52 Hilfe in der Not

Einen Moment lang stand Nynaeve im Herzen des Steins, ohne ihre Umgebung und die Tatsache, daß sie sich in Tel'aran'rhiod befand, wirklich wahrzunehmen. Egeanin war eine Seanchan. Eine aus diesem verderbten Volk, das ein Halsband um Egwenes Hals gelegt und versucht hatte, auch ihr eines anzulegen. Sie fühlte sich ausgebrannt bei diesem Gedanken. Eine Seanchan, und sie hatte sich ihre Freundschaft erschlichen. Seit sie Emondsfeld verlassen hatte, war sie nur wenigen begegnet, die man als wahre Freunde bezeichnen könnte. Erst eine neue Freundin zu finden und sie dann auf diese Art zu verlieren...

»Deshalb hasse ich sie am meisten«, grollte sie und verschränkte ihre Arme. »Sie hat es fertiggebracht, daß ich sie mag, und ich kann damit nicht einfach aufhören, und deshalb hasse ich sie!« Laut ausgesprochen ergab das überhaupt keinen Sinn. »Es muß ja auch keinen Sinn ergeben.« Sie lachte leise und schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich sollte mich ja wohl wie eine Aes Sedai verhalten.« Aber nicht schmollen wie ein kleines Mädchen.

Callandor funkelte. Das Kristallschwert steckte im Boden unter der großen Kuppel, und dahinter erstreckten sich Reihen riesiger roter Sandsteinsäulen in diesem eigenartigen, trüben Lichtschein, der von überall zugleich zu kommen schien. Es war leicht, sich an das alte Gefühl zu erinnern, beobachtet zu werden. Natürlich bildete sie sich das nur ein. Falls es früher Einbildung gewesen war. Falls es jetzt Einbildung war. Dort hinten konnte sich alles mögliche verbergen. In ihren Händen erschien ein guter, dicker Stock, und sie spähte zwischen die Säulen hinein. Wo war Egwene? Es sah dem Mädchen ähnlich, sie hier warten zu lassen. So düster und trüb beleuchtet hier. Und wenn nun etwas auf sie lauerte, bereit, jeden Augenblick herauszuspringen...

»Das ist aber ein seltsames Kleid, Nynaeve.« Sie konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken und fuhr mit wild klopfendem Herzen und einem metallischen Scheppern herum. Egwene stand auf der anderen Seite Callandors mit zwei Frauen in bauschigen Röcken, die über den weißen Blusen dunkle Schals trugen. Die weißen Haare hatten sie jeweils mit einem anderen Schal eingebunden, und die Schalenden hingen ihnen bis zur Hüfte herunter. Nynaeve schluckte erst einmal, hoffte, daß die anderen es nicht bemerkten, und bemühte sich, wieder normal zu atmen. Sich so heranzuschleichen!

Eine der Aielfrauen erkannte sie aus Egwenes Beschreibung: Amys' Gesicht war viel zu jung für dieses weiße Haar, aber anscheinend war es schon seit ihrer Kindheit beinahe silbern gewesen. Die andere war schlank, fast knochig, und hatte blaßblaue Augen in einem ledernen, runzligen Gesicht. Das mußte Bair sein. Die härtere der beiden, fand Nynaeve nun, da sie die beiden vor sich hatte, aber nicht, daß Amys... Was? Ein seltsames Kleid? Ich habe dieses Geräusch gemacht?

Sie blickte an sich herunter und schnappte nach Luft. Ihr Kleid sah entfernt aus wie eines von den zwei Flüssen, aber die Frauen dort trugen keine Kleider aus Stahlplättchen mit größeren Platten dazwischen, die zu einer Rüstung gehören mochten. Solche Rüstungen hatte sie in Schienar gesehen. Wie konnten Männer in so etwas herumlaufen und auf Pferde steigen? Das Ganze lag schwer auf ihren Schultern, als wöge es hundert Pfund. Ihr kräftiger Stock bestand jetzt aus Metall und wies an einem Ende Stacheln auf, wie eine stahlglänzende Distel. Ohne ihren Kopf berühren zu müssen, wußte sie, daß sie eine Art Helm trug. Sie errötete heftig und konzentrierte sich, damit sie ihre Kleidung schnell zu einem guten Wollkleid von den Zwei Flüssen ändern konnte. Dazu trug sie nun einen Wanderstock. Es war ein schönes Gefühl, ihr Haar wieder zu einem dicken Zopf geflochten zu tragen, der ihr über eine Schulter herunterhing.

»Unkontrollierte Gedanken haben manchmal unangenehme Folgen, wenn man im Traum wandelt«, sagte Bair mit dünner, aber zugleich kräftiger Stimme. »Ihr müßt lernen, sie zu beherrschen, wenn Ihr damit weitermachen wollt.« »Ich kann meine Gedanken ganz gut beherrschen, danke«, sagte Nynaeve knapp. »Ich... « Bairs Stimme war nicht das einzige, was ihr dünn vorkam. Die beiden Weisen Frauen schienen... beinahe verschwommen, und Egwene in ihrem hellblauen Reitkleid war fast durchscheinend. »Was ist los mit Euch? Warum seht Ihr so eigenartig aus?« »Versuch du mal, nach Tel'aran'rhiod zu kommen, wenn du im Halbschlaf auf einem Pferd hockst«, sagte Egwene trocken. Sie schien zu flackern. »Es ist Morgen im Dreifachen Land und wir sind unterwegs. Ich mußte Amys schon überreden, damit sie mich überhaupt gehen ließ, aber ich fürchtete, du würdest dir Sorgen machen.« »Es ist schon ohne ein Pferd schwierig genug«, sagte Amys, »halb zu schlafen, wenn man doch eigentlich wachen möchte. Egwene hat es noch nicht richtig gelernt.« »Das werde ich schon noch«, sagte Egwene nervös, doch entschlossen. Sie war wie immer zu forsch und stur, wenn es darum ging, etwas zu lernen. Wenn diese Weisen Frauen sie nicht an der kurzen Leine hielten, würde sie sich mit einiger Sicherheit noch in alle nur erdenklichen Schwierigkeiten bringen.

Nynaeve vergaß, sich weiter um Egwene und ihr Ungestüm Sorgen zu machen, als die jüngere Frau begann, von dem Angriff der Trollocs und Draghkar auf die Kaltfelsenfestung zu erzählen. Seana, eine Weise Frau und Traumgängerin, befand sich unter den Toten. Rand eilte mit den Taardad Aiel nach diesem Alcair Dal, wobei er offensichtlich mit allen Bräuchen der Aiel brach. Er hatte Läufer ausgesandt, um weitere Septimen dorthin zu holen. Der Junge vertraute seine Absichten niemandem an, die Aiel waren übernervös, und Moiraine kaute an den Fingernägeln vor Frust. Das allein hätte sie schon diebisch gefreut, denn auf irgendeine Weise wollte sie ja dem Einfluß dieser Frau endlich entfliehen, aber so besorgt, wie Egwene war...

»Ich weiß nicht, ob es der beginnende Wahnsinn ist oder pure Absicht«, schloß Egwene. »Wenn ich sicher wäre, könnte ich wohl beides ertragen. Nynaeve, ich gebe zu, im Augenblick ist es nicht die Weissagung oder die Aussicht auf Tarmon Gai'don, was mir angst macht. Vielleicht ist es dumm, aber ich habe nun einmal Elayne versprochen, auf ihn aufzupassen, und nun weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll.« Nynaeve ging um das Kristallschwert herum und legte einen Arm um Egwene. Wenigstens hatte sie selbst das Gefühl, körperlich zu sein, auch wenn die andere wie ein Bild auf einem angelaufenen Spiegel aussah. Rands geistige Gesundheit. In dieser Hinsicht konnte sie nichts tun, noch nicht einmal etwas wirklich beruhigendes sagen. Egwene war schließlich diejenige, die bei ihm blieb und auf ihn aufpassen wollte. »Das Beste, was du für Elayne tun kannst, ist, ihm zu sagen, er solle das lesen, was sie ihm geschrieben hat. Sie macht sich Sorgen um ihn. Sie redet wohl nicht darüber, aber ich glaube, sie fürchtet, mehr gesagt zu haben, als sie sollte. Wenn er glaubt, sie sei bis über beide Ohren verliebt, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß er dasselbe empfindet, und das ist bestimmt nicht schlecht für sie. Wenigstens haben wir ein paar gute Neuigkeiten aus Tanchico. Aber nur ein paar.« Als sie alles erklärte, schien noch nicht einmal diese Einschränkung gerechtfertigt.

»Also wißt ihr immer noch nicht, was sie eigentlich suchen«, sagte Egwene, nachdem sie geendet hatte. »Und selbst wenn, dann wären sie bereits an Ort und Stelle und könnten es zuerst aufspüren.« »Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Nynaeve sah die beiden Weisen Frauen fest und entschlossen an. Elayne hatte ja berichtet, daß Amys zögerte, sich mehr als nur in Warnungen zu äußern. Also mußte sie ganz entschlossen mit ihnen umgehen, wenn sie etwas in Erfahrung bringen wollte. Im Moment sah das Paar so verschwommen und durchscheinend aus, daß ein kräftiges Hauchen gereicht hätte, um sie wie Nebel wegzublasen. »Elayne glaubt, Ihr kennt alle möglichen Dinge, die man im Traum tun kann.

Gibt es eine Möglichkeit, in Amatheras Träume einzudringen, um herauszufinden, ob sie zu den Schattenfreunden gehört?« »Närrisches Mädchen.« Bair schüttelte ihr langes Haar. »Und auch wenn Ihr eine Aes Sedai seid, so seid Ihr doch ein närrisches Mädchen. In den Traum eines anderen Menschen einzudringen ist sehr gefährlich, es sei denn, sie kennt und erwartet Euch. Es ist ihr Traum und nicht mit dem hier zu vergleichen. Dort wird diese Amathera alles unter Kontrolle haben. Selbst Euch.« Das hatte sie so nicht bedacht. Es war ärgerlich, darauf gestoßen zu werden. Und dann noch ›närrisches Mädchen‹!

»Ich bin kein Mädchen«, fauchte sie. Sie hätte am liebsten an ihrem Zopf gerissen, aber statt dessen ballte sie lediglich eine Faust. Aus irgendeinem Grund hatte sie in letzter Zeit ein komisches Gefühl dabei, wenn sie sich ertappte, an ihrem Haar zu ziehen. »Ich war die Seherin von Emondsfeld, bevor ich... bevor ich eine Aes Sedai wurde...« Sie brachte diese Lüge mittlerweile recht leicht über die Lippen. »... und ich habe Frauen in Eurem Alter befohlen, sich hinzusetzen und den Mund zu halten. Wenn Ihr wißt, wie Ihr mir helfen könnt, dann sagt mir das, statt mir närrische Sprüche über irgendwelche Gefahren an den Kopf zu werfen. Ich erkenne eine Gefahr, wenn ich vor ihr stehe.« Mit einemmal bemerkte sie, daß sich ihr einzelner Zopf in zwei geteilt hatte, einer auf jeder Seite, und rote Bänder waren so eingeflochten, daß sie unten jeweils eine hübsche Schleife bildeten. Ihr Rock war so kurz, daß sogar die Knie sichtbar waren. Dazu trug sie eine lose hängende weiße Bluse wie die Weisen Frauen, und Schuhe und Strümpfe fehlten ganz. Wo kam denn das her? Sie hatte ganz sicher niemals daran gedacht, so etwas zu tragen. Egwene legte sich schnell die Hand vor den Mund. War sie erschrocken? Sicher lachte sie doch nicht!

»Unkontrollierte Gedanken«, sagte Amys, »können einem manchmal Schwierigkeiten bereiten, Nynaeve Sedai, bis Ihr es gelernt habt.« Trotz ihres nichtssagenden Tonfalls zuckten ihre Lippen ein wenig in kaum verhohlener Heiterkeit.

Nynaeve beherrschte ihre Gesichtszüge nur mit größter Anstrengung. Sie konnten ja wohl nichts damit zu tun gehabt haben. Oder etwa doch? Sie gab sich alle Mühe, um ihre Kleidung wieder zurückzuverwandeln, aber es war ein harter Kampf, so, als versuche etwas, sie daran zu hindern. Ihre Wangen wurden heißer und heißer. Und dann plötzlich, gerade als sie nahe daran war, aufzugeben und um Rat oder sogar um Hilfe zu bitten, waren ihre Kleidung und ihr Haar wieder so wie vorher. Sie bewegte dankbar ihre Zehen in den guten, festen Schuhen. Es konnte ja nur ein eigenartiger Nebengedanke gewesen sein. Auf jeden Fall würde sie jetzt ganz bestimmt keinen Verdacht äußern; die beiden schienen sich auch so schon genügend zu amüsieren, sogar Egwene. Ich bin nicht hier, um lächerliche Spiele zu spielen. Und ich werde nicht auch noch Wasser auf ihre Mühlen gießen.

»Wenn ich nicht in ihren Traum eindringen kann, ist es dann möglich, sie hierher in die Welt der Träume mitzunehmen? Ich muß auf irgendeine Art mit ihr reden.« »Das würden wir Euch nicht beibringen, auch wenn wir könnten«, sagte Amys. Sie zog ihren Schal ärgerlich zurecht. »Ihr bittet um etwas Böses, Nynaeve Sedai.« »Sie wäre hier genauso hilflos wie Ihr in ihrem Traum.« Bairs dünne Stimme klang wie eine Eisenrute. »Man hat von der allerersten Traumgängerin bis heute weitergegeben, daß niemand jemals gegen ihren oder seinen Willen in einen Traum gezwungen werden darf. Man sagt, nur der Schatten habe das in den letzten Tagen des Zeitalters der Legenden getan.« Nynaeve trat von einem Fuß auf den anderen. Sie fühlte sich alles andere als wohl unter diesen harten Blicken. Ihr wurde bewußt, daß ihr Arm noch um Egwenes Taille lag, und so hielt sie ganz still. Sie wollte nicht, daß Egwene glaubte, sie hätten sie nervös gemacht. Das hatten sie ja auch nicht. Wenn sie an das Gefühl dachte, vor die Versammlung der Frauen zitiert zu werden, damals, bevor sie zur Seherin gewählt worden war... Nein, das hatte nichts mit den Weisen Frauen zu tun. Man mußte einfach nur fest bleiben... Sie starrten sie an. Verschwommen oder nicht, die Blicke dieser Frauen konnten es in der Tat mit denen von Siuan Sanche aufnehmen. Besonders diejenigen Bairs. Nicht, daß sie sich einschüchtern ließ, aber nun war der Punkt erreicht, wo allein Vernunft zählte. »Elayne und ich brauchen Hilfe. Die Schwarzen Ajah sitzen auf irgend etwas, das Rand schaden kann. Falls die anderen es vor uns finden, sind sie vielleicht in der Lage, ihn zu beherrschen. Wir müssen es zuerst finden! Wenn Ihr irgend etwas tun könnt, um uns zu helfen, mir irgend etwas sagen könnt... Überhaupt nur irgend etwas.« »Aes Sedai«, sagte Amys, »bei Euch klingt eine Bitte um Hilfe wie eine Forderung.« Nynaeve verzog den Mund. Forderung? Sie hatte doch beinahe gebettelt. Forderung, ha! Die Aielfrau schien nichts zu bemerken. Oder sie wollte nicht. »Aber eine Gefahr, die Rand al'Thor bedroht... Wir können dem Schatten nicht erlauben, das in die Hände zu bekommen. Es gibt eine Möglichkeit.« »Gefährlich.« Bair schüttelte lebhaft den Kopf. »Diese junge Frau weiß weniger als Egwene zu der Zeit, als sie zu uns kam. Es ist zu gefährlich für sie.« »Dann könnte doch ich vielleicht...«, begann Egwene, und die beiden schnitten ihr gleichzeitig das Wort ab.

»Ihr werdet Eure Ausbildung erst einmal beenden. Ihr seid immer zu schnell dabei, über das hinauszuschießen, was Ihr wollt und könnt«, sagte Bair in scharfem Ton, und zur gleichen Zeit sagte Amys keineswegs sanfter »Ihr befindet Euch nicht in Tanchico. Ihr kennt den Ort nicht, und Ihr seid nicht in Nynaeves Lage. Sie ist die Jägerin.« Unter diesen harten Blicken gab Egwene schmollend nach, und die beiden Weisen Frauen blickten einander an. Schließlich zuckte Bair die Achseln und wickelte den Schal um ihr Gesicht. Ganz klar, daß sie ihre Hände in Unschuld wusch, was dieses Problem betraf.

»Es ist gefährlich«, sagte Amys. Bei den beiden klang es, als sei selbst das Luftholen in Tel'aran'rhiod gefährlich.

»Ich...!« Nynaeve unterbrach sich gleich wieder, als Amys' Blick noch härter wurde, was sie eigentlich nicht für möglich gehalten hätte. Sie hielt sich noch einmal bewußt das Bild ihrer Kleidung vor Augen; obwohl sie wahrscheinlich nichts damit zu tun gehabt hatten, war es doch besser, vorsichtig zu sein, damit alles so blieb, wie es jetzt war. Und so sagte sie etwas ganz anderes, als sie vorgehabt hatte: »Ich werde vorsichtig sein.« »Es ist an sich nicht möglich«, sagte Amys ganz offen zu ihr, »aber ich weiß keinen anderen Weg. Der Schlüssel liegt in der Notwendigkeit. Wenn in einer Festung zu viele Menschen leben, muß sich die Septime teilen, und es ist absolut notwendig, in der neuen Festung Wasser zu haben. Wenn man keinen passenden Ort findet, ruft man schließlich eine von uns herbei, um einen solchen aufzuspüren. Der Schlüssel liegt dann eben in der Notwendigkeit, nicht zu weit von der ersten Festung entfernt ein passendes Tal oder eine Schlucht zu finden, in der es Wasser gibt. Wenn wir uns ganz auf dieses Bedürfnis konzentrieren, kann uns das der passenden Lösung sehr nahe bringen. Wenn wir uns dann ein zweites Mal konzentrieren, bringt uns das wieder einen Schritt näher. Jeder solche Schritt bringt uns näher heran, bis wir uns schließlich in diesem gewünschten Tal befinden, und nicht nur das! Wir stehen dann direkt neben der Stelle, an der man das Wasser findet. Für Euch ist das wohl schwieriger, denn Ihr wißt nicht genau, wonach Ihr eigentlich sucht, aber die Stärke des Bedürfnisses mag das vielleicht ausgleichen. Und außerdem wißt Ihr bereits ungefähr, wo es zu finden ist, nämlich in diesem Palast.« »Die Gefahr, und der müßt Ihr euch immer bewußt sein, liegt im Folgenden.« Die Weise Frau beugte sich eindringlich zu ihr vor, und ihre Worte klangen so scharf und einprägsam wie ihr Blick schon war: »Jeden Schritt müßt Ihr völlig blind tun, mit geschlossenen Augen. Ihr wißt nie, wo Ihr euch befinden werdet, wenn Ihr die Augen öffnet. Und das Wasser zu finden hilft Euch nicht weiter, falls Ihr in einem Vipernnest steht. Die Giftzähne einer Schlange töten Euch im Traum genauso schnell wie in der Wirklichkeit. Ich glaube außerdem, diese Frauen, von denen Egwene gesprochen hat, töten noch schneller als eine Schlange.« »Ich habe das schon gemacht«, rief Egwene. Nynaeve spürte, wie sie unwillkürlich zusammenfuhr, als sich die Blicke der Aielfrauen ihr zuwandten. »Bevor ich Euch kennenlernte«, fügte sie hastig hinzu. »Bevor wir nach Tear gingen.« Notwendigkeit. Bedürfnis. Nynaeve empfand ein wärmeres Gefühl den Aielfrauen gegenüber als vorher, nun, da sie einmal wenigstens einen brauchbaren Hinweis erhalten hatte. »Ihr müßt gut auf Egwene aufpassen«, sagte sie zu ihnen und drückte die jüngere Frau in ihrem Arm fest, um zu zeigen, wie sie es gemeint hatte. »Ihr habt recht, Bair. Sie wird immer versuchen, mehr zu erreichen, als sie bereits gelernt hat. So ist sie schon immer gewesen.« Aus irgendeinem Grund zog Bair kritisch die weißen Augenbrauen hoch und blickte sie dabei an.

»Ich halte sie nicht für so vorschnell«, sagte Amys trocken. »Sie ist jetzt doch eine fügsame Schülerin, oder, Egwene?« Egwenes Lippen schienen ganz schmal, so preßte sie sie aufeinander. Diese Weisen Frauen kannten sie ganz und gar nicht, wenn sie glaubten, eine Frau von den Zwei Flüssen könne jemals ›fügsam‹ sein. Andererseits widersprach sie nicht. Und das kam unerwartet. Wie es schien, waren diese Aielfrauen genauso hartgesotten wie die Aes Sedai.

Ihre Stunde glitt ihr unter den Fingern davon, und in ihr kochte die Ungeduld. Sie wollte diese Methode auf der Stelle ausprobieren. Wenn Elayne sie zu früh aufweckte, konnte es Stunden dauern, bis sie wieder einschlief. »In sieben Tagen«, sagte sie, »wird eine von uns Euch wieder hier erwarten.« Egwene nickte. »In sieben Tagen hat sich Rand den Clanhäuptlingen als Der, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt zu erkennen gegeben, und die Aiel werden alle hinter ihm stehen.« Die Blicke der Weisen Frauen wichen ihr aus, und Amys rückte ihren Schal zurecht. Egwene bemerkte es nicht. »Das Licht weiß, was er anschließend vorhat.« »In sieben Tagen«, sagte Nynaeve, »werden Elayne und ich den anderen das abgejagt haben, was Liandrin sucht.« Sonst hätten es wahrscheinlich die Schwarzen Ajah. Also waren sich die Weisen Frauen genausowenig sicher, daß die Aiel alle Rand folgen würden, wie Egwene in bezug auf seine Pläne. Nirgendwo gab es Sicherheit. Aber es hatte auch keinen Zweck, Egwene mit noch mehr Zweifeln zu belasten. »Wenn Ihr das nächstemal eine von uns seht, haben wir sie beim Kragen gepackt, in Säcke gestopft und zur Burg geschickt, wo sie der Prozeß erwartet.« »Bemühe dich, vorsichtig zu sein, Nynaeve. Ich weiß, wie schwer dir das fällt, aber versuche es wenigstens. Sag es bitte auch Elayne. Sie ist nicht so... kühn... wie du, aber sie kommt dir gelegentlich nahe.« Amys und Bair legten jeweils eine Hand auf Egwenes Schultern, und dann waren sie weg.

Versuchen, vorsichtig zu sein? Närrisches Mädchen. Sie war doch immer vorsichtig. Was hatte Egwene eigentlich statt ›kühn‹ sagen wollen? Nynaeve verschränkte die Arme fest, statt an ihrem Zopf zu ziehen. Vielleicht war es besser, wenn sie es nicht wußte.

Ihr wurde bewußt, daß sie Egwene nichts von Egeanin erzählt hatte. Am besten, wenn sie Egwene nicht an die Zeit ihrer Gefangenschaft erinnerte. Nynaeve konnte sich nur zu gut an die Wochen danach erinnern, an Egwenes Alpträume, als sie schreiend erwacht war und nicht mehr angekettet werden wollte. Es war wirklich am besten, nicht daran zu rühren. Und Egwene mußte ja die Seanchanfrau gar nicht kennenlernen. Verdammte Frau! Seng Egeanin, bis sie Asche ist! Seng sie!

»So verschwende ich meine Zeit«, sagte sie laut. Die Worte warfen ein Echo zwischen den hohen Säulen. Jetzt, wo die anderen Frauen verschwunden waren, wirkte alles noch drohender als vorher, noch mehr wie das Versteck unsichtbarer Beobachter und von Dingen, die lauerten und plötzlich hervorsprangen. Zeit, zu gehen.

Zuerst jedoch änderte sie ihre Kleidung und Aufmachung. Aus dem einen Zopf wurde wieder ein Bündel langer, dünner Zöpfe. Ihr enganliegendes Kleid war aus dunkelgrüner Seide, und Mund und Nase wurden von einem transparenten Schleier bedeckt, der beim Atmen ein wenig flatterte. Sie verzog das Gesicht und fügte noch grüne Jadeperlen hinzu, die in die Zöpfe eingeflochten waren. Sollte eine der Schwarzen Schwestern ihren gestohlenen Ter'Angreal benützen, um die Welt der Träume zu betreten und sie im Panarchenpalast sehen, würde sie sie lediglich für eine Frau aus Tarabon halten, die sich auf ganz normale Art dorthingeträumt hatte. Allerdings kannten ein paar sie vom Sehen. Sie hob eine Handvoll mit Perlen geschmückter Zöpfe an und lächelte. Blaß honigfarben. Sie hatte gar nicht gewußt, daß so etwas möglich war. Wie ich wohl aussehen mag? Würden sie mich immer noch erkennen?

Plötzlich stand ein hoher Spiegel gleich neben Callandor. Auf seiner schimmernden Fläche sah sie, wie sie die großen braunen Augen vor Überraschung aufriß und sich ihr Rosenknospenmund unwillkürlich öffnete. Sie hatte Rendras Gesicht! Ihre Gesichtszüge flackerten hin und her; die Augen und das Haar waren einmal heller und dann wieder dunkler, aber schließlich blieb sie bei dem Gesicht der Wirtin. So würde niemand sie erkennen. Und Egwene glaubte, sie könne nicht vorsichtig vorgehen!

Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf Tanchico, auf den Panarchenpalast, auf die dringende Notwendigkeit. Eine Gefahr für Rand, für den Wiedergeborenen Drachen... eindringlich... Um sie herum verschob sich Tel'aran'rhiod. Sie spürte deutlich, wie einen leichten Ruck, der durch die Welt ging, und dann öffnete sie voller Erwartung die Augen, um zu sehen, was sie gefunden hatte.

Sie befand sich in einem Schlafzimmer, so groß, wie sechs Zimmer im ›Hof der Drei Pflaumen‹ zusammen. Die weißen Gipswände waren mit gemalten Friesen geschmückt und goldene Lampen hingen an vergoldeten Ketten von der Decke. Die hohen Bettpfosten liefen oben in einem Dach von Ästen und Blätterwerk aus. Eine Frau, die noch keineswegs ihre mittleren Jahre erreicht hatte, stand steif mit dem Rücken an einem der Bettpfosten am Fuß des Betts. Sie sah wirklich ziemlich gut aus. Sie hatte die gleiche Art von Schmollmund, wie ihn sich Nynaeve nun zugelegt hatte. Auf den um den Kopf gewickelten Zöpfen lag eine Krone aus goldenen, dreizackigen Blättern, mit Rubinen und Perlen geschmückt und mit einem Mondstein, der größer war als ein Gänseei. Um den Hals hatte sie sich eine breite Stola geschlungen, die bis zu den Knien herunterhing und der Länge nach mit Bäumen bestickt war. Von der Krone und der Stola abgesehen, trug sie lediglich eine glänzende Schweißschicht am ganzen Körper.

Ihr ängstlicher Blick war auf die Frau gerichtet, die entspannt auf einer niedrigen Couch lag. Diese zweite Frau wandte Nynaeve den Rücken zu und war genauso durchscheinend, wie es Egwene zuvor gewesen war. Sie war klein und zierlich. Das dunkle Haar hing ihr lose auf die Schultern herab. Ihr Gewand aus hellgelber Seide mit einem weiten Rock stammte bestimmt nicht aus Tarabon. Nynaeve mußte ihr Gesicht gar nicht erst sehen, um zu wissen, daß es irgendwie fuchsartig wirkte und große, blaue Augen aufwies. Sie mußte auch die Stränge aus Luft nicht sehen, mit denen sie die erste Frau an den Bettpfosten gefesselt hatte, um zu wissen, daß sie Temaile Kinderode vor sich hatte.

»... soviel erfahren, wenn Ihr eure Träume benützt, anstatt den Schlaf lediglich zu verschwenden«, sagte Temaile gerade lachend. Der Akzent aus Cairhien war ihr deutlich anzumerken. »Gefällt es Euch nicht? Was soll ich Euch als nächstes beibringen? Ich weiß. Mir hat das immer so gefallen: ›Ich habe tausend Matrosen geliebt‹.« Sie winkte mit einem mahnenden Finger. »Geht sicher, daß ihr den ganzen Text richtig lernt, Amathera. Ihr wißt, es würde mir nicht gefallen... Was starrt Ihr so an?« Mit einem Schlag wurde Nynaeve bewußt, daß die Frau am Bettpfosten — Amathera? Die Panarchin? — sie geradewegs anstarrte. Temaile wälzte sich bequem herum, um nachzusehen, was da sei.

Nynaeve schloß schnell die Augen und konzentrierte sich. Dringend. Notwendig.

Eine erneute Verschiebung.

Nynaeve ließ sich gegen die schmale Säule sinken und sog erst einmal gierig Luft ein, als sei sie zwanzig Meilen weit gerannt. Sie wollte gar nicht wissen, wo sie sich befand. Ihr Herz hämmerte wie eine Trommel, wenn zum Tanz aufgespielt wurde. In einer Schlangengrube landen, ja? Temaile Kinderode. Die Schwarze Schwester, von der Amico gesagt hatte, daß sie es genieße, jemandem weh zu tun, so sehr, daß es sogar den anderen Schwarzen auffiel. Und sie selbst war nicht in der Lage, etwas mit der Macht anzufangen. Es hätte damit enden können, daß sie den nächsten Bettpfosten neben Amathera zierte. Licht! Sie schauderte, wenn sie nur daran dachte. Beruhige dich, Frau! Du bist ja draußen, und selbst wenn Temaile dich sah, sah sie halt nur eine Frau mit honigfarbenem Haar, die wieder verschwand, einfach eine aus Tarabon, die sich einen Augenblick lang nach Tel'aran'rhiod hineinträumte. Sicher war Temaile sich ihrer nicht lange genug bewußt gewesen, um zu erkennen, daß sie die Macht lenken konnte. Auch zu den Zeiten, wo sie gar nicht in der Lage dazu war, konnte jemand mit dem gleichen Talent das bei ihr spüren. Nur einen Moment lang. Mit etwas Glück hatte dieser Moment nicht ausgereicht.

Wenigstens kannte sie jetzt Amatheras Lage. Die Frau war jedenfalls keine Verbündete Temailes. Also hatte diese Suchmethode bereits Früchte getragen. Aber eben noch nicht genug. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen, und blickte sich um.

Reihen von schmalen weißen Säulen zogen sich ganz um den riesigen Saal, der beinahe genauso breit wie lang war.

Der Boden unter ihren Füßen bestand aus glänzenden weißen Steinplatten, und die Decke war mit runden, vergoldeten Buckeln verziert. An hüfthohen Pfosten aus dunklem, glänzenden Holz hing rund herum ein dickes Seil aus weißer Seide, nur dort unterbrochen, wo sich Türen mit ihren jeweils zwei Spitzbögen befanden. An den Wänden standen Podeste und offene Vitrinen, in denen die Knochen eigenartiger Tiere ausgestellt lagen. Auch im Inneren standen noch ebenfalls durch Seile vom übrigen Raum abgetrennte Vitrinen. Egwenes Beschreibung nach mußte das der große Ausstellungssaal des Palastes sein. Was sie suchte, mußte sich also hier befinden. Ihren nächsten Schritt mußte sie demnach nicht mehr so blindlings tun wie den ersten. Hier gab es bestimmt keine Schlangen und keine Temailes.

Plötzlich erschien neben einer Glasvitrine mit geschnitzten Beinen, die mitten im Saal stand, eine gutaussehende Frau. Sie stammte wohl nicht aus Tarabon. Ihr dunkles Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern, aber das war es nicht, was Nynaeve Augen und Mund aufreißen ließ. Das Kleid der Frau schien nur aus feinem Dunst zu bestehen, an manchen Stellen silbrig und undurchsichtig, an anderen jedoch grau und so dünn, daß ihr Körper deutlich sichtbar war. Wo immer sie auch herkam, sie hatte jedenfalls eine lebhafte Vorstellungskraft. Sich so etwas einfallen zu lassen! Selbst die skandalösen Kleider der Domanifrauen, von denen sie gehört hatte, konnten bestimmt bei diesem nicht mithalten.

Die Frau lächelte die Glasvitrine an und ging dann weiter durch den Saal. Auf der gegenüberliegenden Seite blieb sie vor etwas stehen, das Nynaeve nicht erkennen konnte, und betrachtete es eingehend. Es war etwas Dunkles auf einem weißen Steinpodest.

Nynaeve runzelte die Stirn und ließ die Handvoll honigfarbener Zöpfe los, die sie schon wieder gepackt hatte. Die Frau konnte jeden Augenblick wieder verschwinden. Nur wenige träumten sich über längere Zeit hinweg nach Tel'aran'rhiod hinein. Natürlich spielte es keine Rolle, ob die Frau sie sah, denn sie stand bestimmt nicht auf ihrer Liste der Schwarzen Schwestern. Und doch kam sie ihr irgendwie... Nynaeve wurde bewußt, daß sie schon wieder ihre Zöpfe in der Hand hielt. Die Frau... Ihre Hand riß ganz von allein hart an den Zöpfen, und sie blickte sie verblüfft an. Ihre Knöchel waren weiß, und die Hand zitterte. Es war, als habe der Gedanke an diese Frau das ausgelöst. Der ganze Arm zitterte, und wieder versuchte ihre Hand, das Haar aus ihrer Kopfhaut zu reißen. Was beim Licht ist denn mit mir los?

Die in Dunst gehüllte Frau stand immer noch vor dem weit entfernten weißen Podest. Das Zittern erfaßte vom Arm ausgehend Nynaeves Schulter. Sie hatte diese Frau noch nie gesehen. Und doch... Sie bemühte sich, ihre Faust zu öffnen, aber die ballte sich nur um so fester. Bestimmt hatte sie die Frau noch nie gesehen. Nun bebte sie von Kopf bis Fuß und umklammerte sich mit ihrem freien Arm, als wolle sie sich selbst festhalten. Sicher... Ihre Zähne fingen zu klappern an. Die Frau schien... Sie hätte am liebsten geweint. Die Frau...

Bilder stiegen in ihr auf, explodierten. Sie sackte gegen die Säule an ihrer Seite, als habe die Explosion sie physisch getroffen. Ihre Augen quollen hervor. Sie sah es noch einmal vor sich. Die Kammer der Fallenden Blüten und diese kraftvolle, gutaussehende Frau, die vom Glühen Saidars umgeben gewesen war. Sie und Elayne hatten wie die Kinder geplappert, hatten sich beinahe darum gestritten, als erste antworten zu dürfen, und alles ausgeplaudert, was sie wußten. Wieviel hatten sie ihr tatsächlich erzählt? Es war schwer, die Einzelheiten zurückzuholen, aber sie erinnerte sich dunkel daran, ein paar Dinge wenigstens verschwiegen zu haben. Nicht bewußt. Sie hätte der Frau alles gesagt, alles für sie getan, was sie von ihr verlangte. Ihr Gesicht errötete vor Scham und Zorn. Wenn sie in der Lage gewesen war, ein paar kleine Dinge zu verbergen, dann nur, weil sie so — begierig — gewesen war, die letzte Frage zu beantworten, daß sie die von vorher überging.

Das ergibt doch keinen Sinn, sagte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Wenn sie eine Schwarze Schwester ist, von der ich nichts weiß, warum hat sie uns dann nicht an Liandrin ausgeliefert? Das hätte sie doch ohne weiteres gekonnt. Wir wären wie Lämmer zur Schlachtbank mitmarschiert.

Kalter Zorn ließ sie nicht auf diese Stimme hören. Eine Schwarze Schwester hatte sie wie eine Marionette benutzt und ihr dann befohlen, alles zu vergessen. Und sie hatte es tatsächlich vergessen! Nun, jetzt würde die Frau erfahren, wie es war, wenn sie ihr bereit und vorgewarnt gegenüberstand!

Bevor sie nach der Wahren Quelle greifen konnte, befand sich plötzlich Birgitte neben der nächsten Säule. Sie hatte wieder dieses kurze, weiße Wams an und die gelbe, an den Knöcheln zugebundene Pumphose. Birgitte, oder eine Frau, die sich für Birgitte hielt und die das lange, goldene Haar zu einem kunstvollen Zopf geflochten hatte.

Sie hatte einen Finger warnend an die Lippen gelegt, zeigte zuerst auf Nynaeve und dann eindringlich auf eine der breiten Türen mit zwei Spitzbögen hinter ihr. Ihre leuchtenden blauen Augen warnten noch einmal, und dann verschwand sie.

Nynaeve schüttelte den Kopf. Wer die Frau auch sein mochte, sie hatte keine Zeit. So öffnete sie sich Saidar und wandte sich um, als sie bis zum Überfluß mit der Einen Macht und ihrem kochenden Zorn angefüllt war. Die in Dunst gekleidete Frau war weg! Weg! Weil diese goldhaarige Närrin sie abgelenkt hatte! Vielleicht war die wenigstens immer noch in der Nähe und wartete auf sie. In die Macht gehüllt, schritt sie durch die Tür, auf die die Frau gedeutet hatte.

Die Frau mit dem goldenen Haar wartete tatsächlich in einem mit bunten Teppichen ausgelegten Flur auf sie. Die goldenen Lampen waren nicht angezündet, verströmten jedoch den Duft parfümierten Öls. Nun hielt sie einen silbernen Bogen in der Hand, und an ihrer Hüfte hing ein mit silbernen Pfeilen gefüllter Köcher.

»Wer seid Ihr?« wollte Nynaeve wütend wissen. Sie würde der Frau eine Gelegenheit geben, sich ihr zu erklären. Und ihr dann eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht mehr vergaß! »Seid Ihr die gleiche Idiotin, die in der Wüste auf mich schoß und behauptete, sie sei Birgitte? Ich war gerade dabei, einem Mitglied der Schwarzen Ajah Manieren beizubringen, als sie durch Eure Schuld entkommen konnte!« »Ich bin Birgitte«, sagte die Frau und stützte sich auf ihren Bogen. »Zumindest ist das der Name, unter dem Ihr mich kennt. Und die Lektion hätte Euch gegolten, hier genauso wie im Dreifachen Land. Ich erinnere mich an die Leben, die ich gelebt habe, als seien sie Bücher, die ich las. Was länger her ist, wirkt ein wenig trüber als das zeitlich Nähere, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich an Lews Therins Seite kämpfte. Ich werde Moghediens Gesicht niemals vergessen, genausowenig wie das Asmodeans, des Mannes, den Ihr in Rhuidean beinahe aufgestört hättet.« Asmodean? Moghedien? Die Frau war eine der Verlorenen gewesen? Eine Verlorene in Tanchico. Und einer in Rhuidean, in der Wüste. Egwene hätte bestimmt etwas davon erwähnt, hätte sie davon gewußt. Keine Möglichkeit, sie zu warnen, jedenfalls nicht während der nächsten sieben Tage. Zorn — und Saidar — wallten in ihr auf. »Was tut Ihr hier? Ich weiß, daß Ihr alle verschwandet, nachdem Euch das Horn von Valere zurückgerufen hatte, aber Ihr seid...« Sie ließ die Worte verklingen, verlegen, weil sie etwas hatte sagen wollen, doch die andere Frau beendete gelassen den Satz für sie.

»Tot? Diejenigen von uns, die an das Rad gebunden sind, sind nicht auf die gleiche Weise tot wie andere. Welcher Ort wäre besser geeignet, um dort zu warten, bis das Rad uns in unsere neuen Leben verwebt, als hier in der Welt der Träume?« Plötzlich lachte Birgitte auf. »Ich fange schon an, wie ein Philosoph zu reden. In beinahe jedem Leben, an das ich mich erinnere, wurde ich als einfaches Mädchen geboren, das den Bogen erwählte. Ich bin eine Bogenschützin und nicht mehr.« »Ihr seid die Heldin in hundert Legenden«, sagte Nynaeve. »Und ich sah, was Eure Pfeile in Falme vollbrachten. Der Gebrauch der Macht durch die Seanchan hat Euch nicht berührt. Birgitte, wir stehen fast einem Dutzend Schwarzer Ajah gegenüber. Und wie es scheint, auch einer der Verlorenen. Wir könnten Eure Hilfe gebrauchen.« Die andere Frau verzog verlegen und bedauernd das Gesicht. »Ich kann nicht, Nynaeve. Ich kann die Welt des Fleisches nicht berühren, bevor das Horn mich wieder ruft. Oder bevor mich das Rad wieder neu verwebt. Wenn es das in diesem Augenblick täte, würdet Ihr lediglich ein Kleinkind vorfinden, das sich an die Mutterbrust drückt. Nach Falme hat uns das Horn gerufen, und wir waren nicht so wie Ihr dort, nicht fleischgeworden. Deshalb konnte uns die Macht nicht berühren. Hier ist alles ein Teil des Traums und die Eine Macht kann mich genauso leicht vernichten wie Euch. Noch leichter. Ich sagte Euch ja: Ich bin eine Bogenschützin und gelegentlich Soldatin, aber nicht mehr.« Ihr kunstvoll geflochtener goldener Zopf flog herum, als sie den Kopf schüttelte. »Ich weiß gar nicht, warum ich das alles erkläre. Ich sollte überhaupt nicht mit Euch sprechen.« »Warum nicht? Ihr habt doch auch zuvor schon mit mir gesprochen. Und auch Egwene glaubt, Euch gesehen zu haben. Das wart Ihr doch, oder?« Nynaeve runzelte die Stirn. »Woher kennt Ihr eigentlich meinen Namen? Wißt Ihr so etwas einfach?« »Ich weiß, was ich sehe und höre. Ich habe Euch beobachtet und gelauscht, wann immer ich Euch finden konnte. Euch und die anderen beiden Frauen, und den jungen Mann mit den Wölfen. Den Regeln nach dürfen wir mit niemandem sprechen, der sich bewußt in Tel'aran'rhiod befindet. Und doch geht das Böse genauso in den Träumen einher wie in der Welt des Fleisches. Ihr, die Ihr es bekämpft, zieht mich an. Obwohl ich weiß, daß ich fast nichts tun kann, stelle ich fest, daß ich Euch helfen möchte. Doch ich kann nicht. Es widerspricht allen Regeln, und diese Regeln haben mich so viele Drehungen des Rads über gebunden, daß ich selbst in meinen ältesten, verblaßten Erinnerungen noch die Erinnerungen an hundert, an tausend frühere Leben spüre. Mit Euch zu sprechen heißt bereits, Regeln zu brechen, die ebenso binden wie Gesetze.« »Das stimmt«, sagte eine harte männliche Stimme.

Nynaeve fuhr zusammen und hätte beinahe mit der Macht losgeschlagen. Der Mann war dunkelhäutig und hatte kräftige Muskeln. Über seine Schultern ragten die langen, schmalen Griffe zweier Schwerter hinaus. Er schritt schnell von dem Fleck, an dem er aufgetaucht war, zu Birgitte herüber. Nach allem, was ihr Birgitte erzählt hatte, war ihr durch die zwei Schwerter klar, daß es sich um Gaidal Cain handeln mußte, doch wo die goldhaarige Birgitte mit dem ebenmäßigen Gesicht so schön war, wie in den Legenden beschrieben, war das Cain gewiß nicht. Er war tatsächlich so häßlich, wie ein Mann nur sein konnte, mit seinen breiten, platten Gesichtszügen, der übergroßen, flachen Nase und dem viel zu breiten Mund. Doch Birgitte lächelte ihn an. Wie sie seine Wange berührte, das zeigte mehr als nur Freundschaft. Es war auch überraschend, festzustellen, daß er der kleinere von beiden war. So kräftig und muskulös und kraftvoll in den Bewegungen war er, daß er den Eindruck erweckte, er sei größer, als das der Wirklichkeit entsprach.

»Wir sind fast immer ein Paar gewesen«, sagte Birgitte zu Nynaeve, ohne den Blick von Cain zu wenden. »Er wird gewöhnlich eine ganze Weile vor mir geboren. Wenn ich ihn hier nicht finden kann, weiß ich, daß meine Zeit ebenfalls bald kommen wird. Wenn ich ihn zuerst sehe, kann ich ihn nicht leiden, aber am Ende sind wir dann fast immer ein Liebespaar oder miteinander verheiratet. Eine einfache Geschichte, aber ich glaube, wir haben sie schon in tausend Variationen durchgespielt.« Cain ignorierte Nynaeve, als existiere sie überhaupt nicht. »Für die Regeln gibt es einen Grund, Birgitte. Wenn man sie bricht, hat man nichts als Rivalität und Probleme davon.« Seine Stimme klang wirklich sehr rauh und hart in Nynaeves Ohren. Gar nicht, wie bei dem Helden der Legenden.

»Vielleicht kann ich einfach nicht stillsitzen, wenn das Böse um die Vorherrschaft streitet«, sagte Birgitte leise. »Oder vielleicht möchte ich endlich wieder Fleisch werden. Es ist schon so lange her, daß wir das letztemal geboren wurden. Der Schatten erhebt sich wieder, Gaidal. Er erstarkt wieder, und auch hier. Wir müssen dagegen ankämpfen. Das ist der Grund, aus dem wir an das Rad gebunden wurden.« »Wenn uns das Horn ruft, werden wir kämpfen. Wenn das Rad uns verwebt, werden wir kämpfen. Aber nicht vorher!« Er funkelte sie an. »Hast du vergessen, was Moghedien dir angedroht hat, als wir Lews Therin folgten? Ich sah sie, Birgitte. Sie wird dich hier erkennen.« Birgitte wandte sich Nynaeve zu. »Ich werde Euch so gut helfen, wie ich eben kann. Aber erwartet nicht zu viel. Meine ganze Welt ist Tel'aran'rhiod, und ich kann hier weniger vollbringen als Ihr.« Nynaeve riß die Augen auf. Sie hatte nicht gesehen, wie sich der dunkle, schwere Mann bewegt hatte, aber plötzlich stand er nur zwei Schritt entfernt und bearbeitete eines seiner Schwerter mit einem Wetzstein. Es klang, als ob Seide über ein Tischtuch strich. Es war ganz offensichtlich: Soweit es ihn betraf, sprach Birgitte mit nichts als Luft.

»Was könnt Ihr mir über Moghedien sagen, Birgitte? Um ihr gegenüberzutreten, muß ich alles nur Mögliche wissen.« Birgitte stützte sich auf ihren Bogen und runzelte nachdenklich die Stirn. »Es ist schwer, Moghedien gegenüberzutreten, und das nicht nur, weil sie eine Verlorene ist. Sie verbirgt sich und geht kein Risiko ein. Sie greift nur dann an, wenn sie einen Schwachpunkt entdeckt, und sie bewegt sich nur im Schatten. Wenn sie fürchtet zu verlieren, dann läuft sie weg. Sie ist keine, die bis zum Letzten kämpft, selbst wenn sie dadurch eine Chance auf den Sieg verschenkt. Eine bloße Chance reicht Moghedien nicht. Aber nehmt sie nicht auf die leichte Schulter. Sie ist wie eine Schlange, die sich im hohen Gras zusammengerollt hat und den richtigen Moment zum Zustoßen abwartet. Und sie hat weniger Gefühl als eine Schlange. Nehmt sie ernst — ganz besonders hier. Lanfear hat immer Tel'aran'rhiod für sich beansprucht, aber Moghedien konnte hier mehr vollbringen als sie, obwohl sie in der Welt des Fleisches nicht an Lanfears Kräfte heranreichen kann. Ich glaube nicht, daß sie es dort riskieren würde, sich gegen Lanfear zu stellen.« Nynaeve schauderte. In ihr kämpften Furcht und Zorn miteinander. Der Zorn erhielt ihre Fähigkeit, die Macht zu benützen. Moghedien. Lanfear. Diese Frau sprach so selbstverständlich von den Verlorenen. »Birgitte, was hat Euch Moghedien angedroht?« »Sie wußte, was ich war, obwohl ich es selbst nicht wußte. Ich weiß auch nicht, woher.« Birgitte blickte zu Cain hinüber. Er schien ganz auf sein Schwert konzentriert, doch sie senkte trotzdem die Stimme. »Sie drohte mir, ich würde allein und verlassen weinen, solange das Rad sich dreht. Sie sagte es so, als sei es eine Tatsache, die lediglich noch nicht eingetroffen ist.« »Und doch seid Ihr gewillt, zu helfen?« »Wie ich eben kann, Nynaeve. Denkt daran, ich habe Euch ja gesagt, Ihr dürft nicht zuviel erwarten.« Noch einmal sah sie den Mann an, der sein Schwert schärfte. »Wir werden uns wiedersehen, Nynaeve. Falls Ihr vorsichtig seid und alles überlebt.« Damit hob sie ihren silbernen Bogen, ging zu Cain, legte ihm einen Arm um die Schultern und flüsterte etwas in sein Ohr. Was sie auch gesagt hatte, jedenfalls lachte Cain, bevor sie verschwanden.

Nynaeve schüttelte den Kopf. Vorsichtig. Jeder sagte ihr, sie solle vorsichtig sein. Eine Heldin aus der Legende, die zu helfen versprach, aber doch nicht viel tun konnte. Und eine der Verlorenen in Tanchico.

Der Gedanke an Moghedien oder daran, was die Frau ihr angetan hatte, ließ in ihr den Zorn anschwellen, bis die Macht mit der Gewalt der Sonne in ihr pulsierte. Plötzlich war sie wieder in dem großen Saal, in dem sie zuvor gestanden hatte, und sie hoffte fast, die Frau sei zurückgekehrt. Doch bis auf sie selbst war der Saal menschenleer. Wut und Macht durchströmten sie, bis sie fürchtete, ihre Haut werde verschmoren. Moghedien oder jede der Schwarzen Schwestern könnten sie so viel eher in der Nähe spüren als ohne die Macht, doch sie ließ sie nicht fahren. Beinahe war es, als wolle sie von ihnen gefunden werden, damit sie auf sie einschlagen könne. Temaile befand sich höchstwahrscheinlich noch immer in Tel'aran'rhiod. Wenn sie in dieses Schlafzimmer zurückkehrte, konnte sie mit Temaile ein für allemal abrechnen. Sie konnte mit Temaile abrechnen — und damit den Rest warnen. Das reichte, um sie zum Grollen zu bringen.

Was hatte Moghedien so angelächelt? Sie schritt hinüber zu der Vitrine, einem breiten Glaskasten, der auf einem geschnitzten Tisch stand. Sie spähte hinein. Sechs schlecht zueinanderpassende Statuetten standen im Kreis unter dem Glasdeckel. Eine nackte Frau, einen Fuß hoch, balancierte elegant auf den Zehenspitzen eines Fußes, als tanze sie. Ein nur halb so großer Schäfer spielte Flöte. Er hatte seinen Krummstab an die Schulter gelehnt, und zu seinen Füßen lag ein Schaf. Und genauso ›ähnlich‹ waren sich auch die anderen. Allerdings gab es keinen Zweifel daran, was das Lächeln der Verlorenen hervorgerufen hatte.

Im Mittelpunkt des Kreises befand sich ein rotlackiertes Holzpodest, auf dem eine Scheibe lag, so groß wie eine Männerhand, die durch eine Schlangenlinie in zwei Hälften geteilt wurde. Eine Hälfte schimmerte weißer als Schnee, die andere war schwärzer als Pech. Sie bestand aus Cuendillar, wie sie wußte. Sie hatte schon andere gesehen, und nur sieben davon waren jemals angefertigt worden. Eines der Siegel vom Gefängnis des Dunklen Königs, der Brennpunkt für eines der Schlösser, die ihn im Shayol Ghul von der Welt fernhielten. Das war möglicherweise eine genauso wichtige Entdeckung wie das, was immer auch Rand bedrohen mochte. Das mußte man vor den Schwarzen Ajah retten.

Mit einemmal wurde ihr das eigene Spiegelbild bewußt. Das Oberteil der Vitrine bestand aus feinstem Glas, ganz ohne Bläschen, und darin sah sie ein Bild, so klar wie in einem Spiegel, wenn auch blasser. Dunkelgrüne Seide umhüllte ihren Körper, und jede Rundung, ob Brust oder Hüfte, zeichnete sich deutlich ab. Lange honigfarbene Zöpfe mit vielen eingeflochtenen Jadeperlen umrahmten ein Gesicht mit großen braunen Augen und einem Schmollmund. Natürlich war das Glühen Saidars nicht zu sehen. So verkleidet, daß sie sich selbst nicht erkannt hätte, war es trotzdem, als trüge sie ein Schild vor sich her, auf dem stand: Aes Sedai.

»Ich kann durchaus vorsichtig sein«, knurrte sie. Und doch verhielt sie noch ein wenig. Die Macht, die in ihr tobte, erfüllte ihre Glieder mit Leben. Alle Leidenschaften, die sie je gekannt hatte, sickerten in ihr Fleisch ein. Schließlich fühlte sie sich wie eine Närrin, und damit ließ ihr Zorn nach und sie konnte die Macht nicht länger halten.

Was auch immer — ihre Suche wurde jedenfalls noch immer nicht von Erfolg gekrönt. Was sie suchte, mußte sich irgendwo in diesem riesigen Saal unter all den Ausstellungsstücken befinden. Sie riß ihren Blick von dem Skelett eines Tieres los, das wie eine mit vielen Zähnen bewehrte, zehn Schritt lange Eidechse aussah, und schloß die Augen. Notwendig. Dringend. Gefahr für den Wiedergeborenen Drachen, für Rand. Dringend.

Verschiebung.

Sie stand innerhalb des durch das weiße Seidenseil abgesperrten Teils an der einen Wand. Ihr Kleid berührte die Kante eines ebenfalls weißen Steinpodestes. Was auf diesem lag, wirkte auf den ersten Blick nicht sehr gefährlich: eine Halskette und zwei Armbänder, deren Glieder aus schwarzem Metall bestanden. Aber sie war nicht in der Lage, sich ihnen weiter zu nähern! Nicht ohne mir die Finger zu verbrennen, dachte sie trocken.

Sie streckte die Hand aus, um die Schmuckstücke zu berühren: Schmerz. Kummer. Leiden. Schnell riß sie die Hand zurück und schnappte nach Luft. Die geballten Emotionen schwirrten noch in ihrem Kopf herum. Selbst ihre letzten Zweifel waren nun verflogen. Das war es, wonach die Schwarzen Ajah suchten. Und wenn es sich in Tel'aran'rhiod noch auf diesem Podest befand, dann war es auch in der wirklichen Welt noch da. Sie hatte die anderen überholt. Auf diesem weißen Steinpodest.

Sie wirbelte herum und blickte zu der Glasvitrine hinüber, in der sich das Cuendillar-Siegel befand, um den Fleck wiederzufinden, an dem sie zuerst gestanden hatte, als sie Moghedien sah. Die Frau hatte dieses Podest angesehen, die Armbänder und die Halskette. Moghedien mußte also Bescheid wissen. Aber...

Alles um sie herum drehte sich und verschwamm, verblaßte.

»Wach auf, Nynaeve«, murmelte Elayne und unterdrückte ein Gähnen, als sie die Schlafende an der Schulter rüttelte. »Es muß bestimmt schon eine Stunde um sein. Ich möchte endlich auch schlafen. Wach auf, oder ich werde ausprobieren, wie es dir gefällt, mit dem Kopf in einem Eimer Wasser zu stecken.« Nynaeve schlug die Augen auf und blickte zu ihr hoch. »Wenn sie weiß, was es ist, warum hat sie es ihnen dann nicht gegeben? Wenn sie wissen, wer sie ist, warum muß sie dann in Tel'aran'rhiod suchen? Verbirgt sie sich auch vor ihnen?« »Wovon sprichst du eigentlich?« Sie rappelte sich mit fliegenden Zöpfen hoch und lehnte sich gegen das Kopfbrett des Bettes. Dann zog Nynaeve ihr Seidenhemd züchtig herunter. »Ich sage dir, wovon ich spreche.« Elayne blieb der Mund offen stehen, als sie ihr berichtete, was aus dem geplanten Treffen mit Egwene geworden war. Die Suche mit Hilfe ihrer eigenen inneren Not. Moghedien. Birgitte und Gaidal Cain. Die Halskette und die Armbänder aus schwarzem Metall. Asmodean in der Wüste. Eines der Siegel vom Gefängnis des Dunklen Königs im Panarchenpalast. Elayne sank mit weichen Knien auf eine Bettkante hernieder, lange bevor Nynaeve noch Temaile und die Panarchin erreicht hatte, die sie ganz nebenher noch erwähnte. Und wie sie ihr Aussehen geändert und sich als Rendra dargestellt hatte. Wäre Nynaeves Miene nicht ernst und sogar grimmig gewesen, hätte Elayne beinahe glauben können, es sei eine von Thoms wilderen Geschichten.

Egeanin, die mit übergeschlagenen Beinen in ihrem Leinenhemd dasaß, die Hände auf den Knien, blickte ungläubig drein. Elayne hoffte nur, Nynaeve werde keinen Krach anfangen, weil sie die Fesseln der Frau gelöst hatte.

Moghedien. Das war der erschreckendste Teil. Eine der Verlorenen in Tanchico. Eine der Verlorenen hatte die Macht um sie beide verwebt und sie gezwungen, ihr alles zu sagen. Elayne konnte sich nicht um alles in der Welt daran erinnern. Der Gedanke allein reichte schon, daß sie die Hände auf ihren mit einemmal schmerzenden Magen preßte. »Ich weiß nicht, ob Moghedien« — Licht, kann sie wirklich einfach so hereingekommen sein und uns...? —»sich vor Liandrin und den anderen verbirgt, Nynaeve. Es klingst aber schon wahrscheinlich, wenn man danach geht, was Birgitte« — Licht, Birgitte, und sie gibt ihr Ratschläge! — »über sie sagte.« »Was auch immer Moghedien vorhaben mag«, sagte Nynaeve mit nervös wirkender Stimme, »so habe ich auf jeden Fall vor, ein Hühnchen mit ihr zu rupfen.« Sie sackte zurück gegen das mit Blumen verzierte Kopfbrett. »Und auf alle Fälle müssen wir auch das Siegel vor ihnen in Sicherheit bringen, genau wie die Halskette und die Armbänder.« Elayne schüttelte den Kopf. »Wie kann Schmuck für Rand gefährlich sein? Bist du sicher? Sind das Ter'Angreal von irgendeiner Art? Wie haben sie genau ausgesehen?« »Sie sahen jedenfalls wie eine Halskette und Armbänder aus«, fauchte Nynaeve frustriert zurück. »Zwei Gliederarmbänder aus einem schwarzen Metall, und dazu eine weite Halskette, wie ein schwarzes Halsband...« Ihr Blick schoß zu Egeanin hinüber, aber Elaynes Blick war genauso schnell.

Unbeeindruckt richtete sich die dunkelhaarige Frau auf und setzte sich auf die Fersen. »Ich habe noch nie von einem A'dam gehört, der für einen Mann angefertigt wurde, und auch noch nie von einem, wie Ihr ihn beschreibt. Niemand versucht auch nur, einen Mann unter Kontrolle zu bringen, der die Macht lenken kann.« »Aber genau dafür ist es bestimmt«, sagte Elayne bedächtig. Oh, Licht, ich hatte wohl gehofft, daß es so etwas nicht gibt... Wenigstens hatte Nynaeve ihn zuerst entdeckt, und damit hatten sie eine Chance, die anderen davon abzuhalten, ihn gegen Rand anzuwenden.

Nynaeve zog die Augen zusammen, als sie Egeanins freie Hände bemerkte, aber sie gab keinen Kommentar. »Moghedien ist bestimmt die einzige, die davon weiß. Sonst ergäbe es keinen Sinn. Wenn wir uns in den Palast einschleichen, können wir das Siegel und den... was immer es ist, an uns nehmen. Und falls wir auch noch Amathera herausbringen, haben Liandrin und ihre Hexen plötzlich die Legion des Panarchen und die Miliz auf dem Hals, und vielleicht sogar noch die Weißmäntel. Sie werden auch mit Hilfe der Macht aus einer solchen Falle nicht entrinnen! Das Problem ist nur, unbemerkt hineinzukommen.« »Ich habe auch schon darüber nachgegrübelt«, sagte Elayne, »aber ich fürchte, die Männer werden da nicht mitmachen.« »Überlasse die mal ruhig mir«, schnaubte Nynaeve. »Ich... « Im Flur plumpste und klapperte etwas. Ein Mann schrie auf, und dann herrschte genauso plötzlich wieder Stille. Thom saß draußen Wache.

Elayne eilte hin, um die Tür zu öffnen, und griff dabei nach Saidar. Nynaeve kam gleich hinterher und auch Egeanin.

Thom rappelte sich gerade vom Boden auf und hielt sich mit einer Hand den Kopf. Juilin mit seinem Stock und Bayle Domon mit dem Knüppel standen über einem Mann mit hellblondem Haar, der mit dem Gesicht nach unten bewußtlos am Boden lag.

Elayne eilte zu Thom und bemühte sich sanft, ihm aufzuhelfen. Er lächelte sie dankbar an, schob aber stur ihre helfenden Hände beiseite. »Es geht mir ganz gut, Kind.« Ganz gut? An seiner Schläfe schwoll eine beachtliche Beule an. »Der Bursche kam den Flur entlang, als er mir plötzlich gegen den Kopf trat. Schätze, der war hinter meiner Börse her.« Einfach so. Vor den Kopf getreten, aber es ging ihm gut.

»Er hätte sie auch bekommen«, sagte Juilin, »wenn ich nicht gekommen wäre, um nachzusehen, ob Thom abgelöst werden wollte.« »Als ob ich nicht aus dem gleichen Grund da sein«, murmelte Domon. Ihre Feindseligkeit schien ausnahmsweise einmal gar nicht so ausgeprägt.

Elayne brauchte einen Augenblick, aber dann wurde ihr klar, warum. Nynaeve und Egeanin standen nur mit den dünnen Hemdchen bekleidet im Flur. Juilin beäugte beide so wohlgefällig, daß er Schwierigkeiten mit Rendra bekommen hätte, wäre sie zugegen gewesen. Er bemühte sich aber, es nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Domon gab sich allerdings keine Mühe, seine offene Bewunderung für Egeanin zu verbergen. Er verschränkte die Arme und spitzte die Lippen auf eine widerliche Art, während er sie von Kopf bis Fuß musterte.

Den beiden Frauen wurde das schnell klar, aber ihre Reaktionen waren ganz unterschiedlich. Nynaeve in ihrem dünnen, weißen Seidenhemd warf dem Diebfänger einen abweisenden Blick zu und schritt steif in das Zimmer zurück, wobei sie mit rotem Kopf noch einmal um den Türrahmen herum zurückblickte. Egeanin, deren Leinenhemd erheblich länger und dichter war als das Nynaeves — die Frau, die kühl und überlegen geblieben war, als man sie zur Gefangenen machte, und die kämpfte wie ein Behüter —, riß die Augen weit auf, lief puterrot an und schnappte nach Luft. Elayne blickte ihr entgeistert hinterher, als die Seanchanfrau einen erschreckten Schrei losließ und ins Zimmer zurücksprang.

Türen wurden aufgerissen, und überall am Flur steckten die Leute die Köpfe neugierig heraus. Sie verschwanden allerdings augenblicklich wieder, und die Türen knallten zu, als die Leute den auf dem Boden liegenden Mann erblickten und die über ihn gebeugten Menschen. Schwere Schleifgeräusche deuteten an, daß einige Gäste sich einschlossen und dazu noch Betten oder Schränke vor die Türen schoben, um sie zu verrammeln.

Lange Augenblicke später äugte Egeanin um die Türkante. Sie war immer noch rot bis zum Haaransatz. Elayne konnte das nicht verstehen. Sicher, die Frau stand im Unterhemd da, aber es bedeckte sie fast genauso vollständig, wie Elaynes Taraboner Kleid diese verhüllte. Trotzdem hatten Juilin und Domon kein Recht, sie so anzustarren. Sie fixierte die beiden mit einem Blick, der sie sofort zur Ordnung rufen sollte.

Unglücklicherweise war Domon zu sehr damit beschäftigt, zu schmunzeln und sich die Oberlippe zu reiben. Zumindest aber Juilin bemerkte ihren Blick, doch er seufzte lediglich schwer, wie es die Männer taten, wenn sie sich unfair behandelt oder mißverstanden fühlten. Er mied ihren Blick und bückte sich, um sich den hellblonden Burschen auf den Rücken zu hieven. Ein gutaussehender, schlanker Mann.

»Ich kenne diesen Burschen«, rief Juilin. »Das ist der Mann, der versucht hat, mich auszurauben. Jedenfalls glaubte ich das«, fügte er etwas bedächtiger hinzu. »Ich glaube nicht an Zufälle. Nicht, außer der Wiedergeborene Drache wäre in der Stadt.« Elayne tauschte einen besorgten Blick mit Nynaeve. Sicher war der Fremde kein Mietling Liandrins. Die Schwarzen Ajah benützten keine Männer mehr, um in den Fluren herumzuschleichen... Genauso hätten sie auch keine Straßenschläger in Dienst genommen. Elaynes Blick glitt fragend zu Egeanin hinüber. Nynaeves Blick war dagegen eher fordernd.

»Er ist ein Seanchan«, sagte Egeanin einen Moment später.

»Ein Rettungsversuch?« murmelte Nynaeve trocken, doch die andere Frau schüttelte den Kopf.

»Ich bezweifle nicht, daß er nach mir suchte, aber nicht, um mich zu retten, glaube ich. Falls er weiß oder auch nur vermutet, daß ich Bethamin freigelassen habe, wird er... mit mir sprechen wollen.« Elayne vermutete, es wäre nicht nur zu einem Gespräch gekommen, und das bestätigte sich, als Egeanin hinzufügte: »Es ist vielleicht am besten, wenn Ihr ihm die Kehle durchschneidet. Er wird Euch wohl ebenfalls Schwierigkeiten machen, falls er glaubt, ihr seid meine Freundinnen, oder wenn er herausfindet, daß Ihr Aes Sedai seid.« Der Schmuggler aus Illian warf ihr einen schockierten Blick zu, und Juilins Kinn klappte so weit hinunter, wie es nur möglich war. Thom andererseits nickte auf beunruhigend nachdenkliche Art.

»Wir sind nicht hier, um irgendwelchen Seanchan die Kehlen durchzuschneiden«, sagte Nynaeve, als könne sich das später durchaus ändern. »Bayle, Juilin, werft ihn in die Gasse hinter der Schenke. Bis er aufwacht, wird er froh sein, überhaupt noch die Unterwäsche anzuhaben. Thom, sucht Rendra und sagt ihr, wir wollten einen starken Tee in der Kammer der Fallenden Blüten einnehmen. Und fragt sie, ob sie ein wenig Weidenrinde oder Azem hat; dann bereite ich Euch etwas für Euren lädierten Kopf.« Die drei Männer blickten sie mit großen Augen an. »Auf, bewegt Euch«, fauchte sie. »Wir müssen Pläne schmieden!« Sie gab Elayne kaum Zeit, um wieder einzutreten, bevor sie die Tür zuknallte und begann, sich das Kleid überzuziehen. Egeanin stürzte sich auf ihre Sachen, als sähen die Männer immer noch zu.

»Es ist besser, sie einfach zu ignorieren, Egeanin«, sagte Elayne. Es war ein eigenartiges Gefühl, jemandem einen Rat zu geben, der älter war, aber so selbständig die Seanchanfrau auch in vieler Hinsicht war, so wenig wußte sie offensichtlich über Männer. »Das ermutigt sie sonst nur. Ich weiß zwar nicht, warum«, gab sie zu, »aber es stimmt schon. Ihr wart durchaus züchtig bekleidet. Wirklich.« Egeanins Kopf tauchte aus ihrem Kleid auf. »Züchtig? Ich bin keine Kellnerin und erst recht keine Shea-Tänzerin!« Aus ihrer zornigen Miene wurde ein verblüfftes Stirnrunzeln. »Er sieht aber doch recht gut aus. Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.« Elayne fragte sich, was eine Shea-Tänzerin sei, und ging hin, um ihr beim Zuknöpfen behilflich zu sein. »Rendra wird aber etwas dagegen haben, wenn Ihr Juilin erlaubt, mit Euch zu flirten.« Die dunkelhaarige Frau warf ihr über die Schulter weg einen überraschten Blick zu. »Der Diebfänger? Ich habe doch Bayle Domon gemeint. Ein gut situierter Mann. Aber ein Schmuggler«, seufzte sie bedauernd. »Ein Gesetzesbrecher.« Elayne war der Meinung, daß man über Geschmäcker nicht streiten sollte, denn auch Nynaeve liebte mit Lan einen Mann, der ihr viel zu steinern und bedrohlich vorkam, aber Bayle Domon? Der Mann war halb so breit wie hoch — so dick wie ein Ogier!

»Du schnatterst schon wie Rendra, Elayne«, fuhr Nynaeve sie an. Sie mühte sich gerade mit den Knöpfen an ihrem Rücken ab. »Wenn du damit aufgehört hast, über Männer zu klatschen, dann erspare uns bitte, von der neuen Schneiderin zu berichten, die du zweifellos aufgespürt hast! Wir müssen planen. Wenn wir warten, bis wir mit den Männern zusammensitzen, werden sie versuchen, uns zu überstimmen, und ich habe keine Lust, Zeit zu verschwenden, um sie zurechtzuweisen. Bist du noch nicht mit ihr fertig? Ich könnte auch etwas Hilfe gebrauchen.« Elayne knöpfte schnell Egeanins Kleid fertig zu und ging ganz kühl zu Nynaeve hinüber. Sie redete doch nicht ständig von Männern und Kleidern. Jedenfalls lange nicht so oft wie Rendra. Nynaeve hielt ihre Zöpfe zur Seite und blickte sie strafend an, als sie beinahe an ihrem Kleid riß, um die Knöpfe richtig hinzubekommen. Die enge, dreifache Knopfreihe den Rücken hoch war notwendig und nicht nur Zierrat. Nynaeve ließ sich aber auch von Rendra überreden, sich in die engsten Oberteile hineinzuzwängen, nur weil sie der neuesten Mode entsprachen. Und dann behauptete sie, andere dächten die ganze Zeit über nur an Kleider. Sie jedenfalls hatte ganz andere Dinge im Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht, wie wir unbemerkt in den Palast hineinkommen können, Nynaeve. Wir können uns fast unsichtbar bewegen.« Beim Reden glättete sich Nynaeves Stirn wieder. Auch sie selbst war auf einen Weg gekommen, auf dem sie den Palast betreten konnten. Als Egeanin ein paar Vorschläge unterbreitete, verzog Nynaeve den Mund, aber die Anregungen waren vernünftig, und sie konnte sie nicht so einfach ablehnen. Als sie schließlich bereit waren, in die Kammer der Fallenden Blüten hinunterzugehen, hatten sie sich auf eine Vorgehensweise geeinigt und nicht die Absicht, von den Männern daran rütteln zu lassen. Moghedien, die Schwarzen Ajah, wer auch immer im Panarchenpalast das Sagen hatte, der würden sie das ersehnte Ziel vor der Nase wegschnappen.

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