24

Phoebe ließ die Berichte auf ein schmales freies Plätzchen auf dem polierten Walnußholztisch fallen. »Verna, dürfte ich Euch eine persönliche Frage stellen?«

Verna kritzelte ihre Initialen unter einen Bericht aus der Küche, in dem Ersatz für die großen Kessel gefordert wurde. »Wir sind doch gute, alte Freundinnen, Phoebe. Du kannst mich alles fragen, was du willst.« Sie prüfte die Anforderung ein weiteres Mal, dann fügte sie über ihren Initialen eine Notiz hinzu, mit der sie die Erlaubnis verweigerte und statt dessen darauf bestand, daß die Kessel ausgebessert wurden. Verna ermahnte sich, zu lächeln. »Bitte.«

Phoebes rundliche Wangen wurden rot, während sie die Finger ineinander verschlang. »Nun, ich will Euch nicht kränken, wo Ihr jetzt in einer so hohen Stellung seid, aber ich könnte niemals jemand anderes fragen als eine Freundin wie Euch.« Sie räusperte sich. »Wie ist es, wenn man alt wird?«

Verna schnaubte verächtlich. »Wir sind im gleichen Alter, Phoebe.«

Sie wischte mit den Handflächen an ihren Hüften herum, während Verna wartete. »Nun ja … aber Ihr wart mehr als zwanzig Jahre fort. Um so viel seid Ihr gealtert, genau wie die Menschen außerhalb des Palastes. Ich werde annähernd dreihundert Jahre brauchen, um Euer jetziges Alter zu erreichen. Ihr seht aus wie eine Frau von fast … vierzig Jahren.«

Verna seufzte. »Ja, nun, das sind die Folgen einer Reise. Meiner Reise jedenfalls.«

»Ich will niemals auf eine Reise gehen und alt werden. Tut es am Ende weh, plötzlich so alt zu sein? Habt Ihr das Gefühl … ich weiß nicht, als wärt Ihr nicht mehr attraktiv, und das Leben nicht mehr süß? Ich mag es, wenn Männer mich begehrenswert finden. Ich will nicht alt werden … Das macht mir angst.«

Verna stieß sich vom Tisch ab und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Am allerliebsten hätte sie die Frau erwürgt, statt dessen atmete sie tief durch und rief sich ins Gedächtnis, daß es sich um die ernstgemeinte Frage einer Freundin handelte, die diese aus Unwissenheit gestellt hatte.

»Nun, das betrachtet wohl jeder auf seine ganz eigene Weise, aber ich kann dir verraten, was es für mich bedeutet. Ja, es schmerzt ein wenig, Phoebe, wenn man weiß, daß etwas dahin ist und niemals mehr zurückgewonnen werden kann — ganz so, als hätte ich nicht aufgepaßt und mir wäre meine Jugend gestohlen worden, während ich noch darauf warte, daß mein Leben beginnt. Aber der Schöpfer wiegt es auch mit etwas Gutem auf.«

»Mit etwas Gutem? Was kann schon Gutes daran sein?«

»Nun, im Innern bin ich immer noch ich selbst, nur weiser. Ich sehe mich und meine Ziele klarer. Ich weiß Dinge zu schätzen, die ich zuvor nie zu schätzen gewußt habe. Ich weiß genauer, was wichtig ist, wenn man das Werk des Schöpfers tut. Vermutlich könnte man sagen, ich bin zufriedener und mache mir weniger Gedanken, was andere über mich denken.

Zwar bin ich gealtert, doch das mindert mein Verlangen nach anderen keineswegs. Ich finde Trost bei Freunden, und, ja, um deine unausgesprochene Frage zu beantworten, ich sehne mich noch immer nach Männern, fast genau wie früher, nur bin ich jetzt viel aufgeschlossener für sie. Die Unerfahrenheit der Jugend interessiert mich weniger. Es reicht nicht, daß Männer jung sind, um meine Gefühle zu entfachen, und Naivität wirkt weniger anziehend.«

Mit großen Augen beugte Phoebe sich gespannt vor. »Wirklich? Ältere Männer erwecken bei Euch Gefühle des Verlangens?«

Verna hielt ihre Zunge im Zaum. »Mit ›älter‹, Phoebe, meine ich Männer, die älter sind als ich. Die Männer, die zur Zeit dein Interesse erregen — vor fünfzig Jahren wärst du nicht auf die Idee gekommen, mit einem Mann in deinem heutigen Alter auszugehen.

Doch jetzt kommt dir das ganz natürlich vor, weil du selbst in diesem Alter bist und dir die Männer in deinem Alter von damals unreif erscheinen. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

»Na ja … ich denke schon.«

Verna sah ihren Augen an, daß das nicht stimmte. »Als wir als junge Mädchen hierherkamen, so wie die beiden im Gewölbekeller gestern abend, die Novizinnen Helen und Valery, was hast du da von Frauen gedacht, die so alt waren wie du heute?«

Phoebe verbarg das Kichern hinter ihrer Hand. »Ich fand sie unglaublich alt. Ich hätte nie gedacht, selber mal so alt zu werden.«

»Und jetzt, wie erscheint dir dein Alter jetzt?«

»Ach, ich fühle mich überhaupt nicht alt. In diesen jungen Jahren war ich wahrscheinlich einfach dumm. Es gefällt mir, so alt zu sein, wie ich jetzt bin. Ich bin noch jung.«

Verna zuckte die Achseln. »Bei mir verhält es sich ganz ähnlich. Ich betrachte mich auch noch als jung. Doch kommen mir alte Menschen nicht mehr so alt vor, denn ich weiß jetzt, daß sie genauso sind wie du oder ich — sie sehen sich selbst genauso, wie du oder ich uns sehen.«

Die junge Frau rümpfte die Nase. »Ich glaube, ich weiß, was Ihr meint, aber alt will ich trotzdem nicht werden.«

»Phoebe, in der Welt draußen hättest du mittlerweile fast drei Leben gelebt. Dir — uns — ist durch den Schöpfer ein großes Geschenk zuteil geworden, da uns durch das Leben hier im Palast so viele Jahre zur Verfügung stehen. So haben wir die nötige Zeit, um die jungen Zauberer im Gebrauch ihrer Gabe auszubilden. Würdige das, was man dir geschenkt hat. Es ist eine seltene Wohltat, die nur wenigen Menschen vergönnt ist.«

Phoebe nickte langsam, und an ihren leicht zusammengekniffenen Augen konnte Verna erkennen, wie angestrengt die Schwester nachdachte. »Das ist sehr weise, Verna. Ich wußte gar nicht, daß Ihr so weise seid. Ich wußte immer, daß Ihr klug seid, aber weise fand ich Euch vorher nie.«

Verna lächelte. »Das ist einer der weiteren Vorzüge. Die Jüngeren halten einen für weise. Unter den Blinden ist die Einäugige Königin.«

»Aber das ist eine so schreckliche Vorstellung, mitansehen zu müssen, wie das Fleisch erschlafft und faltig wird.«

»Es geschieht allmählich, man gewöhnt sich langsam an das Alterwerden. Für mich ist die Vorstellung erschreckend, noch einmal in deinem Alter zu sein.«

»Warum denn das?«

Verna wollte sagen, weil es ihr angst machte, mit einem so unterentwickelten Verstand herumzulaufen, doch dann erinnerte sie sich ein weiteres Mal daran, wie lange sie und Phoebe schon Freundinnen waren. »Ach, vermutlich deshalb, weil ich durch einige Dornenhecken gegangen bin, die du noch vor dir hast, und ich weiß, wie sehr sie stechen.«

»Was für Dornen?«

»Ich glaube, sie sind für jeden Menschen anders. Jeder muß seinen eigenen Weg gehen.«

Phoebe faltete die Hände und beugte sich noch weiter vor. »Was waren die Dornen auf Eurem Pfad, Verna?«

Verna stand auf und drückte den Stöpsel wieder auf das Tintenfaß. Sie starrte auf ihren Schreibtisch, ohne ihn eigentlich wahrzunehmen. »Der schlimmste Dorn«, sagte sie mit entrückter Stimme, »war wohl der, zurückzukehren und erleben zu müssen, wie Jedidiah mich mit Augen wie den deinen ansah, Augen, die ein faltiges, vertrocknetes, unattraktives Weib erblickten.«

»Oh, bitte, Verna, ich wollte damit nicht sagen, daß ich —«

»Verstehst du, welcher Dorn sich dahinter verbirgt, Phoebe?«

»Na ja, weil man für alt und häßlich gehalten wird, natürlich, auch wenn Ihr eigentlich gar nicht so…«

Verna schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie hob den Kopf und sah der anderen in die Augen. »Nein, der Dorn war der, herauszufinden, daß Äußerlichkeiten alles sind, was jemals zählt, und daß das, was innen ist« — sie tippte sich an die Schläfe —, »keinerlei Bedeutung für ihn hatte, nur die äußere Hülle.«

Schlimmer noch als bei ihrer Rückkehr diesen Blick in Jedidiahs Augen zu sehen, war es gewesen, entdecken zu müssen, daß ihr Geliebter sich dem Hüter verschrieben hatte. Um Richard das Leben zu retten, da Jedidiah ihn töten wollte, hatte sie ihm ihren Dacra in den Rücken gestoßen. Jedidiah hatte nicht nur sie verraten, sondern auch den Schöpfer. Mit ihm war auch ein Teil von ihr gestorben.

Phoebe richtete sich auf, wirkte leicht verwirrt. »Ja, ich glaube, ich weiß, was Ihr meint, wenn Männer…«

Verna winkte ab. »Hoffentlich habe ich dir ein wenig helfen können, Phoebe. Mit einer Freundin zu sprechen, tut immer gut.« Sie verfiel in einen autoritären Ton. »Sind Bittsteller da, die mich sprechen wollen?«

Phoebe blinzelte. »Bittsteller? Nein, heute nicht.«

»Gut. Ich möchte beten und den Schöpfer um Unterweisung bitten. Du und Dulcinia, würdet ihr bitte die Tür abschirmen? Ich wünsche nicht gestört zu werden.«

Phoebe machte einen Knicks. »Natürlich, Prälatin.« Sie lächelte freundlich. »Danke, daß Ihr mit mir gesprochen habt, Verna. Es war wie in alten Zeiten auf unserem Zimmer vorm Einschlafen.« Ihr Blick wanderte zu den Stapeln mit Papieren. »Aber was wird aus den Berichten? Ihr geratet immer mehr in Rückstand.«

»Als Prälatin kann ich das Licht, das die Geschicke des Palastes und der Schwestern lenkt, nicht ignorieren. Ich muß auch für uns beten und Ihn um Seine Unterweisung bitten. Schließlich sind wir die Schwestern des Lichts.«

Der ehrfurchtsvolle Blick kehrte in Phoebes Augen zurück. Ihre alte Freundin schien zu glauben, daß Verna mit der Übernahme des Postens irgendwie übermenschlich geworden war und auf wundersame Weise mit dem Wirken des Schöpfers in Berührung stand. »Natürlich, Prälatin. Ich werde mich um den Schild kümmern. Niemand wird die Meditation der Prälatin stören.«

Bevor Phoebe durch die Tür war, rief Verna sie in ruhigem Tonfall noch einmal zurück. »Hast du schon etwas über Christabel in Erfahrung gebracht?«

Phoebe wandte plötzlich nervös den Blick ab. »Nein. Niemand weiß, wo sie hingegangen ist. Wir haben auch noch nichts darüber gehört, wohin Amelia oder Janet verschwunden sind.«

Die fünf, Christabel, Amelia, Janet, Phoebe und Verna, waren Freundinnen gewesen, waren im Palast zusammen aufgewachsen, Verna jedoch war Christabel am vertrautesten gewesen, auch wenn alle ein wenig neidisch auf sie waren. Der Schöpfer hatte sie mit wunderschönen blonden Haaren und einem hübschen Gesicht gesegnet, aber auch mit einem freundlichen und warmherzigen Wesen.

Es war beunruhigend, daß ihre drei Freundinnen offenbar verschwunden waren. Manchmal, wenn ihre Familien noch lebten, verließen die Schwestern den Palast für einen Besuch zu Hause, aber dafür benötigten sie zuerst eine Erlaubnis, außerdem waren die Eltern dieser drei sicher längst verstorben. Gelegentlich gingen Schwestern auch für eine Weile fort, nicht nur, um ihren Geist in der Welt draußen aufzufrischen, sondern auch, um nach endlosen Jahrzehnten im Palast etwas Abwechslung zu finden. Selbst dann erzählten sie den anderen fast immer, daß sie für eine Weile fort müßten und wohin sie gingen.

Von ihren drei Freundinnen hatte keine dies getan. Nach dem Tod der Prälatin hatte man nur plötzlich ihr Fehlen bemerkt. Verna tat das Herz vor Sorge weh, daß sie sie vielleicht einfach nicht als Prälatin akzeptieren konnten und sich statt dessen entschieden hatten, den Palast zu verlassen. Doch sosehr dies auch schmerzte, betete sie, daß es das war, was sich ihrer bemächtigt hatte, und nicht etwas Finstereres.

»Solltest du irgend etwas hören, Phoebe«, sagte Verna und versuchte, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen, »bitte komm und erzähle es mir.«

Als die Frau gegangen war, errichtete Verna ihren eigenen Schild an der Türinnenseite, einen Kontrollschild, den sie eigenständig entworfen hatte. Die zarten Fäden waren aus ihrem eigenen, einzigartigen Han gesponnen — eine Magie, die sie als die eigene erkennen würde. Wenn jemand versuchte, einzudringen, würde er den durchsichtigen Schild vermutlich nicht bemerken. Selbst wenn es ihm gelang, ihn zu entdecken, würde er die Fäden durch die bloße Suche nach einem Schild unvermeidlich zerreißen. Und wenn er dann versuchte, das Gewebe mit seinem eigenen Han zu reparieren, würde Verna auch das feststellen.


Verschwommenes Sonnenlicht sickerte durch die Bäume nahe der Gartenmauer und tauchte den stillen, bewaldeten Bereich des Zufluchtsortes in ein gedämpftes, träumerisches Licht. Das kleine Waldstück endete an einer Gruppe Lorbeerbäume, deren Äste schwer von haarigen, weißen Blüten waren. Der Pfad dahinter wand sich schlängelnd in ein wohlgepflegtes Fleckchen mit einem blau und gelb blühenden Bodengewächs, das Inseln aus größeren Farnen und Monarchenrosen umschloß. Verna brach einen Ast des Lorbeerbaumes ab und genoß voller Muße den würzigen Duft, während sie den Pfad entlangschlenderte und die Mauer absuchte.

Am hinteren Ende der Bepflanzung stand ein Dickicht aus glänzenden Sumachbäumen. Die Reihe kleiner Bäumchen war absichtlich so angeordnet, daß die hohe Mauer verdeckt wurde, welche den Garten der Prälatin schützte, um so die Illusion eines weitläufigeren Geländes zu erzeugen. Verna betrachtete die gedrungenen Stämme und die breitgefächerten Äste kritisch — vielleicht genügten sie, wenn sich nichts Besseres finden ließ. Dann ging sie weiter, denn sie war bereits spät dran.

Auf einem kleinen Nebenpfad auf der Rückseite jenes wildbewachsenen Fleckens, wo das Heiligtum der Prälatin verborgen stand, entdeckte sie eine vielversprechende Stelle. Sie raffte ihr Kleid hoch und schlug sich durch das Gestrüpp zur Mauer durch. Perfekt! Nach allen Seiten hin hinter Fichten versteckt, lag ein kleines, sonnenbeschienenes Fleckchen, wo Birnenbäume an der Mauer Spalier standen. Sie waren zwar alle beschnitten und gestutzt, einer aber schien besonders gut geeignet — die Äste zu beiden Seiten wechselten sich ab wie Sprossen einer Leiter.

Verna wollte gerade ihre Röcke hochnehmen und zu klettern beginnen, als die Oberfläche der Rinde ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie rieb mit dem Finger über die Oberseite der kräftigen Äste und stellte fest, daß sie sich hart und rauh anfühlte. Es schien ganz so, als sei sie nicht die erste, die heimlich den Garten der Prälatin verlassen wollte.

Sie kletterte auf die Mauerkante und vergewisserte sich, daß keine Wachen in Sichtweite waren, dann sah sie auf der anderen Seite praktischerweise die Querverstrebung eines Stützpfeilers, über die man bequem hinuntersteigen konnte, dann eine Schindel mit einer Abflußrinne, einen vorstehenden Zierstein, einen niedrigen, vorstehenden Ast einer Raucheiche und schließlich, keine zwei Fuß von der Mauer entfernt, einen runden Felsen, von dem bis zum Boden es ein einfacher Hüpfer war. Sie bürstete Rinde und Blätter vom Kleid ab, zog es an den Hüften zurecht und ordnete den schlichten Kragen. Den Ring der Prälatin ließ sie in die Tasche gleiten. Als sie ihr schweres, schwarzes Tuch um ihren Kopf drapierte und unterm Kinn befestigte, mußte Verna grinsen, weil sie einen geheimen Weg aus ihrem papierenen Gefängnis gefunden hatte.

Überrascht stellte sie fest, daß das Palastgelände ungewöhnlich menschenleer war. Wachen patrouillierten auf ihren Posten, und Schwestern, Novizinnen und junge Burschen mit Halsring waren überall auf den Pfaden und gepflasterten Gehwegen zu sehen, wo sie ihren Geschäften nachgingen, nur wenige Stadtbewohner, die meisten von ihnen alte Frauen.

Jeden Tag strömten während der hellen Stunden des Tages Menschen aus der Stadt Tanimura über die Brücke auf die Insel Drahle, um bei den Schwestern Rat einzuholen, um bei Streitereien um Schlichtung zu ersuchen, um Wohltätigkeit zu erbitten, um Unterweisung in der Weisheit des Schöpfers zu erhalten und um in den Höfen überall auf der Insel ihre Andacht zu verrichten. Warum sie glaubten, hier ihre Andacht abhalten zu müssen, war Verna immer rätselhaft erschienen, sie wußte aber, daß diese Menschen das Zuhause der Schwestern des Lichts als heiligen Boden betrachteten.

Vielleicht erfreuten sie sich einfach der Schönheit des Palastgeländes.

Jetzt erfreuten sie sich nicht daran. Es waren praktisch keine Menschen aus der Stadt zu sehen. Novizinnen, die man mit der Führung von Besuchern betraut hatte, schlichen gelangweilt hin und her. Wachen an den Toren zu den verbotenen Bereichen des Palastes schwatzten miteinander, und die, die in Vernas Richtung blickten, sahen nichts weiter als eine Schwester die ihren Geschäften nachging. Auf den Rasenflächen tummelten sich keine Ruhe suchenden Gäste, die architektonischen Gärten erfreuten niemanden mit ihrer Pracht, und die Brunnen spieen und plätscherten ohne die Begleitung der erstaunten Laute der Erwachsenen oder des vergnügten Kindergeschreis. Selbst auf den Bänken saß kein Mensch.

In der Ferne schlugen ohne Unterlaß die Trommeln.

Verna fand Warren auf dem dunklen, flachen Felsen an, ihrem Treffpunkt am stadtseitigen Ufer des Flusses. Er warf seine Steine ins vorbeirauschende Wasser, auf dem einsam ein Fischerboot trieb. Warren sprang auf, als er sie kommen hörte.

»Verna! Ich wußte nicht, ob Ihr überhaupt noch kommen würdet.«

Verna beobachtete den alten Mann, der seine Haken mit Ködern versah, während sein Boot sachte unter seinen standfesten Beinen schwankte. »Phoebe wollte wissen, wie es ist, wenn man alt und runzlig wird.«

Warren bürstete sich das Hinterteil seines violetten Gewandes ab. »Warum sollte sie gerade Euch das fragen?«

Verna seufzte nur, als sie seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah. »Gehen wir.«

Der Weg durch die Stadt bis in die Vororte erwies sich als ebenso eigentümlich wie das Palastgelände. Zwar hatten einige Geschäfte in den wohlhabenden Stadtbezirken geöffnet und sogar gelegentlich einen Kunden, doch der Markt im ärmeren Teil der Stadt war verlassen, die Stände leer, die Feuerstellen kalt, die Schaufensterläden geschlossen. Unterstände waren menschenleer, die Webstühle in den Werkstätten verlassen und die Straßen still bis auf die stete, nervenaufreibende Allgegenwart der Trommeln.

Warren tat, als wäre an den gespenstisch leeren Straßen nichts Ungewöhnliches. Die beiden bogen in eine schmale, in tiefem Schatten liegende, staubige Straße ein, die von zerfallenen Gebäuden gesäumt wurde, und endlich hatte Verna genug und schäumte vor Wut über.

»Wo stecken denn alle! Was ist hier eigentlich los?«

Warren blieb stehen, drehte sich um und sah sie verdutzt an, wie sie dastand, die Fäuste auf den Hüften, mitten in der menschenleeren Straße. »Heute ist Ja’La-Tag.«

Sie starrte ihn mit finsterer Miene an. »Ja’La-Tag.«

Er nickte, während die Falten in seinem verwirrten Gesicht noch tiefer wurden. »Eben. Ja’La-Tag. Was dachtet Ihr denn, was aus all den…« Warren schlug sich an die Stirn. »Es tut mir leid, Verna. Ich dachte, Ihr wüßtet Bescheid. Wir haben uns mittlerweile so sehr daran gewöhnt, daß ich einfach vergessen habe, daß Ihr es nicht wissen könnt.«

Verna verschränkte die Arme. »Was denn nun?«

Warren kam zurück, um ihren Arm zu nehmen und sie zum Weitergehen zu bewegen. »Ja’La ist ein Spiel, ein Wettkampf.« Er deutete über seine Schulter. »Draußen in der Senke zwischen den beiden Hügeln am Stadtrand hat man ein großes Spielfeld errichtet, dort drüben ungefähr … nun, das muß vor schätzungsweise fünfzehn, zwanzig Jahren gewesen sein, als der Kaiser kam, um die Herrschaft zu übernehmen. Die Menschen sind alle vollauf begeistert.«

»Ein Spiel? Die ganze Stadt ist wie leergefegt, weil alle einem Spiel zuschauen?«

Warren nickte. »Ich fürchte ja. Bis auf einige wenige — meist ältere Leute. Sie verstehen es nicht und sind nicht sonderlich interessiert daran, aber sonst fast jeder. Es ist die reinste Volksleidenschaft. Kinder spielen es in den Straßen, kaum daß sie laufen können.«

Verna blickte in eine Seitenstraße und sah sich prüfend um, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Und was ist das für ein Spiel?«

Warren zuckte die Achseln. »Ich war bislang noch nie bei einem Spiel, da ich den größten Teil meiner Zeit in den Gewölbekellern verbringe, doch ich habe mich ein wenig in die Angelegenheit vertieft. Für Spiele habe ich mich schon immer interessiert und dafür, wie sie in das Gefüge der verschiedenen Kulturen passen. Ich habe alte Völker und ihre Spiele studiert, aber hier bekomme ich endlich die Gelegenheit, ein lebendiges Spiel mit eigenen Augen zu beobachten, also habe ich darüber nachgelesen und Erkundungen eingeholt.

Ja’La wird von zwei Mannschaften auf einem quadratischen Spielfeld gespielt, über das ein Schachbrettmuster gelegt wird. In jeder Ecke befindet sich ein Tor, zwei für jede Mannschaft. Die Mannschaften versuchen, den ›Broc‹ — einen schweren, mit Leder überzogenen Ball, ein wenig kleiner als ein Menschenkopf — in eines der Tore ihres Gegners zu befördern. Gelingt ihnen das, erhalten sie einen Punkt, und die andere Mannschaft kann sich ein Feld des Schachbrettmusters aussuchen, von dem aus sie ihrerseits nun einen Angriff starten kann.

Die Strategie ist mir nicht recht klar, sie wird ziemlich kompliziert, trotzdem scheinen Fünfjährige sie im Nu zu begreifen.«

»Wahrscheinlich, weil sie Spaß am Spielen haben und du nicht.« Verna band ihr Tuch auseinander und wedelte mit den Enden, um sich Luft zuzufächeln. »Was ist so interessant daran, daß sich alle dicht gedrängt in die pralle Sonne stellen, um es sich anzuschauen?«

»Wahrscheinlich, daß sie dafür ihre schwere Arbeit liegenlassen und einen Tag lang feiern können. Es bietet ihnen eine Entschuldigung dafür, zu jubeln und zu schreien, zu trinken und zu feiern, wenn die eigene Mannschaft gewinnt, oder zu trinken und sich gegenseitig zu trösten, wenn sie verliert. Alle geraten darüber ziemlich außer Rand und Band. Vielleicht mehr, als ihnen guttut.«

Verna spürte, wie eine erfrischende Brise ihren Nacken kühlte und dachte einen Augenblick darüber nach. »Das klingt doch alles recht harmlos.«

Warren sah sie aus den Augenwinkeln an. »Es ist ein blutiges Spiel.«

»Blutig?«

Warren wich einem Kothaufen aus. »Der Ball ist schwer, und die Regeln sind locker. Die Männer, die Ja’La spielen, sind wüst. Natürlich, sie müssen geschickt im Umgang mit dem Broc sein, doch hauptsächlich werden sie wegen ihrer Muskelkraft und ihrer brutalen Aggressivität ausgesucht. Kaum ein Spiel geht vorbei, ohne daß wenigstens ein paar Zähne ausgeschlagen werden oder sich jemand die Knochen bricht. Nicht selten bricht sich sogar jemand den Hals.«

Verna starrte ihn ungläubig an. »Und den Menschen gefällt es, sich so etwas anzusehen?«

Warren bestätigte dies mit einem freudlosen Brummen. »Nach dem, was die Wachen mir erzählen, wird die Menge ungehalten, wenn kein Blut fließt, weil sie dann denken, ihre Mannschaft strenge sich nicht genügend an.«

Verna schüttelte den Kopf. »Also, das klingt nicht so, als würde ich mir das gerne ansehen.«

»Das ist noch nicht das Schlimmste.« Warren hielt den Blick nach vorn gerichtet, während er forschen Schritts die schattige Straße entlangging. Rechts und links waren die schmalen Fenster mit Läden verschlossen, die so verblichen waren, daß man kaum sagen konnte, ob man sie je gestrichen hatte. »Die Verlierermannschaft wird auf das Feld geholt, wenn das Spiel vorüber ist, und dann wird jeder einzelne ausgepeitscht. Ein Schlag mit einer großen Lederpeitsche für jeden gegen sie erzielten Punkt, verabreicht von der Siegermannschaft. Zwischen den Mannschaften herrscht eine erbitterte Rivalität. Es kann passieren, daß Männer durch das Auspeitschen zu Tode kommen.«

Verna schwieg wie betäubt, als sie um eine Ecke bogen. »Die Menschen bleiben, um sich das Auspeitschen anzuschauen?«

»Ich glaube, darauf haben sie es überhaupt nur abgesehen. Die gesamte Menge feuert die Siegermannschaft an und zählt die Zahl der Peitschenhiebe ab, während sie verabreicht werden. Dabei schlagen die Wellen der Gefühle ziemlich hoch. Die Menschen geraten über Ja’La richtig in Erregung. Manchmal kommt es zu Tumulten. Trotz Zehntausender Soldaten, die versuchen, Ordnung zu halten, kann es passieren, daß die Dinge außer Kontrolle geraten. Manchmal fangen die Spieler selbst die Schlägerei an. Die Männer, die Ja’La spielen, sind brutale Kerle.«

»Es gefällt den Menschen tatsächlich, eine Mannschaft von Rohlingen anzufeuern?«

»Die Spieler gelten als Helden. Ja’La-Spieler haben die Stadt praktisch in der Hand und können sich alles erlauben. Regeln und Gesetze gelten für Ja’La-Spieler nur selten. Massen von Frauen folgen den Spielern überall hin, und nach einem Spiel findet gewöhnlich eine Massenorgie statt. Frauen kämpfen darum, wer sich einem Ja’La-Spieler hingeben darf. Die Ausschweifungen ziehen sich tagelang hin. Mit einem Spieler zusammengewesen zu sein, ist eine hohe Ehre, um die so heftig gestritten wird, daß man für das Recht, sich damit zu brüsten, Zeugen braucht.«

»Warum?« war alles, was ihr dazu einfiel.

Warren warf die Hände in die Luft. »Ihr seid eine Frau, sagt Ihr es mir! Mir hat keine Frau die Hände um den Hals geschlungen, mir wollte keine Frau das Blut vom Rücken lecken, als ich nach dreitausend Jahren als erster wieder eine Prophezeiung entschlüsselt hatte.«

»Das tun sie?«

»Sie schlagen sich darum. Ist der Kerl mit ihrer Zunge zufrieden, kann es sein, daß er sie erwählt. Wie ich gehört habe, sind die Spieler ziemlich selbstherrlich, und es gefällt ihnen, daß sie die nur zu willigen Frauen zwingen können, sich die Ehre, unter ihnen zu liegen, zu verdienen.«

Verna schaute hinüber und sah, daß Warrens Gesicht rot glühte. »Sie wollen sogar mit den Spielern zusammen sein, die verloren haben?«

»Das spielt keine Rolle. Der Mann ist ein Ja’La-Spieler und damit ein Held. Je brutaler, desto besser. Die, die mit dem Ja’La-Ball einen Gegner getötet haben, genießen höchstes Ansehen und sind bei den Frauen äußerst begehrt. Die Leute nennen ihre Neugeborenen nach ihnen. Ich versteh’ das auch nicht.«

»Du hast nur mit einer kleinen Gruppe von Menschen Kontakt, Warren. Wenn du in die Stadt gingest, statt all deine Zeit unten in den Gewölben zu verbringen, würden Frauen auch mit dir Zusammensein wollen.«

Er tippte an den nackten Hals. »Würden sie, wenn ich noch einen Halsring hätte. Denn dann würden sie das Gold des Palastes an meinem Hals sehen, das ist alles. Sie würden nicht mit mir Zusammensein wollen, weil ich der bin, der ich bin.«

Verna schürzte die Lippen. »Manche Menschen finden Macht attraktiv. Wenn man selbst keine besitzt, kann Macht sehr verführerisch sein. So ist das Leben nun mal.«

»Das Leben«, wiederholte er mit einem mürrischen Brummen. »Ja’La, so nennen es alle, aber sein voller Name lautet Ja’La dh Jin — das Spiel des Lebens, in der alten Sprache der Heimat des Kaisers, Altur’Rang. Aber alle nennen es einfach nur Ja’La: das Spiel.«

»Was bedeutet Altur’Rang?«

»›Altur’Rang‹ stammt ebenfalls aus der alten Sprache. Es läßt sich nicht gut übersetzen, aber es bedeutet ungefähr ›die Erwählten des Schöpfers‹ oder die ›Menschen des Schicksals‹, irgendwas in dieser Art. Wieso?«

»Die Neue Welt wird von einem Gebirgszug mit dem Namen Rang’Shada geteilt. Das klingt, als sei es dieselbe Sprache.«

Warren nickte. »Ein Shada ist ein gepanzerter Kampfhandschuh mit Dornen. Rang’Shada würde in etwa bedeuten ›Kampffaust der Erwählten‹.«

»Ein Name aus dem alten Krieg vermutlich. Dornen, das träfe durchaus auf diese Berge zu.« Verna drehte sich der Kopf von Warrens Erzählung. »Ich kann kaum glauben, daß man ein solches Spiel erlaubt.«

»Erlaubt? Es wird gefördert. Der Kaiser hat seine eigene, persönliche Ja’La-Mannschaft. Heute morgen wurde bekanntgegeben, daß er seine Mannschaft bei seinem Besuch mitbringen und sie gegen die beste Mannschaft aus Tanimura antreten lassen wird. Nach allem, was ich mir zusammenreimen konnte, ist das eine ziemlich große Ehre. Alle sind deswegen völlig aus dem Häuschen.« Warren ließ den Blick schweifen, dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Die Mannschaft des Kaisers wird nicht ausgepeitscht, wenn sie verliert.«

Sie runzelte die Stirn. »Das Vorrecht der Mächtigen?«

»Nicht ganz«, meinte Warren. »Wenn sie verliert, werden sie alle enthauptet.«

Verna ließ die Enden ihres Tuches los. »Wieso sollte der Kaiser ein solches Spiel fördern?«

Warren lächelte geheimnistuerisch. »Ich weiß es nicht, Verna, aber ich habe meine Theorien.«

»Und die wären?«

»Nun ja, wenn man ein Land erobert hat, welche Probleme könnten sich da Eurer Ansicht nach ergeben?«

»Du meinst eine Rebellion?«

Warren strich sich eine Locke seines blonden Haars aus dem Gesicht. »Tumulte, Proteste, Unruhen, Aufstände und, ja, auch eine Rebellion. Erinnert Ihr Euch noch an die Zeit, als König Gregory regierte?«

Verna nickte, während sie eine alte Frau beobachtete, die, ein gutes Stück eine Seitenstraße hoch, Wäsche über ein Balkongeländer hängte. Sie war der einzige Mensch, den sie während der letzten Stunde zu Gesicht bekommen hatte. »Was war mit ihm?«

»Nicht lange nach Eurer Abreise übernahm die Imperiale Ordnung die Macht, und das war das Letzte, was wir von ihm hörten. Der König war beliebt, und Tanimura blühte damals, genau wie die anderen Städte im Norden unter seiner Herrschaft. Seit damals sind die Zeiten für die Mannschaft hart geworden. Der Kaiser ließ zu, daß die Korruption aufblühte, gleichzeitig ignorierte er wichtige Angelegenheiten der Wirtschaft und Justiz. All die Menschen, die Ihr hier gesehen habt, und die im Elend leben, sind Flüchtlinge aus kleineren Ortschaften, Dörfern und Städten, die damals geplündert wurden.«

»Für Flüchtlinge kommen sie mir recht ruhig und zufrieden vor.«

Warren zog die Augenbrauen hoch. »Ja’La.«

»Was soll das heißen?«

»Unter der Imperialen Ordnung haben sie nur wenig Hoffnung auf ein besseres Leben. Das einzige, auf das sie hoffen, von dem sie träumen können, ist es, ein Ja’La-Spieler zu werden.

Die Spieler werden nach Talent ausgewählt, nicht nach Rang und Namen. Die Familie eines Spielers braucht nie mehr Not zu leiden — er sorgt für sie — im Überfluß. Eltern halten ihre Kinder dazu an, Ja’La zu spielen, in der Hoffnung, daß sie bezahlte Spieler werden. Amateurmannschaften, nach Altersgruppen eingeteilt, fangen bereits mit Fünfjährigen an. Jeder, ganz gleich, aus welcher Gesellschaftsschicht er stammt, kann bezahlter Ja’La-Spieler werden. Sogar aus den Reihen der Sklaven des Kaisers sind schon Spieler hervorgegangen.«

»Aber das erklärt doch immer noch nicht diese Leidenschaft.«

»Mittlerweile gehört jeder zur Imperialen Ordnung. Treue der ehemaligen Heimat gegenüber ist verboten. Ja’La erlaubt den Menschen, sich über ihre Mannschaft mit irgend etwas verbunden zu fühlen — ihren Nachbarn oder ihrer Stadt. Der Kaiser hat das Ja’La-Spielfeld bezahlt — als Geschenk an die Menschen. Die Menschen werden von ihren Lebensumständen abgelenkt, auf die sie keinerlei Einfluß haben. So bietet der Kaiser ihnen ein Ventil, das ihn jedoch nicht gefährdet.«

Verna wedelte wieder mit den Zipfeln ihres Tuches. »Ich glaube, deine Theorie hat einen Haken, Warren. Von früher Jugend an spielen Kinder gerne Spiele. Die Menschen haben immer schon Spiele gespielt. Wenn sie älter werden, halten sie Wettbewerbe mit dem Bogen, Pferden und Würfeln ab. Spiele zu spielen ist ein Teil der menschlichen Natur.«

»Hier entlang.« Warren bekam ihren Ärmel zu fassen, deutete mit dem Daumen in eine enge Gasse, und führte sie dort hinein. »Und der Kaiser lenkt diese Neigung auf etwas um, das über diese Natur hinausgeht. Er muß sich keine Sorgen machen, daß die Menschen auch nur einen Gedanken an Freiheit oder auch nur einfach Gerechtigkeit verschwenden. Ihre Leidenschaft gilt jetzt Ja’La. Für alles andere sind sie blind.

Anstatt sich zu fragen, wieso der Kaiser kommt, und was dies für ihr Leben bedeutet, sind alle wegen Ja’La völlig aus dem Häuschen.«

Verna spürte, wie ihr flau im Magen wurde. Sie hatte sich bereits gefragt, wieso der Kaiser überhaupt kam. Es mußte einen Grund dafür geben, daß er den weiten Weg hierher machte, und sie glaubte nicht, daß er nur seiner Mannschaft beim Ja’La zusehen wollte. Er wollte irgend etwas anderes.

»Haben die Menschen eigentlich keine Angst, einen so mächtigen Mann oder seine Mannschaft zu besiegen?«

»Die Mannschaft des Kaisers ist sehr gut, hab’ ich gehört. Aber sie hat weder Privilegien noch erhält sie irgendeinen Vorteil. Der Kaiser fühlt sich nicht in seinem Stolz verletzt, wenn seine Mannschaft verliert, außer natürlich durch seine Spieler. Besiegt ein Gegner sie, würdigt der Kaiser ihr Geschick und gratuliert ihnen und ihrer Stadt. Die Menschen sind ganz versessen auf diese Ehre, die hochgelobte Mannschaft des Kaisers zu besiegen.«

»Ich bin seit ein paar Monaten zurück, und ich habe nie zuvor gesehen, daß die Stadt wegen dieses Spiels wie leergefegt war.«

»Die Saison hat gerade erst begonnen. Offizielle Spiele dürfen nur während der Ja’La-Saison gespielt werden.«

»Das widerspricht dann aber deiner Theorie. Wenn Ja’La von wichtigeren Dingen des Lebens ablenken soll, warum läßt man sie dann nicht die ganze Zeit über spielen?«

Warren bedachte sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Die Vorfreude verstärkt die Leidenschaft. Die Chancen in der kommenden Saison werden endlos diskutiert. Fängt die Saison dann endlich an, befinden sich die Menschen in einer aufgeheizten Stimmung wie ein junges Liebespaar, das sich nach einer Zeit der Trennung in die Arme fällt — ihr Verstand ist blind für alles andere. Würden die Spiele ständig fortgesetzt werden, würde das Verlangen abkühlen.«

Warren hatte offenbar lange und gründlich über seine Theorie nachgedacht. Verna glaubte zwar nicht recht daran, aber da er auf alles eine Antwort zu wissen schien, wechselte sie das Thema.

»Von wem hast du gehört, daß er seine Mannschaft mitbringt?«

»Von Meister Finch.«

»Warren, ich habe dich in die Stallungen geschickt, damit du dich nach den Pferden erkundigst, und nicht, damit du über Ja’La plauderst.«

»Meister Finch ist ein begeisterter Anhänger des Ja’La und war ganz aufgeregt wegen des heutigen Eröffnungsspiels, also hab’ ich ihn einfach reden lassen, um herauszufinden, was Ihr wissen wolltet.«

»Und? Hast du es herausgefunden?«

Sie blieben abrupt stehen und sahen hoch zu einem Schild, in das ein Grabstein, eine Schaufel und die Namen BENSTENT und SPROUL geschnitzt waren.

»Ja. Zwischen seinen Geschichten über die Zahl der Peitschenhiebe, die die andere Mannschaft erhalten würde, und darüber, wie man mit Wetten gutes Geld verdienen kann, verriet er mir, daß die fehlenden Pferde schon seit einiger Zeit verschwunden sind.«

»Gleich nach der Wintersonnenwende, möchte ich wetten.«

Warren legte die Hand an die Augen und sah durch das Fenster. »Die Wette würdet Ihr gewinnen. Vier seiner kräftigsten Pferde sind verschwunden, Zaumzeug aber nur für zwei. Die Pferde sucht er noch immer und schwört, daß er sie finden wird, aber das Zaumzeug, glaubt er, wurde gestohlen.«

Hinter der Tür, aus dem Hintergrund des dunklen Raumes, hörte sie eine Feile über Stahl kreischen.

Warren nahm die Hand vom Gesicht, sah sich auf der Straße um.

»Klingt, als gäbe es dort jemand, der kein begeisterter Anhänger des Ja’La ist.«

»Gut.« Verna verknotete das Tuch unter ihrem Kinn und zog die Tür auf. »Gehen wir rein und lassen uns von dem überraschen, was dieser Totengräber zu erzählen hat.«

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