7

Richard hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. Weder in der vergangenen Nacht noch, was das anbetraf, in den letzten beiden Wochen hatte er viel Schlaf gefunden, von seinem Kampf mit den Mriswith ganz zu schweigen. Er war so müde, daß es ihm schwerfiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alle paar Schritte wechselten faulige Gerüche mit wohlduftenden ab, während er immer weiter in den Irrgarten aus verschlungenen Straßen eindrang, nahe an den Gebäuden blieb, das dichteste Gedränge mied und sich alle Mühe gab, der Richtung zu folgen, die ihm Fräulein Sanderholt beschrieben hatte. Hoffentlich hatte er sich nicht verirrt.

Stets zu wissen, wo er sich befand, und wie er an sein Ziel gelangen konnte, war für einen Führer Ehrensache, da Richard aber Waldführer gewesen war, mochte man es ihm verzeihen, wenn er sich in einer großen Stadt verlief. Außerdem war er kein Waldführer mehr und nahm auch nicht an, jemals wieder einer zu werden.

Aber er wußte, wo die Sonne stand, und wie verwirrend sich die Straßen und Gebäude auch gestalteten, mit ihren von Menschen wimmelnden Durchgangsstraßen, den dunklen Hinterhöfen und den Labyrinthen enger, sich windender Seitenstraßen zwischen uralten, fensterlosen, vollkommen planlos angelegten Häusern, Südosten blieb Südosten. Statt Königsbäumen oder Erhebungen im Gelände benutzte er einfach die größeren Gebäude als Markierungspunkte.

Richard schlängelte sich durch die Menschenmenge, vorbei an schäbig gekleideten Straßenhändlern mit Töpfen voller getrockneter Wurzeln, Körben mit Tauben, Fischen und Aalen, Köhlern, die, ihre Karren schiebend, in einem Singsang ihre Ware feilboten, vorbei an Käsehändlern in steifer, rotgelber Livree, Metzgerläden, in denen Schweine, Schafe und Wild aufgereiht an Haken hingen, Salzverkäufern, die Salz verschiedener Qualität und Beschaffenheit anboten, Ladeninhabern, die Brote, Pasteten und Gebäck, Geflügel, Gewürze, Säcke mit Getreide, Fässer mit Wein und Bier und hundert andere Dinge verkauften, die in Schaufenstern oder auf Tischen vor den Läden ausgebreitet lagen, vorbei an Leuten, die die Waren begutachteten, ein Schwätzchen hielten und sich über die Preise beklagten. Und dann bemerkte er das Flattern in seiner Magengrube, eine Warnung — jemand verfolgte ihn.

Plötzlich hellwach, bog er ab und blickte in ein Gedränge aus Gesichtern, erkannte aber keines wieder. Er hielt sein schwarzes Cape über sein Schwert, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenigstens schienen die allgegenwärtigen Soldaten sich nicht für ihn zu interessieren, auch wenn einige der D’Haraner, wenn er nahebei an ihnen vorüberging, den Kopf hoben, so als spürten sie etwas, wüßten aber nicht recht, woher es kam. Richard beschleunigte seine Schritte.

Das Flattern war so schwach, daß er dachte, seine Verfolger wären vielleicht noch so entfernt, daß sie ihn nicht gesehen hatten. Doch wie sollte er dann wissen, wer es war? Es konnte jedes der Gesichter sein, in die er sah. Er blickte zu den Dächern hoch, aber den einen, der ihn, wie er wußte, verfolgte, entdeckte er nicht. Statt dessen sah er nach dem Stand der Sonne, um nicht die Orientierung zu verlieren.

An einem Eckhaus blieb er stehen, beobachtete die Menschen, die die Straße hinauf- und hinunterströmten, und hielt Ausschau nach jemandem, der ihn beobachtete, der fehl am Platze wirkte oder ungewöhnlich, doch fiel ihm nichts Beunruhigendes auf.

»Einen Honigkuchen, edler Herr?«

Richard drehte sich zu einem kleinen Mädchen in einer zu großen Jacke um, das hinter einem wackeligen, kleinen Tisch stand. Er hielt sie für zehn oder zwölf, allerdings war er im Schätzen des Alters junger Mädchen nicht gut. »Wie bitte?«

Ihre Hand bot mit ausladender Geste die Waren auf dem Tisch an. »Einen Honigkuchen? Meine Großmutter macht sie selbst. Sie sind wirklich gut, das kann ich Euch versprechen, und kosten nur einen Penny. Möchtet Ihr einen kaufen, edler Herr, bitte? Ihr werdet es nicht bereuen.«

Auf dem Boden hinter dem Mädchen hockte auf einem Brett im Schnee eine stämmige, alte, in eine zerrissene, braune Decke gehüllte Frau. Grinsend sah sie zu ihm auf. Richard erwiderte das Lächeln halbherzig, horchte auf das Flattern in seinem Inneren und versuchte festzustellen, was er da spürte, welcher Art das düstere Vorzeichen war. Das Mädchen und die Alte lächelten hoffnungsvoll und warteten.

Richard blickte die Straße entlang und seufzte. Sein Atem hing wie eine kleine Dampfwolke in der Luft, bis der leichte Wind sie verwehte. Er kramte in seiner Tasche. Während seiner zwei Wochen langen Reise nach Aydindril hatte er herzlich wenig zu essen bekommen. Alles, was er besaß, war das Silber und Gold aus dem Palast der Propheten. Auch in seinem Rucksack im Palast der Konfessoren befand sich wahrscheinlich kein einziger Penny.

»Ich bin kein Herr«, sagte er und stopfte alles bis auf eine Silbermünze zurück in die Tasche.

Das Mädchen zeigte auf sein Schwert. »Jeder, der ein so feines Schwert besitzt, muß doch gewiß ein Herr sein.«

Die Alte hatte aufgehört zu lächeln. Die Augen auf das Schwert geheftet, rappelte sie sich auf.

Richard warf rasch sein Cape über das in Silber und Gold gearbeitete Heft und gab dem Mädchen die Münze. Sie betrachtete sie in ihrer Handfläche.

»Ich habe nicht genug Kleingeld, um darauf rauszugeben. Du meine Güte, ich weiß nicht mal, wieviel Kleingeld man dazu braucht. Ich habe noch nie eine Silbermünze in der Hand gehabt, Herr.«

»Ich hab’ dir doch gesagt, ich bin kein Herr.« Er lächelte, als sie aufsah. »Ich heiße Richard. Ich sag’ dir was, warum behältst du die Münze nicht einfach und betrachtest sie als Vorauszahlung, und jedesmal, wenn ich vorbeikomme, nun, dann gibst du mir noch einen von deinen Honigkuchen, bis das Silber aufgebraucht ist.«

»Oh, edler Herr … ich meine, Richard, vielen Dank.«

Das Mädchen gab die Münze strahlend seiner Großmutter. Die alte Frau untersuchte die Münze skeptisch und drehte sie zwischen den Fingern. »Eine solche Prägung habe ich noch nie gesehen. Ihr müßt von sehr weit her gekommen sein.«

Die Frau konnte unmöglich wissen, woher die Münze stammte — die Alte und die Neue Welt waren in den letzten dreitausend Jahren voneinander getrennt gewesen. »Das stimmt. Aber das Silber ist echt.«

Sie sah ihn mit blaßblauen Augen an, aus denen die Jahre alle Farbe herausgewaschen zu haben schienen. »Gestohlen oder geschenkt, mein Herr?« Als Richard die Stirn in Falten legte, machte sie eine Handbewegung. »Das Schwert, das Ihr dort habt, mein Herr. Habt Ihr es gestohlen oder wurde es Euch geschenkt?«

Richard sah ihr in die Augen und endlich verstand er. Eigentlich wurde der Sucher von einem Zauberer ernannt, da Zedd jedoch vor vielen Jahren aus den Midlands geflohen war, war das Schwert zur Beute derer geworden, die es sich leisten konnten, oder die in der Lage waren, es zu stehlen. Das Schwert der Wahrheit war durch selbsternannte Sucher in Verruf geraten, denen man besser nicht über den Weg traute. Sie hatten die Magie des Schwertes für ihre eigenen Zwecke eingesetzt und im Sinne jener, die der Klinge ihre Magie verliehen hatten. Seit Jahrzehnten war Richard der erste, der von einem Zauberer zum Sucher der Wahrheit ernannt worden war. Richard verstand die Magie, ihre fürchterliche Kraft und Verantwortung. Er war der wahre Sucher.

»Es wurde mir von jemandem Erster Ordnung überreicht. Ich wurde ernannt«, sagte er ernst.

Sie raffte die Decke an ihre dralle Brust. »Ein Sucher«, hauchte sie durch die Lücken, wo ihre Zähne hätten sein sollen. »Den Seelen sei Dank. Ein echter Sucher.«

Das kleine Mädchen, das die Unterhaltung nicht verstand, schaute auf die Münze in der Hand ihrer Großmutter, dann reichte sie Richard den größten Honigkuchen auf dem Tisch. Er nahm ihn lächelnd entgegen.

Die Alte beugte sich ein Stück über den Tisch vor und senkte die Stimme. »Seid Ihr gekommen, um uns von diesem Ungeziefer zu befreien?«

»Schon möglich.« Er probierte den Honigkuchen. Dann lächelte er das Mädchen erneut an. »Er ist wirklich so lecker, wie du versprochen hast.«

Sie grinste. »Hab’ ich Euch doch gesagt. Großmutter macht den besten Honigkuchen der ganzen Stentorstraße.«

Stentorstraße. Wenigstens war es ihm gelungen, die richtige Straße zu finden. Am Markt auf der Stentorstraße vorbei, hatte Fräulein Sanderholt gesagt. Er zwinkerte dem Mädchen zu, während er kaute. »Was für Ungeziefer?« fragte er die Alte.

»Mein Sohn«, erwiderte die Alte und deutete mit den Augen auf das Mädchen, »und ihre Mutter haben uns verlassen, um in der Nähe des Palastes zu bleiben und auf das versprochene Gold zu warten. Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollen arbeiten, aber sie meinten, ich sei nicht recht bei Verstand, man würde ihnen mehr geben, als sie verdienen könnten, wenn sie nur dort auf das warten würden, was man ihnen schuldet.«

»Wie kommen sie darauf, daß man ihnen etwas ›schuldet‹?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Weil irgend jemand aus dem Palast das gesagt hat. Gesagt hat, es stünde ihnen zu. Gesagt hat, es stünde allen Leuten zu. Manche, wie diese beiden, glauben daran. Das kommt der Faulheit meines Sohnes entgegen. Die jungen Leute sind heutzutage alle faul. Also sitzen sie da und warten, daß man ihnen etwas gibt, anstatt für das zu arbeiten, was sie brauchen. Sie streiten darum, wer zuerst Gold erhalten soll. Einige der Schwachen und Alten sind bei diesen Streitereien schon umgekommen.

Inzwischen arbeiten immer weniger, und die Preise steigen immer weiter. Wir können uns mittlerweile kaum noch genug Brot leisten.« Ihr Gesicht nahm einen verbitterten Ausdruck an. »Und das alles wegen dieser törichten Gier nach Gold. Mein Sohn hatte Arbeit, bei Chalmer, dem Bäcker, aber anstatt zu arbeiten wartet er darauf, daß man Gold an ihn verteilt, und sie wird immer hungriger.« Sie warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf das Mädchen und lächelte freundlich. »Aber sie arbeitet. Hilft mir, die Kuchen zu backen, jawohl, damit wir was zu essen haben. Ich lasse nicht zu, daß sie sich auf der Straße herumtreibt, wie inzwischen so viele von den anderen Kindern.«

Sie hob den Kopf und blickte ernst. »Sie sind das Ungeziefer, diese Kerle, die uns das Wenige nehmen, das wir verdienen oder uns mit unseren eigenen Händen erarbeiten, nur um es uns gleich darauf wieder zu versprechen. Und dann erwarten sie, daß wir für ihre Güte dankbar sind, diese Kerle. Sie verleiten gute Menschen zur Faulheit, damit sie uns beherrschen können wie Schafe an einem Trog, diese Kerle. Sie haben uns unseren Frieden und unsere Lebensart genommen. Selbst ein närrisches altes Weib wie ich weiß, daß faule Menschen nicht für sich selber denken können — sie denken nur an sich. Ich weiß nicht, was aus der Welt noch werden soll.«

Endlich schien ihr die Luft ausgegangen zu sein, und Richard deutete auf die Münze in ihrer Hand und schluckte einen Mundvoll Kuchen. »Fürs erste würde ich es zu schätzen wissen, wenn du mein Schwert vergessen würdest.«

Sie nickte verständnisvoll. »Wie Ihr wollt. Was immer Ihr verlangt, mein Herr. Mögen die guten Seelen mit Euch sein. Und verpaßt diesem Ungeziefer einen Schlag von mir.«

Richard ging ein Stück die Straße weiter, setzte sich einen Augenblick neben einem Durchgang auf ein Faß und biß von seinem Honigkuchen ab. Er war gut, aber Richard achtete eigentlich kaum auf den Geschmack, zumal ihm der Kuchen auch nicht half, das mulmige Gefühl in seinem Bauch zu verscheuchen. Das Gefühl war anders als bei den Mriswiths, wie er jetzt feststellte — eher glich es dem Gefühl, daß er immer dann bekam, wenn die Augen eines anderen auf ihm ruhten und die feinen Härchen in seinem Nacken sich aufrichteten. Genau das spürte er jetzt — jemand beobachtete und verfolgte ihn. Er ließ den Blick suchend über die Gesichter schweifen, entdeckte aber niemanden, der so aussah, als würde er sich für ihn interessieren.

Sich den Honig von den Fingern leckend, bahnte er sich einen Weg hinüber auf die andere Straßenseite, um Pferde herum, die Karren und Wagen zogen, und durch das dichte Gedränge der Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen. Manchmal war es, als schwimme man gegen den Strom. Der Lärm, das Rasseln von Ketten, das Stampfen der Hufe, das Scheppern der Fracht auf den Karren, das Ächzen der Achsen, das Knirschen festgetretenen Schnees, die Rufe der Straßenhändler, der laute Singsang der Marktschreier und das Summen der Gespräche, manche davon in Sprachen, die er nicht verstand — all das war zermürbend. Richard war die Stille seiner Wälder gewohnt, wo der Wind in den Bäumen oder das Murmeln eines Baches die lautesten Geräusche waren. Er war zwar oft nach Kernland gegangen, doch das war kaum mehr als ein kleiner Ort und kein Vergleich zu Städten wie dieser, die er seit Verlassen seiner Heimat gesehen hatte.

Richard vermißte die Wälder. Kahlan hatte versprochen, eines Tages mit ihm gemeinsam zu einem Besuch dorthin zurückzukehren. Er lächelte bei sich, als er an die wundervollen Orte dachte, zu denen er sie führen würde — die Aussichtspunkte, die Wasserfälle, die versteckten Bergpässe. Das Lächeln wurde noch breiter, als er sich vorstellte, wie erstaunt sie sein würde, und welches Glück sie erleben würden. Er mußte schmunzeln, als ihm dieses ganz besondere Lächeln einfiel, das sie außer ihm keinem schenkte.

Er vermißte Kahlan mehr, als er seine Wälder je vermissen konnte. Er wollte so schnell wie möglich zu ihr. Bald schon wäre es soweit, aber zuerst mußte er in Aydindril noch einige Dinge erledigen.

Auf einen Zuruf hin hob er den Kopf und stellte fest, daß er über seine Tagträumerei gar nicht darauf geachtet hatte, wo er hinlief, und ihn jeden Augenblick eine Soldatenkolonne niedertrampeln konnte. Der Kommandant fluchte und gab seinen Soldaten den Befehl, augenblicklich anzuhalten.

»Bist du blind! Was ist das für ein Narr, der einer Kolonne Reiter vor die Pferde läuft!«

Richard sah sich rasch um. Die Menschen waren alle vor den Soldaten zurückgewichen und taten offenbar ihr Bestes, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten niemals auch nur die Absicht gehabt, sich der Straßenmitte zu nähern. Sie gaben sich alle Mühe, die Existenz der Soldaten einfach nicht zu bemerken. Die meisten sahen aus, als hätten sie sich am liebsten unsichtbar gemacht.

Richard blinzelte zu dem Mann hinauf, der ihn angeschrien hatte, und spielte kurz mit dem Gedanken, sich selbst unsichtbar zu machen, bevor es Ärger gab und jemand verletzt wurde, doch dann fiel ihm das Zweite Gesetz der Magie ein: die besten Absichten bewirken oft das größte Unheil. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß, wenn man dann noch Magie hineinmischte, als Ergebnis leicht eine Katastrophe herauskam. Magie war gefährlich und mußte mit Bedacht angewendet werden. Rasch entschied er, es wäre klug und würde am besten wirken, sich einfach zu entschuldigen.

»Tut mir leid. Ich glaube, ich habe nicht darauf geachtet, wo ich hinlaufe. Verzeiht.«

Er konnte sich nicht erinnern, jemals Soldaten wie diese gesehen zu haben — alle auf Pferden, die in ordentlichen, präzisen Reihen standen. Die Rüstung jedes einzelnen der grimmig dreinblickenden Soldaten gleißte blendend in der Sonne. Neben den tadellos polierten Rüstungen blinkten auch ihre Schwerter, Messer und Lanzen. Jeder Soldat trug ein karminrotes Cape, das in exakter Manier über die Flanke seines weißen Pferdes drapiert war. Richard kamen sie vor wie Soldaten, die jeden Augenblick an einem großen König vorbeidefilieren würden.

Unter dem Rand seines glänzenden Helmes mit dem roten Busch aus Roßhaar hervorblickend, sah der Mann, der ihn angebrüllt hatte, wütend auf ihn herab. Er hielt die Zügel seines kräftigen, grauen Wallachs locker in der behandschuhten Hand und beugte sich vor.

»Aus dem Weg, du Schwachkopf, oder wir treten dich in den Staub, und damit hat sich’s.«

Richard erkannte den Akzent des Mannes. Es war der gleiche wie Adies. Er wußte nicht, aus welchem Land Adie stammte, aber offenbar kam dieser Mann aus derselben Gegend.

Achselzuckend trat Richard einen Schritt zurück. »Ich sagte doch, es tut mir leid. Ich wußte nicht, daß Ihr so dringende Geschäfte habt.«

»Den Hüter zu bekämpfen ist immer ein dringendes Geschäft.«

Richard trat noch einen Schritt zurück. »Da kann ich Euch nicht widersprechen. Bestimmt sitzt er jetzt zitternd in irgendeiner Ecke und wartete nur darauf, daß Ihr ihn überwältigt, also reitet am besten schnell weiter.«

Die Augen des Mannes nahmen einen kalten Glanz an. Richard versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, daß er zusammenzuckte. Wenn er doch nur lernen könnte, den Mund zu halten.

Richard hatte nie gerne gekämpft. Doch als Heranwachsender war er zur Zielscheibe anderer geworden, die sich beweisen wollten. Bevor man ihm das Schwert der Wahrheit gegeben und er durch es gelernt hatte, daß er seinem Zorn, den er stets fest unter Kontrolle hatte, manchmal Luft machen mußte, hatte er die Wut aufgebrachter Gegner oft mit einem Lächeln oder mit Humor besänftigen können. Richard war sich seiner Stärke bewußt, doch dieses Selbstbewußtsein verleitete ihn schnell, vorlaut zu sein. Manchmal schien es, als könnte er nichts dagegen machen, sein Mund bewegte sich ganz einfach, bevor der Verstand reagiert hatte.

»Du hast ein freches Mundwerk. Vielleicht bist du einer, dem der Hüter die Sinne verdreht hat.«

»Ich versichere Euch, Sir, Ihr und ich, wir kämpfen gegen denselben Feind.«

»Die Günstlinge des Hüters verbergen sich hinter ihrer Arroganz.«

Richard überlegte sich gerade, daß er keinen Ärger gebrauchen konnte und es an der Zeit sei, sich schnellstens zurückzuziehen, als der Mann Anstalten machte, abzusteigen. Im selben Augenblick wurde er von kräftigen Händen gepackt. Zwei riesenhafte Männer, je einer rechts und links hinter ihm, hoben ihn von den Füßen.

»Verzieht Euch, Geck«, meinte der hinter Richards rechter Schulter zu dem Reiter. »Das geht Euch nichts an.« Richard versuchte seinen Kopf zu drehen, konnte aber nur das braune Leder der d’Haranischen Uniformen der Männer sehen, die ihn von hinten festhielten.

Der Soldat erstarrte, sein Fuß hatte den Steigbügel gerade erst verlassen. »Wir stehen auf derselben Seite, Bruder. Dieser Mann muß verhört werden — und zwar von uns —, und dann muß ihm ein wenig Demut beigebracht werden. Wir werden —«

»Ich sagte, verzieht Euch!«

Richard öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Augenblicklich schoß der schwer muskelbepackte Arm des D’Haraners zu seiner Rechten unter einem dicken, dunkelbraunen wollenen Cape hervor. Als sich eine massige Hand wie eine Klammer über seinen Mund legte, sah Richard einen Reifen goldfarbenen Metalls gleich oberhalb des Ellbogens, dessen rasiermesserscharfe Dorne im Licht der Sonne blinkten. Diese Reifen waren tödliche Waffen, die dazu dienten, einen Gegner im Nahkampf aufzuschlitzen. Richard verschluckte sich fast an seiner eigenen Zunge.

Die meisten d’Haranischen Soldaten waren groß, doch diese zwei nicht nur einfach groß. Schlimmer noch, es waren auch nicht einfach reguläre d’Haranische Soldaten. Richard hatte solche Soldaten mit Reifen oberhalb des Ellenbogens bereits gesehen. Sie gehörten zu Darken Rahls Leibgarde. Darken Rahl hatte fast immer zwei dieser Männer um sich gehabt.

Die beiden hoben Richard mühelos in die Höhe. Er war so hilflos wie eine Stockpuppe. Auf seinem zweiwöchigen Eilritt nach Aydindril, als er zu Kahlan wollte, hatte er nicht nur wenig zu essen, sondern auch wenig Schlaf bekommen. Der Kampf mit den Mriswiths, nur wenige Stunden zuvor, hatte ihn fast seiner gesamten noch verbliebenen Kräfte beraubt, die Angst jedoch verlieh seinen Muskeln einen Rest von Energie. Gegen diese zwei reichte die nicht aus.

Der Mann auf dem Pferd machte erneut Anstalten, abzusteigen. »Ich sagte doch, der Mann gehört uns. Wir haben die Absicht, ihn zu verhören. Wenn er dem Hüter dient, wird er gestehen.«

Der D’Haraner an Richards linker Schulter knurrte bedrohlich. »Kommt runter, und ich schlage Euch den Kopf ab und spiele eine Partie Kegeln damit. Wir haben diesen Mann gesucht, und jetzt gehört er uns. Wenn wir mit ihm fertig sind, könnt ihr seinen Kadaver verhören, so lange Ihr wollt.«

Der Mann verharrte mitten im Absteigen und blickte wütend auf die D’Haraner hinab. »Ich sagte es schon, Bruder, wir stehen auf derselben Seite. Wir beide streiten gegen das Unheil des Hüters. Es ist nicht nötig, daß wir uns gegenseitig bekämpfen.«

»Wenn Ihr kämpfen wollt, dann tut es mit dem Schwert. Wenn nicht, verzieht Euch!«

Die annähernd zweihundert Reiter musterten die beiden D’Haraner, die keinerlei Regung zeigten, und Angst schon gar nicht. Schließlich waren sie nur zwei D’Haraner — kein schwieriges Problem, trotz ihrer Größe. Wenigstens hätte ein Narr dies denken mögen. Richard hatte überall d’Haranische Truppen in der Stadt gesehen. Es war möglich, daß sie beim ersten Anzeichen von Ärger sofort zur Stelle waren.

Die Reiter schienen wegen der anderen D’Haraner jedoch nicht sonderlich besorgt zu sein. »Ihr seid nur zu zweit, Bruder. Die Chancen stehen nicht gut.«

Der zu Richards Linken ließ seinen Blick beiläufig an der Reihe der Reiter entlangwandern, drehte den Kopf und spuckte aus. »Ihr habt recht, Geck. Egan hier wird zurücktreten, um die Chancen für Euch ein wenig auszugleichen, während ich mich um Euch und Eure phantasievoll kostümierten Soldaten kümmere. Aber Ihr solltet Eurer Sache sicher sein, ›Bruder‹, denn wenn Euer Fuß den Boden berührt, auf mein Wort, dann sterbt Ihr zuerst.«

Augen aus Eis, reglos und kalt, taxierten die beiden einen Augenblick lang, dann murmelte der Mann in der polierten Rüstung und dem karminroten Cape einen Fluch in einer fremden Sprache und ließ sein Gewicht zurück in den Sattel sinken. »Wir haben wichtigere Dinge zu erledigen. Das hier ist reine Zeitverschwendung. Er gehört Euch.«

Auf sein Winken hin jagte die Reiterkolonne die Straße hinauf, haarscharf vorbei an Richard und den beiden, die ihn festgenommen hatten. Richard mühte sich ab, aber die beiden, die ihn hielten, waren zu kräftig, und er bekam die Hand nicht an sein Schwert, als sie ihn forttrugen. Er suchte die Dächer ab, konnte aber nichts entdecken.

Die Menschen ringsum wandten sich ab, wollten mit dem ganzen Streit nichts zu schaffen haben. Als die beiden riesenhaften D’Haraner Richard von der Straßenmitte fortzerrten, sprangen die Menschen hastig zur Seite, so als hätten sie hinten im Kopf Augen. Sein gedämpftes, wütendes Geschimpfe ging im Lärm der Stadt unter. So sehr er es auch versuchte, er bekam keine Hand in die Nähe einer Waffe. So schwebte er über den Schnee hinweg, während seine Füße auf der Suche nach Halt ins Leere traten.

Richard mühte sich ab, doch bevor er Gelegenheit fand, darüber nachzudenken, was er als nächstes tun sollte, schleppten sie ihn in einen engen Durchgang zwischen einem Gasthaus und einem anderen Haus mit verschlossenen Läden.

Ganz hinten im Durchgang, im trüben Schatten, warteten vier dunkle, in lange Umhänge gehüllte Gestalten.

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