuhl hinter dem Tisch hervorziehen. Dabei verbiß er sich gerade noch einen Fluch. Er fühlte sich nämlich, als hätte er eine wundervoll durchschlafene Nacht hinter sich, und der Schmerz war aus seinem Knie gewichen. Er humpelte wohl noch, doch das Gelenk war beweglicher als je zuvor seit dieser Verletzung. Die Frau hat mich nicht einmal gefragt, ob ich das überhaupt will! Seng mich, was will sie von mir? Er weigerte sich, das Bein zu bewegen. Wenn sie sich nicht danach erkundigte, würde er ihr Geschenk ignorieren.

»Ein interessanter Tag gestern«, bemerkte sie, als er sich setzte.

»Ich würde Trollocs und Halbmenschen nicht gerade als interessant bezeichnen«, gab er trocken zurück.

»Die habe ich auch gar nicht damit gemeint. Früher. Hochlord Carleon starb bei einem Jagdunfall. Sein guter Freund Tedosian verwechselte ihn offensichtlich mit einem Keiler. Oder vielleicht auch einem Hirsch.« »Das hatte ich nicht gehört.« Er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Selbst wenn sie die Nachricht gefunden hätte, würde sie es trotzdem kaum seiner Urheberschaft zurechnen können. Carleon selbst hätte das für seine eigene Handschrift gehalten. Er glaubte nicht, daß sie die seine darin erkannt habe, doch sie war natürlich eine Aes Sedai... Als müsse er erst daran erinnert werden! Dieses glatte, hübsche Gesicht vor ihm, diese ernsten, dunklen Augen, die ihm all seine Geheimnisse zu entlocken schienen. »Die Quartiere der Dienstboten sind voll von Gerüchten, aber ich höre nur selten darauf.« »Tatsächlich?« murmelte sie in mildem Tonfall. »Dann habt Ihr sicher auch nicht davon gehört, daß Tedosian kaum eine Stunde nach seiner Rückkehr in den Stein erkrankte, gleich nachdem ihm seine Frau einen Pokal mit Wein reichte, um den Staub der Jagd herunterzuspülen. Man sagt, er habe geweint, als er erfuhr, daß sie ihn persönlich pflegen und mit eigenen Händen füttern werde. Zweifellos waren es Freudentränen ob ihrer großen Liebe. Ich hörte, sie habe geschworen, nicht von seiner Seite zu weichen, bis er wieder aufstehen kann. Oder bis er stirbt.« Sie wußte Bescheid. Woher, das konnte er nicht sagen, aber sie wußte Bescheid. Doch warum ließ sie ihn das wissen? »Eine Tragödie«, sagte er im gleichen nichtssagenden Ton wie sie zuvor. »Rand wird alle loyalen Hochlords brauchen, die er nur auftreiben kann, schätze ich.« »Carleon und Tedosian kann man kaum loyal nennen. Selbst untereinander nicht, wie es scheint. Sie führten eine Partei an, die Rand töten und dann vergessen möchte, daß er je gelebt hat.« »Wirklich? Ich achte nicht sehr auf solche Dinge. Die Taten der Mächtigen gehen einen einfachen Gaukler nichts an.« Ihr Lächeln war von einem herzhaften Lachen nicht weit entfernt, aber sie erzählte nun, als lese sie den Text irgendwo ab: »Thomdril Merrilin. Einst genannt der Graue Fuchs, jedenfalls von einigen, die ihn kannten oder von ihm wußten. Hofbarde im königlichen Palast von Andor in Caemlyn. Eine Weile lang Morgases Liebhaber, nachdem Taringail gestorben war. Ein glücklicher Zufall für Morgase, daß Taringail starb. Ich glaube, sie hat niemals herausbekommen, daß er sie hatte töten und sich dann zum ersten König von Andor ausrufen wollen. Aber wir sprachen ja von Thom Merrilin, einem Mann, von dem man sich erzählte, er könne das Spiel der Häuser im Schlaf spielen. Es ist eine Schande, daß dieser Mann sich nun als einfachen Gaukler bezeichnet. Und doch: welcher Hochmut, den eigenen Namen beizubehalten.« Thom konnte nur mit Mühe seinen Schreck nach außen hin verbergen. Wieviel wußte sie? Zuviel, selbst wenn es sonst nichts mehr war. Aber sie war nicht die einzige, die über etwas Bescheid wußte. »Wenn wir schon von Namen sprechen«, sagte er äußerlich gelassen, »dann ist es bemerkenswert, wieviel man daraus ablesen kann: Moiraine Damodred. Lady Moiraine aus dem Hause Damodred in Cairhien. Taringails jüngste Halbschwester. König Lamans Nichte. Und eine Aes Sedai, das wollen wir nicht übersehen. Eine Aes Sedai, die dem Wiedergeborenen Drachen bereits behilflich war, bevor sie auch nur wissen konnte, daß er mehr war als ein weiterer armer Narr, der die Macht benützen kann. Eine Aes Sedai mit besten Verbindungen in höchste Kreise der Weißen Burg, würde ich sagen, denn sonst würde sie ein solches Risiko nicht eingehen. Jemand aus dem Burgrat? Mehr als nur eine, nehme ich an. Wenn das an die Öffentlichkeit käme, würde es das Machtgefüge der Welt erschüttern. Aber warum sollte es Schwierigkeiten geben? Vielleicht ist es das beste, einen alten Gaukler einfach in seinem Unterschlupf in den Quartieren der Dienstboten in Ruhe zu lassen. Nur ein alter Gaukler, der seine Harfe spielt und Geschichten erzählt. Geschichten, die niemandem schaden.« Falls er es geschafft hatte, ihre Beherrschung ein wenig ins Wanken zu bringen, ließ sie sich davon nichts anmerken. »Reine Spekulation ohne Tatsachen dahinter ist immer gefährlich«, konterte sie ruhig. »Ich verwende absichtlich meinen Familiennamen nicht. Das Haus Damodred hatte schon verdientermaßen einen schlechten Ruf, bevor Laman auch noch Avendoraldera fällen mußte und deshalb Thron und Leben verlor. Seit dem Aielkrieg ist der Ruf dann — ebenfalls verdientermaßen — noch schlechter geworden.« Konnte denn nichts diese Frau erschüttern? »Was wünscht Ihr von mir?« fragte er gereizt.

Sie zuckte mit keiner Wimper. »Elayne und Nynaeve schiffen sich heute nach Tanchico ein. Eine gefährliche Stadt, Tanchico. Euer Wissen und Euer Geschick könnten helfen, ihre Leben zu erhalten.« Also das war es. Sie wollte ihn von Rand trennen, damit der Junge hilflos ihren Manipulationen ausgesetzt war. »Wie Ihr sagtet, ist Tanchico eine gefährliche Stadt, doch das war sie immer. Ich wünsche den jungen Frauen Glück, aber ich habe nicht die geringste Lust, meinen Kopf in ein Schlangennest zu stecken. Ich bin zu alt für so etwas. Ich habe daran gedacht, einen Bauernhof zu erwerben. Ein ruhiges Leben. Und sicher.« »Ich glaube, ein ruhiges Leben würde Euch umbringen.« Es klang ausgesprochen belustigt, wie sie das sagte. Sie zupfte mit kleinen, schmalen Händen die Falten ihres Kleids zurecht. Er hatte den Eindruck, daß sie ein Lächeln unterdrückte. »Tanchico wäre besser für Euch, und Ihr würdet dort nicht sterben, das garantiere ich, und Ihr wißt, daß ich die Wahrheit sage. Beim Ersten Eid.« Er runzelte die Stirn, obwohl er sich alle Mühe gab, keine Miene zu verziehen. Sie hatte es gesagt, und sie konnte nicht lügen, aber woher wollte sie das wissen? Er war sicher, sie konnte die Zukunft nicht vorhersagen. Er hatte auch schon gehört, daß sie dieses Talent zu besitzen abstritt. Aber sie hatte es gesagt. Verseng doch diese Frau! »Warum sollte ich nach Tanchico reisen?« Sie würde bei ihm auf den Titel verzichten müssen.

»Um Elayne zu beschützen, Morgases Tochter?« »Ich habe Morgase fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Elayne war noch ein Kind, als ich Caemlyn verließ.« Sie zögerte, aber als sie schließlich weitersprach, klang ihre Stimme unnachgiebig und hart. »Und Euer Grund, Andor zu verlassen? Ich glaube, das war wegen eines Neffen namens Owyn. Einer dieser armen Narren, wie Ihr es ausgedrückt habt, der die Macht benützen kann. Die Roten Schwestern waren angewiesen, ihn nach Tar Valon zu bringen, wie jeden dieser Männer, aber statt dessen unterzogen sie ihn auf der Stelle einer Dämpfung und überließen ihn der... der Gnade seiner Nachbarn.« Thom warf beim Aufstehen seinen Stuhl um und mußte sich dann am Tisch festhalten, weil seine Knie zitterten. Owyn hatte nach der Dämpfung nicht mehr lange gelebt und war von angeblichen Freunden aus seinem Haus getrieben worden, weil sie es nicht ertragen konnten, neben einem Mann zu leben, der die Macht benutzt hatte. Nichts von alledem, was Thom anstellte, konnte Owyn den Lebensmut zurückgeben oder seine junge Frau daran hindern, ihm innerhalb des gleichen Monats ins Grab zu folgen.

»Warum...?« Er räusperte sich überlaut und versuchte, seine Stimme weniger heiser klingen zu lassen. »Warum erzählt Ihr mir das?« Auf Moiraines Gesicht zeigte sich Sympathie. Und konnte das auch Bedauern sein? Sicher nicht. Nicht bei einer Aes Sedai. Auch die Sympathie mußte bloße Verstellung sein. »Das hätte ich nicht, wenn Ihr willens gewesen wärt, einfach Elayne und Nynaeve zu helfen.« »Warum, seng Euch! Warum?« »Wenn Ihr Elayne und Nynaeve begleitet, werde ich Euch beim nächsten Zusammentreffen die Namen dieser Roten Schwestern nennen und auch derjenigen, die den Befehl dazu gab. Sie taten das nicht aus eigenem Antrieb. Und ich werde Euch wiedersehen. Ihr werdet Tarabon überleben.« Er atmete nervös durch. »Was werden mir ihre Namen nützen?« fragte er mit ausdrucksloser Stimme. »Aes-Sedai-Namen, hinter denen die Macht der Weißen Burg steht.« »Ein geschickter und gefährlicher Spieler, der das Spiel der Häuser perfekt beherrscht, könnte sie nützlich finden«, antwortete sie ruhig. »Sie hätten nicht tun sollen, was sie taten. Sie hätten auch deshalb nicht von jeder Strafe ausgenommen werden dürfen.« »Geht Ihr jetzt bitte?« »Ich werde Euch beweisen, daß nicht alle Aes Sedai so sind wie diese Roten, Thom. Das müßt Ihr mir glauben.« »Bitte!« Er stand da auf den Tisch gestützt, bis sie weg war. Er wollte sie nicht sehen lassen, wie er steif auf die Knie niedersank und ihm die Tränen über das verwitterte Gesicht liefen. O Licht, Owyn! Er hatte das alles so gut verdrängt, wie es ihm nur möglich gewesen war. Ich kam nicht mehr rechtzeitig hin. Zu sehr mit diesem verfluchten Spiel der Häuser beschäftigt. Er wischte sich nachdenklich die Tränen vom Gesicht. Moiraine war eine hervorragende Spielerin. Sie hatte ihn völlig umgedreht, jeden Faden gezogen, den er für absolut sicher verborgen gehalten hatte. Owyn. Elayne. Morgases Tochter. Für Morgase empfand er nur noch Freundschaft, oder vielleicht doch ein bißchen mehr, aber es war schwer, ein Kind zu mißachten, das man auf den Knien geschaukelt hatte. Dieses Mädchen in Tanchico? Die Stadt würde sie beim lebendigen Leib auffressen, und das selbst ohne diesen Krieg. Jetzt muß das eine Löwengrube sein. Und Moiraine wird mir die Namen sagen. Alles, was er tun mußte, war, Rand den Händen einer Aes Sedai zu überlassen. So, wie er Owyn im Stich gelassen hatte. Sie hatte ihn gefangen wie eine Schlange unter dem Gabelstock. Er konnte sich winden, wie er wollte, kam aber nicht frei. Seng doch diese Frau!

Min schob den Henkel des Stickkörbchens über ihren Arm, raffte mit der anderen Hand den Rock hoch und schritt nach dem Frühstück mit geschmeidigen Schritten und erhobenen Hauptes aus dem Speisesaal. Sie hätte ein volles Weinglas auf dem Kopf balancieren können, ohne einen Tropfen zu verschütten. Zum Teil war das darauf zurückzuführen, daß sie in diesem Kleid gar nicht normal gehen konnte. Das Kleid bestand ganz aus blaßblauer Seide, mit einem eng anliegenden Oberteil und einem weiten Rock, dessen bestickter Saum auf dem Boden schleifte, wenn sie ihn nicht anhob. Zum anderen schritt sie so einher, weil sie sicher war, Laras' Blick auf ihrem Rücken zu spüren.

Ein Blick zurück bewies ihr, daß sie recht hatte. Die Herrin der Küchen, ein wandelndes Weinfaß, strahlte sie wohlwollend von der Tür des Speisesaals her an. Wer hätte schon geglaubt, daß diese Frau in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen war oder in ihrem Herzen Platz finden würde für hübsche, immer zum Flirten geneigte Mädchen? ›Lebhaft‹ nannte sie so etwas. Wer hätte vermutet, daß sie ›Elmindreda‹ unter ihre kräftigen Fittiche nehmen würde? Das war keine sehr bequeme Lage. Laras hatte ein schützendes Auge auf Min geworfen, und dieses Auge schien sie überall auf dem Gelände der Burg aufspüren zu können. Min lächelte zurück und tastete über ihr Haar, das jetzt zu einem schwarzen Lockenkopf gediehen war. Seng die Frau! Hat sie denn nichts zu kochen oder irgendeine Magd, die sie anschreien kann?

Laras winkte ihr zu, und sie winkte zurück. Sie konnte sich nicht leisten, jemanden zu kränken, die sie so genau beobachtete, nicht, solange sie keine Ahnung hatte, wie viele Fehler sie vielleicht machte. Laras kannte jeden Trick solch ›lebhafter‹ Frauen und wollte Min alle die beibringen, die sie vielleicht noch nicht kannte. Ein wirklicher Fehler, überlegte Min, als sie sich auf eine Marmorbank unter einem hohen Fenster setzte, war die Stickerei gewesen. Nicht von Laras Standpunkt aus gesehen, wohl aber von ihrem eigenen. Sie zog den Stickrahmen aus dem Korb und betrachtete reumütig ihre Arbeit von gestern: einige schiefe, gelbe Ochsenaugen und etwas, das eigentlich eine hellgelbe Rosenknospe hatte werden sollen. Das erkannte aber niemand, wenn sie es nicht dazusagte. Seufzend machte sie sich daran, das Ganze wieder aufzutrennen. Leane hatte wohl doch recht gehabt.

Eine Frau konnte stundenlang mit ihrem Stickrahmen dasitzen und jeden und alles beobachten, ohne daß es auffiel. Es wäre allerdings schon hilfreich gewesen, hätte sie wenigstens etwas Geschick dabei an den Tag gelegt.

Immerhin war es ein wunderbarer Morgen, gerade recht, um sich draußen im Freien aufzuhalten. Eine goldene Sonne hatte sich eben über den Horizont erhoben und am Himmel schienen selbst die wenigen Schäfchenwolken perfekt arrangiert. Eine zarte Brise brachte den Duft nach Rosen mit sich und zauste leicht an den hohen Calma-Büschen mit ihren großen roten und weißen Blüten. Bald würden immer mehr Menschen über die Kieswege zwischen den Bäumen schlendern oder in Erfüllung ihrer Aufträge eilen, von Aes Sedai bis zu Stallburschen. Ein vollkommener Morgen und ein hervorragender Platz, um unbemerkt zu beobachten. Vielleicht würde sie heute auch etwas Brauchbares aus der Zukunft sehen.

»Elmindreda?« Min fuhr hoch und mußte sich dann einen gestochenen Finger in den Mund stecken. Sie drehte sich auf der Bank um und wollte Gawyn ausschimpfen, weil er sich so an sie angeschlichen hatte, doch die Worte erstarben ihr im Mund. Galad befand sich bei ihm. Er war größer als Gawyn, hatte lange Beine und bewegte sich mit der Grazie eines Tänzers, dabei aber auf eine sehnige Art kraftvoll. Auch seine Hände waren lang, elegant und doch stark. Und sein Gesicht... Er war ganz einfach der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.

»Hör auf, an deinem Finger zu lutschen«, sagte Gawyn grinsend. »Wir wissen, daß du ein hübsches, kleines Mädchen bist. Du mußt es uns nicht beweisen.« Sie errötete und nahm schnell den Finger aus dem Mund. Sie konnte gerade noch einen wütenden Blick unterdrücken, der ganz und gar nicht dem Charakter Elmindredas entsprochen hätte. Er hatte keine Drohungen oder Befehle der Amyrlin benötigt, um ihr Geheimnis zu wahren. Sie hatte ihn nur einfach darum bitten müssen. Doch er benützte jede mögliche Gelegenheit, um sie damit aufzuziehen. »Es ist nicht schön, sich über jemanden lustig zu machen, Gawyn«, sagte Galad. »Er wollte Euch nicht kränken, Frau Elmindreda. Verzeiht, aber kann es sein, daß wir uns schon einmal kennengelernt haben? Als Ihr Gawyn eben so finster angeblickt habt, hatte ich das Gefühl, Euch zu kennen.« Min senkte scheu den Blick. »Oh, ich könnte es niemals vergessen, wenn ich Euch kennengelernt hätte, Lord Galad«, sagte sie in ihrem besten Dummchen-Tonfall. Das und dazu der Ärger über ihre Unaufmerksamkeit ließen eine Hitzewelle bis an ihre Haarspitzen aufsteigen, was ihr Täuschungsmanöver nur unterstrich.

Sie sah ja völlig verändert aus, wobei Kleid und Frisur nur einen Teil der Veränderungen darstellten. Leane hatte in der Stadt Cremes und Puder und eine unglaubliche Anzahl von geheimnisvoll duftenden Sachen aufgetrieben und sie in deren Gebrauch unterwiesen, bis sie alles im Schlaf beherrschte. Nun hatte sie betonte Wangenknochen und mehr Farbe auf den Lippen, als die Natur ihr mitgegeben hatte. Eine dunkle Creme, mit der sie ihre Augenlider umrahmt hatte, und ein feiner Puder zur Hervorhebung ihrer Wimpern ließen die Augen größer erscheinen. Das war ganz und gar nicht sie selbst. Ein paar Novizinnen hatten ihr bewundernd gesagt, wie schön sie sei, und sogar einige Aes Sedai hatten sie als ›sehr hübsches Kind‹ bezeichnet. Das war ihr entschieden zuwider. Sie gab ja zu, daß es ein hübsches Kleid war, aber den Rest konnte sie nicht ausstehen. Doch natürlich hatte eine Verkleidung keinen Zweck, die man nicht aufrechterhielt.

»Ich bin sicher, daß du dich daran erinnern würdest«, sagte Gawyn trocken. »Ich wollte dich nicht bei deiner Stickerei stören — Schwalben, nicht wahr? Gelbe Schwalben?« Min steckte den Rahmen in den Korb zurück. »Aber ich wollte dich eigentlich bitten, mir dazu etwas zu sagen.« Er drückte ihr ein kleines, ledergebundenes, altes und zerfleddertes Buch in die Hand, und mit einemmal klang seine Stimme ernst. »Sag meinem Bruder, daß es Unsinn ist. Vielleicht hört er auf dich.« Sie betrachtete das Buch. Der Weg des Lichts von Lothair Mantelar. Sie öffnete es und las aufs Geratewohl. »Schwört deshalb allem Vergnügen ab, denn Güte ist ein reines Abstraktum, ein vollkommenes, kristallreines Ideal, das von jedem niederen Gefühl getrübt wird. Pflegt nicht das Fleisch. Das Fleisch ist schwach, doch der Geist ist stark. Das Fleisch ist nutzlos, während der Geist stark ist. Der richtige Gedanke ertrinkt in Gefühlen, und die richtige Handlungsweise wird von Leidenschaften behindert. Findet Freude am Richtigen und nur am Richtigen.« Das schien wirklich ein trockener Unsinn zu sein.

Min lächelte Gawyn an und brachte sogar ein Kichern fertig. »So viele Worte. Ich fürchte, ich verstehe nichts von Büchern, Lord Gawyn. Ich wollte aber immer schon eins lesen — wirklich.« Sie seufzte. »Aber ich habe so wenig Zeit. Nur allein schon meine Frisur aufzufrischen dauert Stunden. Findet Ihr sie hübsch?« Die völlige Verblüffung in seinem Gesichtsausdruck hätte sie beinahe zum Lachen gebracht, aber sie ließ es gerade noch zu einem Kichern abgleiten. Es war ein Vergnügen, bei ihm einmal den Spieß umzudrehen. Das mußte sie öfter versuchen. Es lagen doch wohl Möglichkeiten in dieser Verkleidung, an die sie noch gar nicht gedacht hatte. Ihr Verbleiben in der Burg war zu einer Zeit der Langeweile und wachsenden Nervosität geworden. Sie hatte sich ein wenig Vergnügen verdient.

»Lothair Mantelar«, sagte Gawyn stockend, »war der Begründer der Kinder des Lichts. Der Weißmäntel!« »Er war ein großer Mann«, sagte Galad entschieden. »Ein Philosoph der noblen Ideale. Wenn die Kinder des Lichts im Laufe der Zeit ein wenig... über das Ziel hinausgeschossen sind, so ändert das nichts daran.« »O je, Weißmäntel«, gab Min atemlos von sich und schauderte auch noch leicht dabei. »Das sind Männer mit so rauhen Sitten, wie ich höre. Ich kann mir keinen Weißmantel beim Tanzen vorstellen. Glaubt Ihr, daß es hier irgendeine Möglichkeit gibt, einmal tanzen zu gehen? Aes Sedai halten wohl auch nichts davon, und ich liebe das Tanzen doch so.« Die Frustration in Gawyns Blick war einfach köstlich.

»Ich glaube nicht«, sagte Galad und nahm ihr das Buch wieder ab. »Aes Sedai sind mit... ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Wenn ich von einer passenden Tanzveranstaltung in der Stadt höre, werde ich Euch hinbegleiten, falls Ihr das wünscht. Ihr müßt keine Angst haben, von diesen beiden ungehobelten Kerlen belästigt zu werden.« Er lächelte sie an, allerdings völlig unbewußt, und ihr blieb plötzlich wirklich die Luft weg.

Man sollte Männern kein solches Lächeln gestatten.

Sie brauchte einen ganzen Augenblick, bis ihr klar wurde, welche ungehobelten Kerle er meinte: die beiden Männer, die angeblich um Elmindredas Hand angehalten hatten und sich beinahe duelliert hätten, weil sie sich nicht entscheiden konnte und immer wieder beiden Mut machte. Sie hatten sie — angeblich — so bedrängt, daß sie in der Burg Zuflucht gesucht hatte. Das war ja die ganze Ausrede, mit der sie ihre Anwesenheit hier erklärte. Es ist dieses Kleid, sagte sie sich. Ich könnte klarer denken, wenn ich meine normale Kleidung anhätte.

»Mir ist aufgefallen, daß die Amyrlin jeden Tag mit dir spricht«, sagte Gawyn plötzlich. »Hat sie unsere Schwester Elayne erwähnt? Oder Egwene al'Vere? Hat sie irgend etwas davon erwähnt, wo sie sich aufhalten?« Min wünschte sich, sie könnte ihm ein blaues Auge verpassen. Er wußte natürlich nicht, warum sie vorgab, jemand anderes zu sein, aber er hatte versprochen, ihr bei ihrer Tarnung als Elmindreda behilflich zu sein, und nun sprach er von ihr und gerade jenen Frauen, von deren Freundschaft zu Min schon zu viele in der Burg wußten. »Oh, die Amyrlin ist eine so wundervolle Frau«, sagte sie süßlich. Sie fletschte die Zähne zu einem gequälten Lächeln. »Sie fragt mich immer, wie ich meine Zeit verbringe und macht mir Komplimente über meine Kleidung. Ich denke, sie hofft, ich werde mich nun bald entweder für Darvan oder Goemal entscheiden, aber ich kann einfach nicht.« Sie riß die Augen ein wenig auf und hoffte, so einen hilflosen und verwirrten Eindruck zu machen. »Sie sind beide so süß. Von wem habt Ihr gesprochen? Von Eurer Schwester, Lord Gawyn? Der Tochter-Erbin? Ich glaube nicht, daß die Amyrlin sie jemals erwähnt hat. Wie war doch gleich der andere Name?« Sie hörte, wie Gawyn mit den Zähnen knirschte.

»Wir sollten Frau Elmindreda nicht mit so etwas belästigen«, sagte Galad. »Das ist unser Problem, Gawyn. Es ist an uns, die Lüge zu durchschauen und damit fertigzuwerden.« Sie hörte kaum hin, denn plötzlich starrte sie einen hochgewachsenen Mann mit dunklen, in Locken bis auf seinen herabhängenden Schultern fallenden Haaren an, der unter dem wachsamen Blick einer Aufgenommenen ziellos den Kiesweg unter den Bäumen entlangschlenderte. Sie hatte Logain schon öfters gesehen, einen früher einmal starken Mann mit traurigem Gesicht, der sich immer in Begleitung einer Aufgenommenen befand. Die Frau sollte ihn sowohl davon abhalten, Selbstmord zu begehen, wie auch sein Entkommen verhindern. Doch trotz seiner Körpermaße schien er nichts dergleichen vorzuhaben. Aber sie hatte noch nie einen solchen strahlenden Schein um seinen Kopf herum wahrgenommen — leuchtendes Gold und Blau. Er war nur einen Augenblick lang zu sehen, doch das genügte.

Logain hatte sich einst zum Wiedergeborenen Drachen ausrufen lassen, war gefangen und einer Dämpfung unterzogen worden. Aller Ruhm, den er sich als falscher Drache erworben haben mochte, lag jetzt weit hinter ihm. Alles, was ihm blieb, war die Verzweiflung der ihrer Kräfte Beraubten, so als habe man ihnen Augenlicht, Gehör und Geschmackssinn auf einmal genommen, die sterben wollten, die nur noch auf den Tod warteten, der unweigerlich nach wenigen Jahren kommen würde. Er blickte sie an. Wahrscheinlich nahm er sie dabei gar nicht wahr, denn sein Blick war hoffnungslos nach innen gerichtet. Warum also hatte er diese Aura um seinen Kopf getragen, die von Ruhm und kommender Macht sprach? Das war etwas, was sie der Amyrlin berichten mußte.

»Armer Kerl«, murmelte Gawyn. »Ich kann mir nicht helfen, ich habe Mitleid mit ihm. Licht, es wäre eine Gnade, würde man ihn selbst ein Ende machen lassen. Warum zwingen sie ihn zum Weiterleben?« »Er verdient keine Gnade«, verkündete Galad. »Hast du vergessen, was er war und was er tat? Wie viele Tausende starben, bis er gefaßt wurde? Wie viele Städte wurden niedergebrannt? Laß ihn weiterleben als Mahnung an andere.« Gawyn nickte zögernd. »Und doch folgten ihm die Menschen. Einige dieser Städte wurden zerstört, weil sie zu ihm gehalten hatten.« »Ich muß gehen«, sagte Min und stand auf.

Galad war augenblicklich ganz der Hilfsbereite: »Vergebt uns, Frau Elmindreda. Wir wollten Euch nicht ängstigen. Logain kann Euch nichts antun. Das versichere ich Euch.« »Ich... Ja, er gab mir ein Gefühl von Schwäche. Entschuldigt mich nun bitte. Ich muß wirklich gehen und mich eine Weile hinlegen.« Gawyn blickte höchst skeptisch drein, aber er nahm ihren Korb, bevor sie ihn selbst in die Hand nehmen konnte. »Ich werde dich wenigstens ein Stück weit begleiten«, sagte er mit übertriebener Rücksicht. »Dieser Korb muß ja viel zu schwer für dich sein, so schwindlig, wie dir ist. Ich will doch nicht, daß du ins Taumeln kommst.« Sie hätte am liebsten den Korb genommen und ihm über den Kopf gehauen, aber das paßte natürlich nicht zu ›Elmindreda‹. »Oh, danke vielmals, Lord Gawyn. Ihr seid so nett zu mir. So nett. Nein, nein, Lord Galad. Ich will nicht auch noch Euch beiden ein Klotz am Bein sein. Setzt Euch nur hin und lest Euer Buch. Bitte, sagt mir, daß Ihr das tun wollt. Ich könnte etwas anderes nicht ertragen.« Sie klimperte mit den Wimpern.

Irgendwie schaffte sie es, Galad dazu zu bewegen, auf der Marmorbank Platz zu nehmen, und zu entkommen, allerdings in Begleitung Gawyns. Ihr Rock irritierte sie. Sie wollte ihn am liebsten bis zum Knie anheben und weglaufen, aber Elmindreda würde eben niemals rennen und auch nicht soviel von ihren Beinen enthüllen, außer beim Tanz. Laras hatte sie sehr ernsthaft darauf hingewiesen. Wenn sie sich nur einmal beim Laufen erwischen ließ, würde sie damit das sorgfältig aufgebaute Bild von Elmindreda völlig zerstören. Und Gawyn...!

»Gib mir den Korb, du Gehirnmuskelabrobat«, fauchte sie, sobald sie außer Sichtweite Galads waren. Sie riß ihm den Korb aus der Hand, bevor er ihn ihr reichen konnte. »Was soll denn das, mich vor ihm über Elayne und Egwene ausfragen zu wollen? Elmindreda hat sie niemals kennengelernt. Elmindreda interessiert sich nicht für sie. Elmindreda will nicht im gleichen Atemzug wie sie genannt werden! Kannst du das nicht kapieren?« »Nein«, sagte er. »Du erklärst mir ja nichts. Aber es tut mir leid.« In seinem Tonfall lag kaum genug Reue, um sie zu besänftigen. »Ich bin eben besorgt. Wo sind sie bloß? Diese Nachrichten, die den Fluß hoch gekommen sind —über einen falschen Drachen in Tear —, machen mir das Herz noch schwerer. Sie befinden sich irgendwo dort draußen, das Licht weiß wo, und ich frage mich immerzu, ob sie in einen ähnlichen Feuersturm geraten werden, wie ihn Logain in Ghealdan entfacht hat.« »Und wenn er kein falscher Drache ist?« fragte sie vorsichtig.

»Du meinst, weil man sich auf der Straße erzählt, er habe den Stein von Tear eingenommen? Gerüchte übertreiben immer. Ich glaube das erst, wenn ich es sehe, und um mich zu überzeugen, ist ein wenig mehr nötig. Selbst der Stein kann einmal fallen. Licht, ich glaube eigentlich nicht, daß sich Elayne und Egwene in Tear aufhalten, aber es frißt mich auf wie Säure, daß ich nichts von ihnen weiß. Wenn ihr etwas passiert ist... « Min wußte nicht, welche der beiden er mit ›ihr‹ meinte, doch sie vermutete, es sei ihm selbst nicht klar. Trotz aller seiner Manöver, um sie zu ärgern, schloß sie ihn in diesem Augenblick ins Herz, doch ändern konnte sie nichts. »Wenn du nur wenigstens genau machst, was ich dir sage, und... « »Ich weiß: der Amyrlin vertraust. Vertrauen!« Er atmete langgezogen aus. »Weißt du, daß Galad in den Tavernen der Stadt mit Weißmänteln geredet und getrunken hat? Jeder kann die Brücken überqueren, wenn er in Frieden kommt; sogar die verfluchten Kinder des Lichts.« »Galad?« fragte sie ungläubig. »In Tavernen? Trinken?« »Nicht mehr als ein oder zwei Becher, da bin ich sicher. Mehr würde er niemals trinken, nicht einmal an seinem Namenstag.« Gawyn zog die Stirn kraus. Anscheinend war ihm selbst nicht klar, ob er damit Galad kritisiert hatte oder nicht: »Der springende Punkt ist aber, daß er sich mit Weißmänteln unterhalten hat. Und nun noch dieses Buch. Der Widmung nach zu schließen, hat Eamon Valda selbst es ihm gegeben. ›In der Hoffnung, daß Ihr den Weg findet.‹ Valda, Min! Der Mann, unter dessen Befehl die Weißmäntel auf der anderen Seite der Brücken stehen. Die Ungewißheit frißt auch Galad auf. Auf Weißmäntel zu hören... ! Wenn unserer Schwester oder Egwene irgend etwas zustößt... « Er schüttelte den Kopf. »Weißt du, wo sie sind, Min? Würdest du es mir anvertrauen? Warum diese Verkleidung?« »Weil ich mit meiner Schönheit zwei Männer verrückt gemacht habe und mich zwischen ihnen nicht entscheiden kann«, teilte sie ihm in beißendem Ton mit.

Er lachte bitter auf und verbarg schnell die Bitterkeit hinter einem Grinsen. »Na ja, wenigstens das kann ich verstehen.« Nun schmunzelte er und hob mit seinem Zeigefinger ihr Kinn an. »Du bist ein hübsches Mädchen, Elmindreda. Ein hübsches und kluges kleines Mädchen.« Sie ballte eine Faust und versuchte, ihm aufs Auge zu schlagen, doch er tänzelte rückwärts, und sie stolperte über ihren Rock und wäre beinahe gestürzt. »Du verdammter Ochse von einem hirnlosen Kerl!« grollte sie.

»Welch graziöse Bewegung, Elmindreda«, lachte er. »Diese zauberhafte Stimme, wie eine Nachtigall, wie eine Turteltaube am Abend! Welcher Mann käme nicht ins Träumen, wenn er Elmindreda sieht?« Das Vergnügen glitt von seinem Gesicht ab und er sah ihr ernst in die Augen. »Wenn du irgend etwas in Erfahrung bringst, laß es mich bitte wissen. Bitte! Ich bitte dich auf Knien, Min!« »Ich werde es dir sagen«, antwortete sie. Wenn ich kann. Wenn es ihnen nicht schadet. Licht, wie ich diesen Ort hasse. Warum kann ich nicht zu Rand zurückgehen?

Sie ließ Gawyn stehen und ging allein in das Wohngebäude der Burg. Sie sah sich wachsam um, ob eine Aes Sedai oder eine Aufgenommene in der Nähe sei, die sie vielleicht fragen könnte, warum sie hochgehe und nicht im Erdgeschoß blieb und wohin sie wolle. Was sie an Logain beobachtet hatte, war zu wichtig, um darauf zu warten, daß die Amyrlin ihr angeblich ganz zufällig am späten Nachmittag erst begegnete. Zumindest redete sie sich das ein. Die Ungeduld ließ sie fast aus der Haut fahren.

Sie sah nur ein paar Aes Sedai, die entweder weit vor ihr um irgendeine Ecke kamen oder ein entferntes Zimmer betraten. Das war erfreulich. Niemand kam einfach vorbei, um der Amyrlin einen Besuch abzustatten. Die Handvoll Dienerinnen, die an ihr vorbeieilten und ihrer Arbeit nachgingen, stellten ihr selbstverständlich keine Fragen, warfen ihr nicht einmal einen Blick nach, wenn sie ganz kurz vor ihr geknickst hatten, ohne im Schritt richtig innezuhalten.

Sie öffnete die Tür zum Arbeitsbereich der Amyrlin und hatte sich schon eine Geschichte zurechtgelegt, falls sich jemand Fremdes bei Leane aufhielt. Doch das Vorzimmer war leer. So eilte sie zur Innentür und steckte den Kopf hinein. Die Amyrlin und die Behüterin saßen sich an Siuans Tisch gegenüber, der mit schmalen, dünnen Papierstreifen übersät war. Ihre Köpfe drehten sich abrupt ihr zu und die Blicke trafen sie wie vier Nägel, die man in sie hämmerte.

»Was tust du hier?« fauchte die Amyrlin. »Du sollst das dumme Mädchen spielen, das hier Zuflucht sucht, und nicht meine Jugendfreundin. Es darf keinen Kontakt zwischen uns geben, außer ganz flüchtigen Zusammentreffen. Wenn nötig, werde ich Laras Anweisung erteilen, daß sie dich wie eine Kinderschwester überwacht. Das würde ihr Spaß machen, glaube ich, aber dir vermutlich nicht.« Min schauderte bei dem Gedanken daran. Plötzlich erschien ihr Logain nicht mehr so dringend. Es war kaum denkbar, daß er in den nächsten Tagen bereits zu neuem Ruhm und Ehre gelangen sollte. Er war eigentlich nicht der Grund, aus dem sie gekommen war. Nur eine Ausrede, doch jetzt würde sie keinen Rückzieher mehr machen. So schloß sie die Tür hinter sich und stammelte etwas von dem heraus, was sie gesehen hatte und was es bedeuten mochte. Sie fühlte sich noch immer nicht wohl, wenn Leane anwesend war.

Siuan schüttelte müde den Kopf. »Noch etwas, um sich Gedanken darüber zu machen. Hungersnot in Cairhien. Eine Schwester in Tarabon vermißt. Die Trolloc-Überfälle in den Grenzlanden nehmen wieder zu. Dieser Narr, der sich Prophet nennt, sorgt für blutige Unruhen in Ghealdan. Er predigt ganz offensichtlich, daß der Drache als schienarischer Lord wiedergeboren wurde«, sagte sie skeptisch. »Selbst die kleinen Dinge stellen sich als schlimm heraus. Der Krieg in Arad Doman hat den Handel aus Saldaea zum Erliegen gebracht, und die Folge sind Unruhen in Maradon. Es kann sogar geschehen, daß deshalb Tenobia den Thron aufgeben muß. Die einzige positive Botschaft, die ich erhalten habe, ist die, daß sich aus irgendeinem Grund die Grenze der Fäule zurückverlagert hat. Zwei Meilen oder mehr an grünen Pflanzen jenseits der Grenzpfosten, ohne ein Anzeichen von Verfall oder Pestilenz, und zwar von Saldaea bis hinauf nach Schienar. Das ist das erste Mal seit Menschengedenken! Aber ich fürchte, auf die guten Nachrichten folgen immer die schlechten. Wenn ein Boot einmal ein Leck hat, hat es auch noch mehr. Ich wünschte nur, das würde sich wenigstens im Gleichgewicht halten. Leane, gib Logain eine stärkere Bewachung mit. Ich kann mir nicht vorstellen, welche Schwierigkeiten er uns jetzt bereiten könnte, aber ich lege gar keinen Wert darauf, es herauszufinden.« Sie wandte diesen durchbohrenden Blick aus blauen Augen wieder Min zu. »Warum bist du hier heraufgeflattert wie eine aufgescheuchte Möwe? Das mit Logain hätte noch Zeit gehabt. Der Mann wird wohl kaum vor Sonnenuntergang zu Ruhm und Ehre kommen.« Dieses Echo ihrer eigenen Gedanken ließ Min unangenehm berührt von einem Fuß auf den anderen treten. »Ich weiß«, sagte sie. Leanes Augenbrauen zogen sich drohend hoch und sie fügte ein schnelles ›Mutter‹ hinzu. Die Behüterin nickte zustimmend.

»Das war aber noch keine Begründung, Kind«, meinte Siuan.

Min riß sich zusammen. »Mutter, nichts von dem, was ich seit dem ersten Tag gesehen habe, ist sehr wichtig gewesen. Ich habe bestimmt nichts vorhergesehen, was auf die Schwarzen Ajah hinwies.« Bei der Bezeichnung lief es ihr immer noch eiskalt den Rücken herunter. »Ich habe Euch alles darüber gesagt, welches Unglück Euch Aes Sedai treffen wird, und der ganze Rest ist nutzlos.« Sie mußte erst einmal innehalten und schlucken. Dieser durchdringende Blick machte sie nervös. »Mutter, es gibt keinen Grund, warum ich nicht fort könnte. Und es gibt Gründe dafür, warum ich gehen sollte. Für Rand ist es mehr als nützlich, was ich voraussehen kann. Falls er wirklich den Stein eingenommen hat... Mutter, er wird mich brauchen!« Zumindest brauche ich ihn! Was für eine dumme Gans ich doch bin!

Die Behüterin schauderte ganz offen bei der Erwähnung von Rands Namen. Siuan andererseits schnaubte laut. »Deine Voraussagen haben sich als sehr nützlich erwiesen. Es ist wichtig, über Logain Bescheid zu wissen. Du hast einen Dieb erwischt, bevor irgend jemand anders in Verdacht kommen konnte. Und diese feuerhaarige Novizin, die sich beinahe hätte schwängern lassen...! Sheriam hat das unterbunden. Das Mädchen wird nicht einmal mehr an Männer denken, bis sie ihre Ausbildung beendet hat. Aber wir hätten nicht Bescheid gewußt, bevor es passiert wäre, wenn du nicht gewesen wärst. Nein, du darfst nicht gehen. Früher oder später werden mir deine Visionen einen Weg zu den Schwarzen Ajah weisen, und bis dahin bist du immer noch dein Geld wert.« Min seufzte, und das nicht nur, weil die Amyrlin sie dabehalten wollte. Als sie die rothaarige Novizin das letzte Mal gesehen hatte, hatte das Mädchen sich gerade mit einem kräftigen Wachsoldaten in ein kleines Waldstück zurückgezogen. Sie würden heiraten, wahrscheinlich sogar noch vor Ende des Sommers. Das hatte Min gesehen, sobald sie die beiden zusammen erblickte. Die Burg ließ wohl niemals eine Novizin vor Ende ihrer Ausbildung gehen, selbst wenn kaum noch Fortschritte zu erwarten waren, aber in der Zukunft des Paares lagen ein Bauernhof und eine Schar Kinder. Es war allerdings sinnlos, der Amyrlin auch das mitzuteilen.

»Könntet Ihr nicht wenigstens Gawyn und Galad wissen lassen, daß Egwene und ihre Schwester in Sicherheit sind, Mutter?« Ihre eigene Frage irritierte sie, genauso wie ihr Tonfall dabei. Es war, als bettle ein Kind um einen Keks, nachdem ihm ein Stück Kuchen verweigert worden war. »Sagt Ihnen doch wenigstens etwas anderes als diese lächerliche Geschichte, daß sie Strafdienst auf einem Bauernhof leisten müssen.« »Ich habe dir doch gesagt, daß dich das nichts angeht. Ich will das nicht noch einmal wiederholen.« »Sie glauben das doch genausowenig wie ich«, brachte Min heraus, bevor das trockene Lächeln der Amyrlin ihr die weiteren Worte im Hals ersterben ließ. Das Lächeln wirkte überhaupt nicht amüsiert.

»Du schlägst also vor, ich soll etwas anderes sagen, wo sie sich aufhalten? Nachdem ich jedem erzählt habe, sie befänden sich auf einem Bauernhof? Glaubst du nicht, das würde einigen zu denken geben? Jeder außer diesen Jungen akzeptiert die Geschichte. Und außer dir. Nun, Coulin Gaidin wird einfach härter mit ihnen arbeiten müssen. Ein Muskelkater und genug Schweiß wird die meisten Männer von allen anderen Problemen ablenken. Auch bei Frauen wirkt das. Stell mir noch viele Fragen, und ich werde sehen, ob ein paar Tage Töpfe schrubben dir nicht guttun. Besser ein paar Tage auf deine Dienste verzichten, als daß du deine Nase ständig in Dinge steckst, die dich nichts angehen.« »Ihr wißt noch nicht einmal, ob sie in Schwierigkeiten stecken oder nicht. Oder Moiraine.« Sie meinte aber in Wirklichkeit nicht Moiraine damit.

»Mädchen«, sagte Leane warnend, aber Min ließ sich jetzt nicht aufhalten.

»Warum haben wir nichts von ihnen gehört? Die Gerüchte sind schon vor zwei Tagen bis hierher gedrungen. Zwei Tage! Warum enthält keiner dieser Fetzen auf Eurem Tisch eine Nachricht von ihr? Hat sie keine Tauben? Ich glaubte, Ihr Aes Sedai hättet überall Eure Leute mit Brieftauben sitzen. Wenn das in Tear nicht der Fall ist, sollte man schleunigst jemanden hinschicken. Selbst ein Reiter hätte mittlerweile Tar Valon von dort aus erreicht. Warum... « Das Klatschen von Siuans Handfläche auf den Tisch ließ sie abbrechen. »Du gehorchst erstaunlich gut«, sagte sie trocken. »Kind, bis wir das Gegenteil hören, müssen wir annehmen, daß es dem jungen Mann gutgeht. Bete darum, ja?« Leane schauderte wieder. »Es gibt ein Sprichwort im Mauleviertel, Kind«, fuhr die Amyrlin fort. »›Sorge dich nicht, bevor die Sorgen dich plagen.‹ Merk dir das gut, Kind.« Es klopfte schüchtern an die Tür.

Die Amyrlin und die Behüterin tauschten einen Blick, und dann sahen beide Min an. Ihre Gegenwart stellte ein Problem dar. Es gab keinen Fleck, wo sie sich hätte verstecken können. Selbst der gesamte Balkon war vom Zimmer aus einsehbar.

»Ein Grund, warum du dich hier befinden könntest, ohne deshalb mehr als das närrische Mädchen darzustellen, als das du hier bekannt bist. Leane, stell dich schon mal an die Tür.« Sie und die Behüterin standen gleichzeitig auf. Siuan kam um den Tisch herum auf Min zu, während Leane zur Tür ging. »Setz dich auf Leanes Stuhl, Mädchen. Beweg dich, Kind, los! Jetzt schmolle ein wenig. Nicht wütend dreinblicken — nur schmollen. Drücke die Unterlippe heraus und blicke zu Boden. Ich will möglicherweise, daß du dir Bänder ins Haar steckst — breite, rote Bänder... Gut so. Leane.« Die Amyrlin stützte die Fäuste auf die Hüften und erhob die Stimme: »Und wenn du noch einmal unangemeldet hereinschneist, Kind, werde ich... « Leane öffnete die Tür, und dahinter stand eine dunkelhaarige Novizin, die zusammenzuckte, als sie Siuans anhaltende Tirade hörte, und die dann tief knickste. »Botschaften für die Amyrlin, Aes Sedai«, quiekte das Mädchen ängstlich. »Zwei Tauben sind im Schlag angekommen.« Es war eine von denen, die Min ihrer Schönheit wegen bewundert hatten, und sie bemühte sich, an der Behüterin mit weit aufgerissenen Augen neugierig vorbeizuschauen.

»Das geht dich nichts an, Kind«, sagte Leane kurz angebunden und nahm dem Mädchen die kleinen Knochenhülsen aus der Hand. »Zurück zum Taubenschlag mit dir.« Bevor die Novizin sich wieder erhoben hatte, schloß Leane die Tür. Dann lehnte sie sich erstmal seufzend an die Wand. »Ich bin bei jedem unerwarteten Geräusch hochgefahren, seit Ihr mir gesagt habt... « Sie richtete sich auf und kam zum Tisch zurück. »Zwei weitere Botschaften, Mutter. Soll ich...?« »Ja. Öffne sie«, sagte die Amyrlin. »Zweifellos hat sich Morgase entschlossen, doch noch Cairhien zu überfallen. Oder die Trollocs haben die Grenzlande überrannt. Das würde ja zu allem anderen passen.« Min blieb sitzen. Einige von Siuans Drohungen hatten zu realistisch geklungen.

Leane untersuchte das rote Wachssiegel am Ende einer der kleinen Hülsen. Sie waren nicht größer als das letzte Glied ihres Fingers. Dann brach sie die Hülse mit einem Daumennagel auf, nachdem sie sicher war, daß niemand die Siegel manipuliert hatte. Mit einer feinen Elfenbeinpinzette holte sie das zusammengerollte Stück Papier heraus. »Beinahe so schlimm wie das mit den Trollocs, Mutter«, sagte sie, kaum daß sie mit Lesen begonnen hatte. »Mazrim Taim ist entkommen.« »Licht!« rief Siuan. »Wie?« »Hier steht nur, daß er heimlich bei Nacht befreit wurde, Mutter. Zwei Schwestern sind tot.« »Das Licht leuchte ihren Seelen. Aber wir haben keine Zeit, um die Toten zu trauern, während Taim und Konsorten frei sind und der Dämpfung bedürfen. Wo, Leane?« »Denhuir, Mutter. Ein Dorf östlich der Schwarzen Hügel an der Straße nach Maradon, unweit der Quellen des Antaeo und des Luan.« »Es müssen seine Anhänger gewesen sein. Narren. Warum geben sie sich nicht geschlagen? Wähle ein Dutzend verläßliche Schwestern aus, Leane... « Die Amyrlin verzog das Gesicht. »Verläßlich«, murmelte sie. »Wenn ich nur wüßte, wer hier verläßlicher ist als eine Forelle, hätte ich nicht die gleichen Probleme. Tu dein Bestes, Leane. Ein Dutzend Schwestern. Und fünfhundert Gardesoldaten. Nein, volle tausend.« »Mutter«, sagte die Behüterin besorgt. »Die Weißmäntel... « »... würden sich nicht einmal trauen, die Brücken zu überqueren, wenn ich sie völlig unbewacht ließe. Sie würden dann glauben, es sei eine Falle. Man kann überhaupt nicht vorhersagen, was dort vor sich geht, Leane. Ich möchte, daß alle, die ich hinschicke, auf das Schlimmste vorbereitet sind. Und, Leane... Mazrim Taim muß einer Dämpfung unterzogen werden, sobald man ihn wieder gefaßt hat.« Leane riß die Augen vor Schreck auf. »Das Gesetz!« »Ich kenne das Gesetz genauso gut wie du, aber ich riskiere nicht, daß man ihn noch einmal befreit, während er seine vollen Kräfte besitzt. Ich werde keinen weiteren Guaire Amalasan mehr aufkommen lassen, und das neben all dem anderen, was wir am Hals haben.« »Ja, Mutter«, sagte Leane ergeben.

Die Amyrlin nahm die zweite Knochenhülse in die Hand und brach sie mit einem scharfen Knacken auseinander, um die Nachricht herausnehmen zu können. »Endlich gute Neuigkeiten«, hauchte sie und auf ihrem Gesicht erblühte ein leichtes Lächeln. »Gute Nachrichten. ›Die Schleuder wurde benützt. Der Schäfer hält das Schwert.‹« »Rand?« fragte Min und Siuan nickte.

»Natürlich, Mädchen. Der Stein ist gefallen. Rand al'Thor, der Schafhirte, hat Callandor. Jetzt bin ich am Zug, Leane. Ich will, daß der Burgrat heute nachmittag zusammenkommt. Nein, heute morgen noch.« »Ich verstehe das nicht«, sagte Min. »Ihr wußtet doch, daß die Gerüchte von Rand sprachen. Warum beruft Ihr nun den Rat ein? Was könnt Ihr tun, was Ihr vorher nicht konntet?« Siuan lachte wie ein junges Mädchen. »Was ich jetzt tun kann, ist, ihnen geradeheraus erklären, daß ich von einer Aes Sedai erfahren habe: Der Stein von Tear ist gefallen, und ein Mann hält Callandor in Händen. Die Prophezeiung ist erfüllt. Jedenfalls in ausreichendem Maße, um meinen Zwecken zu dienen. Der Drache ist wiedergeboren. Sie werden zusammenzucken, sie werden sich streiten, aber keine kann sich gegen meine Ankündigung stellen, daß die Burg diesen Mann führen muß. Endlich kann ich öffentlich zu ihm stehen. Zum Teil wenigstens.« »Tun wir wirklich das Richtige, Mutter?« fragte Leane mit einem Mal. »Ich weiß... Wenn er Callandor hat, muß er der Wiedergeborene Drache sein. Aber er kann die Macht benützen, Mutter. Ein Mann, der die Macht benützt. Ich habe ihn nur einmal gesehen, aber selbst zu der Zeit war etwas Eigenartiges an ihm. Etwas mehr, als nur taveren zu sein. Mutter, unterscheidet er sich so sehr von Taim, wenn man es nüchtern betrachtet?« »Der Unterschied liegt darin, daß er der Wiedergeborene Drache ist, Tochter«, sagte die Amyrlin ruhig. »Taim ist ein Wolf und vielleicht sogar ein räudiger. Rand al'Thor ist der Wolfshund, den wir benützen werden, um den Schatten zu besiegen. Behalte seinen Namen für dich, Leane. Es ist am besten, nicht gleich zu vieles zu enthüllen.« »Wie Ihr meint, Mutter«, sagte die Behüterin, aber es klang noch nicht überzeugt.

»Raus mit dir. Ich will, daß der Rat in einer Stunde zusammentritt.« Siuan blickte nachdenklich der hochgewachsenen Frau hinterher. »Es könnte mehr Widerstand geben, als mir lieb ist«, sagte sie, nachdem die Tür zu war.

Min sah sie scharf an. »Ihr meint doch nicht etwa... « »Ach, nichts Ernstes, Kind. Nicht, solange sie keine Ahnung davon haben, wie lange ich schon in diese Sache mit dem al'Thor-Jungen verwickelt bin.« Sie betrachtete das Briefchen erneut und ließ es dann auf den Tisch fallen. »Ich wünschte nur, daß Moiraine mir mehr mitgeteilt hätte.« »Warum hat sie wohl nicht mehr geschrieben? Und warum haben wir nicht schon früher von ihr gehört?« »Noch mehr Fragen. Du mußt sie Moiraine stellen. Sie ist schon immer ihren eigenen Weg gegangen. Frage Moiraine, Kind.« Sahra Covenry bewegte lustlos ihre Hacke und blickte finster auf die winzigen Fadenblatt- und Hahnenfußschößlinge, die ihre Köpfe zwischen den Reihen von Kohlköpfen und Rüben aus dem Boden streckten. Nicht, daß Frau Elward eine strenge Aufseherin wäre. Sie war bestimmt nicht strenger als Sahras Mutter und ganz sicher weniger streng als Sheriam, aber Sahra war nicht in die Weiße Burg gegangen, um kurz nach Sonnenaufgang im Gemüsefeld Unkraut zu jäten. Ihre weißen Novizinnenkleider waren weggepackt. Sie trug braune Wollkleider, die auch ihre Mutter hätte genäht haben können. Den Rock hatte sie bis zu den Knien hochgebunden, damit er nicht im Dreck schleifte. Es war alles so ungerecht. Sie hatte doch nichts getan.

Sie krümmte die Zehen im aufgewühlten Boden und funkelte den hartnäckigen Hahnenfuß an. Sie griff nach der Macht und wollte ihn aus dem Boden herausbrennen. Funken sprühten um das Gewächs mit den bereits kräftigen Blättern herum, und es welkte dahin. Schnell schnitt sie den Strunk aus der Erde und aus ihrer Erinnerung. Wenn es noch irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt gab, würde Lord Galad den Bauernhof auf einem Jagdausflug besuchen.

Sie stützte sich auf die Hacke und gab sich einem Tagtraum hin, in dem sie Lord Galads Verwundungen mit Hilfe der Macht heilte, nachdem er vom Pferd gestürzt war. Das war natürlich nicht seine Schuld gewesen, denn er war ein wundervoller Reiter. Und dann hob er sie vor sich in den Sattel und erklärte, er wolle ihr Behüter sein, und sie wäre natürlich eine Grüne Ajah, und...

»Sahra Covenry?« Sahra fuhr ob des scharfen Zurufs zusammen, aber es war nicht Frau Elward. Sie knickste so gut wie bei ihrem hochgebundenen Rock möglich. »Ich grüße Euch, Aes Sedai. Seid Ihr gekommen, um mich zur Burg zurückzubringen?« Die Aes Sedai trat näher heran und achtete nicht darauf, daß sie ihren Rock durch den Schmutz des Gemüsefelds schleifte. Trotz der sommerlichen Wärme dieses Morgens trug sie einen Umhang und hatte die Kapuze übergezogen, damit ihr Gesicht im Schatten lag. »Bevor Ihr die Burg verlassen habt, brachtet Ihr doch eine Frau zur Amyrlin hinauf. Eine Frau, die sich Elmindreda nannte.« »Ja, Aes Sedai«, sagte Sahra. In ihrer Stimme schwang eine unausgesprochene Frage mit. Es gefiel ihr nicht, wie die Aes Sedai das gesagt hatte, als habe sie die Burg endgültig verlassen. »Sagt mir alles, was Ihr gehört und gesehen habt, Mädchen, von dem Moment an, als Euch diese Frau anvertraut wurde. Alles.« »Aber ich habe nichts gehört, Aes Sedai. Die Behüterin hat mich weggeschickt, sobald...« Der Schmerz durchzuckte sie, ließ sie ihre Zehen im Boden vergraben und ihren Rücken versteifen. Der Krampf dauerte nur Augenblicke, schien ihr aber Ewigkeiten anzuhalten. Sie rang nach Luft, und dann wurde ihr klar, daß sie die Wange auf den Boden gepreßt und ihre immer noch zitternden Finger in die Erde verkrallt hatte. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, gestürzt zu sein. Sie bemerkte, daß Frau Elwards Wäschekorb in der Nähe des steinernen Bauernhauses umgekippt am Boden lag. Feuchte Leintücher waren zuhauf hinausgefallen. Halb betäubt dachte sie, das sei doch eigenartig. Moria Elward würde doch nie ihre Wäsche so liegen lassen.

»Alles, Mädchen«, sagte die Aes Sedai kalt. Sie stand nun über Sahra gebeugt und machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie hatte sie verletzt, und das durfte eigentlich nicht sein. »Jede Person, mit der diese Elmindreda gesprochen hat, jedes Wort, das sie sagte, jede Nuance und jeden Gesichtsausdruck.« »Sie hat mit Lord Gawyn gesprochen, Aes Sedai«, schluchzte Sahra zum Erdboden gewandt. »Das ist alles, was ich weiß, Aes Sedai. Alles.« Sie begann, richtig zu weinen, weil sie sicher war, daß die Frau mit ihrer Antwort nicht zufrieden sein würde. Sie hatte recht. Lange Zeit hörte ihr Schreien nicht auf, und als die Aes Sedai ging, hörte man keinen Laut mehr aus der Umgebung des Bauernhauses bis auf das Gackern der Hühner — nicht einmal Atemgeräusche.

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