5

Schwester Verna stand wie erstarrt vor den Flammen, aus deren Tiefe sich flüchtige Wirbel glitzernder Farben und schimmernder Strahlen voller schwankender Bewegungen lösten, Fingern gleich, die sich im Tanz verdrehten, die Luft ansogen, die im Vorüberziehen an ihren Kleidern riß, und die eine Hitze abstrahlten, die sie alle zurückgetrieben hätte, wären ihre Schilde nicht gewesen. Die riesige, blutrote Sonne stand halb aufgegangen über dem Horizont und nahm den Flammen, die die Leichen aufgezehrt hatten, endlich ein wenig von ihrem grellen Schein. Einige der Schwestern in ihrer Nähe schluchzten leise.

Wohl über einhundert Jungen und junge Männer standen um das Feuer, und doppelt so viele Schwestern des Lichts und Novizinnen standen dort, umringt von ihrem Kreis. Bis auf eine Schwester und einen jungen Mann, die symbolisch den Palast bewachten und natürlich jene Schwester, die verrückt geworden war und die man zu ihrem eigenen Besten in eine leere, abgeschirmte Zelle gesperrt hatte, standen sie alle auf dem Hügel oberhalb von Tanimura und sahen zu, wie die Flammen gen Himmel schlugen. Und trotz der Gegenwart so vieler Menschen wurde jeder einzelne von einer unergründlichen Einsamkeit ergriffen und stand zurückgezogen da, in sich gekehrt und ins Gebet vertieft. Wie vorgeschrieben, sprach während des Begräbnisrituals niemand ein Wort.

Schwester Verna schmerzte der Rücken, denn sie hatte die ganze Nacht über Totenwache gehalten. Sie alle hatten die Stunden der Dunkelheit hindurch dort gestanden und gebetet, hatten den gemeinsamen Schild über den Toten als symbolischen Schutz für die Verehrten aufrechterhalten. Wenigstens waren sie für eine Zeit von dem unaufhörlichen Getrommel unten in der Stadt fortgekommen.

Beim ersten Licht hatte man den Schild fallen lassen, und jede Schwester hatte einen Strom ihres Han in den Scheiterhaufen geschickt und ihn damit entzündet. Feuer, gespeist von Magie, war durch die aufgeschichteten Scheite emporgeschossen und durch die beiden fest umhüllten Körper — der eine klein und gedrungen, der andere hochgewachsen und kräftig gebaut — und hatte ein Inferno göttlicher Macht entfaltet.

Sie hatten in den Gewölben nach Unterweisung suchen müssen, denn kein Lebender hatte je an dieser Zeremonie teilgenommen. Seit fast achthundert Jahren war sie nicht mehr durchgeführt worden — seit siebenhunderteinundneunzig, um genau zu sein — als zum letzten Mal eine Prälatin gestorben war.

Wie sie aus den alten Büchern erfahren hatten, stand es allein der Prälatin zu, daß man ihre Seele in einem geheiligten Begräbnisritual der Obhut des Schöpfers übergab. In diesem Fall jedoch hatten die Schwestern abgestimmt, um dem Einen, der so tapfer um ihre Errettung gekämpft hatte, dasselbe Privileg zu gewähren. In den Büchern hatte es geheißen, eine Ausnahme könne nur einstimmig bewilligt werden. Erhitzte Debatten waren nötig gewesen, um dies durchzusetzen.

Dem Brauch entsprechend wurde der Strom des Han zurückgenommen, als die Sonne sich schließlich in ihrer vollen Größe über dem Horizont entfaltet hatte und das Feuer mit dem Licht des Schöpfers überflutete. Nachdem sie ihre Kraft zurückgerufen hatten, fiel der Scheiterhaufen in sich zusammen, und zurück blieb nur ein Haufen Asche und einige verkohlte Scheite, die den Ort der Zeremonie auf der Kuppe des grünen Hügels markierten. Rauch stieg kräuselnd in die Höhe und löste sich in der Stille des beginnenden Tages auf.

Gräulich-weiße Asche — das war alles, was in der Welt der Lebenden von Prälatin Annalina und dem Propheten Nathan geblieben war. Es war vollbracht.

Wortlos entfernten sich die Schwestern, manche allein, andere legten tröstend einen Arm um die Schulter eines Jungen oder einer Novizin. Verlorenen Seelen gleich wanderten sie auf gewundenem Weg den Hügel hinab Richtung Stadt, zum Palast der Propheten, kehrten zurück in ein Zuhause ohne Mutter. Schwester Verna küßte ihren Ringfinger und überlegte, daß sie jetzt, da auch der Prophet tot war, wohl auch keinen Vater mehr hatten.

Sie faltete die Hände vor dem Bauch und sah gedankenverloren zu, wie die anderen in der Ferne verschwanden. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich mit der Prälatin zu versöhnen, bevor diese starb. Die Frau hatte sie benutzt, hatte sie gedemütigt und zugelassen, daß man sie für die Erfüllung ihrer Pflicht und das Befolgen von Befehlen zurückgestuft hatte. Obwohl alle Schwestern dem Schöpfer ergeben waren und das Verhalten der Prälatin einem größeren Wohl gedient haben mußte, schmerzte es, daß die Prälatin diese Treue ausgenutzt hatte. Sie war sich wie eine Närrin vorgekommen.

Prälatin Annalina war bei dem Angriff durch Schwester Ulicia, einer Schwester der Finsternis, verletzt worden und von da an nahezu drei Wochen bis zu ihrem Tod nicht mehr aus der Bewußtlosigkeit erwacht. Daher hatte Schwester Verna keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihr zu sprechen. Nathan allein hatte sich um die Prälatin gekümmert, hatte unermüdlich versucht, sie zu heilen, war schließlich aber gescheitert. Ein grausamer Schicksalsschlag, der auch ihn das Leben gekostet hatte. Ihr war Nathan immer sehr vital vorgekommen, doch offenbar war die Belastung wohl zu groß gewesen, schließlich war er an die tausend Jahre alt. Vermutlich war er in den gut zwanzig Jahren gealtert, in denen sie fortgewesen war, nach Richard gesucht und ihn schließlich zum Palast gebracht hatte.

Schwester Verna mußte lächeln, als sie an Richard dachte. Ihn vermißte sie ebenfalls. Er hatte sie bis an die Grenzen ihrer Geduld gereizt, doch auch er war ein Opfer der Pläne der Prälatin geworden, selbst wenn er das, was sie getan hatte, offenbar verstanden und akzeptiert und so keinen Groll gegen sie gehegt hatte.

Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, wenn sie daran dachte, daß Richards Geliebte, Kahlan, dieser entsetzlichen Prophezeiung zufolge vermutlich umgekommen war. Sie hoffte, es sei nicht der Fall. Die Prälatin war eine resolute Frau gewesen und hatte die Ereignisse im Leben einer großen Zahl von Menschen aufeinander abgestimmt. Schwester Verna hoffte, daß dies wahrhaftig zum Wohl der Kinder des Schöpfers geschehen war und nicht einfach nur den persönlichen Zielen der Prälatin gedient hatte.

»Ihr seht verärgert aus, Schwester Verna.«

Sie drehte sich um und erblickte den jungen Warren, der seine Hände in dem jeweils anderen Silberbrokatärmel seines tief violetten Gewandes gesteckt hatte. Sie sah sich um und merkte, daß sie beide allein auf der Hügelkuppe geblieben waren. Die anderen waren längst gegangen.

»Vielleicht bin ich das auch, Warren.«

»Und worüber, Schwester?«

Sie strich sich den dunklen Rock mit den Händen an den Hüften glatt. »Vielleicht bin ich nur über mich selbst verärgert.« Sie zog ihr hellblaues Tuch zurecht und versuchte das Thema zu wechseln. »Du bist so jung, was deine Studien anbetrifft, meine ich, daß ich noch immer Schwierigkeiten habe, mich daran zu gewöhnen, dich ohne deinen Rada’Han zu sehen.«

Als hätte sie ihn an etwas erinnert, fuhr er sich mit den Fingern über den Hals, über die Stelle, wo den größten Teil seines bisherigen Lebens der Halsring gesessen hatte. »Jung für die, die unter dem Bann des Palastes leben, vielleicht, aber wohl kaum für die Menschen in der Welt draußen — ich bin einhundertundsiebenundfünfzig, Schwester. Aber ich weiß es zu schätzen, daß Ihr mir den Halsring abgenommen habt.« Er löste seine Finger vom Hals und strich eine Strähne blondgelockten Haars zurück. »Es scheint, als sei die ganze Welt in den letzten paar Monaten auf den Kopf gestellt worden.«

Sie lachte stillvergnügt in sich hinein. »Ich vermisse Richard auch.«

Ein unbeschwertes Lächeln hellte seine Miene auf. »Wirklich? Es gibt nicht viele wie ihn, oder? Ich kann kaum glauben, daß es ihm gelungen ist, den Hüter daran zu hindern, aus der Unterwelt zu entkommen. Aber ganz sicher hat er den Geist seines Vaters aufgehalten und den Stein der Tränen an seinen rechtmäßigen Ort zurückgebracht, denn sonst wären wir alle von den Toten verschlungen worden. Um die Wahrheit zu sagen, ich war die ganze Wintersonnenwende über in kalten Schweiß gebadet.«

Schwester Verna nickte, so als wollte sie ihre Lauterkeit damit noch unterstreichen. »Offenbar sind die Dinge, die du geholfen hast ihm beizubringen, von Nutzen gewesen. Du hast deine Sache gut gemacht, Warren.« Sie betrachtete einen Augenblick lang prüfend sein sanftes Lächeln, dabei fiel ihr auf, wie wenig es sich über die Jahre verändert hatte. »Ich bin froh, daß du dich entschieden hast, noch eine Weile im Palast zu bleiben, obwohl man dir den Halsring abgenommen hat. So wie es aussieht, haben wir keinen Propheten.«

Er sah zu den Überresten des Feuers hinüber. »Den größten Teil meines Lebens habe ich in den Gewölben die Prophezeiungen studiert, und die ganze Zeit über wußte ich nicht, daß einige von einem lebenden Propheten oder gar von einem aus dem Palast selbst stammten. Ich wünschte, man hätte es mir gesagt. Ich wünschte, sie hätten mich mit ihm sprechen, mich etwas von ihm lernen lassen. Jetzt ist die Gelegenheit vertan.«

»Nathan war ein gefährlicher Mann, ein rätselhafter Mann, den keine von uns je voll verstehen, dem keine trauen konnte. Aber vielleicht war es falsch, dich daran zu hindern, ihn aufzusuchen. Du solltest wissen, daß die Schwestern es dir mit der Zeit, sobald du mehr Erfahrung gehabt hättest, erlaubt, wenn nicht sogar von dir verlangt hätten.«

Er sah zur Seite. »Aber jetzt ist die Gelegenheit vertan.«

»Warren, ich weiß, jetzt, da man dir den Halsring abgenommen hat, kannst du es kaum erwarten, hinaus in die Welt zu ziehen. Aber du hast gesagt, du hättest die Absicht, im Palast zu bleiben, wenigstens für eine Weile, um zu studieren. Im Augenblick ist der Palast ohne Propheten. Ich glaube, du solltest der Tatsache Rechnung tragen, daß deine Gabe sich auf diesem Gebiet sehr deutlich offenbart. Du könntest eines Tages ein Prophet werden.«

Ein sanfter Wind fuhr in seine Kleider, als er über die grünen Hügel hinüber zum Palast blickte. »Nicht nur meine Gabe, auch meine Interessen, meine Hoffnungen, hatten immer mit den Prophezeiungen zu tun. Erst in letzter Zeit habe ich angefangen, sie auf eine Weise zu verstehen wie niemand sonst, doch Prophezeiungen zu verstehen ist etwas anderes, als sie selbst zu machen.«

»Das braucht Zeit, Warren. Nun gut, als Nathan in deinem Alter war, war er bestimmt, was Prophezeiungen betrifft, nicht weiter fortgeschritten als du. Würdest du im Palast bleiben und deine Studien fortsetzen, ich bin sicher, in vier- oder fünfhundert Jahren könntest du ein ebenso großer Prophet sein wie Nathan.«

Eine ganze Weile erwiderte er nichts. »Aber dort draußen wartet eine ganze Welt. Ich habe gehört, in der Burg der Zauberer in Aydindril gibt es wichtige Bücher, und an anderen Orten auch. Richard meinte, im Palast des Volkes in D’Hara gebe es bestimmt jede Menge. Ich möchte lernen, und es gibt vieles zu lernen, was man hier jedoch nicht finden kann.«

Schwester Verna bewegte die Schultern hin und her, um die Schmerzen etwas zu lindern. »Der Palast der Propheten steht unter einem Bann, Warren. Wenn du ihn verläßt, wirst du genauso altern wie die Menschen draußen. Sieh doch, was aus mir in den kaum zwanzig Jahren geworden ist, in denen ich fort war. Obwohl wir nur ein Jahr auseinander geboren wurden, siehst du noch immer so aus, als solltest du an Heirat denken, und ich sehe so aus, als müßte ich bald ein Enkelkind auf meinen Knien wiegen. Jetzt, da ich zurück bin, werde ich wieder nach der Zeit des Palastes altern, was aber einmal verloren ist, kann ich nicht zurückgewinnen.«

Warren wendete den Blick ab. »Ich glaube, Ihr seht mehr Fältchen, als dort tatsächlich sind, Schwester Verna.«

Sie mußte gegen ihren Willen lächeln. »Wußtest du, Warren, daß ich einmal verliebt in dich war?«

Diese Mitteilung erstaunte ihn so, daß er einen Schritt zurücktaumelte. »In mich? Das könnt Ihr unmöglich ernst meinen. Wann?«

»Ach, das ist lange her. Gut über hundert Jahre, denke ich. Du warst so gelehrig und intelligent, und dazu all die blonden Locken. Und diese blauen Augen haben mein Herz höher schlagen lassen.«

»Schwester Verna!«

Als sie sah, wie sein Gesicht errötete, konnte sie ein vergnügtes Schmunzeln nicht unterdrücken. »Es ist lange her, Warren, und ich war jung, genau wie du. Es war eine vorübergehende Vernarrtheit.« Ihr Lächeln verflog. »Jetzt kommst du mir vor wie ein Kind, und ich sehe alt genug aus, um deine Mutter zu sein. Die lange Abwesenheit vom Palast hat mich nicht nur äußerlich altern lassen.

Dort draußen hast du ein paar kurze Jahrzehnte Zeit, soviel zu lernen, wie du kannst, dann wirst du alt und stirbst. Hier hättest du Zeit zu lernen und vielleicht ein Prophet zu werden. Man kann die Bücher von diesen Orten ausleihen und zum Studieren hierherschaffen.

Du bist das, was für uns einem Propheten am nächsten kommt. Nachdem die Prälatin und Nathan tot sind, weißt du möglicherweise mehr über die Prophezeiungen als jeder andere lebende Mensch. Wir brauchen dich, Warren.«

Er drehte sich ins Sonnenlicht, das von den Türmen und Dächern des Palastes schimmernd zurückgeworfen wurde. »Ich werde darüber nachdenken, Schwester.«

»Mehr verlange ich nicht, Warren.«

Mit einem Seufzer wandte er sich wieder um. »Und nun? Wer, glaubt Ihr, wird zur neuen Prälatin erkoren werden?«

Durch ihre Nachforschungen auf dem Gebiet des Begräbnisrituals hatten sie erfahren, wie kompliziert das Verfahren für die Auswahl einer neuen Prälatin war. Warren wußte das bestimmt, denn nur wenige kannten die Bücher in den Gewölbekellern so gut wie er.

Sie zuckte die Achseln. »Für diese Stellung braucht man ein ungeheures Wissen und äußerst viel Erfahrung. Das bedeutet, es wird wohl eine der älteren Schwestern sein müssen. Leoma Marsick wäre eine mögliche Kandidatin, oder Philippa, oder Dulcinia. Schwester Maren wäre natürlich eine Spitzenkandidatin. Es gibt jede Menge geeigneter Schwestern. Ich könnte wenigstens dreißig nennen, ich bezweifele allerdings, daß mehr als ein Dutzend eine ernsthafte Chance haben, Prälatin zu werden.«

Gedankenverloren rieb er sich mit dem Finger an der Nase. »Wahrscheinlich habt Ihr recht.«

Schwester Verna hegte keinen Zweifel daran, daß die Schwestern bereits um die Plätze im Wettbewerb, wenn nicht gar um den Platz ganz oben auf der Liste wetteiferten. Die weniger ehrwürdigen dagegen wählten ihre Favoriten und formierten sich, um ihre Wahl zu unterstützen, in der Hoffnung, mit einem einflußreichen Posten belohnt zu werden, wenn ihre Auserwählte Prälatin wurde. Sobald das Feld der Kandidatinnen kleiner wurde, würde man die einflußreicheren Schwestern, die sich noch nicht entschieden hatten, hofieren, bis man sie auf die Seite der einen oder anderen führenden Schwester gezogen hätte. Es war eine folgenschwere Wahl, eine, die sich auf den Palast über Hunderte von Jahren auswirken würde. Aller Voraussicht nach würde es ein erbitterter Kampf werden.

Schwester Verna seufzte. »Ich sehe der Auseinandersetzung nicht mit Freude entgegen, doch vermutlich muß das Verfahren so streng sein, damit die Stärkste Prälatin wird. Kann sein, daß es sich lange hinzieht. Möglicherweise werden wir monatelang, vielleicht ein ganzes Jahr, ohne Prälatin sein.«

»Wen werdet Ihr unterstützen, Schwester?«

Sie lachte bellend auf. »Ich! Jetzt siehst du wieder nur die Fältchen, Warren. Sie ändern nichts daran, daß ich zu den jüngeren Schwestern gehöre. Ich habe keinerlei Einfluß.«

»Nun, ich denke, Ihr solltet besser dafür sorgen, daß Ihr ein wenig Einfluß bekommt.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme, obwohl niemand in der Nähe war. »Die sechs Schwestern der Finsternis, die auf dem Schiff entkommen sind, habt Ihr die schon vergessen?«

Sie blickte ihm in die blauen Augen und runzelte die Stirn. »Was hat das damit zu tun, wer Prälatin wird?«

Warren raffte sein Gewand über dem Bauch zusammen und verdrehte sie ungestüm zu einem Knoten. »Wer sagt denn, daß es nur sechs waren? Was, wenn es im Palast noch eine weitere gibt? Oder noch ein Dutzend? Oder hundert? Schwester Verna, Ihr seid die einzige Schwester, der ich traue, daß sie eine wahre Schwester des Lichts ist. Ihr müßt etwas unternehmen, um sicherzustellen, daß keine Schwester der Finsternis Prälatin wird.«

Sie sah kurz zum fernen Palast hinüber. »Ich sagte dir doch, ich bin eine der jüngeren Schwestern. Mein Wort hat kein Gewicht, und die anderen glauben, die Schwestern der Finsternis seien allesamt entkommen.«

Warren wandte den Blick ab, versuchte, die Falten in seinem Gewand zu glätten. Plötzlich drehte er sich wieder um, die Stirn mißtrauisch in Falten gelegt.

»Ihr glaubt, ich habe recht, nicht wahr? Ihr glaubt, daß es im Palast noch Schwestern der Finsternis gibt.«

Sie sah ihm gelassen in seine von Leidenschaft erfüllten Augen. »Ich halte das zwar nicht für völlig ausgeschlossen, trotzdem gibt es keinen Grund anzunehmen, daß es so ist, und davon abgesehen ist dies nur eins von vielen Dingen, die man in Betracht ziehen muß, wenn —«

»Kommt mir nicht mit diesem nichtssagenden Gerede, das den Schwestern so leicht über die Lippen geht. Die Sache ist wichtig.«

Schwester Verna richtete sich auf. »Du bist ein Student, Warren, der zu einer Schwester des Lichts spricht, also zeige den gebührenden Respekt.«

»Ich benehme mich nicht respektlos, Schwester. Richard hat mir geholfen zu erkennen, daß ich für mich selbst und das, woran ich glaube, geradestehen muß. Außerdem seid Ihr es doch gewesen, die mir den Halsring abgenommen hat. Und wie Ihr schon gesagt habt, sind wir im selben Alter, Ihr seid nicht älter als ich.«

»Trotzdem bist du ein Student, der —«

»Der, wie Ihr selbst gesagt habt, wahrscheinlich mehr als jeder andere über Prophezeiungen weiß. Schwester, Ihr seid meine Schülerin. Ich gebe zu, über eine große Zahl von Dingen wißt Ihr mehr als ich, wie zum Beispiel über den Gebrauch des Han, aber über andere weiß ich mehr als Ihr. Ihr habt mir den Rada’Han teils auch deshalb abgenommen, weil Ihr wißt, daß es falsch ist, jemanden gefangenzuhalten. Ich respektiere Euch als Schwester, für das Gute, das Ihr tut, und für das Wissen, das Ihr habt, aber ich kein Gefangener der Schwestern mehr. Ihr habt meinen Respekt verdient, Schwester, nicht meine Unterwerfung.«

Eine ganze Weile sah sie ihm prüfend in die blauen Augen. »Wer hätte geahnt, was sich unter dem Halsring verbirgt.« Schließlich nickte sie. »Du hast recht, Warren. Ich fürchte, es gibt noch andere im Palast, die dem Hüter persönlich einen Eid auf ihre Seele geschworen haben.«

»Andere.« Warren sah ihr forschend in die Augen. »Ihr habt nicht ›Schwestern‹ gesagt, Ihr habt ›andere‹ gesagt. Damit meint Ihr auch junge Zauberer, nicht wahr?«

»Hast du Jedidiah schon vergessen?«

Er wurde ein wenig blaß. »Nein, ich habe Jedidiah nicht vergessen.«

»Wie du schon sagtest, wo es einen gibt, könnten auch noch andere sein. Durchaus möglich, daß sich einige der jungen Männer im Palast ebenfalls dem Hüter verschworen haben.«

Er beugte sich näher zu ihr und verdrehte erneut sein Gewand. »Was sollen wir dagegen tun, Schwester Verna? Wir dürfen keine Schwester der Finsternis Prälatin werden lassen, das wäre eine Katastrophe. Das darf nicht geschehen!«

»Und woher sollen wir das wissen, wenn sie sich dem Hüter verschworen haben? Sie beherrschen subtraktive Magie, wir nicht. Selbst wenn wir dahinterkämen, wer sie sind, wir könnten nichts dagegen tun. Es wäre, als griffe man in einen Sack und packte eine Viper beim Schwanz.«

Warren erbleichte. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«

Schwester Verna faltete die Hände. »Wir werden uns etwas einfallen lassen. Vielleicht wird der Schöpfer uns den Weg weisen.«

»Vielleicht können wir Richard dazu bringen, zurückzukehren und uns zu helfen, wie er es schon bei den sechs Schwestern der Finsternis getan hat. Die sechs sind wir wenigstens los. Die werden sich nie wieder blicken lassen. Richard hat ihnen Angst vor dem Schöpfer eingejagt und sie in die Flucht geschlagen.«

»Aber dabei wurde die Prälatin verletzt, woraufhin sie später zusammen mit Nathan starb«, erinnerte sie ihn. »Der Tod ist ständiger Begleiter dieses Mannes.«

»Aber nicht, weil er ihn mit sich bringt«, protestierte Warren. »Richard ist ein Kriegszauberer. Er kämpft für das, was rechtens ist, um den Menschen zu helfen. Ohne sein Eingreifen wären die Prälatin und Nathan nur die ersten Opfer all des Sterbens und der Zerstörung gewesen.«

Sie drückte seinen Arm, ihr Ton wurde sanfter. »Du hast natürlich recht. Wir alle sind Richard eine Menge schuldig. Aber ihn zu brauchen und ihn zu finden ist zweierlei. Meine Falten sind der Beweis dafür.« Schwester Verna nahm die Hand zurück. »Ich glaube nicht, daß wir auf jemand anderes zählen können als aufeinander. Wir werden uns etwas einfallen lassen.«

Warren fixierte sie mit düsterer Miene. »Das sollten wir auch — denn die Prophezeiungen enthalten unheilvolle Vorzeichen über die Herrschaft der nächsten Prälatin.«

Zurück in der Stadt Tanimura waren sie erneut umgeben vom unablässigen Klang der Trommeln, der aus verschiedenen Richtungen kam — ein dröhnender, dunkler, gleichförmiger Rhythmus, der tief in ihrer Brust zu vibrieren schien. Er war zermürbend und sollte es wohl auch sein.

Die Trommler und ihre Bewacher waren drei Tage vor dem Tod der Prälatin eingetroffen und hatten unverzüglich ihre riesigen Kesselpauken an verschiedenen Orten überall in der Stadt aufgestellt. Seit sie mit ihrem langsamen, gleichförmigen Trommelschlag begonnen hatten, hatte dieser nicht mehr aufgehört, weder bei Tag noch bei Nacht. Die Männer wechselten sich an den Trommeln ab, so daß sie niemals aussetzten, auch nicht für einen einzigen Augenblick.

Das alles beherrschende Geräusch hatte die Menschen in einen Zustand äußerster Gereiztheit versetzt. Alle waren nervös und brausten leicht auf, so als lauerte in den Schatten die Verdammnis, bereit zuzuschlagen. Anstelle des üblichen Geschreis, der Unterhaltungen, des Gelächters und der Musik hatte sich eine gespenstische Stille über alles gelegt — was die düstere Stimmung noch unterstrich.

An den Rändern der Stadt kauerten die Bedürftigen in den selbst errichteten Schuppen, statt sich zu unterhalten, kleine Gegenstände auf der Straße zu verhökern, Wäsche in Eimern zu waschen oder wie gewohnt auf kleinen Feuern zu kochen. Ladenbesitzer standen in den Türen oder an einfachen Plankentischen, die sie aufgestellt hatten, um ihre Waren auszubreiten, die Arme verschränkt, einen finsteren Ausdruck im Gesicht. Männer, die Karren zogen, gingen trübsinnig ihrer Arbeit nach. Wer etwas brauchte, tätigte den Einkauf hastig und prüfte die Waren bestenfalls flüchtig. Kinder klammerten sich an den Rock ihrer Mutter, während ihre Augen unruhig umherwanderten. Männer, die sie früher beim Würfeln oder anderen Spielen gesehen hatte, drückten sich an Mauern herum.

In der Ferne, im Palast der Propheten, schlug alle paar Minuten eine einzelne Glocke, so wie sie es die ganze vergangene Nacht über getan hatte und noch bis zum Sonnenuntergang tun würde, und kündete vom Tod der Prälatin. Die Trommeln dagegen hatten mit dem Tod der Prälatin nichts zu tun, sie kündigten die bevorstehende Ankunft des Kaisers an.

Schwester Verna sah einigen Leuten im Vorübergehen in die sorgenvollen Augen. Sie berührte die Köpfe der Menschen, die sich ihr in Gruppen auf der Suche nach Trost näherten und erteilte ihnen den Segen des Schöpfers. »Ich kenne nur Könige«, sagte sie zu Warren, »und nicht diese Imperiale Ordnung. Wer ist dieser Kaiser?«

»Sein Name ist Jagang. Vor zehn, vielleicht fünfzehn Jahren, ging die Imperiale Ordnung dazu über, Königreiche zu schlucken und sie unter ihrer Herrschaft zu vereinen.« Er strich sich nachdenklich mit einem Finger über die Schläfe. »Ihr müßt wissen, den größten Teil meiner Zeit habe ich mit Studieren in den Gewölbekellern verbracht, daher kenne ich die Einzelheiten nicht so genau, doch nach dem, was ich mir zusammengereimt habe, ist es ihnen rasch gelungen, die Alte Welt unter ihre Herrschaft zu bringen und zu vereinen. Der Kaiser hat noch nie Schwierigkeiten gemacht. Jedenfalls nicht hier, so weit oben in Tanimura. Er hält sich aus den Belangen des Palastes heraus und erwartet, daß wir uns aus seinen heraushalten.«

»Warum kommt er her?«

Warren zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil er diesen Teil seines Reiches besuchen möchte.«

Schwester Verna hatte gerade einer ausgezehrten Frau den Segen des Schöpfers erteilt, dann mußte sie einem Haufen frischen Pferdekots ausweichen. »Nun, ich wünschte, er würde sich beeilen und bald herkommen, damit dieses infernalische Getrommel aufhört. Jetzt machen sie das schon vier Tage lang, seine Ankunft steht sicher jeden Augenblick bevor.«

Warren sah sich um, bevor er sprach. »Die Palastwachen gehören zu den Soldaten der Imperialen Ordnung. Der Kaiser stellt sie aus Gefälligkeit zur Verfügung, da er nur seinen eigenen Leuten gestattet, Waffen zu tragen. Wie auch immer, ich habe mit einem der Posten gesprochen, und der erzählte mir, die Trommeln verkündeten lediglich, daß der Kaiser kommt, nicht, ob dies bald geschieht. Er sagte, beim Besuch des Kaisers in Branston seien die Trommeln zuvor fast sechs Monate lang erklungen.«

»Sechs Monate! Willst du damit sagen, wir müssen diesen Lärm sechs Monate lang ertragen!«

Warren raffte sein Gewand zusammen und stieg über eine Pfütze hinweg. »Nicht unbedingt. Vielleicht trifft er erst in ein paar Monaten ein, vielleicht morgen. Er läßt sich nicht dazu herab, anzukündigen, wann er eintrifft, nur daß er überhaupt kommt.«

Schwester Verna zog eine finstere Miene. »Na, wenn er nicht bald kommt, werden die Schwestern dafür sorgen, daß dieses infernalische Getrommel ein Ende hat.«

»Ich hätte nichts dagegen. Aber mit diesem Kaiser sollte man es sich besser nicht verscherzen. Ich habe gehört, er besitzt die größte Armee, die je aufgestellt wurde.« Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Den Großen Krieg eingeschlossen, der die Alte von der Neuen Welt getrennt hat.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Wozu braucht er eine solche Armee, wenn er doch bereits alle alten Königreiche erobert hat? Für mich klingt das wie müßiges Geschwätz von Soldaten. Soldaten geben immer gerne an.«

Warren zuckte die Schultern. »Die Posten haben mir erzählt, sie hätten sie mit ihren eigenen Augen gesehen. Sie meinten, wenn sich die Truppen der Imperialen Ordnung zusammenziehen würden, dann bedeckten sie den Erdboden in alle Richtungen, so weit das Auge reicht. Was denkt man im Palast darüber, daß er herkommt?«

»Bah. Im Palast interessiert sich niemand für Politik.«

Warren feixte. »Ihr habt Euch doch noch nie einschüchtern lassen.«

»Es ist unsere Aufgabe, uns um die Wünsche des Schöpfers zu kümmern, nicht die irgendeines Kaisers, das ist alles. Der Palast wird noch Bestand haben, wenn er längst abgetreten ist.«

Sie waren schon eine Weile schweigend weitergegangen, als Warren sich räusperte. »Wißt Ihr, vor langer Zeit, wir waren noch nicht lange hier, und Ihr wart noch Novizin … also, da war ich sehr angetan von Euch.«

Schwester Verna sah ihn ungläubig an. »Jetzt machst du dich über mich lustig.«

»Nein, es ist wahr.« Er errötete. »Ich fand, Euer lockiges braunes Haar war das schönste, das ich je gesehen hatte. Ihr wart klüger als die anderen und wußtet Euer Han sicher zu beherrschen. Ich glaubte, niemand sei Euch ebenbürtig. Ich wollte Euch bitten, mit mir zu studieren.«

»Warum hast du es nicht getan?«

Er zuckte die Achseln. »Ihr wart immer so selbstbewußt, so sicher. Ich nie.« Er strich sich verlegen das Haar zurück. »Außerdem hattet Ihr ein Auge auf Jedidiah geworfen. Verglichen mit ihm war ich ein Nichts. Ich habe immer geglaubt, Ihr würdet mich doch nur auslachen.«

Sie merkte, daß sie sich das Haar zurückstrich, und nahm den Arm herunter. »Nun, vielleicht hätte ich das auch getan.«

Dann besann sie sich ob ihrer Kränkung eines Besseren. »Menschen sind manchmal töricht, wenn sie jung sind.« Eine Frau mit einem kleinen Kind kam auf sie zu und fiel vor ihnen auf die Knie. Verna blieb stehen, um den beiden den Segen des Schöpfers zu erteilen. Die Frau bedankte sich bei ihr, dann eilte sie schnell von dannen, und Schwester Verna wandte sich wieder Warren zu. »Du könntest doch für zwanzig Jahre oder so fortgehen und diese Bücher studieren, die dich so interessieren, und mich dann altersmäßig einholen. Wir sähen wieder so aus, als wären wir im selben Alter. Dann könntest du mich fragen, ob du meine Hand halten darfst … so wie ich es mir damals von dir gewünscht habe.«

Sie sahen beide auf, als jemand nach ihnen rief. Hinter der wogenden Menschenmenge erblickten sie einen Soldaten der Palastwache, der winkend ihre Aufmerksamkeit zu erregen versuchte.

»Ist das nicht Kevin Andellmere?« fragte sie.

Warren nickte. »Ich frage mich nur, was ihn so in Aufregung versetzt hat.«

Atemlos setzte Schwertmann Andellmere über einen kleinen Jungen hinweg und kam stolpernd vor ihnen zum Stehen. »Schwester Verna! Gut! Endlich hab’ ich Euch gefunden. Man verlangt nach Euch. Im Palast. Sofort.«

»Wer verlangt nach mir? Um was geht es?«

Er schlang Luft hinunter und versuchte gleichzeitig zu sprechen. »Die Schwestern verlangen nach Euch. Schwester Leoma hat mich am Ohr gepackt, damit ich euch finde und zurückbringe. Sie meinte, wenn ich trödeln würde, dann würde ich den Tag bereuen, an dem meine Mutter mich zur Welt gebracht hat. Sicherlich gibt es Schwierigkeiten.«

»Was für Schwierigkeiten?«

Er warf die Hände in die Luft. »Als ich danach fragte, haben sie mich mit diesem Blick angesehen, der die Knochen eines Mannes erweichen kann, und mir gesagt, das ginge nur die Schwestern etwas an, nicht mich.«

Schwester Verna stieß einen müden Seufzer aus. »Ich denke, dann wird es wohl das Beste sein, wenn wir mit dir zurückkehren, sonst ziehen sie dir womöglich noch das Fell über die Ohren und benutzen es als Flagge.«

Der junge Soldat erbleichte, als würde er das keinesfalls für unmöglich halten.

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