Das Rad der Zeit dreht sich, und die Zeitalter kommen und gehen, hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden, verblassen zu bloßen Mythen und sind längst vergessen, wenn dieses Zeitalter wiederkehrt. In einem Zeitalter, von einigen das Dritte genannt, einem Zeitalter, das noch kommen wird und das schon lange vorbei ist, erhob sich ein Wind über der Steppe von Caralain. Der Wind stand nicht am Anfang. Es gibt weder Anfang noch Ende, wenn sich das Rad der Zeit dreht. Aber es war ein Anfang.
Nach Norden und Westen wehte der Wind unter der Morgensonne, über endlose Meilen wogenden Grases und verstreuter Baumgruppen hinweg, über den Fluß Luan, der eilig dahinströmte, an dem zerklüfteten Zahn des Drachenberges vorbei, dem legendären Fels, der über der welligen Ebene so hoch aufragte, daß die Wolken auf halber Höhe zu seinem rauchenden Gipfel einen Kranz um ihn bildeten. Der Drachenberg, wo der Drache gestorben war und mit ihm, wie viele behaupteten, das Zeitalter der Legenden, und wo er der Prophezeiung nach wiedergeboren wird. Oder wiedergeboren wurde. Nach Norden und Westen wirbelte der Wind, über die Dörfer Jualdhe und Darein und Alindaer, von wo aus sich Brücken wie steinerne Spinnweben hinüber zur Leuchtenden Mauer schwangen, der großen Stadtmauer um Tar Valon, das manche die größte Stadt der Welt nannten. Eine Stadt, die jeden Abend gerade noch vom weit hinausgreifenden Schatten des Drachenberges berührt wurde.
Innerhalb dieser Mauer schienen von Ogiern erbaute mehr als zweitausend Jahre alte Gebäude fast aus dem Erdboden herauszuwachsen, so als seien sie nicht von Menschenhand erbaut worden. Eher schienen Wind und Wasser sie geformt zu haben als die berühmten Hände der Ogier-Steinmetzen. Einige davon wirkten wie aufflatternde Vögel oder wie riesige Muscheln aus fernen Ozeanen. Hoch aufragende Türme, sich nach oben weitend oder gleichmäßig schmal und kanneliert, oder gar sich schraubenförmig emporwindend, wurden durch Brücken in Hunderten von Fuß Höhe und oft ohne jedes Geländer miteinander verbunden. Nur diejenigen, die sich schon lange in Tar Valon aufhielten, sah man nicht ständig mit offenem Mund hochgaffen wie die Bauern, die zum erstenmal in ihrem Leben eine Stadt sahen.
Die Weiße Burg beherrschte die ganze Stadt. Sie schimmerte wie polierte Knochen im Sonnenschein. Das Rad der Zeit dreht sich um Tar Valon, sagten die Leute in der Stadt, und Tar Valon dreht sich um die Burg. Der erste Anblick Tar Valons für einen Reisenden, noch bevor die Pferde die Brücken erreichten, noch bevor die Kapitäne auf den Flußschiffen die Insel erspähten, war der Turm der Weißen Burg, der das Sonnenlicht wie ein Leuchtfeuer widerspiegelte. Kein Wunder, daß der große Vorplatz der Burg unter deren mächtigen Wänden erheblich kleiner wirkte, als er war, und daß die Menschen auf dem Platz zu bloßen Insekten schrumpften. Doch selbst wenn die Weiße Burg das kleinste Gebäude ganz Tar Valons gewesen wäre — durch die Tatsache, daß sie das Herz der Macht der Aes Sedai darstellte, hätte sie die Inselstadt in jedem Fall beherrscht.
Trotz der vielen Menschen füllte die Menge den Vorplatz nicht einmal annähernd. Am äußeren Rand schubsten sich die Menschen gegenseitig, so viele drängten sich dort, die alle ihren täglichen Geschäften nachgingen. Näher am Burgbereich selbst fanden sich weniger Leute, und auf den letzten fünfzig Schritt vor den hohen weißen Mauern war das Pflaster menschenleer. Natürlich wurden die Aes Sedai in Tar Valon mehr als nur respektiert, und die Amyrlin regierte die Stadt genau wie ihre Aes Sedai, aber nur wenige wollten sich der Macht der Aes Sedai mehr als notwendig nähern. Es gab eben einen Unterschied, ob man auf einen großen, offenen Kamin einfach stolz war oder geradewegs in die Flammen hineinspazierte.
Nur ein paar kamen der Burg näher und betraten die breiten Treppenstufen, die hinauf zur Burg selbst und den ungeheuren, kunstvoll geschnitzten Torflügeln führten. Sie waren so breit, daß ein Dutzend Menschen nebeneinander hindurchschreiten konnte. Das Tor stand einladend offen. Es gab immer einige Menschen, die dort Hilfe suchten oder eine Antwort, von der sie glaubten, nur eine Aes Sedai könne sie ihnen geben, und sie kamen oft von weit her, aus Arafel und Ghealdan, aus Saldaea und Illian. Viele fanden Hilfe oder Anleitung, aber manchmal nicht genau die, auf die sie gehofft oder die sie erwartet hatten.
Min hatte ihre Kapuze ganz weit nach vorn gezogen, so daß ihr Gesicht in deren Schatten verborgen blieb. Trotz der Wärme dieses Tages war der Umhang leicht genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, jedenfalls nicht bei einer offensichtlich so schüchternen Frau. Und die meisten Menschen waren verschüchtert, wenn sie sich in die Burg begaben. Es war nichts an ihr, was besondere Aufmerksamkeit hätte erregen können. Ihr dunkles Haar war länger als bei ihrem letzten Aufenthalt in der Burg, auch wenn es noch nicht bis an ihre Schultern reichte, und ihr Kleid in Mittelblau mit weißen Jaerecuz-Spitzen am Hals und an den Manschetten mochte durchaus zu einer wohlhabenden Bauerntochter passen, die wie jede andere auch ihre festlichste Kleidung angelegt hatte, wie sie so auf die breiten Stufen zuschritt. Min hoffte jedenfalls, diesen Eindruck zu erwecken. Sie mußte sich ständig zurückhalten, um nicht stehenzubleiben und die anderen anzusehen, ob sie sich anders verhielten. Ich schaffe das schon, sagte sie sich.
Sie war sicher nicht den ganzen Weg hierher gekommen, um jetzt noch umzukehren. Das Kleid war bereits Verkleidung genug. Diejenigen in der Burg, die sich noch an die junge Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar erinnerten, wußten, daß sie immer in Jacke und Hose eines Jungen umherlief und niemals ein Kleid trug. Also mußte schon das als Verkleidung genügen. Sie hatte, was immer auch geschehen mochte, keine andere Wahl.
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, je näher sie der Burg kam, und sie verkrampfte immer mehr ihren Griff an dem Bündel, das sie an die Brust gedrückt hielt. Darin befanden sich ihre normalen Kleidungsstücke, ihre guten Stiefel und all ihre Habseligkeiten bis auf das Pferd, das sie in einer Schenke unweit des Vorplatzes zurückgelassen hatte. Mit etwas Glück konnte sie in ein paar Stunden bereits wieder auf dem Wallach sitzen und zur Ostreinbrücke und der Straße nach Süden unterwegs sein.
Sie freute sich wohl keineswegs darauf, schon so bald wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, nachdem sie ohne größere Unterbrechung mehrere Wochen lang geritten war, aber hier wollte sie auch nicht bleiben. Sie hatte die Weiße Burg noch nie als gastfreundlichen Ort empfunden, und im Augenblick erschien sie ihr genauso erschreckend wie das Gefängnis des Dunklen Königs im Shayol Ghul. Schaudernd verwünschte sie sich, weil sie an den Dunklen König gedacht hatte. Ob Moiraine wohl glaubt, ich sei nur ihretwegen hierhergekommen? Licht, hilf mir, ich benehme mich wie eine doofe Ziege. Närrische Dinge tun, bloß wegen eines idiotischen Mannes!
Sie schritt unsicher die Stufen hinauf. Jede war so tief, daß sie zwei Schritte brauchte, um die nächste zu erreichen. Aber dann ging sie im Gegensatz zu den anderen einfach weiter und starrte nicht beeindruckt nach oben die helle Masse der hoch aufragenden Burg an. Sie wollte das hinter sich bringen.
Die große, runde Eingangshalle wurde fast vollständig von einem Säulengang umschlossen. Doch die mit ihren Petitionen angetretenen Menschen drückten sich in der Mitte ängstlich aneinander und schoben sich langsam unter der leicht gewölbten Decke vorwärts. Der helle Steinboden war durch die Jahrhunderte von unzähligen nervösen Füßen ausgetreten worden. Keiner konnte an etwas anderes denken, als daran, wo sie sich befanden und warum. Ein Bauer und seine Frau, beide in grober Wollkleidung, hatten sich an den schwieligen Händen gefaßt und standen Schulter an Schulter mit einer Kauffrau im Seidenkleid mit Samtbesatz, und ihnen wieder folgte eine Zofe mit einem kleinen silberbeschlagenen Kästchen in den verkrampften Händen, das sie wahrscheinlich als Geschenk ihrer Herrin in die Burg bringen sollte. In anderer Umgebung hätte die Kauffrau sicher auf dieses Bauernvolk herabgesehen, das sich so nahe herandrängte, und sie hätten wahrscheinlich entschuldigend die Hände an die Stirn gehoben und sich vor ihr zurückgezogen. Aber nicht jetzt. Nicht hier.
Unter den Bittstellern waren nur wenige Männer, was Min aber nicht weiter überraschte. Die meisten Männer hielten es in der Umgebung einer Aes Sedai einfach nicht aus. Jeder wußte ja, daß damals, als es noch männliche Aes Sedai gab, gerade die für die Zerstörung der Welt verantwortlich gewesen waren. Dreitausend Jahre hatten die Erinnerung daran nicht verblassen lassen, wenn auch der zeitliche Abstand viele Einzelheiten verändert hatte. Die Kinder wurden immer noch eingeschüchtert, indem man ihnen von Männern erzählte, die die Eine Macht benützen konnten, Männer, die dazu verflucht waren, durch das vom Dunklen König befleckte Saidin, die männliche Hälfte der Wahren Quelle, zum Wahnsinn getrieben zu werden. Am schlimmsten war die Geschichte von Lews Therin Telamon, dem Drachen, Lews Therin Brudermörder, der die Zerstörung eingeleitet hatte. Was das betraf, packte auch die Erwachsenen bei dieser Geschichte das kalte Grauen. Es war prophezeit worden daß der Drache in der schlimmsten Stunde der Not wiedergeboren würde, um in Tarmon Gai'don, der Letzten Schlacht, gegen den Dunklen König zu kämpfen, aber das änderte wenig daran, wie die Menschen die Verbindung von Männern mit der Einen Macht betrachteten. Jede Aes Sedai jagte nun gnadenlos jeden Mann, der die Macht lenken konnte, und unter den sieben Ajahs waren es besonders die Roten, die kaum je etwas anderes taten.
Natürlich war es noch immer so, daß man sich an die Aes Sedai wandte, wenn man ihre Hilfe brauchte, aber nur wenige Männer konnten sich darüber hinwegsetzen, auf irgendeine Art mit den Aes Sedai und der Macht in Verbindung zu treten. Eine Ausnahme bildeten natürlich die Behüter, aber jeder von ihnen war durch einen Eid an eine Aes Sedai gebunden und konnte wohl kaum mit den anderen Männern in einen Topf geworfen werden. Es gab ein Sprichwort: »Ein Mann wird eher den eigenen Kopf abschneiden, um einen Splitter loszuwerden, als eine Aes Sedai um Hilfe zu bitten.« Frauen sagten das, wenn sie die Dummheit der Männer betonen wollten, aber Min hatte von einigen Männern gehört, daß es immer noch besser sei, eine Hand loszuwerden...
Sie fragte sich, was diese Menschen wohl tun würden, wenn sie wüßten, was sie wußte. Vielleicht schreiend davonrennen? Und wenn sie den Grund kannten, der sie hierher führte, würde sie wohl nicht einmal mehr lange genug überleben, um von der Burgwache verhaftet und ins Verlies geworfen zu werden. Sie hatte Freundinnen in der Burg, doch keine mit Macht oder Einfluß. Wenn man von ihrer Absicht erfuhr, würden sie kaum Gelegenheit haben, ihr zu helfen. Im Gegenteil, vermutlich würden sie zusammen mit ihr dem Henker ausgeliefert — falls sie überhaupt lange genug am Leben bliebe, um noch vernommen oder vor einen Richter gestellt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit war größer, daß ihr Mund lange vorher für immer verstummen würde.
Sie sagte sich, daß sie aufhören müsse, an so etwas auch nur zu denken. Ich komme hinein, und ich werde auch wieder herauskommen. Licht, verseng Rand al'Thor dafür, daß er mich in diese Lage gebracht hat!
Drei oder vier Aufgenommene, junge Frauen in Mins Alter, schritten von einem zum anderen durch den runden Raum und sprachen leise mit den Bittstellern. Ihre weißen Kleider wiesen keinen Zierrat auf, bis auf die sieben Farbbänder am Saum, von denen jedes die Farbe einer Ajah repräsentierte. Von Zeit zu Zeit erschien eine Novizin, ein Mädchen oder eine junge Frau ganz in Weiß, und führte jemanden weiter in die Burg hinein. Die Bittsteller folgten immer diesen Novizinnen mit einer eigenartigen Mischung von erregtem Eifer und ängstlichem Zögern.
Min ergriff ihr Bündel noch fester, als eine der Aufgenommenen vor ihr stehenblieb. »Das Licht erleuchte Euch«, sagte die Frau mit dem Lockenkopf in geschäftsmäßigem Tonfall. »Ich heiße Faolain. Wie kann Euch die Burg behilflich sein?« Auf Faolains dunklem runden Gesicht stand deutlich die Geduld eines Menschen geschrieben, der eine anstrengende Arbeit erledigt, obwohl er viel lieber etwas anderes täte. Vielleicht studieren; das konnte sich Min bei einer Aufgenommenen gut vorstellen. Lernen, um selbst eine Aes Sedai zu werden. Wichtiger für sie war aber, daß die Aufgenommene sie offensichtlich nicht erkannte. Die beiden hatten sich bei Mins früherem Aufenthalt in der Burg kennengelernt, wenn auch nur flüchtig.
Trotzdem senkte Min in gespielter Unterwürfigkeit den Kopf. Das war nicht unnatürlich; viele Leute vom Land verstanden nicht, daß es von einer Aufgenommenen bis zur Aes Sedai noch ein Riesenschritt war. Hinter der Kante ihrer Kapuze war ihr Gesicht gut verborgen, und sie blickte auch noch von Faolain weg.
»Ich habe eine Frage an die Amyrlin selbst«, begann sie, und dann hörte sie mit einemmal mit Sprechen auf, als drei Aes Sedai gleichzeitig innehielten, um einen Blick in die Halle zu werfen; zwei standen unter einem Bogen und eine weitere etwas abseits.
Aufgenommene und Novizinnen knicksten, wenn sie an einer der Aes Sedai vorbeikamen, ließen sich aber ansonsten nicht in ihrer Beschäftigung stören. Sie bewegten sich höchstens ein bißchen schneller. Das war alles. Aber nicht für die Bittsteller. Die schienen alle auf einmal nach Luft zu schnappen. Außerhalb der Weißen Burg, außerhalb Tar Valons, hätten sie vielleicht die Aes Sedai nur für drei Frauen gehalten, deren Alter schwer einzuschätzen war, drei Frauen in der Blüte ihrer Jahre, wenn auch etwas reifer, als ihre roten Wangen erkennen ließen. In der Burg aber gab es keinen Zweifel. Eine Frau, die sehr lange mit der Einen Macht gearbeitet hat, wurde von der Zeit nicht in demselben Maße gezeichnet wie andere Frauen. In der Burg mußte niemand erst nach einem goldenen Ring mit der Großen Schlange Ausschau halten, um eine Aes Sedai zu erkennen.
Eine Welle von Knicksen ging durch die Ansammlung, und die wenigen anwesenden Männer verbeugten sich steif. Zwei oder drei Leute fielen sogar auf die Knie nieder. Die reiche Kauffrau blickte erschrocken drein, während das Bauernpaar an ihrer Seite mit großen Augen lebende Legenden betrachtete. Wie man mit einer Aes Sedai umging, wußten die meisten nur vom Hörensagen. Es war unwahrscheinlich, daß irgend jemand von den Anwesenden, außer jenen, die in Tar Valon wohnten, schon jemals eine Aes Sedai gesehen hatte, und möglicherweise waren auch die wenigen Bewohner Tar Valons ihnen noch nie so nahe gekommen.
Aber es waren nicht die Aes Sedai selbst, die Min zum Schweigen brachten. Manchmal, wenn auch nicht oft, sah sie Dinge um Menschen herum, die sie anblickte, Bilder und Auren, die gewöhnlich aufflackerten und Augenblicke später wieder verschwunden waren. Gelegentlich war ihr klar, was sie bedeuteten. Dieses Wissen kam ihr nur selten — viel seltener, als sie solche Dinge sah —, aber wenn ihr etwas klar geworden war, hatte sie immer recht damit.
Im Gegensatz zu anderen Menschen waren um die Aes Sedai und auch um ihre Behüter herum immer Bilder und Auren zu sehen, die manchmal so wild tanzten und sich änderten, daß es Min schwindlig wurde. Die Vielfalt dieser Bilder spielte allerdings keine Rolle, soweit es darum ging, sie zu verstehen; bei den Aes Sedai wußte sie genauso wenig wie bei anderen, was sie bedeuteten. Aber diesmal erkannte sie mehr, als ihr lieb war, und das ließ sie erschauern.
Die einzige der drei, die sie erkannte, war Ananda, eine schlanke Frau, deren Haar ihr bis zur Taille reichte. Sie war eine Gelbe Ajah, und ein krankhaft brauner Schimmer hüllte sie ein, verdorrt und von fauligen Rissen überzogen, die tief und tiefer wurden und schließlich in sich zusammenfielen. Die kleine blonde Aes Sedai neben Ananda war eine der Grünen Ajah; das sah sie an den grünen Fransen ihrer Stola. Als sie sich einen Augenblick lang umdrehte, erstrahlte die Weiße Flamme von Tar Valon auf ihrem Rücken. Und auf ihrer Schulter, als ruhe er zwischen den Ranken und blühenden Apfelbaumzweigen, mit denen ihre Stola bestickt war, thronte ein menschlicher Schädel. Der kleine Schädel einer Frau, sauber aus dem Fleisch gelöst und von der Sonne gebleicht. Die dritte, eine mollige, hübsche Frau, die den halben Raum von ihr entfernt stand, trug keine Stola. Die meisten Aes Sedai legten sie nur für irgendwelche Feierlichkeiten um. Die Haltung ihres Kinns und ihrer Schultern sprach für Willensstärke und Stolz. Sie schien die Bittsteller mit kühlen blauen Augen durch einen Schleier von Blut hindurch anzusehen. Rote Rinnsale überzogen ihr Gesicht.
Blut, Schädel und Strahlenkranz verblaßten im Tanz der Visionen um die drei herum, kehrten zurück und verblaßten erneut. Die Bittsteller schauten ehrfürchtig zu ihnen auf. Sie sahen nur drei Frauen, die die Wahre Quelle berühren und die Eine Macht lenken konnten. Niemand außer Min sah das andere. Niemand außer Min wußte, daß diese drei Frauen sterben würden. Alle am gleichen Tag.
»Die Amyrlin kann nicht jeden empfangen«, sagte Faolain mit kaum verhohlener Ungeduld. »Ihre nächste öffentliche Audienz wird erst in zehn Tagen stattfinden. Sagt mir, was Ihr wünscht, und ich werde veranlassen, daß Ihr mit der Schwester sprecht, die Euch am besten helfen kann.« Min blickte auf das Bündel in ihren Armen hinunter, zum Teil einfach deshalb, damit sie nicht wieder sehen mußte, was sie bereits gesehen hatte. Alle drei! Licht! Was konnte das bedeuten, wenn drei Aes Sedai am gleichen Tag starben? Aber sie wußte, daß es so sein würde. Sie war ganz sicher.
»Ich habe das Recht, mit der Amyrlin persönlich zu sprechen.« Es war ein Recht, auf das selten jemand bestand — wer wagte das schon —, aber es existierte. »Jede Frau hat dieses Recht, und ich bestehe darauf.« »Glaubt Ihr, daß die Amyrlin persönlich mit allen sprechen kann, die zur Weißen Burg kommen? Sicher kann Euch auch eine andere Aes Sedai helfen.« Faolain betonte die Titel so, als könne allein ihr Klang Min von ihrem Vorhaben abbringen. »Nun sagt mir, worum es Euch geht. Und nennt mir Euren Namen, damit die Novizin weiß, wen sie holen muß.« »Ich heiße... Elmindreda.« Min zuckte dabei innerlich unwillkürlich zusammen. Sie hatte diesen Namen immer gehaßt, aber die Amyrlin war einer der wenigen lebenden Menschen, die ihn schon einmal gehört hatten. Wenn sie sich nur daran erinnerte. »Ich habe das Recht, mit der Amyrlin zu sprechen. Und meine Frage ist allein für ihre Ohren bestimmt. Das Recht habe ich.« Die Aufgenommene zog die Augenbrauen hoch. »Elmindreda?« Ihr Mund zuckte, und sie lächelte ganz leicht und amüsiert. »Und Ihr besteht auf Euren Rechten. Nun gut. Ich werde der Behüterin der Chronik mitteilen lassen, daß Ihr die Amyrlin persönlich zu sprechen wünscht, Elmindreda.« Min hätte der Frau am liebsten eine Ohrfeige verpaßt, so, wie sie den Namen ›Elmindreda‹ betonte, aber statt dessen zwang sie sich zu einem gemurmelten »Dankeschön«.
»Dankt mir noch nicht. Zweifellos wird es Stunden dauern, bis die Behüterin die Zeit findet, Euch zu antworten, und sicherlich wird sie Euch mitteilen lassen, daß Ihr Eure Frage bei der nächsten öffentlichen Audienz stellen sollt. Wartet nur geduldig. Elmindreda.« Sie lächelte Min beinahe spöttisch an und wandte sich ab.
Min biß die Zähne aufeinander und ging mit ihrem Bündel hinüber zur Wand, wo sie sich bemühte, zwischen zwei Bögen möglichst wenig aufzufallen. Traue niemandem und vermeide alle Aufmerksamkeit, bevor du die Amyrlin erreichst. Das hatte ihr Moiraine noch mitgegeben. Moiraine war die einzige Aes Sedai, der sie Vertrauen schenkte. Meistens jedenfalls. Es war so oder so ein guter Ratschlag gewesen. Sie mußte lediglich bis zur Amyrlin kommen, und dann war es vorbei. Sie konnte dann wieder ihre eigene Kleidung anlegen, ihre Freundinnen begrüßen und davonreiten. Kein Grund mehr, sich zu verstecken.
Sie war erleichtert, als sie bemerkte, daß die Aes Sedai gegangen waren. Drei Aes Sedai, die am gleichen Tag sterben würden. Das war unmöglich; sie fand kein anderes Wort. Und doch würde es so geschehen. Nichts, was sie sagte oder unternahm, konnte daran etwas ändern. Sobald ihr klar war, was ein Bild bedeutete, geschah es auch so. Aber sie mußte der Amyrlin davon berichten. Das konnte möglicherweise, auch wenn das fast unvorstellbar war, genauso wichtig sein wie die Botschaft, die sie von Moiraine überbrachte.
Eine weitere Aufgenommene erschien, um eine der Anwesenden abzulösen, und in Mins Augen schwebten vor ihrem blühenden Gesicht Gitterstäbe wie die eines Käfigs. Sheriam, die Oberin der Novizinnen, betrat die Halle. Nach einem kurzen Blick begann Min, den Boden vor ihren Füßen angeregt zu mustern. Sheriam kannte sie nur zu gut — und das Gesicht der rothaarigen Aes Sedai war verschrammt und verschwollen. Natürlich war das wieder eine ihrer Visionen, aber Min mußte sich auf die Unterlippe beißen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Sheriam mit ihrer ruhigen Autorität und Selbstsicherheit erschien immer so unzerstörbar wie die Burg. Offenbar nichts konnte Sheriam etwas anhaben. Aber irgend etwas würde ihr doch zustoßen.
Eine Aes Sedai, die Min nicht kannte und die eine Stola der Braunen Ajah trug, begleitete eine stämmige, in feine rote Wolle gekleidete Frau zum Ausgang. Die stämmige Frau schritt leichtfüßig wie ein Mädchen einher. Ihr Gesicht strahlte. Sie lachte beinahe vor Freude. Auch die Braune Schwester lächelte, doch ihre Aura verlosch wie die Flamme einer Kerze.
Tod. Verwundungen, Gefangenschaft und Tod. Min erschien das so klar, als hätte sie es geschrieben vor sich stehen.
Sie blickte auf ihre Füße hinunter; sie wollte einfach nicht noch mehr sehen. Wenn sie sich bloß erinnert, dachte sie. Auf ihrem langen Ritt von den Verschleierten Bergen hatte sie niemals Verzweiflung empfunden, nicht einmal dann, als jemand versucht hatte, ihr Pferd zu stehlen, doch jetzt war es soweit. Licht, wenn sie sich nur an den verdammten Namen erinnert!
»Frau Elmindreda?« Min fuhr zusammen. Die schwarzhaarige Novizin, die vor ihr stand, war kaum alt genug, von zu Hause wegzugehen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, gab sich aber alle Mühe, würdevoll zu erscheinen. »Ja? Ich bin... So heiße ich.« »Ich heiße Sahra. Wenn Ihr bitte mitkommen würdet... « — Sahras Stimme klang erstaunt —, »die Amyrlin wird Euch jetzt in ihren Arbeitsräumen empfangen.« Min seufzte erleichtert und folgte ihr.
Die Kapuze ihres Umhangs verbarg nach wie vor ihr Gesicht, doch das hinderte sie nicht daran zu sehen, und je mehr sie sah, desto stärker wurde ihr Wunsch, zur Amyrlin zu kommen. Nur wenige Menschen gingen durch die breiten, nach oben führenden Korridore mit ihren in leuchtend bunten Fußbodenkacheln und ihren Wandbehängen und goldenen Lampenhaltern. Die Burg war für eine viel größere Zahl von Menschen erbaut worden, als sich jetzt darin befanden. Doch beinahe jeder Mensch, den sie erblickte, trug eine Aura von Gewalt und Gefahr mit sich herum.
Behüter eilten vorbei und schenkten den beiden Frauen keinerlei Aufmerksamkeit. Diese Männer bewegten sich mit der Grazie pirschender Wölfe. Ihre Schwerter schienen ihre Gefährlichkeit noch zu unterstreichen. Aber für Min hatten sie blutige Gesichter oder trugen klaffende Wunden. Schwerter und Speere tanzten bedrohlich um ihre Köpfe. Ihre Auren blitzten wild auf, tanzten flackernd am Abgrund des Tods. Sie sah tote Männer umhergehen, wußte, sie würden am gleichen Tag sterben wie die Aes Sedai im Foyer oder höchstens einen Tag später. Selbst einige der Bediensteten, Männer und Frauen mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust, die geschäftig ihren Aufgaben nachgingen, trugen Anzeichen von Gewalt. Eine Aes Sedai, die sie ganz kurz in einem Seitengang erspähte, schien Ketten zu tragen, und eine andere, die den Korridor vor Min und ihrer Führerin überquerte, trug deutlich zu erkennen ein silbernes Halsband. Min stockte der Atem, als sie das sah. Sie hätte am liebsten geschrien.
»Das wirkt wohl alles überwältigend auf jemanden, die es nie zuvor gesehen hat«, sagte Sahra, die sich erfolglos bemühte, das alles so selbstverständlich klingen zu lassen, als spreche sie über ihr Heimatdorf. »Aber Ihr seid hier in Sicherheit. Die Amyrlin wird schon alles in Ordnung bringen.« Ihre Stimme quiekste ein wenig, als sie die Amyrlin erwähnte.
»Licht, hoffentlich kann sie das«, murmelte Min. Die Novizin lächelte sie an. Es sollte wohl beruhigend wirken.
Als sie schließlich das Vorzimmer zu den Arbeitsräumen der Amyrlin erreichten, fühlte Min sich sterbenselend, und sie trat Sahra fast auf die Fersen. Nur weil sie ja vorgeben mußte, hier fremd zu sein, rannte sie nicht voraus.
Ein Türflügel zu den Gemächern der Amyrlin öffnete sich, und ein junger Mann mit rotgoldenem Haar trat heraus. Er prallte fast mit Min und ihrer Begleiterin zusammen. Hochgewachsen und kräftig, angetan mit einem blauen, reich bestickten Mantel mit Gold an Ärmeln und Kragen, so war Gawyn aus dem Hause Trakand, der älteste Sohn der Königin Morgase von Andor: jeder Zoll ein stolzer junger Lord. Ein wütender junger Lord. Sie hatte keine Zeit, den Kopf zu senken. Er blickte direkt unter ihre Kapuze in ihr Gesicht.
Vor Überraschung riß er die Augen auf, doch dann verengten sie sich zu schmalen Schlitzen aus blauem Eis. »Also seid Ihr zurück. Wißt Ihr vielleicht, wohin meine Schwester und Egwene gegangen sind?« »Sind sie nicht hier?« Min vergaß alles und wurde von Panik ergriffen. Bevor ihr klar wurde, was sie tat, packte sie ihn an den Ärmeln, sah ihm eindringlich in die Augen und drängte ihn einen Schritt zurück. »Gawyn, sie haben sich schon vor Monaten auf den Weg zurück zur Burg gemacht! Elayne und Egwene und auch Nynaeve. Mit Verin Sedai und... Gawyn, ich... ich... « »Beruhige dich«, sagte er und löste sanft ihre Hände von seinen Ärmeln. »Licht! Ich wollte dir keine Angst einjagen. Sie sind sicher angekommen. Und sie sagten kein Wort darüber, wo sie gewesen sind und warum. Jedenfalls nicht zu mir. Ich glaube, es besteht auch wenig Hoffnung, daß du es mir sagen wirst, oder?« Sie glaubte, ein nichtssagendes Gesicht zu machen, doch er sah sie kurz an und sagte dann: »Das dachte ich mir. An diesem Ort gibt es mehr Geheimnisse, als... Sie sind schon wieder verschwunden. Und Nynaeve mit ihnen.« Nynaeves Namen fügte er beinahe beiläufig hinzu. Sie mochte eine von Mins Freundinnen sein, aber ihm lag nichts an ihr. Seine Stimme wurde wieder rauher und klang mit jeder Sekunde ärgerlicher. »Wieder, ohne ein Wort zu sagen. Kein Wort! Angeblich befinden sie sich auf irgendeinem Bauernhof, um ihre Strafe für ihr Weglaufen abzuarbeiten, aber ich kann einfach nicht herausbekommen, wo! Die Amyrlin gibt mir keine einzige vernünftige Antwort.« Min zuckte zusammen. Einen Moment lang hatten Spuren getrockneten Blutes sein Gesicht zu einer Maske des Schreckens gemacht. Das war wie ein doppelter Hammerschlag für sie. Ihre Freundinnen waren weg. Es hatte ihre Aufgabe sehr erleichtert, zu wissen, daß sie hier auf sie warteten. Und nun wußte sie: Gawyn würde an dem Tag verwundet werden, an dem die Aes Sedai starben.
Trotz alledem, was sie gesehen hatte, seit sie die Burg betreten hatte, trotz ihrer Furcht hatte nichts davon sie persönlich getroffen — bis jetzt. Eine Katastrophe, die die Burg bedrohte, würde auch das ganze Land um Tar Valon bedrohen, doch sie gehörte der Burg nicht an und würde ihr auch niemals angehören. Aber Gawyn war jemand, den sie kannte, jemand, den sie gut leiden konnte, und er würde tiefer verwundet werden, als ihr das Blut verraten hatte, tiefer als durch bloße Wunden seines Fleisches. Nun wurde ihr erst richtig klar, daß die Katastrophe, wenn sie die Burg erfaßte, nicht nur irgendwelche entfernten Aes Sedai treffen würde, Frauen, denen sie sich niemals nahe fühlen konnte, sondern genauso ihre Freunde. Sie gehörten zur Burg.
Auf gewisse Weise war sie ja froh darüber, daß sich Egwene und die anderen nicht mehr hier befanden, froh, sie nicht ansehen und vielleicht Anzeichen des Todes an ihnen entdecken zu müssen. Und doch wollte sie ihre Freundinnen sehen und sichergehen, daß sie nichts entdeckte oder wenn schon, dann wenigstens Anzeichen für ihr Überleben. Wo, beim Licht, waren sie? Wohin waren sie gegangen? Da sie die drei gut genug kannte, hielt sie es für möglich, daß Gawyn nichts wußte, weil sie nicht gewünscht hatten, daß er Bescheid wußte. Das war es bestimmt.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, wo sie sich befand und warum und daß sie nicht allein war mit Gawyn. Sahra schien vergessen zu haben, daß sie Min zur Amyrlin bringen sollte. Sie schien überhaupt alles vergessen zu haben, bis auf den jungen Lord, dem sie schöne Augen machte, ohne von ihm bemerkt zu werden. Trotzdem hatte es keinen Zweck mehr, vorzutäuschen, daß sie eine Fremde in der Burg sei. Sie stand vor der Tür der Amyrlin und nichts konnte sie jetzt noch aufhalten.
»Gawyn, ich weiß nicht, wo sie stecken, aber falls sie wirklich zur Strafe auf einem Bauernhof arbeiten, sind sie vermutlich verschwitzt und bis zu den Hüften mit Schlamm verspritzt und du wärst der letzte, von dem sie so gesehen werden möchten.« In Wirklichkeit war ihr keineswegs leichter ums Herz als Gawyn. Zuviel war geschehen und zuviel geschah noch immer, was mit ihnen oder mit ihr selbst zu tun hatte. Aber natürlich war es nicht unmöglich, daß sie zur Strafe fortgeschickt worden waren. »Du hilfst ihnen bestimmt nicht, indem du den Zorn der Amyrlin erregst.« »Ich weiß nicht, ob sie wirklich auf einem Bauernhof sind. Ob sie überhaupt noch leben. Warum dieses ganze Versteckspiel und diese Ausweichmanöver, wenn sie bloß Unkraut jäten? Wenn meiner Schwester etwas passiert... Oder Egwene... « Er blickte finster auf seine Stiefelspitzen herab. »Ich soll schließlich auf Elayne aufpassen. Wie kann ich sie beschützen, wenn ich nicht einmal weiß, wo sie ist?« Min seufzte. »Glaubst du, daß man auf sie aufpassen muß? Auf eine von ihnen?« Aber falls die Amyrlin sie irgendwohin geschickt hatte, brauchten sie möglicherweise wirklich einen Aufpasser. Die Amyrlin war durchaus fähig, eine Frau mit lediglich einer Rute bewaffnet in eine Bärenhöhle zu schicken, falls es ihren Zwecken diente. Und sie würde von der Frau auch noch erwarten, entweder mit einem Bärenfell zurückzukommen, oder den Bären an der Leine zu führen, so wie ihr aufgetragen worden war. Aber wenn sie das Gawyn sagte, würde es nur doch seinen Zorn und seine Sorgen schüren. »Gawyn, sie haben ihren Eid auf die Burg geleistet. Sie werden dir nicht dankbar sein, wenn du dich einmischst.« »Ich weiß, Elayne ist kein Kind mehr«, sagte er ungeduldig, »auch wenn sie manchmal wie eines davonläuft und dann wiederkommt und die Aes Sedai spielen will. Aber sie ist schließlich meine Schwester und außerdem noch die Tochter-Erbin von Andor. Sie wird Mutters Nachfolgerin als Königin. Andor braucht sie sicher und wohlbehalten, wenn sie den Thron besteigen soll, und nicht statt dessen wieder einen Streit um die Nachfolge.« Die Aes Sedai spielen? Offensichtlich war ihm die Tragweite des Talents seiner Schwester nicht klar. Die Tochter-Erbinnen von Andor waren seit Menschengedenken zur Ausbildung in die Burg gesandt worden, aber Elayne war die erste, die befähigt war, zur Aes Sedai erhoben zu werden, und zu einer mächtigen noch dazu. Sehr wahrscheinlich war ihm auch nicht klar, daß Egwene mindestens genauso stark war.
»Also willst du sie beschützen, ob sie will oder nicht?« Sie sagte das in einem Tonfall, der ihm deutlichmachen sollte, daß er einen Fehler beging, doch ihm entging das offensichtlich, und er nickte zustimmend.
»Das ist meine Pflicht gewesen, seit sie geboren wurde. Mein Blut muß vor ihrem fließen, mein Leben vor ihrem geopfert werden. Ich habe diesen Eid geleistet, als ich noch kaum über den Rand ihrer Wiege hinwegblicken konnte. Gareth Bryne mußte mir die Bedeutung erklären. Ich werde diesen Eid doch jetzt nicht brechen. Andor hat sie nötiger als mich.« Er sprach mit einer ruhigen Bestimmtheit, nahm gelassen etwas als natürlich und richtig hin, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hatte ihn immer für jungenhaft gehalten, wie er so gern lachte und alle neckte, aber jetzt war er wie ein Fremder für sie. Sie glaubte, der Schöpfer müsse wohl müde gewesen sein, als er die Männer schuf. Manchmal erschienen sie ihr kaum noch menschlich. »Und Egwene? Welchen Eid hast du ihretwegen geleistet?« Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht, nur trat er nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich mache mir natürlich auch Sorgen um Egwene. Und um Nynaeve. Was mit Elaynes Begleiterinnen geschieht, könnte auch Elayne passieren. Ich denke, sie sind noch immer beieinander. Als sie noch hier waren, habe ich nur selten die eine ohne die anderen zu Gesicht bekommen.« »Meine Mutter hat mir immer geraten, ich solle einen schlechten Lügner heiraten. Du kommst dafür sicherlich in Frage. Allerdings glaube ich, daß jemand anders mich da ausstechen wird.« »Manche Dinge sind vorbestimmt«, sagte er ruhig, »und manche können niemals sein. Galad hat großen Kummer, weil Egwene weg ist.« Galad war sein Halbbruder. Die beiden waren nach Tar Valon gesandt worden, um unter Anleitung der Behüter zu lernen. Das war eine weitere Tradition in Andor. Galadedrid Damodred war in Mins Augen ein Mann, der bis zum Erbrechen immer nur das Richtige tat, aber Gawyn sah darin nichts Schlechtes. Und er sprach nicht über seine Gefühle für eine Frau, auf die Galad ein Auge geworfen hatte.
Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt, etwas Vernunft in ihn hineingeprügelt, aber dazu war jetzt nicht die Zeit. Nicht, wenn die Amyrlin wartete, und nicht bei dem, was sie der wartenden Amyrlin zu berichten hatte. Und ganz bestimmt nicht, wenn Sahra danebenstand, ob sie ihn nun anhimmelte oder nicht. »Gawyn, ich bin zur Amyrlin bestellt. Wo kann ich dich finden, wenn sie mit mir fertig ist?« »Ich werde auf dem Übungsgelände sein. Die einzige Zeit, wo ich mir keine Sorgen mache, ist beim Üben mit dem Schwert, wenn mich Hammar hart rannimmt.« Hammar war ein Schwertmeister und der Behüter, der dieses Können an die Schüler weitergeben sollte. »An den meisten Tagen bin ich bis Sonnenuntergang dort.« »Also gut. Ich komme, sobald ich kann. Und gib acht, was du sagst. Wenn du die Amyrlin zu sehr aufregst, müssen Elayne und Egwene vielleicht darunter leiden.« »Das kann ich nicht versprechen«, entgegnete er mit fester Stimme. »Irgend etwas stimmt mit der Welt nicht mehr. Bürgerkrieg in Cairhien. Das gleiche und noch schlimmeres in Tarabon und Arad Doman. Falsche Drachen. Auseinandersetzungen und Gerüchte und Probleme, wohin man schaut. Ich behaupte nicht, daß die Burg dahintersteckt, aber selbst hier läuft nicht alles, wie es sein soll. Oder wie es den Anschein hat. Das Verschwinden Elaynes und Egwenes ist ja nicht alles. Aber sie sind natürlich das, was mich am meisten bewegt. Ich werde herausfinden, wo sie sich aufhalten. Und falls sie verletzt wurden... Falls sie tot sind... « Er machte eine finstere Miene, und einen Augenblick lang war sein Gesicht für sie wieder eine blutige Maske. Mehr: Über seinem Kopf schwebte ein Schwert und dahinter wehte eine Flagge im Wind. Auf der leicht gekrümmten Klinge des Schwertes mit dem langen Griff, wie es die Behüter benützten, war ein Reiher eingraviert, das Kennzeichen eines Schwertmeisters, und Min wußte nicht, ob es Gawyn gehörte oder ihn bedrohte. Die Flagge trug Gawyns Wappen mit dem angreifenden Weißen Keiler, aber der Untergrund war grün und nicht rot wie auf der Flagge Andors. Sowohl Schwert wie auch Flagge verblaßten zusammen mit dem Blut.
»Sei vorsichtig, Gawyn.« Das war auf zwei verschiedene Dinge gemünzt. Vorsichtig mit dem, was er sagte, und vorsichtig auf eine Art, die sie ihm nicht erklären konnte, die ihr selbst unerklärlich war. »Du mußt sehr vorsichtig sein.« Er suchte in ihrem Gesicht nach einer Andeutung dessen, was er herauszuhören geglaubt hatte. »Ich... werde mir Mühe geben«, sagte er schließlich. Er grinste. Es war beinahe das jungenhafte Grinsen, an das sie sich noch erinnerte, aber es war ganz eindeutig gekünstelt. »Ich denke, ich sollte nun besser wieder auf das Übungsgelände zurückkehren, wenn ich mit Galad schritthalten will. Ich habe heute morgen zwei von fünf Gängen gegen Hammar gewonnen, aber Galad hat tatsächlich dreimal gesiegt, beim letztenmal, als er sich herabließ, auf dem Übungsgelände zu erscheinen.« Mit einem Mal schien er sie erst richtig zu bemerken, und sein Grinsen wurde ehrlich. »Du solltest öfters Kleider tragen. Das steht dir gut. Denk daran, ich werde bis Sonnenuntergang dort sein.« Als er ging und dabei ein wenig von der tödlichen Grazie der Behüter verströmte, wurde Min bewußt, daß sie sich das Kleid an der Hüfte glattstrich, und sie hörte sofort damit auf. Licht, versenge alle Männer!
Sahra atmete tief aus, als habe sie die ganze Zeit über die Luft angehalten. »Er sieht sehr gut aus, nicht wahr?« sagte sie verträumt. »Nicht so gut wie Lord Galad natürlich. Und Ihr kennt ihn ja tatsächlich!« Das war zur Hälfte als Frage gemeint, aber nur zur Hälfte eben.
Min ahmte das Seufzen der Novizin nach. Das Mädchen würde in den Quartieren der Novizinnen mit ihren Freundinnen klatschen. Der Sohn einer Königin war ein natürliches Gesprächsthema, besonders wenn er auch noch gut aussah und etwas von den Helden aus den Geschichten der Gaukler an sich hatte. Eine fremde Frau machte das Ganze nur noch interessanter. Nun ja, sie konnte nichts dagegen machen. Und es konnte jetzt wohl auch kaum mehr schaden.
»Die Amyrlin wird sich schon fragen, wo wir nur bleiben«, sagte sie.
Sahra kam plötzlich wieder zur Besinnung. Die Augen weit aufgerissen, fuhr sie zusammen und schluckte vernehmlich. Dann packte sie mit einer Hand Min am Ärmel, zerrte sie zur Tür, öffnete hastig einen Flügel und zog Min hinter sich her hinein. In dem Augenblick, als sie drinnen waren, knickste die Novizin eiligst und plapperte voller Panik: »Ich habe sie gebracht, Leane Sedai. Frau Elmindreda? Die Amyrlin will sie wirklich sehen?« Die hochgewachsene Frau mit der kupferfarbenen Haut im Vorraum trug die Stola der Behüterin der Chronik, und zwar in Blau, um zu zeigen, daß sie der Blauen Ajah entstammte. Mit den Fäusten auf die Hüften gestützt wartete sie, bis das Mädchen fertig war, und dann entließ sie die Novizin mit einem knappen: »Hast lange genug gebraucht, Kind. Jetzt zurück an deine Arbeit.« Sahra knickste wieder und trippelte genauso schnell hinaus, wie sie eingetreten war.
Min stand da, den Blick gesenkt und die Kapuze immer noch weit nach vorn gezogen. Vor Sahra einen Fehler zu begehen war schon schlimm genug gewesen, obwohl die Novizin wenigstens ihren Namen nicht kannte, aber Leane kannte sie besser als jede andere in der Burg bis auf die Amyrlin. Min war sicher, daß das jetzt keine Rolle mehr spielte, aber nach dem, was sie draußen im Flur erfahren hatte, wollte sie sich besser an Moiraines Anweisungen halten, bis sie mit der Amyrlin allein war.
Diesmal halfen ihr die guten Absichten jedoch nicht. Leane war mit zwei Schritten bei ihr, schob die Kapuze zurück und knurrte, als habe man ihr einen Schlag in den Magen versetzt. Min hob den Kopf und sah sie trotzig an, als wolle sie ihr zeigen, daß sie sich nicht hatte an ihr vorbeistehlen wollen. Glattes, dunkles Haar, nur ein wenig länger als ihr eigenes, umrahmte das Gesicht der Behüterin, das nun sowohl Überraschung zeigte wie auch Ärger darüber, daß sie überrascht war.
»Also bist du doch Elmindreda, oder?« sagte Leane knapp. Sie sprach immer in kurzen, knappen Sätzen. »Ich muß schon sagen, in diesem Kleid siehst du auch eher so aus als in deinem normalen... Kostüm.« »Nur Min, Leane Sedai, wenn es Euch recht ist.« Min brachte das mit steinernem Gesicht heraus, aber es fiel ihr schwer, die Aes Sedai nicht anzufunkeln. Im Tonfall der Behüterin hatte zuviel Spott gelegen. Wenn ihre Mutter sie schon nach jemandem aus einer Legende nennen mußte, warum dann ausgerechnet nach einer Frau, die die meiste Zeit über irgendwelchen Männern schöne Augen gemacht hatte oder sie dazu brachte, Lieder über ihre Augen oder ihr Lächeln zu komponieren.
»Also gut. Min. Ich werde auch nicht fragen, wo du gewesen bist oder warum du in einem Kleid zurückkehrst und offensichtlich der Amyrlin eine Frage stellen willst. Jedenfalls jetzt nicht.« Ihrem Gesicht war anzumerken, daß sie diese Fragen später stellen würde und auch Antworten erwartete. »Ich schätze, die Mutter weiß, wer diese Elmindreda ist? Natürlich. Ich hätte das wissen müssen, als sie befahl, dich sofort herzubringen, und noch dazu allein. Das Licht mag wissen, warum sie sich mit dir abgibt.« Sie unterbrach ihren Redefluß und machte ein besorgtes Gesicht. »Was ist los, Mädchen? Bist du krank?« Min gab sich Mühe, ihre Gesichtszüge zu glätten. »Nein. Nein, es geht mir gut.« Einen Augenblick lang hatte die Behüterin ihre Maske durchschaut, eine Maske des Schreckens. »Darf ich hineingehen, Leane Sedai?« Leane musterte sie noch einen Moment lang und bedeutete ihr dann mit einem Ruck ihres Kopfes, zum inneren Arbeitszimmer zu gehen. »Hinein mit dir.« Mins Eifer, ihrem Auftrag Folge zu leisten, hätte auch die gnadenloseste Aufseherin mit Zufriedenheit erfüllt.
Der Arbeitsraum der Amyrlin war im Laufe der Jahrhunderte von vielen großen und mächtigen Frauen benützt worden, und die Andenken daran beherrschten nun sein Bild. Der große offene Kamin war aus dem Goldmarmor Kandors gefertigt. Jetzt brannte kein Feuer darin. Die Wände waren mit einem hellen, eigenartig marmorierten Holz getäfelt, das wohl eisenhart war, aber dennoch Schnitzereien von Fabeltieren und Vögeln mit phantastischem Federkleid aufwies. Diese Täfelungen waren vor weit mehr als tausend Jahren aus den geheimnisvollen Ländern jenseits der Aiel-Wüste hergebracht worden, und der Kamin war mehr als doppelt so alt. Der geschliffene Sandstein des Fußbodens stammte aus den Verschleierten Bergen, und hohe Bogenfenster gaben den Blick auf einen Balkon frei. Wie Perlen funkelten unzählige Glitzerpunkte im Stein der Fensterrahmen, der aus den Überresten einer während der Zerstörung der Welt untergegangenen Stadt im Meer der Stürme gerettet worden war. Niemand hatte je desgleichen irgendwo sonst entdeckt.
Die augenblickliche Benützerin, Siuan Sanche, war allerdings als Tochter eines Fischers in Tear geboren worden, und die Möbel, die sie bevorzugte, waren einfach, wenn auch solide gebaut und auf Hochglanz poliert. Sie saß auf einem wuchtigen Stuhl an einem großen Tisch, der auch in einem Bauernhaus hätte stehen können. Der einzige andere Stuhl im Raum, genauso schmucklos und gewöhnlich zur Seite gestellt, stand nun auf einer kleinen, einfachen, in Blau, Braun und Gold gehaltenen und offensichtlich in Tear geknüpften Brücke direkt vor dem Tisch. Ein halbes Dutzend geöffneter Bücher lag auf verschiedenen Lesepulten im Raum verteilt. Das war alles. Über dem Kamin hing eine Zeichnung von winzigen Fischerbooten, die zwischen den hohen Schilfhalmen in den Fingern des Drachen bei der Arbeit waren, so wie ihr Vater einst ausgefahren war.
Auf den ersten Blick wirkte auch Siuan Sanche selbst, trotz ihrer glatten Aes-Sedai-Gesichtszüge, genauso einfach wie ihre Möbel. Sie war durchaus kräftig, nicht schön, sah aber doch recht gut aus, und das einzig Auffallende an ihrer Kleidung war die breite Stola des Amyrlin-Sitzes in den sieben Farbstreifen aller Ajahs. Wie bei jeder Aes Sedai war es nicht möglich, ihr Alter abzuschätzen. Jedenfalls zeigte sich in ihrem dunklen Haar noch keine Andeutung von Grau. Der scharfe Blick aus ihren blauen Augen schien alles zu durchdringen und die Kinnpartie sagte etwas über die Entschlußkraft der jüngsten Frau aus, die je für den Amyrlin-Sitz erwählt worden war. Seit mehr als zehn Jahren hatte Siuan Sanche selbst Herrscher herbeizitiert, auch die mächtigen, und sie waren gekommen, obwohl sie die Weiße Burg haßten und sich vor den Aes Sedai fürchteten.
Als die Amyrlin um den Tisch herum auf sie zuschritt, legte Min ihr Bündel weg und knickste ungeschickt, wobei sie leise fluchte, daß so etwas sein mußte. Sie wollte durchaus ihren Respekt bezeugen, wie es einer Frau wie Siuan Sanche gegenüber selbstverständlich war, aber die Verbeugung, die sie gewöhnlich machte, hätte in einem Kleid ausgesprochen dumm gewirkt. Nun ja, und mit dem Knicksen hatte sie keine Erfahrung.
Auf halbem Weg in die Hocke erstarrte sie mit bereits ausgebreitetem Rock. Siuan Sanche stand wohl so würdevoll wie eine Königin vor ihr, doch einen Augenblick lang lag sie gleichzeitig nackt auf dem Fußboden. Abgesehen von der Tatsache, daß sie nichts anhatte, war an der Vision noch etwas Eigenartiges, doch bevor Min sich darüber klar werden konnte, was daran so seltsam war, verschwand das Bild wieder. Die Vision war so eindringlich gewesen wie selten eine, aber sie hatte keine Ahnung, was sie bedeuten sollte.
»Schon wieder Visionen, habe ich recht?« sagte die Amyrlin. »Nun, diese Fähigkeit kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Ich hätte dich gerade in jenen Monaten gebrauchen können, die du weg warst. Aber sprechen wir nicht mehr darüber. Was geschehen ist, ist geschehen. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht.« Sie lächelte verkrampft. »Aber wenn du so etwas noch einmal machst, lasse ich dir die Haut abziehen und mache Handschuhe daraus. Steh auf, Mädchen. Leane zwingt mir sowieso schon in einem Monat mehr zeremonielles Gehabe auf, als eine normale Frau in einem Jahr ertragen kann. Ich habe keine Zeit dafür. Heutzutage nicht. Also, was hast du gerade gesehen?« Min richtete sich langsam auf. Es war eine Erleichterung, mit jemandem zusammenzusein, die von ihrem Talent wußte, auch wenn es die Amyrlin selbst war. Sie mußte das Gesehene vor der Amyrlin nicht verbergen. Im Gegenteil. »Ihr habt... Ihr habt keine Kleider getragen. Ich... ich weiß nicht, was es bedeutet, Mutter.« Siuan lachte kurz und trocken auf. »Zweifellos nehme ich mir einen Liebhaber. Aber dafür habe ich leider auch keine Zeit. Es ist keine Zeit, den Männern auch nur zuzuzwinkern, wenn du das Boot leerschöpfen mußt.« »Vielleicht«, sagte Min bedächtig. Es konnte so etwas bedeuten, aber sie bezweifelte das. »Ich weiß es einfach nicht. Aber, Mutter, ich habe Visionen gehabt, seit ich die Burg betrat. Etwas Schlimmes wird geschehen, etwas Schreckliches!« Sie begann bei den Aes Sedai im Foyer und berichtete alles, was sie gesehen hatte, alles, was sie an Bedeutungen erkannt hatte, soweit sie sich sicher sein konnte. Sie behielt das meiste dessen, was Gawyn gesagt hatte, für sich. Sie mußte nicht erst ihn ermahnen, daß er die Amyrlin nicht ärgern solle, wenn sie anschließend eben dieses selbst tat. Den Rest berichtete sie so nüchtern wie möglich. Einiges von ihrer Angst wurde trotzdem deutlich, als sie alles wieder vor sich sah. Ihre Stimme zitterte hörbar, noch bevor sie fertig war.
Der Gesichtsausdruck der Amyrlin änderte sich nicht. »Also hast du mit dem jungen Gawyn gesprochen«, sagte sie, als Min geendet hatte. »Na, ich glaube, ich kann ihn dazu bringen, daß er den Mund hält. Und wenn ich mich richtig an Sahra erinnere, könnte das Mädchen durchaus für eine Weile auf dem Land arbeiten. Wenn sie einen Gemüsegarten bearbeitet, kann sie keine Gerüchte verbreiten.« »Ich verstehe nicht«, sagte Min. »Warum soll Gawyn den Mund halten? Worum geht es? Ich habe ihm nichts gesagt. Und Sahra...? Mutter, vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Aes Sedai und Behüter werden sterben! Das dürfte bedeuten, daß ein Kampf stattfinden wird. Und wenn Ihr nicht eine Menge Aes Sedai und Behüter irgendwohin schickt — und auch Diener, denn ich habe auch tote und verwundete Diener gesehen —, wenn Ihr also das nicht tut, dann wird dieser Kampf hier stattfinden! In Tar Valon!« »Hast du das gesehen?« wollte die Amyrlin wissen. »Einen Kampf? Weißt du das sicher, oder rätst du nur?« »Was könnte es sonst sein? Mindestens vier Aes Sedai sind so gut wie tot. Mutter, ich habe seit meiner Rückkehr nur neun von Euch gesehen, und vier davon werden sterben! Und die Behüter... Was könnte es sonst bedeuten?« »Da gibt es mehr Möglichkeiten, als mir lieb sind«, sagte Siuan grimmig. »Wann? Wie lange, bis das... Ereignis... eintritt?« Min schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das meiste wird sich innerhalb eines oder zweier Tage abspielen, aber das kann morgen sein oder in einem oder zehn Jahren.« »Laß uns hoffen, daß es erst in zehn Jahren passiert. Wenn es morgen bereits geschieht, kann ich nicht viel dagegen unternehmen.« Min verzog das Gesicht. Nur zwei Aes Sedai außer Siuan Sanche kannten ihre Fähigkeiten: Moiraine und Verin Mathwin, die sich bemüht hatte, ihr Talent zu erforschen. Keiner wußte mehr darüber, wie es funktionierte, als sie. Nur eines war klar: Es hatte nichts mit der Einen Macht zu tun. Vielleicht hatte deshalb auch nur Moiraine akzeptiert, daß etwas ganz gewiß eintraf, wenn sie sich dessen sicher war.
»Vielleicht hat es mit den Weißmänteln zu tun, Mutter. Sie waren überall in Alindaer zu finden, als ich die Brücke überquerte.« Sie glaubte nicht daran, daß die Kinder des Lichts etwas mit den vorhergesehenen Ereignissen zu tun hätten, aber sie zögerte, das auszusprechen, was sie wirklich glaubte. Wohlgemerkt: glaubte, nicht ›wußte‹. Aber das war schon schlimm genug.
Doch die Amyrlin schüttelte schon den Kopf, bevor sie ausgesprochen hatte. »Sie würden schon etwas versuchen, wenn sie könnten. Da habe ich keinen Zweifel. Sie würden nichts lieber tun als die Burg angreifen. Aber Eamon Valda wagt keinen offenen Angriff ohne ausdrücklichen Befehl des kommandierenden Lordhauptmanns, und Pedron Niall wird erst zuschlagen, wenn er glaubt, daß wir angeschlagen seien. Er kennt unsere Stärke zu gut, um etwas so Dummes zu wagen. Seit tausend Jahren halten das die Weißmäntel so. Wie ein Hecht im Schilf warten sie auf die Blutspur der Aes Sedai im Wasser. Doch bisher haben wir ihnen keine gezeigt, und das werden wir auch nicht, wenn ich es verhindern kann.« »Und wenn Valda etwas auf eigene Faust probiert... « Siuan unterbrach sie: »Er hat nicht mehr als fünfhundert Mann in der Nähe Tar Valons, Mädchen. Den Rest hat er bereits vor Wochen weggeschickt, zweifellos, um irgendwo anders Unruhe zu stiften. Die Leuchtende Mauer hat die Aiel zurückgehalten und auch Artur Falkenflügel. Valda wird niemals nach Tar Valon hereinkommen, wenn die Stadt nicht von innen her auseinanderbricht.« Ihr Tonfall änderte sich nicht, als sie fortfuhr: »Du willst mich unbedingt glauben machen, daß die Gefahr von den Weißmänteln herrührt. Warum?« In ihrem Blick lag nichts Sanftes mehr.
»Weil ich es gern glauben möchte«, murmelte Min betreten. Sie leckte sich die Lippen und sprach die Worte aus, die sie vermeiden wollte: »Das silberne Halsband, das ich bei der einen Aes Sedai sah. Mutter, es sah aus... Es sah aus wie eines der Halsbänder, die... von den Seanchan benützt werden, um... Frauen zu beherrschen, die mit der Einen Macht umgehen können.« Ihre Stimme wurde immer leiser, und Siuans Mund verzog sich angewidert.
»Schmutzige Dinger«, grollte die Amyrlin. »Nur gut, daß die meisten Leute nicht einmal ein Viertel von dem glauben, was sie über die Seanchan hören. Aber da ist es noch wahrscheinlicher, daß die Weißmäntel dahinterstecken. Wenn die Seanchan wieder irgendwo an Land gehen, weiß ich darüber per Brieftaube innerhalb weniger Tage Bescheid, und es ist ein langer Weg vom Meer bis Tar Valon. Wenn sie wirklich wieder auftauchen, habe ich lange genug Zeit, mich darauf einzustellen. Nein, ich fürchte, was du siehst, bedeutet etwas viel Schlimmeres als die Seanchan. Ich fürchte, es können nur die Schwarzen Ajah sein. Nur eine Handvoll von uns wissen überhaupt von ihnen, und ich freue mich nicht gerade darauf, was passiert, wenn diese Kunde sich ausbreitet. Aber sie stellen die größte unmittelbare Bedrohung der Burg dar.« Min wurde sich bewußt, daß sie ihre Hände so sehr in ihren Rock verkrampft hatte, bis sie schmerzten. Ihr Mund war staubtrocken. Die Weiße Burg hatte immer kaltschnäuzig die Existenz einer versteckten Ajah abgeleugnet, die angeblich dem Dunklen König diente. Der sicherste Weg, eine Aes Sedai zu ärgern, war, so etwas auch nur zu erwähnen. Daß nun die Amyrlin selbst die Existenz einer Schwarzen Ajah zugab, jagte Min einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Die Amyrlin fuhr fort, als habe sie nichts Außergewöhnliches gesagt: »Aber du bist nicht den ganzen Weg hergekommen, um hier deine Visionen zu haben. Was gibt es Neues von Moiraine? Ich weiß, daß von Arad Doman bis Tarabon reines Chaos herrscht, um es milde auszudrücken.« Das war allerdings milde ausgedrückt. Anhänger des Wiedergeborenen Drachen kämpften dort gegen seine Gegner und hatten beide Länder in einen Bürgerkrieg gestürzt, während sie immer noch um die Herrschaft auf der Ebene von Almoth stritten. Siuans Tonfall tat das alles als unwichtige Einzelheiten ab. »Aber ich habe schon monatelang nichts mehr von Rand al'Thor gehört. Er steht im Brennpunkt aller Ereignisse. Wo steckt er? Was läßt Moiraine ihn tun? Setz dich hin, Mädchen. Setz dich.« Sie deutete auf den Stuhl am Tisch.
Min ging mit wackligen Beinen hin und fiel fast auf den Stuhl. Die Schwarzen Ajah! O Licht! Man erwartete von den Aes Sedai, daß sie für das Licht kämpften. Das auf jeden Fall, auch wenn sie ihnen sonst keineswegs immer traute. Die Aes Sedai und all ihre Macht traten für das Licht und gegen den Schatten ein. Und nun stimmte sogar das nicht mehr. Sie hörte sich selbst sagen: »Er ist auf dem Weg nach Tear.« »Tear! Dann also Callandors wegen. Moiraine will, daß er das Unberührbare Schwert aus dem Stein von Tear holt. Ich schwöre, ich hänge sie zum Trocknen in die Sonne! Sie wird sich wünschen, wieder Novizin sein zu können! Dafür kann er noch nicht bereit sein!« »Das war nicht...« Min hielt inne und räusperte sich. »Das war nicht Moiraines Idee. Rand ist allein mitten in der Nacht weggelaufen. Die anderen folgten ihm, und Moiraine hat mich gesandt, um es Euch mitzuteilen. Sie könnten mittlerweile in Tear sein. Vielleicht hat er jetzt Callandor bereits in Händen.« »Seng ihn!« fauchte Siuan. »Er kann genausogut jetzt auch tot sein! Ich wünschte, er hätte niemals den Wortlaut der Prophezeiungen des Drachen erfahren. Wenn ich ihn davon abhalten könnte, noch mehr darüber zu erfahren, dann würde ich es tun.« »Aber muß er denn die Prophezeiungen nicht erfüllen? Ich verstehe das nicht.« Die Amyrlin lehnte sich innerlich erschöpft an ihren Tisch. »Als könne irgend jemand das meiste daran überhaupt verstehen! Er wird nicht durch die Prophezeiungen zum Wiedergeborenen Drachen. Er muß es lediglich einsehen, und falls er hinter Callandor her ist, hat er das wohl auch. Die Prophezeiungen haben den Zweck, der Welt zu zeigen, wer er ist, ihn auf das Kommende vorzubereiten und die Welt auf sein Kommen vorzubereiten. Wenn Moiraine wenigstens ein bißchen Einfluß auf ihn hat, dann leitet sie ihn zu den prophezeiten Dingen hin, bei denen wir einigermaßen sicher sein können, und dann, wenn er bereit ist, sich diesen Herausforderungen zu stellen! Was die übrigen betrifft, hoffen wir, daß es ausreicht, was er sowieso tut. Hoffen wir! Was weiß ich, ob er nicht bereits Prophezeiungen erfüllt hat, die wir überhaupt nicht verstehen. Das Licht gebe, daß es ausreicht!« »Also wollt Ihr ihn wirklich unter Kontrolle halten. Er sagte, Ihr würdet versuchen, ihn zu benützen, aber das ist das erste Mal, daß Ihr es zugegeben habt.« Min fror innerlich. Zornig fügte sie hinzu: »Bisher habt Ihr aber nicht gerade gut gearbeitet, Ihr und Moiraine.« Siuans Erschöpfung schien von ihr abzufallen. Sie richtete sich auf und blickte auf Min hinunter. »Du solltest besser hoffen, daß wir damit Erfolg haben. Hast du geglaubt, wir könnten ihn so einfach frei herumlaufen lassen? Starrköpfig und stur, unausgebildet, unvorbereitet und vielleicht bereits dabei, dem Wahn zu verfallen? Glaubst du, wir können einfach auf das Muster vertrauen, auf sein Schicksal, daß es ihn wie in einer Legende am Leben hält? Das ist keine Legende, und er ist kein unbesiegbarer Held, und wenn sein Faden aus dem Muster herausgeschnitten wird, dann bemerkt das Rad der Zeit seinen Abgang überhaupt nicht, und der Schöpfer wird auch keine Wunder tun, um uns zu retten. Wenn ihm Moiraine nicht die Flügel stutzen kann, könnte er sehr wohl durch eigene Schuld getötet werden, und was haben wir dann erreicht? Wo steht die Welt dann? Das Gefängnis des Dunklen Königs ist schwach geworden. Er wird die Welt wieder berühren — das ist nur eine Frage der Zeit. Wenn Rand al'Thor nicht da ist, um ihm in der Letzten Schlacht gegenüberzutreten, wenn sich der starrköpfige junge Narr vorher umbringen läßt, dann ist die Welt zum Untergang verdammt. Wieder ein Krieg um die Macht, aber diesmal ohne Lews Therin Telamon und seine Hundert Gefährten. Und dann Feuer und Schatten für alle Ewigkeit.« Sie hielt mit einem Mal inne und sah Mins Gesicht scharf an. »Ach so, daher weht der Wind? Du und Rand? Das hatte ich nicht erwartet.« Min schüttelte lebhaft den Kopf und spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. »Natürlich nicht! Ich war... Es ist diese Letzte Schlacht. Und der Dunkle König. Licht, allein schon daran zu denken, daß der Dunkle König frei ist, reicht aus, um selbst einem Behüter das Mark in den Knochen gefrieren zu lassen. Und die Schwarzen Ajah... « »Versuche nicht, abzulenken«, sagte die Amyrlin scharf. »Glaubst du, das sei das erste Mal, wo ich erlebe, daß eine Frau Angst um ihren Mann hat? Du kannst es genausogut zugeben.« Min wand sich auf ihrem Stuhl. Siuans Blicke durchbohrten sie, wissend und ungeduldig. »Na ja«, murmelte sie schließlich, »ich werde Euch alles sagen, und es wird uns beiden nicht weiterhelfen. Beim erstenmal, als ich Rand kennenlernte, sah ich die Gesichter dreier Frauen, und eine davon war ich. Ich habe weder vorher noch nachher jemals etwas über mich selbst gesehen, aber ich wußte, was es zu bedeuten hatte. Ich würde mich in ihn verlieben. Alle drei würden wir uns in ihn verlieben.« »Drei. Die beiden anderen. Wer sind sie?« Min lächelte sie bitter an. »Die Gesichter waren verschwommen. Ich weiß nicht, wer sie sind.« »Nichts, was darauf schließen ließe, daß er deine Liebe erwidert?« »Nichts! Er hat mich noch nie richtig angeschaut. Ich glaube, er sieht mich als... als eine Schwester an. Also glaubt nicht, daß Ihr mich als Leine für ihn benützen könnt, denn das wird nicht funktionieren!« »Aber du liebst ihn.« »Ich habe wohl keine Wahl.« Min bemühte sich, nicht zu mürrisch zu klingen. »Ich habe versucht, das Ganze als Scherz zu betrachten, aber ich kann nicht mehr darüber lachen. Ihr glaubt mir vielleicht nicht, aber sobald ich weiß, was etwas bedeutet, geschieht es auch.« Die Amyrlin legte einen Finger nachdenklich an ihre Lippen und musterte Min.
Dieser Blick machte Min Sorgen. Sie hatte sich eigentlich zurückhalten und nicht soviel sagen wollen, wie sie es nun tatsächlich getan hatte. Sie hatte immer noch nicht alles erzählt, aber eigentlich hätte sie wissen sollen, daß man einer Aes Sedai keine Gelegenheit nachzuhaken bieten durfte, auch wenn ihr nicht klar war, wie sie dieses Wissen benützen könnte. Doch die Aes Sedai hatten Übung darin. »Mutter, ich habe Moiraines Botschaft überbracht und Euch alles berichtet, was ich über die Bedeutung meiner Visionen weiß. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, warum ich nicht meine eigene Kleidung wieder anlegen und gehen kann.« »Wohin willst du gehen?« »Nach Tear.« Nachdem sie sich mit Gawyn unterhalten und sich versichert hatte, daß er nicht irgendwelche Narreteien vorhatte. Sie hätte ja am liebsten gefragt, wo sich Egwene und die anderen beiden befanden, aber wenn die Amyrlin das nicht einmal Elaynes Bruder sagen wollte, würde sie es wohl kaum ihr anvertrauen. Und in Siuan Sanches Augen lag noch immer dieser berechnende Blick. »Oder eben dorthin, wo Rand ist. Ich bin vielleicht närrisch, aber sicher nicht die erste Frau, die sich eines Mannes wegen zum Narren macht.« »Aber die erste, die sich des Wiedergeborenen Drachens wegen zum Narren macht. Es wird gefährlich, sich in der Umgebung Rand al'Thors aufzuhalten, sobald die Welt einmal herausfindet, wer er ist und was er ist. Und falls er jetzt Callandor in Händen hält, wird es die Welt schnell genug erfahren. Die Hälfte wird sowieso versuchen, ihn umzubringen, in der Hoffnung, daß sie dadurch die Letzte Schlacht vermeiden können und den Dunklen König daran hindern, wieder freizukommen. Viele, die sich in seiner Nähe aufhalten, werden sterben. Es könnte besser für dich sein, wenn du hierbleibst.« Die Amyrlin klang verständnisvoll, doch Min nahm ihr das nicht ab. Sie glaubte einfach nicht, daß Siuan Sanche viel Verständnis für andere aufbringen könne. »Ich riskiere es; vielleicht kann ich ihm helfen. Mit meinen Visionen. Und es ist ja nicht so, daß er in der Burg sicherer wäre, solange es auch nur noch eine Rote Schwester hier gibt. Sie würden nur einen Mann sehen, der mit der Macht umgehen kann, und darüber die Letzte Schlacht und die Prophezeiungen des Drachen vergessen.« »Viele andere auch«, unterbrach Siuan sie gelassen. »Alte Denkweisen werden nur schwer abgelegt, bei den Aes Sedai genau wie anderswo.« Min sah sie fragend an. Sie schien nun auf einmal auf ihrer Seite zu stehen. »Es ist kein Geheimnis, daß ich mit Egwene und Nynaeve befreundet bin, und auch keines, daß sie aus dem gleichen Dorf kommen wie Rand. Für die Roten Ajah wird diese Verbindung völlig ausreichen. Wenn die Burg herausfindet, was er ist, dann werde ich wahrscheinlich noch vor Ende dieses Tages festgenommen. Egwene und Nynaeve auch, falls Ihr sie nicht irgendwo versteckt habt.« »Dann darf man dich eben nicht erkennen. Man fängt keinen Fisch, der das Netz sieht. Ich schlage vor, du vergißt deinen Mantel und die Hosen für eine Weile.« Die Amyrlin lächelte sie an wie eine Katze die Maus.
»Welchen Fisch wollt Ihr denn mit mir als Köder fangen?« fragte Min mit schwacher Stimme. Sie glaubte, es bereits zu wissen, und hoffte verzweifelt, unrecht zu haben.
Ihre Hoffnung hielt jedoch die Amyrlin nicht davon ab, zu sagen: »Die Schwarzen Ajah. Dreizehn von ihnen flohen, aber ich fürchte, es sind noch einige hier übrig. Ich kann nicht sicher sein, wem ich vertrauen kann. Eine Weile lang habe ich überhaupt niemandem mehr vertraut. Du bist kein Schattenfreund, das weiß ich, und dein ganz besonderes Talent mag vielleicht hilfreich sein. Zumindest aber habe ich mit dir ein weiteres Paar vertrauenswürdiger Augen.« »Das habt Ihr doch geplant, seit ich hier hereinspaziert bin, oder? Deshalb wollt Ihr, daß Gawyn und Sahra schweigen.« Der Zorn begann in Min zu kochen wie das Wasser im Kessel. Die Frau sagte: ›Frosch‹ und erwartete, daß die Leute hüpften. Daß sie das gewöhnlich auch taten, machte die Dinge nur noch schlimmer. Sie war kein Frosch und keine Marionette. »Habt Ihr das mit Egwene und Nynaeve und Elayne gemacht? Sie hinter den Schwarzen Ajah hergejagt? Das würde ich Euch zutrauen.« »Flick deine eigenen Netze, Kind, und laß diese Mädchen ihre Netze flicken. Soweit es dich betrifft, arbeiten sie zur Strafe auf einem Bauernhof. Drücke ich mich klar aus?« Dieser unbeirrbare Blick ließ Min nervös auf ihrem Stuhl umherrutschen. Es war leicht, der Amyrlin zu widersprechen, bis sie anfing, einen mit diesen scharfen, kalten, blauen Augen festzunageln. »Ja, Mutter.« Die Demut in ihrer Antwort stank zum Himmel, aber ein Blick in die Augen der Amyrlin überzeugte sie, daß es besser sei, es damit bewenden zu lassen. Sie zupfte an der feingesponnenen Wolle ihres Kleides. »Ich denke, es wird mich nicht umbringen, wenn ich das hier noch ein Weilchen länger trage.« Plötzlich blickte Siuan amüsiert drein. Min spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.
»Ich fürchte, das reicht nicht. Min in einem Kleid ist immer noch Min für jede, die einigermaßen genau hinschaut. Du kannst nicht immer einen Umhang mit ins Gesicht gezogener Kapuze tragen. Nein, du mußt alles ändern, was geändert werden kann. Zum einen wirst du weiterhin den Namen Elmindreda benützen. Es ist schließlich auch dein Name.« Min zuckte zusammen. »Dein Haar ist beinahe so lang wie das Leanes, lang genug, um Locken hineinzubrennen. Was den Rest betrifft... Ich habe niemals Rouge und Puder und Schminke benützt, aber Leane weiß noch, wie man damit umgeht.« Min hatte seit der Erwähnung der Locken immer größere Augen gemacht. »O nein«, brachte sie mühsam hervor.
»Keiner wird dich noch für die Min halten, die immer in Hosen herumlief, wenn Leane erst eine perfekte Elmindreda aus dir gemacht hat.« »O NEIN!« »Was den Grund deines Aufenthalts in der Burg betrifft — hmmm, ein Grund, der zu einer flatterhaften jungen Frau paßt, die in nichts wie Min wirkt — weder im Aussehen, noch im Benehmen.« Die Amyrlin runzelte nachdenklich die Stirn und ignorierte Mins Bemühungen, auch zu Wort zu kommen. »Ja. Ich werde verbreiten lassen, daß Frau Elmindreda gleich zwei Freier soweit ermutigte, daß sie sich jetzt in der Burg vor ihnen in Sicherheit bringen muß, bis sie sich zwischen ihnen entscheiden kann. Jedes Jahr bitten doch noch ein paar Frauen hier um Asyl, und die Gründe sind manchmal tatsächlich so idiotisch.« Ihr Gesicht verhärtete sich wieder, und ihr Blick wurde schärfer. »Wenn du immer noch an Tear denkst, überlege genau. Überlege, ob du hier oder dort für Rand von größerem Nutzen sein kannst. Wenn die Schwarzen Ajah die Burg stürzen oder, noch schlimmer, in ihre Hände bekommen, dann verliert Rand selbst die wenige Hilfe, die ich ihm zuteil werden lassen kann. Also. Bist du eine Frau oder ein liebeskrankes Mädchen?« In der Falle gefangen. Min sah das genauso deutlich, als habe sie einen Fallstrick am Bein. »Setzt Ihr euch immer so bei anderen Menschen durch, Mutter?« Das Lächeln der Amyrlin war diesmal sogar noch kälter.
»Für gewöhnlich, mein Kind. Für gewöhnlich.« Elaida rückte ihre Stola mit den roten Fransen zurecht und blickte nachdenklich die Tür zum Arbeitszimmer der Amyrlin an, durch die gerade eben zwei junge Frauen verschwunden waren. Die Novizin kam nur Augenblicke später wieder heraus, warf einen Blick auf Elaidas Gesicht und hätte beinahe losgeheult. Elaida glaubte, sie zu erkennen, obwohl ihr der Name des Mädchens nicht mehr einfiel. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als unfolgsamen Kindern etwas beizubringen. »Dein Name?« »Sahra, Elaida Sedai.« Die Antwort des Mädchens kam als atemloses Quieken heraus. Elaida hatte vielleicht nicht viel Interesse an den Novizinnen, aber die Novizinnen kannten sie und ihren Ruf.
Nun erinnerte sie sich an das Mädchen. Eine Tagträumerin mit beschränkten Fähigkeiten, die niemals wirklich mächtig sein würde. Es war zweifelhaft, daß sie mehr wußte, als Elaida bereits gehört und gesehen hatte, oder daß sie sich an mehr als nur Gawyns Lächeln erinnerte. Eine Närrin. Elaida machte eine wegwerfende Handbewegung.
Das Mädchen knickste so tief, daß ihr Gesicht fast die Bodenplatten berührte, und dann floh sie im Laufschritt.
Elaida sah ihr nicht nach. Die Rote Schwester hatte sich abgewandt und die Novizin bereits vergessen. Als sie den Korridor entlangrauschte, war keine Falte auf ihren glatten Gesichtszügen zu entdecken, aber in ihrem Innern brodelte es. Sie bemerkte nicht einmal die Dienerinnen, die Novizinnen und Aufgenommenen, die ihr hastig auswichen und knicksten, wenn sie an ihnen vorbeilief. Einmal hätte sie beinahe eine Braune Schwester überrannt, die ihre Nase in ein Bündel Papiere gesteckt hatte und nichts sah oder hörte. Die mollige Braune sprang mit einem überraschten Aufschrei zurück, aber Elaida hörte nicht einmal das.
Kleid oder nicht, sie kannte die junge Frau, die zur Amyrlin hineingegangen war. Min, die bei ihrem ersten Besuch in der Burg bereits soviel Zeit mit der Amyrlin verbracht hatte, obwohl niemand den Grund dafür kannte. Min, die so eng mit Elayne, Egwene und Nynaeve befreundet war. Die Amyrlin hielt den Aufenthaltsort der drei geheim. Da war Elaida ganz sicher. Alle Berichte, sie arbeiteten zur Strafe auf einem Bauernhof, stammten über drei oder vier Ecken letzten Endes von Siuan Sanche selbst. Aber durch diese Art der Verbreitung wurde alles so geschickt verschleiert, daß man ihr keine Lüge nachweisen konnte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß Elaidas gesamte Bemühungen, diesen Bauernhof zu finden, umsonst gewesen waren.
»Licht, versenge sie!« Einen Augenblick lang stand offene Wut in ihrem Gesicht. Sie war sich dabei nicht einmal sicher, ob sie Siuan Sanche damit meinte, oder die Tochter-Erbin. Das nahm sich nichts. Eine schlanke Aufgenommene hörte sie sprechen, sah ihr ins Gesicht und wurde so weiß wie ihr Kleid. Elaida schritt an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.
Von allem anderen abgesehen, machte es sie wütend, daß sie Elayne nicht aufspüren konnte. Elaida konnte manchmal Zukünftiges vorhersagen. Es geschah selten und war nur schwach ausgeprägt, aber immer noch mehr, als irgendeine Aes Sedai seit Gitara Moroso, die vor zwanzig Jahren gestorben war, von sich behaupten konnte. Das erstemal, als eine solche Weissagung über sie gekommen war — sie war damals noch eine Aufgenommene gewesen, aber immerhin clever genug, es für sich zu behalten — hatte sie gesehen, daß die königliche Familie von Andor der Schlüssel zur Niederlage des Dunklen Königs in der Letzten Schlacht sein werde. Sie hatte sich Morgase angeschlossen, sobald klar war, daß diese den Thron besteigen würde, und dann hatte sie geduldig, Jahr für Jahr, ihren Einfluß ausgebaut. Und nun konnte es sein, daß all ihre Mühen und Opfer — hätte sie sich nicht auf Andor konzentriert, wäre sie womöglich längst auf dem Amyrlin-Sitz — umsonst gewesen waren, weil sie Elayne nicht mehr finden konnte.
Sie zwang sich, wieder nur an das zu denken, was jetzt wichtig war. Egwene und Nynaeve stammten aus dem gleichen Dorf wie dieser eigenartige junge Mann, Rand al'Thor. Und Min kannte ihn ebenfalls, auch wenn sie versucht hatte, diese Tatsache zu verheimlichen. Rand al'Thor war der Schlüssel zu allem.
Elaida hatte ihn nur einmal in Andor gesehen — als angeblichen Schafhirten von den Zwei Flüssen — aber er sah genau aus wie ein Aielmann. Als sie ihn damals gesehen hatte, war eine Weissagung über sie gekommen. Er war ta'veren und gehörte zu diesen höchst seltenen Menschen, die nicht dem Willen des Rads der Zeit entsprechend in das Große Muster verwoben werden, sondern die statt dessen das. Muster zwangen, sich um sie herum neu zu formen, jedenfalls für eine bestimmte Zeit. Und Elaida hatte um ihn herum Chaos gesehen, Zersplitterung und Streit um Andor und vielleicht sogar noch größere Teile der Welt. Doch Andor mußte als Einheit erhalten bleiben, was auch geschehen mochte; davon hatte sie ihre allererste Weissagung überzeugt.
Es gab noch mehr Spuren, genug, um Siuan in ihrem eigenen Netz zu fangen. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, gab es drei Ta'veren und nicht nur einen. Alle drei aus dem gleichen Dorf, diesem Emondsfeld, und alle drei beinahe im gleichen Alter. Dieser seltsame Zufall hatte schon genug Gerede in der Burg ausgelöst. Und anläßlich Siuans Reise nach Schienar vor fast einem Jahr hatte sie alle drei gesehen und sogar mit ihnen gesprochen. Rand al'Thor. Perrin Aybara. Matrim Cauthon. Man schrieb es immer noch einem Zufall zu. Einfach ein ganz verrückter Zufall. Sagte man. Diejenigen, die das behaupteten, wußten nicht, was Elaida wußte.
Als Elaida den jungen al'Thor kennengelernt hatte, war es Moiraine gewesen, die ihn verschwinden ließ. Moiraine, die ihn und die anderen beiden Ta'veren in Schienar begleitet hatte. Moiraine Damodred, die Siuan Sanches engste Freundin in ihrer gemeinsamen Novizinnenzeit gewesen war. Wäre Elaida jemand gewesen, der Wetten abschließt, dann hätte sie darauf gewettet, daß sich niemand sonst in der Burg an diese Freundschaft erinnerte. An dem Tag, als sie zur Aes Sedai erhoben worden waren, am Ende des Aielkriegs, waren Siuan und Moiraine auseinandergegangen und hatten sich später wie eine Fremde gegenüber der anderen verhalten. Aber Elaida war eine der Aufgenommenen gewesen, die sich um diese beiden Novizinnen zu kümmern hatten, hatte sie unterrichtet und sie gescholten, wenn sie schlampig gearbeitet hatten, und sie erinnerte sich noch daran. Sie konnte kaum glauben, daß die beiden ihre Intrige damals bereits geplant hatten — al'Thor war bestimmt erst kurz davor geboren —, aber er war das Bindeglied zwischen ihnen. Das zu wissen, genügte ihr vollauf.
Was Siuan auch vorhaben mochte, sie mußte unbedingt daran gehindert werden. Aufruhr und Chaos verbreiteten sich auf allen Seiten. Es war sicher, daß der Dunkle König freikommen würde. Bei dem bloßen Gedanken daran schauderte Elaida und zog die Stola enger um ihre Schultern. Und die Burg war so in kleinliche Streitereien verwickelt, daß sie dem nichts entgegenzusetzen hatten. Die Burg mußte wieder frei sein, um die Fäden zu spinnen, an denen ganze Nationen hingen, und sie mußte frei sein von all den Schwierigkeiten, die Rand al'Thor aufbeschwor. Die Welt mußte jetzt zusammenstehen. Irgendwie mußte er daran gehindert werden, Andor zu zerstören.
Sie hatte niemandem anvertraut, was sie über al'Thor wußte. Sie hatte vor, wenn möglich, in aller Stille mit ihm fertigzuwerden. Der Saal der Burg sprach bereits davon, diese Ta'veren zu beobachten und sogar zu führen. Sie würden niemals zustimmen, die drei oder speziell diesen einen zu beseitigen, aber er mußte beseitigt werden. Zum Besten der Burg. Zum Besten der ganzen Welt.
Sie gab einen kehligen Laut von sich, fast ein Grollen. Siuan war immer schon eigensinnig gewesen, selbst als Novizin, und hatte sich für die Tochter eines armen Fischers eine Menge herausgenommen, aber wie konnte sie es wagen, die Burg in so etwas zu verwickeln, ohne dem Saal davon zu berichten? Sie wußte genausogut wie die anderen, was ihnen bevorstand. Es konnte höchstens dann noch schlimmer kommen, wenn...
Mit einem Mal blieb Elaida stehen und starrte ins Leere. Konnte es sein, daß dieser al'Thor... die Macht benützte? Oder einer der anderen? Wenn, dann wahrscheinlich al'Thor. Nein. Sicher nicht. Nicht einmal Siuan würde sich mit einem von der Sorte abgeben. Das konnte sie nicht. »Wer weiß, was diese Frau fertigbringt?« murmelte sie. »Sie war noch nie für den Amyrlin-Sitz geeignet.« »Führt Ihr Selbstgespräche, Elaida? Ich weiß ja, daß Ihr Roten außerhalb Eurer Ajah keine Freundinnen habt, aber sicher habt Ihr doch wenigstens Freundinnen innerhalb, mit denen Ihr reden könnt.« Elaida wandte sich um und musterte Alviarin. Die Aes Sedai mit dem edlen Schwanenhals sah ihr mit dieser unerträglichen Kühle und Selbstsicherheit in die Augen, die alle Weißen Ajah auszeichnete. Die Roten und die Weißen liebten sich nicht gerade; sie hatten tausend Jahre lang auf gegenüberliegenden Seiten des Burgsaals gesessen. Die Weißen hielten mit den Blauen zusammen, und Siuan war eine Blaue gewesen. Doch die Weißen waren stolz darauf, leidenschaftslos logisch zu denken.
»Geht ein Stück mit mir«, sagte Elaida. Alviarin zögerte und schloß sich ihr dann doch an.
Zuerst zog die Weiße Schwester mißbilligend die Augenbrauen hoch, als Elaida ihr sagte, was sie von Siuan glaubte, aber später runzelte sie doch nachdenklich die Stirn. »Ihr habt keinen Beweis dafür, daß sie etwas so... Ungebührliches tut«, sagte sie, als Elaida schließlich schwieg.
»Noch nicht«, sagte Elaida mit fester Stimme. Sie gestattete sich ein verkrampftes Lächeln, als Alviarin nickte. Ein Anfang war gemacht. Auf welche Art auch immer, Siuan würde davon abgehalten, die Burg zu zerstören.
Dain Bornhald stand gut versteckt in einer Gruppe hoher Lederblattbäume über dem Nordufer des Taren. Er warf den weißen Umhang mit der strahlenden goldenen Sonne auf der Brust zurück und hob die feste Lederröhre des Fernrohrs an sein Auge. Eine Wolke von Stechmichs surrte um sein Gesicht herum, doch er ignorierte sie. Im Dorf Taren-Fähre auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses standen hochgebaute Steinhäuser auf massiven Sockeln, die sie vor den Überflutungen in jedem Frühjahr schützten. Die Dorfbewohner hatten sich aus den Fenstern gelehnt oder standen auf Balkonen herum und beobachteten die dreißig Reiter in weißen Umhängen und glänzenden Rüstungen, die vor ihnen auf ihren Pferden saßen. Eine Delegation von Männern und Frauen aus dem Dorf verhandelte mit den Reitern. Genauer gesagt: sie lauschten Jaret Byar, soweit Bornhald erkennen konnte.
Bornhald konnte beinahe seines Vaters Stimme hören: Wenn du sie in dem Glauben läßt, sie hätten eine Chance, wird irgend ein Narr sie zu ergreifen versuchen. Dann muß wieder getötet werden und ein weiterer Narr wird versuchen, den ersten zu rächen, und wieder wird es Tote geben. Mach ihnen von Anfang an angst vor dem Licht, laß sie wissen, daß niemandem etwas geschieht, solange sie tun, was man ihnen sagt, und du bekommst keine Schwierigkeiten.
Seine Kiefer verkrampften sich bei dem Gedanken an seinen toten Vater. Er mußte deshalb noch etwas unternehmen, und zwar bald. Er war sicher, daß nur Byar wußte, warum er so bereitwillig dieses Kommando übernommen und sich in das fast vergessene Hinterland von Andor begeben hatte, und Byar würde den Mund halten. Byar war Dains Vater so treu ergeben gewesen wie ein Hund, und diese Loyalität hatte er nun auf Dain übertragen. Bornhald hatte keinen Augenblick lang gezögert, ihn zu seinem Stellvertreter zu ernennen, als Eamon Valda ihm dieses Kommando anvertraute.
Byar wendete sein Pferd und ritt auf die Fähre zurück. Sofort legten die Fährschiffer ab und begannen, den breitgebauten Kahn mit Hilfe eines über den Fluß gespannten schweren Seils hinüberzuziehen. Byar sah kurz die Männer am Seil an. Sie beobachteten ihn nervös, während sie die Fähre entlangstapften und dann zurückgingen, um das Seil erneut aufzunehmen. Es sah alles gut aus.
»Lord Bornhald?« Bornhald senkte das Fernrohr und blickte sich um. Der Mann mit dem harten Gesicht, der neben ihm erschienen war, stand stramm und starrte unter seinem kegelförmigen Helm stur geradeaus hervor. Selbst nach der schweren Anreise von Tar Valon, auf der Bornhald die Truppe ständig zu größerer Eile angetrieben hatte, glänzte seine Rüstung genauso sauber und fleckenlos wie der schneeweiße Umhang mit der strahlenden goldenen Sonne.
»Ja, Kind Ivon?« »Hundertschaftsführer Farran schickt mich, Lord Bornhald. Es sind die Kesselflicker. Ordeith sprach mit dreien von ihnen, Lord, und nun ist keiner der drei mehr auffindbar.« »Blut und Asche!« Bornhald fuhr auf dem Fuß herum und schritt zwischen die Bäume zurück mit Ivon auf den Fersen.
Außer Sichtweite vom Fluß nahmen die Reiter in ihren weißen Umhängen den gesamten Raum zwischen den Lederblattbäumen und einer Gruppe von Kiefern ein. Sie hielten ihre Lanzen mit der Lässigkeit langer Gewöhnung in den Händen oder hatten die Bögen über die Sattelhörner gehängt. Die Pferde stampften ungeduldig mit den Hufen und schlugen mit den Schweifen. Die Reiter warteten um einiges gelassener. Es war nicht das erste Mal, daß sie einen Fluß überqueren und ein unbekanntes Gelände betreten mußten, und diesmal würde sie niemand daran zu hindern suchen.
Auf einer großflächigen Lichtung hinter den Berittenen stand eine ganze Karawane der Tuatha'an, des Fahrenden Volks. Kesselflicker. Beinahe hundert pferdegezogene Wagen, wie kleine Schachtelhäuser auf Rädern, blendeten den Blick mit ihren unzähligen Farben und Farbtönen: Rot und Grün und Gelb und jede überhaupt vorstellbare Farbenkombination war da zu sehen, an der auch nur das Auge eines Kesselflickers seine Freude haben konnte. Die Menschen selbst trugen Kleidung, die ihre Wagen noch an Farbigkeit übertrafen. Sie saßen in einer großen Gruppe auf dem Boden und betrachteten die Berittenen mit eigenartig gelassenem Unbehagen. Ein weinendes Kind wurde schnell von seiner Mutter beruhigt. In der Nähe lag ein von Fliegen umschwirrter Haufen toter Hunde. Die Kesselflicker erhoben nicht einmal eine Hand, um sich zu verteidigen, und die Hunde waren wohl eher zur Abschreckung dagewesen, aber Bornhald wollte kein Risiko eingehen.
Er hatte nur sechs Mann für nötig gehalten, um die Kesselflicker zu bewachen. Doch sogar mit wachsamunbeweglichen Mienen wirkten sie noch verlegen. Keiner sah den siebten Mann an, der in der Nähe der Wohnwagen auf seinem Pferd saß — einen knochigen, kleinen Mann mit großer Nase in einem dunkelgrauen Rock, der trotz der Qualität seines Zuschnitts zu groß an ihm wirkte. Farran, ein bärtiger Brocken von Mann, der trotz seiner Größe und Breite leichtfüßig war, stand da und funkelte wütend alle sieben an. Der Hundertschaftsführer drückte eine im Kampfhandschuh steckende Hand zum Gruß ans Herz, überließ aber Bornhald das Reden.
»Auf ein Wort, Meister Ordeith«, sagte Bornhald ruhig. Der knochige Mann neigte den Kopf und sah Bornhald eine Weile stumm an, bevor er vom Pferd stieg. Farran grollte, doch Bornhald sprach leise weiter: »Drei der Kesselflicker sind unauffindbar, Meister Ordeith. Habt Ihr vielleicht Euren eigenen Vorschlag in die Tat umgesetzt?« Die ersten Worte, die Ordeith beim Anblick der Kesselflicker ausgesprochen hatte, waren gewesen: »Tötet sie. Sie sind zu nichts zu gebrauchen.« Bornhald hatte schon genug Männer getötet, aber die Nebensächlichkeit, mit der der kleine Mann das abtat, war ihm doch unheimlich.
Ordeith rieb sich mit dem Finger einen Nasenflügel. »Also, warum sollte ich sie wohl töten? Und das, nachdem Ihr mich derart angegangen seid, nur, weil ich es vorschlug.« Sein Lugarder Dialekt war heute besonders deutlich — auch etwas an dem Mann, das Bornhald störte.
»Dann habt Ihr ihnen wohl zu entkommen gestattet?« »Was das betrifft, habe ich ein paar von ihnen mitgenommen, so daß ich in Erfahrung bringen konnte, was sie wußten. Ungestört, versteht sich.« »Was sie wußten? Was beim Licht können Kesselflicker wissen, das uns nützen könnte?« »Das kann man nie sagen, bevor man sie nicht befragt hat, oder?« sagte Ordeith. »Ich habe keinem von ihnen besonders weh getan, und ich sagte ihnen, sie sollten sich zu ihren Wohnwagen zurückbegeben. Wer hätte auch gedacht, daß sie die Frechheit besitzen, trotz Eurer vielen Männer wegzulaufen?« Bornhald wurde bewußt, daß er mit den Zähnen knirschte. Seine Befehle hatten gelautet, daß er so schnell wie möglich mit diesem eigenartigen Burschen zusammentreffen solle, der ihm dann weitere Befehle übermitteln werde. Bornhald hatte nichts daran gepaßt, aber beide Papiere hatten das Siegel und die Unterschrift Pedron Nialls getragen, des kommandierenden Lordhauptmanns der Kinder des Lichts.
Zuviel war darin ungesagt geblieben, wie zum Beispiel Ordeiths genaue Bedeutung. Der kleine Mann befand sich hier, um Bornhald zu beraten, und Bornhald sollte mit ihm zusammenarbeiten. Ob Ordeith unter seinem Kommando stand, war offengeblieben. Zwischen den Zeilen war deutlich geworden, daß er die Ratschläge dieses Burschen beherzigen solle, und das gefiel ihm gar nicht. Selbst der Grund, warum man so viele Kinder in diese Hinterwäldlerregion sandte, war unklar. Natürlich sollte man Schattenfreunde aufspüren und das Licht ausbreiten —das war ja selbstverständlich. Aber beinahe eine halbe Legion ohne Erlaubnis in den Bereich Andors einzuschleusen... Der Orden riskierte eine Menge, falls die Königin in Caemlyn davon erfuhr. Es war zuviel, als daß es von den wenigen Antworten aufgewogen würde, die Bornhald erhalten hatte.
Es hing letzten Endes alles mit Ordeith zusammen. Bornhald konnte nicht verstehen, wieso der kommandierende Lordhauptmann diesem Manne vertraute. Er grinste so hinterhältig, hatte dazwischen schlimme Launen, starrte einen durchdringend an, und man war sich nie sicher, mit welcher Art von Mensch man da eigentlich sprach. Ganz zu schweigen davon, daß er mitten im Satz den Dialekt wechselte. Die fünfzig Kinder, die Ordeith begleitet hatten, waren selbst schon derart mürrisch und unausgeglichen, wie Bornhald es noch nie erlebt hatte. Er glaubte, Ordeith habe die Männer wohl selbst ausgewählt, um immer finstere Mienen um sich zu haben, und diese Wahl war charakteristisch für den Mann. Selbst sein Name, Ordeith, bedeutete in der Alten Sprache soviel wie ›Wurmholz‹. Sicher hatte Bornhald seine eigenen Gründe, die ihn hierher führten. Und so würde er eben mit diesem Mann zusammenarbeiten, wenn es nicht zu umgehen war. Aber nur soweit, wie unbedingt nötig.
»Meister Ordeith«, sagte er mit sorgfältig beherrschter Stimme, »diese Fähre ist der einzige Weg in das Gebiet der Zwei Flüsse hinein und wieder heraus.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Der Landkarte nach, die er in seinem Gepäck hatte, gab es keinen anderen Übergang über den Taren als gerade hier, denn die oberen Bereiche des Manetherendrelle, der dieses Gebiet nach Süden hin abgrenzte, wiesen keine einzige Furt auf. Im Osten lagen Sumpfgebiete und Moore. Trotzdem mußte es einen Weg nach Westen geben, über die Verschleierten Berge. Seine Landkarte endete aber am Rand der Bergkette. Das wäre allerdings wohl ein ziemlich schwieriger Übergang, bei dem möglicherweise viele seiner Männer den Tod finden könnten, und er hatte nicht die Absicht, Ordeith gegenüber diese wenn auch noch so geringe Möglichkeit zu erwähnen. »Wenn es Zeit wird, wegzureiten, und wenn wir Soldaten aus Andor vorfinden, die das andere Ufer halten, werdet Ihr mit den allerersten hinüberreiten. Es wird euch sicher interessieren, aus der Nähe zu erleben, wie schwer es ist, sich den Übergang über einen solch breiten Fluß zu erzwingen, ja?« »Das ist Euer erstes Kommando, nicht wahr?« In Ordeith' Tonfall lag eine Andeutung von Spott.
»Dies ist vielleicht der Karte nach ein Teil Andors, aber Caemlyn hat seit Generationen keinen Steuereinnehmer mehr so weit nach Westen geschickt. Selbst wenn diese drei plaudern... Wer glaubt schon drei Kesselflickern? Wenn Ihr glaubt, die Gefahr sei zu groß, dann vergeßt bitte nicht, wessen Siegel Eure Befehle tragen.« Farran sah Bornhald an und war sichtlich kurz davor, nach seinem Schwert zu greifen. Bornhald schüttelte ganz leicht den Kopf, und Farran ließ seine Hand sinken. »Ich habe vor, den Fluß zu überqueren, Meister Ordeith. Ich werde ihn überqueren, auch wenn ich im nächsten Moment höre, daß Gareth Bryne mit der Königlichen Garde bis Sonnenuntergang hier sein wird.« »Selbstverständlich«, sagte Ordeith, der sich plötzlich um Beruhigung bemühte. »Es wird hier genausoviel Ruhm zu ernten geben wie vor Tar Valon, das kann ich Euch versichern.« Seine tiefliegenden dunklen Augen schienen wieder ins Leere zu blicken. »Es gibt auch in Tar Valon Dinge, die ich haben will.« Bornhald schüttelte den Kopf. Und ich muß mit so was zusammenarbeiten.
Jaret Byar ritt heran und schwang sich neben Farran aus dem Sattel. Byar war genauso groß wie der Hundertschaftsführer und hatte ein langes Gesicht mit dunklen, tiefliegenden Augen. Er sah aus, als habe man jedes bißchen Fett aus seinem Körper herausgekocht. »Das Dorf ist gesichert, Lord Bornhald. Lucellin paßt auf, daß niemand durchschlüpfen kann. Sie haben sich beinahe in die Hosen gemacht, als ich das Wort Schattenfreunde erwähnte. Gibt keinen in ihrem Dorf, sagten sie. Die Leute weiter im Süden, denen könne man das aber zutrauen, sagten sie.« »Weiter im Süden also?« sagte Bornhald knapp. »Wir werden ja sehen. Führe dreihundert über den Fluß, Byar. Farrans Truppe zuerst. Der Rest soll hinter den Kesselflickern nachkommen. Und geht sicher, daß nicht noch mehr von denen verschwinden, ja?« »Wir werden die Zwei Flüsse verheeren«, unterbrach Ordeith ihr Gespräch. Sein schmales Gesicht war verzerrt, und Speichel tropfte ihm von den Lippen. »Wir werden sie auspeitschen und ihnen die Haut abziehen und ihre Seelen verbrennen! Ich habe es ihm versprochen! Jetzt wird er zu mir kommen! Er wird kommen!« Bornhald nickte Byar und Farran zu, sie sollten seinen Befehlen nachkommen. Ein Verrückter, dachte er. Der kommandierende Lordhauptmann hat mir einen Verrückten beigeordnet. Aber wenigstens werde ich den Weg zu Perrin von den Zwei Flüssen auf diese Art finden. Was ich auch tun muß: Ich werde meinen Vater rächen!
Von einer mit Säulen umgebenen Terrasse auf dem Gipfel eines Hügels aus blickte die Hochlady Suroth über das breite, unsymmetrische Becken des Hafens von Cantorin hinweg. Ihr Kopf war auf beiden Seiten glattrasiert, so daß nur in der Mitte ein übriggebliebener Streifen schwarzen Haares bis auf ihren Rücken fiel. Ihre Hände ruhten entspannt auf dem glatten Stein eines Geländers, das genauso jungfräulich weiß war wie ihre Robe mit ihren Hunderten von glitzernden Pailletten. Als sie unbewußt mit ihren beeindruckend langen Fingernägeln auf das Geländer klopfte, konnte man ein rhythmisches Klicken hören. Die Nägel an den beiden ersten Fingern jeder Hand hatte sie blau lackiert.
Eine leichte Brise wehte vom Aryth-Meer her und führte in ihrer Kühle mehr als nur einen Hauch von Salzgeruch mit sich. Hinter der Hochlady knieten zwei junge Frauen an der Mauer und hielten Fächer mit großen, weißen Federn bereit, falls die Brise sich legen würde. Zwei weitere Frauen und vier junge Männer vervollständigten die Reihe der niedergekauerten Dienstboten, die bereit waren, jeden ihrer Aufträge augenblicklich auszuführen. Alle acht waren barfuß und trugen durchscheinende Gewänder, um den Sinn der Hochlady für das Schöne durch die Grazie ihrer Bewegungen und die weichen Linien ihrer Körper zu erfreuen. Im Augenblick bemerkte Suroth die Diener jedoch nicht einmal, so als seien sie vertraute Möbelstücke.
Die sechs Totenwächter jedoch, die an jedem Ende der Säulenreihe aufgestellt waren, bemerkte sie sehr wohl. Sie standen starr wie Statuen da und hielten ihre Speere mit den schwarzen Quasten und die schwarzlackierten Schilde.
Diese Wächter waren gleichzeitig Symbol ihres Triumphes und der Gefahr, in der sie sich befand. Die Totenwächter dienten ausschließlich der Kaiserin und ihren erwählten Vertretern, und sie würden mit gleicher Hingabe für sie töten oder sterben, was auch notwendig sein mochte. Es gab ein Sprichwort: »Hoch droben sind die Pfade mit Dolchen gepflastert.« Ihre Fingernägel klickten auf der Steinbrüstung. Wie rasiermesserscharf doch die Schneide war, auf der sie wandelte.
Schiffe der Atha'an Miere, des Meervolks, füllten den inneren Hafen hinter dem Deich. Selbst die größten von ihnen wirkten viel zu schmal für ihre Länge. Ihre Takelage war durchtrennt, und die Masten und Ladebäume standen in verrückten Winkeln ab. Die Decks waren leer. Die Besatzungen befanden sich an Land und unter Bewachung, so wie alle von diesen Inseln, die in der Lage waren, auf die hohe See hinauszusegeln. Im Außenhafen lagen an die zwanzig plumpe, kastenförmige Schiffe der Seanchan. Weitere ankerten direkt vor der Hafeneinfahrt. Eines, die gerippten Segel voll im Wind gebläht, begleitete einen Schwarm kleiner Fischerboote zum Inselhafen zurück. Falls die kleinen Boote sich zerstreuen sollten, könnten vielleicht einige entkommen, aber auf dem Seanchan-Schiff fuhr eine Damane mit, und eine einzige Demonstration ihrer Kräfte hatte genügt, um jeden Gedanken an Flucht zu unterbinden. Auf einer Schlammbank in der Nähe der Hafeneinfahrt lag immer noch der verkohlte, zerschmetterte Rumpf eines der Schiffe des Meervolks...
Suroth wußte nicht, wie lange sie die Tatsache, daß sie diese Inseln besetzt hielt, vor dem übrigen Meervolk und den verfluchten Festländern noch geheimhalten konnte. Lange genug, sagte sie sich. Es muß einfach ausreichen.
Sie hatte so etwas wie ein Wunder vollbracht, als sie die meisten Überlebenden der Seanchan-Streitkräfte nach dem Debakel, in das Hochlord Turak sie geführt hatte, um sich sammelte. Fast alle der aus Falme entkommenen Schiffe hatten sich ihrem Kommando unterstellt, und niemand machte ihr das Recht streitig, die Hailene, die Vorgänger, zu befehligen. Falls ihr Wunder anhielt, würde niemand auf dem Festland auf die Idee kommen, daß sie sich hier befanden. Sie warteten, um schließlich doch die Länder wiederzugewinnen, zu deren Rückeroberung die Kaiserin sie ausgesandt hatte, um die Corenne, die Rückkehr, auf diese Art zu erzwingen. Ihre Spione erkundeten bereits die Möglichkeiten. Es würde nicht notwendig sein, zum Hof der Neun Monde zurückzukehren und sich bei der Kaiserin für ein Versagen zu entschuldigen, das nicht einmal ihres war.
Der Gedanke daran, sich vor der Kaiserin entschuldigen zu müssen, brachte sie zum Zittern. Eine solche Entschuldigung kam immer einer Demütigung gleich und war gewöhnlich schmerzlich, aber was sie so erzittern ließ, war die Möglichkeit, daß ihr am Ende der Tod verwehrt wurde und sie gezwungen sein könnte, weiterzumachen, als sei nichts geschehen, während jeder, Gemeine wie die vom Blute, von ihrer Erniedrigung wüßten. Ein gutaussehender junger Diener sprang auf und reichte ihr eine blaßgrüne Robe mit aufgestickten, leuchtend bunten Paradiesvögeln. Sie breitete ihre Arme aus, damit er sie ihr umlegen konnte, und nahm dabei kaum mehr von ihm wahr als von einem Staubkorn neben ihrem Samtpantoffel.
Um einer solchen Entschuldigung zu entgehen, mußte sie wieder einnehmen, was vor tausend Jahren verloren gegangen war. Und zu diesem Zwecke mußte sie mit dem Mann fertigwerden, der, wie ihre Spione auf dem Festland berichteten, behauptete, der Wiedergeborene Drache zu sein. Wenn ich keinen Weg finde, mit ihm fertigzuwerden, wird die Mißbilligung der Kaiserin noch meine geringste Sorge sein.
Sie wandte sich mit einer geschmeidigen Bewegung ab und betrat den langen Raum am Rande der Terrasse. Dessen Seeseite bestand fast nur aus Türen und hohen Fenstern, um selbst noch die geringste Brise zu nutzen. Suroth gefiel das helle Holz der Wände. Es hatte eine glatte Oberfläche und schimmerte wie Satin. Sie hatte die Möbel des alten Eigentümers, des ehemaligen Atha'an MiereGouverneurs von Cantorin, entfernen lassen und statt dessen standen nun ein paar hohe Stellwände im Raum, meist mit Bildern von Vögeln oder Blumen geschmückt. Zwei davon unterschieden sich von den anderen: Eine zeigte eine große, gefleckte Katze von den Sen T'jore, so groß wie ein Pony, und die andere einen schwarzen Bergadler mit kronenförmig aufgestelltem Kamm und schneeweißen Flügelenden. Die ausgebreiteten Schwingen maßen bestimmt volle sieben Fuß von einem Ende zum anderen. Solche Stellwände galten eher als vulgär, doch Suroth liebte Tiere. Da sie nicht in der Lage gewesen war, ihren Privatzoo mit über das Aryth-Meer zu bringen, hatte sie sich diese Stellwände anfertigen lassen, die zwei ihrer Lieblinge zeigten. Es hatte ihr nie gepaßt, wenn ihr irgend etwas verwehrt wurde.
Drei Frauen erwarteten sie so, wie sie sie zurückgelassen hatte. Zwei knieten und eine lag ausgestreckt auf dem blanken, glänzenden, in hellem und dunklem Holz gemusterten Fußboden. Die knienden Frauen trugen die dunkelblauen Kleider der Sul'dam. Auf der Brust und an den Seiten der Röcke waren rote Abzeichen mit gespaltenen, silbernen Blitzen aufgenäht. Eine der beiden, Alwhin, eine blauäugige Frau mit schmalem Gesicht und ewig mürrischer Miene, hatte die linke Hälfte ihres Kopfes kahlrasiert. Der Rest ihres Haares hing zu einem hellbraunen Zopf geflochten auf ihre Schulter herunter.
Suroth verzog kurz den Mund beim Anblick Alwhins. Keine Sul'dam war je zuvor zur So'jhin erhoben worden, einer der oberen Dienerinnen des Blutes, die diesen Rang weiter vererben durfte, und dann auch noch zur Stimme des Blutes! Doch in Alwhins Fall hatte es einen Grund gegeben. Alwhin wußte zuviel.
Trotzdem konzentrierte Suroth ihre Aufmerksamkeit auf die Frau in einfachem Dunkelgrau, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Um den Hals der Frau lag ein weites Halsband aus silbrigem Metall, das durch eine glänzende Leine aus dem gleichen Material mit einem Armband am Handgelenk der zweiten Sul'dam, Taisa, verbunden war. Durch Leine und Halsband — den Adam —konnte Taisa die in Grau gekleidete Frau vollkommen kontrollieren. Und sie mußte kontrolliert werden. Sie war eine Damane, eine Frau, die mit der Einen Macht umgehen konnte, und deshalb zu gefährlich, um frei herumzulaufen. Die Erinnerungen an die Heere der Nacht spukten auch nach tausend Jahren immer noch in den Köpfen der Seanchan herum, obwohl sie damals vernichtet worden waren.
Suroths Blick wanderte nervös zu den beiden Sul'dam. Sie vertraute keiner Sul'dam mehr, aber sie hatte keine andere Wahl. Keiner sonst konnte die Damane führen, und ohne die Damane... Das war undenkbar. Die Macht von Seanchan, ja die gesamte Macht des Kristallthrones, beruhte auf der Kontrolle über die Damane. Es gab zu viele Dinge, bei denen Suroth keine andere Wahl blieb, als daß sie sich gefügt hätte. So wie Alwhin, die zuschaute, als sei sie ihr ganzes Leben lang eine So'jhin gewesen. Nein: als sei sie selbst eine vom Blute und kniete nur dort, weil sie es so wollte.
»Pura.« Die Damane hatte einen anderen Namen gehabt, als sie, bevor sie in die Hände der Seanchan fiel, noch eine der verhaßten Aes Sedai gewesen war, aber Suroth kannte ihn nicht, und er war ihr auch gleich. Der Körper der grau gekleideten Frau spannte sich an, aber sie hob den Kopf nicht. Man hatte ihr auf besonders brutale Art das richtige Benehmen beigebracht. »Ich frage dich erneut, Pura. Wie hält die Weiße Burg diesen Mann unter Kontrolle, der sich der Wiedergeborene Drache nennt?« Die Damane bewegte ihren Kopf ein ganz klein wenig, genug, um Taisa einen verängstigten Blick zuzuwerfen. Falls ihre Antwort nicht zur Zufriedenheit der Fragerin ausfiel, konnte ihr die Sul'dam Schmerzen zufügen, ohne einen Finger zu rühren, allein mit Hilfe des A'dam. »Die Burg würde niemals versuchen, einen falschen Drachen zu kontrollieren, Hochlady«, sagte Pura schwer atmend. »Sie würden ihn gefangennehmen und einer Dämpfung unterziehen.« Taisa blickte Suroth verärgert und fragend an. Die Antwort war Suroths Frage ausgewichen und hatte vielleicht sogar angedeutet, daß eine vom Blute die Unwahrheit ausgesprochen habe. Suroth schüttelte leicht den Kopf, nur eine winzige seitliche Bewegung, da sie nicht warten wollte, bis sich die Damane von einer Strafe erholt hatte, und Taisa neigte unterwürfig den Kopf.
»Noch einmal, Pura: Was weißt du über Aes Sedai... « Suroth verzog den Mund, als sie sich durch das Aussprechen dieser Bezeichnung selbst beschmutzen mußte. »... Aes Sedai, die diesen Mann unterstützen? Ich warne dich. Unsere Soldaten kämpften in Falme gegen Frauen aus der Burg, Frauen, die dort die Macht einsetzten, also versuche nicht, das abzuleugnen.« »Pura... Pura weiß nichts davon, Hochlady.« Es lag Eindringlichkeit in der Stimme der Damane und auch Unsicherheit. Sie warf Taisa wieder einen ängstlichen Blick aus weit aufgerissenen Augen zu. Es war deutlich, daß sie verzweifelt darauf hoffte, daß man ihr Glauben schenke. »Vielleicht... Vielleicht die Amyrlin oder der Burgsaal... Nein, das würden sie nicht tun. Pura weiß es einfach nicht, Hochlady.« »Der Mann kann die Macht lenken«, sagte Suroth kurz angebunden. Die Frau auf dem Boden stöhnte auf, obwohl sie die gleichen Worte schon zuvor von Suroth gehört hatte. Dasselbe wieder auszusprechen verursachte Suroth beinahe Magenkrämpfe, aber sie ließ sich keinerlei Unruhe anmerken. Nur wenig von dem, was in Falme geschehen war, konnte das Werk von Frauen gewesen sein, die die Macht als Waffe einsetzten. Das hatten die Damane gefühlt, und die Sul'dam, die das dazugehörige Armband trugen, wußten es im gleichen Moment, wie sie immer wußten, was ihre Damane fühlte. Das hieß aber, es mußte das Werk dieses Mannes gewesen sein. Und das wiederum bedeutete, daß er unglaublich mächtig sein mußte. So mächtig, daß Suroth sich bereits ein- oder zweimal mit flauem Gefühl im Magen gefragt hatte, ob er vielleicht wirklich der Wiedergeborene Drache sein könnte. Das kann einfach nicht sein, sagte sie sich dann aber entschlossen. Und letzten Endes spielte das für ihre Pläne auch keine Rolle. »Es ist unmöglich zu glauben, daß selbst die Weiße Burg einen solchen Mann frei herumlaufen lassen würde. Wie halten sie ihn unter Kontrolle?« Die Damane lag schweigend da mit dem Gesicht am Boden. Ihre Schultern zuckten. Sie weinte.
»Antworte der Hochlady!« sagte Taisa in scharfem Ton. Taisa bewegte sich nicht, aber Pura keuchte und zuckte zusammen, als sei sie von einem Peitschenhieb getroffen worden. Der Schlag war durch den A'dam übermittelt worden.
»P-Pura weiß es n-nicht.« Die Damane streckte zögernd eine Hand aus, als wolle sie Suroths Fuß berühren. »Bitte. Pura hat gelernt, zu gehorchen. Pura sagt nur die Wahrheit. Bitte bestraft Pura nicht.« Suroth trat geschmeidig einen Schritt zurück und ließ sich ihren Ärger nicht anmerken. Daß sie von einer Damane zu einer überflüssigen Bewegung gezwungen wurde! Daß sie beinahe von einer berührt wurde, die die Macht lenkte! Sie fühlte den Wunsch in sich aufsteigen, ein Bad zu nehmen, als habe die Berührung tatsächlich stattgefunden.
Taisas dunkle Augen quollen ihr ob der Frechheit dieser Damane beinahe aus dem Kopf. Ihre Wangen liefen rot an vor Scham, daß so etwas geschehen konnte, während sie das Armband dieser Frau trug. Sie konnte sich kaum entscheiden, ob sie sich neben der Damane auf den Boden werfen und um Verzeihung bitten oder die Frau gleich an Ort und Stelle bestrafen solle. Alwhin blickte mit zusammengepreßten Lippen verächtlich drein. Ihre Miene ließ jedermann wissen, daß solche Dinge bestimmt nicht geschehen würden, wenn sie ein Armband trug.
Suroth hob einen Finger ein winziges Stück und gab damit ein Zeichen, das jede Sojhin von Kindheit an kannte: Sie sollten gehen.
Alwhin zögerte ein wenig, bevor sie das Zeichen deutete, und dann bemühte sie sich, ihren Fehler damit zu überspielen, daß sie Taisa grob anfuhr: »Entferne diese... Kreatur aus der Gegenwart der Hochlady Suroth. Und wenn du sie bestraft hast, geh zu Surela und sage ihr, daß du deine Untergebenen so schlecht unter Kontrolle hast, als hättest du noch nie ein Armband getragen. Sage ihr, daß du... « Suroth verbannte Alwhins Stimme aus ihrem Geist. Nichts davon war auf ihren Befehl hin gesagt worden, und Streitigkeiten zwischen den Sul'dam waren unter ihrer Würde. Sie wünschte, sie wüßte, ob Pura vielleicht doch irgend etwas verbarg. Ihre Spione hatten berichtet, daß die Frauen aus der Weißen Burg nicht lügen konnten. Es war nicht möglich gewesen, Pura auch nur zur einfachsten kleinen Lüge zu bewegen, zu sagen, daß ein weißer Schal schwarz sei, oder etwas Ähnliches. Doch daraus auf alle zu schließen war zu gefährlich. Manche mochten ja die Tränen der Damane akzeptieren und ihre Beteuerungen, nichts zu wissen, was auch ihre Sul'dam mit ihr anstellte. Aber keine von denen, die dazu bereit wären, hätte die Fähigkeiten, die notwendig waren, um die Seanchan bei der Rückkehr zu führen. Pura hatte vielleicht doch irgendwo noch eine kleine Kraftreserve und war schlau genug, um den Glauben auszunützen, daß sie nicht lügen könne. Keine der Frauen vom Festland, denen man das Halsband angelegt hatte, war wirklich in vollem Maße gehorsam und vertrauenswürdig, im Gegensatz zu den aus Seanchan mitgebrachten Damane. Keine von ihnen akzeptierte ihre neue Rolle wirklich endgültig wie die Seanchan-Damane. Wer wußte schon, welche Geheimnisse in einer verborgen lagen, die sich Aes Sedai genannt hatte?
Nicht zum erstenmal wünschte sich Suroth, sie hätte die andere Aes Sedai zur Verfügung, die man auf der TomanHalbinsel gefangen hatte. Wenn sie zwei befragen könnte, wäre es einfacher, sie beim Lügen oder Ausweichen zu ertappen. Aber dieser Wunsch war sinnlos. Die andere war möglicherweise tot, im Meer ertrunken, oder sie wurde am Hof der Neun Monde zur Schau gestellt. Ein paar der Schiffe, die Suroth nicht hatte um sich sammeln können, hatten bestimmt die Rückreise über das Meer angetreten, und es war durchaus möglich, daß sich diese Frau auf einem davon befand.
Auch sie selbst hatte vor beinahe einem halben Jahr ein Schiff mit sehr sorgfältig verfaßten Berichten losgeschickt, sobald sie sich ihrer Führungsrolle unter den ›Vorgängern‹ sicher war. Kapitän und Besatzung kamen aus Familien, die ihrer eigenen Familie gedient hatten, seit Luthair Paendrag sich zum Kaiser ausgerufen hatte, und das war vor beinahe tausend Jahren gewesen. Dieses Schiff auszusenden war ein reines Glücksspiel gewesen. Es konnte durchaus sein, daß die Kaiserin daraufhin jemand anderes herüberschickte, um Suroths Platz einzunehmen. Aber es nicht auszusenden wäre ein noch größeres Wagnis gewesen. Dann hätte nur ein totaler und überwältigender Sieg sie retten können. Und vielleicht nicht einmal der. Also wußte die Kaiserin, was in Falme geschehen war, wußte von Turoks vernichtender Niederlage und Suroths Absicht, weiterzumachen. Aber was hielt sie wohl von dem allem, und was beabsichtigte sie, daraufhin zu unternehmen? Das war ein größeres Problem als irgendeine Damane, was sie auch vorher gewesen sein mochte.
Und doch wußte die Kaiserin nicht alles. Das Schlimmste konnte man keinem Kurier anvertrauen, auch nicht dem loyalsten. Das würde nur zwischen Suroth und der Kaiserin selbst ausgesprochen werden, und Suroth hatte sich alle Mühe gegeben, diese Dinge geheimzuhalten. Nur vier waren noch am Leben, die das Geheimnis kannten, und zwei davon würden es niemals an jemand anderen weitergeben, jedenfalls nicht freiwillig. Nur drei weitere Tote könnten die Sache noch sicherer machen.
Suroth war nicht bewußt gewesen, daß sie diese letzten Worte laut ausgesprochen hatte, bis Alwhin sagte: »Und doch benötigt die Hochlady alle drei.« Die Frau zeigte die angemessen demütige Körperhaltung bis hin zu dem zu Boden gerichteten Blick. Trotzdem brachte sie es fertig, Suroth im Auge zu behalten und auf ein Zeichen zu warten, wie es sich gehörte. Auch ihre Stimme klang demütig. »Wer weiß schon, Hochlady, was die Kaiserin — möge sie ewig leben! — tun würde, wenn sie von dem Versuch erführe, ihr solches Wissen vorzuenthalten?« Statt ihr zu antworten, machte Suroth wieder diese kleine Geste, die ihr sagen sollte, sie müsse sich entfernen.
Wieder zögerte Alwhin. Diesmal aber mußte es Absicht sein. Die Frau nahm sich zuviel heraus! Dann verbeugte sie sich tief und schob sich rückwärts aus dem Raum.
Mit Mühe zwang Suroth sich wieder zur Ruhe. Die Sul'dam und die beiden anderen stellten ein Problem dar, das sie jetzt nicht lösen konnte, aber Geduld war eine Eigenschaft, die jemand vom Blute einfach besitzen mußte. Diejenigen, denen diese fehlte, endeten höchstwahrscheinlich im Turm der Raben.
Auf der Terrasse beugten sich die Diener ein wenig vor, um ihre Bereitschaft zu zeigen, als sie wieder hinausschritt. Die Soldaten standen weiter Wache, damit sie ungestört blieb. Suroth nahm ihren Platz an der Balustrade ein und blickte auf See hinaus in Richtung des Festlandes, das Hunderte von Meilen entfernt im Osten lag.
Diejenige zu sein, die die Vorgänger anführte und die Rückkehr einleitete, würde viel Ehre bringen. Vielleicht war sogar eine Adoption in die Kaiserliche Familie möglich, obwohl dieser Vorzug nicht ganz unproblematisch war. Gleichzeitig diejenige zu sein, die diesen Drachen gefangennahm, ob er nun falsch oder echt war, und dazu die Möglichkeit besaß, seine unglaubliche Macht zu beherrschen...
Aber falls... wenn ich ihn gefangen habe, übergebe ich ihn dann der Kaiserin? Das ist die Frage.
Wieder begann sie, mit ihren langen Fingernägeln auf das breite Steingeländer zu trommeln.