22

Verna sog die feuchte, belebende Nachtluft tief in sich ein, wie ein Lebenselixier. Sie spürte, wie ihre Muskeln sich entspannten, als sie den gewundenen schmalen Pfad zwischen Beeten voller Lilien, blühendem Hartriegel und üppigen Heidelbeersträuchern hinunterschlenderte und darauf wartete, daß sich ihre Augen an das Mondlicht gewöhnten. Ausladende Bäume reichten bis über das dichte Gestrüpp, schienen ihr die Äste zum Berühren entgegenzustrecken oder den süßen Duft ihrer Blätter und Blüten zum Inhalieren anzubieten.

Obwohl es für die meisten Bäume viel zu früh war, um zu blühen, gab es im Garten der Prälatin doch ein paar seltene Immerblüher — gedrungene, knorrige, weit gefächerte Bäume, die das ganze Jahr über in Blüte standen, auch wenn sie nur in der Erntezeit Früchte trugen. In der Neuen Welt war sie auf einen kleinen Wald aus Immerblühern gestoßen und hatte herausgefunden, daß sie der Lieblingsplatz der Irrlichter waren — zarter Geschöpfe, die nicht mehr zu sein schienen als ein Funken Licht und die nur nachts zu sehen waren.

Als die Irrlichter von ihren guten Absichten überzeugt waren, hatten sie und die beiden Schwestern, die sie zu jener Zeit begleiteten, mehrere Nächte bei ihnen verbracht und sich mit ihnen über einfache Dinge unterhalten. Dabei hatte sie von der Gutartigkeit der Zauberer und Konfessoren erfahren, die das Bündnis der Midlands regierten. Verna hatte zu ihrer Freude gehört, daß die Völker der Midlands Orte der Magie beschützten und die Geschöpfe, die dort wohnten, in ungestörter Abgeschiedenheit leben ließen.

Zwar gab es auch in der Alten Welt Orte, an denen magische Geschöpfe wohnten, doch die waren nicht annähernd so zahlreich oder mannigfaltig wie diese wundersamen Orte in der Neuen Welt. Von einigen dieser Geschöpfe hatte Verna viel über Toleranz gelernt — daß der Schöpfer die Welt mit vielen zarten Wunderdingen übersät habe und es manchmal die höchste Pflicht des Menschen sei, sie einfach in Frieden zu lassen.

In der Alten Welt war diese Ansicht nicht sehr weit verbreitet, und es gab viele Orte, an denen die Magie kontrolliert wurde, damit die Menschen nicht durch Dinge, die dem Verstand nicht zugänglich waren, Verletzungen erlitten oder gar den Tod fanden. Magie hatte oft etwas ›Lästiges‹ an sich. In vielerlei Hinsicht war die Neue Welt immer noch ein wilder Ort, so wie die Alte Welt vor Tausenden von Jahren, bevor der Mensch sie mit seinem Ordnungssinn in einen sicheren, wenn auch ein wenig sterilen Ort verwandelt hatte.

Verna vermißte die Neue Welt. Nirgendwo hatte sie sich je so zu Hause gefühlt wie dort.

Enten, die Köpfe unter ihre Flügel gesteckt, tanzten am Rand des Teiches neben dem Pfad auf dem Wasser auf und ab, während nicht zu sehende Frösche aus dem Schilf heraus quakten. Gelegentlich sah Verna eine Fledermaus auf die Wasseroberfläche herabstürzen, um einen Käfer aus der Luft zu schnappen. Schatten und Mondlicht spielten über das grasbewachsene Ufer, während der sanfte Wind liebkosend durch die Bäume strich.

Gleich hinter dem Teich bog ein schmaler Seitenweg zu einer Baumgruppe inmitten eines dichten Gebüsches ab, in das kaum ein Strahl des Mondlichts fiel. Irgendwie beschlich Verna das Gefühl, dies sei der Ort, den sie suchte. Sie verließ den Hauptweg und schlenderte auf die wartenden Schatten zu. In diesem Bereich schien noch die Wildheit der Natur zu herrschen, im Gegensatz zu der Kultiviertheit großer Teile des übrigen Gartens.

Hinter einer Wand aus Stechhand entdeckte sie ein zauberhaftes, kleines verputztes Häuschen mit vier Giebeln, deren schindelgedeckte Dachschräge sich in sanftem Schwung zu Traufen senkten, die nicht höher waren als ihr Kopf. Vor jedem Giebel stand ein hoch aufragender Ginkgobaum, deren Kronen sich hoch oben verflochten, Zaunrosen schmiegten sich dicht bei den Wänden an den Boden und erfüllten die gemütliche Einfriedung mit wohlriechendem Duft. In jede Giebelspitze war ein rundes Fenster eingelassen, zu hoch, um hindurchzuschauen.

An der Giebelwand, vor der der Pfad endete, entdeckte Verna eine grob gezimmerte, oben runde Tür, in deren Mitte das Sonnenaufgangssymbol eingeschnitzt worden war. Es gab einen Knauf, aber kein Schloß. Ein Ruck daran bewirkte keinerlei Bewegung, nicht mal ein Wackeln. Die Tür war abgeschirmt.

Verna strich mit den Fingern am Rand entlang und versuchte die Art des Schildes oder seinen Schlüssel zu ertasten. Sie spürte nichts als eine Eiseskälte, die sie bei der Berührung zurückschaudern ließ.

Sie öffnete sich ihrem Han, ließ sich von dem süßen Licht und seinem wohligen, vertrauten Trost durchfluten. Ihr stockte fast der Atem angesichts der Herrlichkeit, dem Schöpfer um dieses kleine Stückchen näher zu sein. Plötzlich roch die Luft nach tausend Düften, auf der Haut fühlte sie sich nach Feuchtigkeit an, nach Staub, nach Pollen und dem Salz des Ozeans, in Vernas Ohren tönten die Laute einer Welt voller Insekten, kleiner Tiere und Wortfetzen, die die Luft meilenweit in ihren ätherischen Fingern trug. Sorgfältig lauschte sie auf Geräusche, die ihr vielleicht verrieten, ob jemand in der Nähe war, zumindest jemand, der nur Additive Magie besaß. Sie hörte nichts.

Verna richtete ihr Han auf die Tür. Ihre Untersuchung ergab, daß das gesamte Häuschen von einem Netz umgeben war, allerdings von einem, wie sie es nie zuvor ertastet hatte: Es enthielt Elemente aus Eis, die mit Geist durchwoben waren. Sie wußte nicht einmal, daß Eis mit Geist durchwoben werden konnte. Die beiden bekämpften sich wie zwei Katzen in einem Sack, doch siehe an: Hier schnurrten die beiden zufrieden, als gehörten sie zusammen. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie ein solcher Schild durchbrochen, geschweige denn aufgehoben werden konnte.

Immer noch eins mit ihrem Han, hatte sie eine Eingebung und hielt das Sonnenaufgangssymbol auf ihrem Ring an das auf der Tür. Lautlos ging diese auf.

Verna trat ein und legte den Ring an das Sonnenuntergangssymbol auf der Innenseite der Tür. Sie schloß sich folgsam. Mit ihrem Han spürte sie, wie der Schild sich fest um sie legte. Verna hatte sich noch nie so isoliert gefühlt, so allein, so sicher.

Kerzen fingen plötzlich Feuer. Sie nahm an, daß sie mit dem Schild verbunden waren. Der Schein der zehn Kerzen, jeweils fünf in zwei mehrarmigen Kerzenhaltern, beleuchtete das Innere des kleinen Heiligtums ausreichend. Die Kerzenhalter standen zu beiden Seiten eines kleinen Altars, über dem ein weißes, mit einem Goldfaden verziertes Tuch lag. Darauf stand eine durchbrochene Schale, in der vermutlich Duftharze abgebrannt wurden. Ein rotes, brokatbezogenes Kniebänkchen mit Goldquasten an den Ecken stand auf dem Fußboden vor dem Alter.

In einem der vier, von den Giebeln gebildeten Alkoven fand gerade ein bequemer Sessel genug Platz. Einer der anderen enthielt den Altar, ein weiterer ein winziges Tischchen mit einem dreibeinigen Schemel, und der letzte, abgesehen von der Tür, eine Truhenbank mit einer säuberlich zusammengefalteten Steppdecke. Der freie Platz in der Mitte war nicht viel größer als die Alkoven.

Verna drehte sich um und fragte sich, was sie hier wohl sollte. Prälatin Annalina hatte ihr eine Nachricht hinterlassen, damit sie diesen Ort aufsuchte, aber warum? Was sollte sie hier machen?

Sie ließ sich in den Sessel fallen, während ihre Augen die facettenartigen Wände absuchten, die dem Vor und Zurück der Giebelenden folgten. Vielleicht hatte sie nur hierherkommen sollen, um sich zu entspannen. Annalina wußte, wie anstrengend die Arbeit der Prälatin war. Vielleicht wollte sie einfach, daß ihre Nachfolgerin einen Ort kannte, wo sie alleine sein und vor den Menschen fliehen konnte, die ihr unablässig Berichte brachten. Verna trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne. Wohl kaum.

Ihr war nicht nach Herumsitzen zumute. Es gab Wichtigeres zu tun. Berichte warteten, und die würden sich kaum von selbst lesen.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ging Verna in dem winzigen Raum auf und ab, so gut es ging. Das war sicher Zeitverschwendung. Schließlich stieß sie einen verzweifelten Seufzer aus, hatte die Hand schon fast an der Tür, hielt dann aber inne, bevor sie den Ring auf das Sonnenaufgangssymbol legte.

Verna machte kehrt, starrte einen Augenblick, dann raffte sie ihre Röcke zusammen und kniete auf dem Bänkchen nieder. Vielleicht wollte Annalina, daß sie um Unterweisung bat. Von einer Prälatin wurde Frömmigkeit erwartet, wenn auch die Vorstellung absurd war, daß man einen besonderen Ort benötigte, um zum Schöpfer zu beten. Der Schöpfer hatte alles erschaffen, warum sollte man dann einen besonderen Ort benötigen, wenn man Unterweisung suchte? Kein Ort kam dem eigenen Herzen auch nur nahe. Kein Ort ließ sich damit vergleichen, wenn man mit seinem Han eins wurde.

Mit einem gereizten Seufzer faltete Verna die Hände. Sie wartete, war aber nicht in der Stimmung, an einem Ort zum Schöpfer zu beten, an dem sie sich dazu verpflichtet fühlte. Die Vorstellung, daß Annalina tot war und sie noch immer beeinflußte, ärgerte sie. Vernas Augen wanderten zu den kahlen Wänden, während sie mit den Zehen auf den Boden tippte. Die Frau streckte ihre Hand aus dem Jenseits aus und erfreute sich eines letzten bißchens Macht. Hatte sie davon in all den Jahren als Prälatin nicht genug gehabt? Man mochte meinen, es hätte reichen sollen, aber nein, sie mußte alles so planen, daß sie selbst nach ihrem Tod noch…

Vernas Blick fiel auf die Schale. Unten drin lag etwas, und Asche war es nicht.

Sie griff hinein und holte ein kleines, in Papier gewickeltes Päckchen heraus, daß mit einem Stück Bindfaden zusammengeschnürt war. Sie drehte es in ihren Fingern, begutachtete es. Das mußte es sein. Das war der Grund, weshalb sie hierhergeschickt worden war. Aber warum es hier liegenlassen? Der Schild — niemand außer der Prälatin käme hier herein. Dies war der einzige Ort, wo man etwas verstecken konnte, wenn man nicht wollte, daß es einem anderen als der Prälatin in die Hände fiel.

Verna zog an den Enden der Schleife, zog die Schnur durch die Schlaufe. Sie legte es in ihre Hand, faltete das Papier auseinander und starrte auf das, was sich darin befand.

Es war ein Reisebuch.

Schließlich kam wieder Bewegung in ihrer Finger, und sie nahm das Buch aus dem Papier, um darin zu blättern. Es war leer.

Reisebücher waren Gegenstände der Magie, wie der Dacra, der von denselben Zauberern erschaffen worden war, die auch den Palast der Propheten sowohl mit Additiver als auch Subtraktiver Magie ausgestattet hatten. Seitdem war dreitausend Jahre lang außer Richard niemand mehr geboren worden, der Subtraktive Magie besaß. Einige hatten sie durch ihre Berufung erlernt, aber niemand außer Richard war damit geboren worden.

Reisebücher hatten die Fähigkeit, Nachrichten zu übermitteln. Was man in das eine schrieb, mit dem in seinem Rücken aufbewahrten Stift, erschien durch Magie in seinem Gegenstück. So weit sich dies feststellen ließ, tauchte die Nachricht sogar gleichzeitig in seinem Gegenstück auf. Da man den Stift auch dazu benutzen konnte, alte Nachrichten auszuradieren, waren die Bücher niemals vollgeschrieben und konnten immer wieder verwendet werden.

Sie wurden von Schwestern mitgeführt, die auf Reisen gingen, um junge Burschen mit der Gabe aufzuspüren. Meist mußten die Schwestern dafür durch die Barriere reisen, durch das Tal der Verlorenen, um in die Neue Welt zu gelangen, den Jungen zu finden und ihm einen Rada’Han um den Hals zu legen, damit ihm die Gabe keinen Schaden zufügen konnte, während er lernte, die Magie zu beherrschen. Hatten sie die Barriere einmal hinter sich gelassen, gab es kein Zurück mehr, um sich Anweisungen oder Ratschläge zu holen. Eine einzige Reise hin und wieder zurück — mehr war keiner Schwester möglich. Bis jetzt — Richard hatte die Türme und ihre Unwetter aus Bannen zerstört.

Ein junger Bursche, der kein Verständnis für die Gabe hatte, konnte diese unmöglich beherrschen. Seine Magie sandte verräterische Zeichen aus, die von jenen Schwestern im Palast, die für derartige Störungen im Fluß der Kraft empfänglich waren, wahrgenommen wurden. Es gab nicht genug Schwestern, die diese Fähigkeit besaßen, als daß man hätte riskieren können, sie auf Reisen zu schicken, daher entsandte man andere, und diese führten ein Reisebuch mit sich, um mit dem Palast in Verbindung bleiben zu können. Wenn Schwestern einen Jungen verfolgen sollten, und es kam etwas dazwischen — zum Beispiel, er zog um — dann benötigten sie die Anweisungen, um ihn an seinem neuen Aufenthaltsort zu finden.

Natürlich konnte auch ein Zauberer dem Jungen beibringen, wie man die Gabe beherrschte, um so ihren zahlreichen Gefahren aus dem Weg zu gehen, und tatsächlich war dies die bevorzugte Methode. Doch Zauberer standen weder stets zur Verfügung noch waren sie immer dazu bereit. Die Schwestern hatten vor langer Zeit eine Übereinkunft mit den Zauberern in der Neuen Welt getroffen. War kein Zauberer zur Stelle, war es den Schwestern des Lichts gestattet, das Leben eines jungen Burschen zu retten, indem sie ihn für seine Ausbildung im Gebrauch der Gabe zum Palast der Propheten brachten. Die Schwestern hatten ihrerseits gelobt, niemals einen jungen Burschen mitzunehmen, zu dessen Ausbildung sich ein Zauberer bereiterklärt hatte.

Diese Übereinkunft wurde dadurch untermauert, indem man, für den Fall, daß dieses Abkommen gebrochen wurde, jeder Schwester, die jemals wieder die Neue Welt betrat, mit der Todesstrafe drohte. Prälatin Annalina hatte diese Übereinkunft gebrochen, um Richard in den Palast zu holen. Verna war unwissentlich zum Werkzeug dieses Bruchs geworden.

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt konnten mehrere Schwestern auf Reisen sein, um einen Jungen aufzuspüren. Verna hatte in ihrem Arbeitszimmer eine ganze Kiste mit Reisebüchern gefunden, die jeweils zu zusammengehörenden Paaren zusammengebunden waren. Die Reisebücher wurden verdoppelt, und jedes funktionierte nur mit seinem korrekten Gegenstück. Vor jeder Reise wurden Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Man brachte die beiden Bücher an zwei verschiedene Orte und probierte sie aus, nur um sicherzugehen, daß keine Schwester mit dem falschen Buch losgeschickt wurde. Reisen war gefährlich, deshalb trugen die Schwestern zusätzlich einen Dacra in ihrem Ärmel.

Normalerweise dauerte eine Reise einige wenige Monate, und manchmal, wenn auch selten, dauerten sie bis zu einem Jahr. Vernas Reise hatte über zwanzig Jahre gedauert. Nie zuvor war etwas Vergleichbares vorgekommen, andererseits war es auch über dreitausend Jahre her, daß jemand wie Richard geboren worden war. Verna hatte zwanzig Jahre verloren, die sie nie würde wiederaufholen können. Sie war draußen in der Welt gealtert. Diese gut zwanzig Jahre des Alterns, die ihr Körper durchgemacht hatte, hätten im Palast der Propheten an die dreihundert Jahre gedauert. Sie hatte für Prälatin Annalinas Auftrag nicht nur einfach zwanzig Jahre geopfert, sondern in Wirklichkeit an die dreihundert Jahre.

Schlimmer noch, Annalina hatte die ganze Zeit gewußt, wo Richard sich befand. Auch wenn sie es getan hatte, damit sich die richtigen Prophezeiungen erfüllten und der Hüter aufgehalten werden konnte, es schmerzte trotzdem, daß sie Verna nie gesagt hatte, sie werde losgeschickt, um einen so großen Teil ihres Lebens als Lockvogel zu verschwenden.

Verna tadelte sich selbst. Sie hatte überhaupt nichts verschwendet. Sie hatte das Werk des Schöpfers getan. Nur weil sie damals nicht alle Fakten gekannt hatte, wurde die Bedeutung dessen nicht geschmälert. Viele Menschen rackerten sich ihr ganzes Leben lang sinnlos ab. Verna hatte sich für etwas abgerackert, das die Welt der Lebenden gerettet hatte.

Davon abgesehen waren diese zwanzig Jahre vielleicht die besten ihres Lebens gewesen. Sie war draußen in der Welt auf sich gestellt gewesen, zusammen mit zwei Schwestern des Lichts, hatte etwas über fremde Orte und fremde Völker gelernt. Sie hatten unter den Sternen geschlafen, ferne Bergzüge gesehen, Ebenen, Flüsse, endlose Hügellandschaften, Dörfer, Orte und Städte, die nur wenige andere je zu Gesicht bekamen. Sie hatte ihre eigenen Entscheidungen getroffen und die Folgen akzeptiert. Niemals hatte sie Berichte lesen müssen — sie hatte den Stoff gelebt, aus dem Berichte waren. Nein, ihr war nichts entgangen. Sie hatte mehr Erfahrungen gesammelt als jede der Schwestern, die hier festsaßen, in dreihundert Jahren sammeln würde.

Verna fühlte, wie ihr eine Träne auf die Hand tropfte. Sie wischte über ihre Wange. Sie vermißte ihre Reise. Die ganze Zeit über war sie überzeugt gewesen, sie zu hassen, und erst jetzt erkannte sie, wieviel sie ihr bedeutet hatte. Sie drehte das Reisebuch in ihren zitternden Fingern um, spürte die vertraute Größe, das Gewicht — die vertrauten Narben des Leders, die vertrauten drei winzigen Erhebungen oben auf dem Deckblatt.

Plötzlich riß sie das Buch hoch und betrachtete es im Schein der Kerzen. Die drei kleinen Erhebungen, der tiefe Kratzer unten am Rücken — es war dasselbe Buch. Sie konnte ihr Reisebuch unmöglich verwechseln, nicht, nachdem sie es zwanzig Jahre bei sich getragen hatte. Es war ganz genau dasselbe Buch. Sie hatte sich, geistesabwesend nach diesem einen suchend, alle Bücher aus der Kiste in ihrem Büro angesehen, und es nicht gefunden. Es war hier gewesen.

Aber warum? Sie hielt das Papier in die Höhe, in das es eingeschlagen gewesen war, und sah, daß etwas darauf geschrieben stand. Im Kerzenlicht las sie:

Behüte dies mit deinem Leben.

Sie drehte das Papier um, doch das war alles, was dort stand. Behüte dies mit deinem Leben.

Verna kannte die Handschrift der Prälatin. Unterwegs, als sie Richard gesucht, und später, als sie ihn gefunden hatte, man ihr jedoch verbot, ihn in irgendeiner Weise zu behelligen oder seinen Halsring zur Hilfe zu nehmen, um ihn zu kontrollieren, sie ihn aber trotzdem mitbringen sollte, ihn, einen erwachsenen Mann, der anders war als alle anderen, die sie je aufgespürt hatten, da hatte sie eine verärgerte Nachricht an den Palast geschickt. Ich bin die Schwester, die für diesen Jungen verantwortlich ist. Diese Anweisungen sind ungerechtfertigt, wenn nicht gar absurd. Ich verlange, daß man mir die Bedeutung dieser Anweisungen erklärt. Ich verlange zu wissen, auf wessen Geheiß sie gegeben wurden.

Sie hatte eine Nachricht zurückerhalten. Du wirst tun, was man dir aufgetragen hat, oder du mußt die Konsequenzen tragen. Wage nicht, die Befehle des Palastes erneut in Frage zu stellen — höchstselbst, die Prälatin.

Der Verweis, den die Prälatin geschickt hatte, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die Handschrift war in ihr Gedächtnis eingraviert. Die Handschrift auf dem Stück Papier war die gleiche.

Diese Nachricht war ihr ein Stachel im Fleisch gewesen, denn sie verbot ihr gerade eben jenes, worin man sie ausgebildet hatte. Erst nach ihrer Rückkehr in den Palast war sie dahintergekommen, daß Richard Subtraktive Magie besaß, und er sie, hätte sie den Halsring benutzt, sehr wahrscheinlich getötet hätte. Die Prälatin hatte ihr das Leben gerettet, aber es ärgerte sie, daß man sie wieder einmal nicht informiert hatte. Wahrscheinlich war es das, was sie am meisten ärgerte: daß die Prälatin ihr das Warum nicht erklärte.

Natürlich hatte sie Verständnis. Schwestern der Finsternis befanden sich damals im Palast, und die Prälatin durfte kein Risiko eingehen, sonst wäre die ganze Welt untergegangen. Vom Gefühl her war sie dennoch verstimmt. Vernunft und Leidenschaft stimmten nicht immer überein. Als Prälatin wurde ihr allmählich klar, daß man die Menschen manchmal einfach nicht von einer Notwendigkeit überzeugen konnte. Die einzige Alternative bestand darin, einfach einen Befehl zu erteilen. Manchmal mußte man die Menschen benutzen, um das zu tun, was getan werden mußte.

Verna ließ das Papier in die Schale fallen und setzte es mit einem Strom ihres Han in Brand. Sie sah zu, wie es verbrannte, nur um sicherzugehen, daß es vollkommen zu Asche wurde.

Dann schloß sie die Hand fest um das Reisebuch, ihr Reisebuch. Es tat gut, es zurückzuhaben. Natürlich gehörte es nicht wirklich ihr, es gehörte dem Palast. Aber sie hatte es so viele Jahre bei sich getragen, daß es so gut wie ihres war — wie ein alter, vertrauter Freund.

Der Gedanke kam ganz plötzlich — wo war das andere? Dieses Buch hatte ein Gegenstück. Wer hatte es?

Plötzlich betrachtete sie das Buch mit einem Gefühl der Beklommenheit. Sie hielt etwas in der Hand, was möglicherweise gefährlich war, und wieder einmal verriet ihr Annalina nicht die ganze Wahrheit. Durchaus möglich, daß sich das Gegenstück in der Hand einer Schwester der Finsternis befand. Vielleicht war dies Annalinas Art, ihr mitzuteilen, sie solle das Gegenstück suchen, und dabei würde sie eine Schwester der Finsternis finden. Aber wie? Sie konnte schlecht einfach in das Buch hineinschreiben: »Wer bist du, und wo steckst du?«

Verna küßte ihren Ringfinger, ihren Ring, dann erhob sie sich.

Behüte dies mit deinem Leben.

Reisen war gefährlich. Gelegentlich waren Schwestern gefangengenommen und umgebracht worden, von feindseligen, durch ihre eigene Magie geschützten Völkern. In solchen Fällen konnte nur ihr Dacra sie beschützen, eine messerähnliche Waffe mit der Fähigkeit, Leben augenblicklich auszulöschen, vorausgesetzt, man war schnell genug. Verna trug ihren immer noch im Ärmel. Und vor langer Zeit hatte Verna einen Beutel hinten in ihren Gürtel genäht, in dem sie das Reisebuch verstecken und sicher aufbewahren konnte.

Sie ließ das kleine Buch in den handschuhartigen Beutel gleiten und klopfte darauf. Es war ein gutes Gefühl, das Reisebuch wieder dort zu wissen.

Behüte es mit deinem Leben.

Beim Schöpfer, wer hatte nur das andere?


Als Verna durch die Tür zu ihrem Vorzimmer stürmte, sprang Schwester Phoebe auf, als hätte ihr jemand einen spitzen Stock ins Hinterteil gepiekst.

Ihr rundliches Gesicht verfärbte sich rot. »Prälatin … habt Ihr mich erschreckt. Ihr wart nicht in Eurem Büro … ich dachte, Ihr wärt schlafen gegangen.«

Verna überflog den mit Papieren übersäten Schreibtisch. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, daß du genug Arbeit für einen Tag getan hast und dich ein wenig ausruhen sollst.«

Phoebe rang die Hände und wand sich. »Das habt Ihr, aber dann fielen mir noch ein paar Abrechnungen ein, die ich vergessen hatte, auf ihre Richtigkeit zu prüfen, und ich hatte Angst, Ihr würdet sie sehen und mich zur Rechenschaft ziehen, also lief ich rasch zurück, um die Zahlen eben durchzugehen.«

Verna mußte an einen ganz bestimmten Ort, überlegte sich aber noch einmal, wie sie das bewerkstelligen sollte.

»Phoebe, was würdest du davon halten, eine Aufgabe zu übernehmen, die Prälatin Annalina stets ihren Verwalterinnen anvertraut hat?«

Schwester Phoebes Finger beruhigten sich. »Wirklich? Was denn?«

Verna deutete mit einer Handbewegung hinter sich auf ihr Büro. »Ich war draußen in meinem Garten und bat um Unterweisung, und da kam mir die Idee, daß ich in diesen schwierigen Zeiten die Prophezeiungen zu Rate ziehen sollte. Wann immer Prälatin Annalina dies tat, ließ sie die Gewölbekeller stets von ihren Verwalterinnen räumen, damit sie sich nicht von neugierigen Augen belästigt fühlen mußte, die mitbekamen, was sie las. Wie würde es dir gefallen, wenn du die Gewölbekeller für mich räumen lassen würdest, so wie ihre Verwalterinnen es für sie getan haben?«

Die junge Frau sprang vor Freude in die Höhe. »Wirklich, Verna? Das wäre großartig.«

Junge Frau — von wegen, dachte Verna gereizt. Sie waren im gleichen Alter, auch wenn es nicht so aussah. »Dann laß uns gehen, ich habe noch Palastgeschäfte vor mir, denen ich mich widmen muß.«

Schwester Phoebe griff nach ihrem weißen Tuch und warf es sich über die Schultern, während sie durch die Tür eilte.

»Phoebe.« Das rundliche Gesicht lugte um den Türpfosten. »Sollte Warren in den Gewölbekellern sein, dann laß ihn bleiben. Ich habe ein paar Fragen, und er kann mich besser zu den richtigen Bänden führen als die anderen. Das spart mir Zeit.«

»Wird gemacht, Verna«, sagte Phoebe mit gehetzter Stimme. Die Schreibarbeit gefiel ihr, wahrscheinlich weil sie sich dabei nützlich fühlte, was sonst frühestens nach weiteren hundert Jahren Erfahrung der Fall gewesen wäre. Durch die Ernennung zur Beraterin der Prälatin hatte Verna diese Zeit jedoch verkürzt. Die Aussicht, Befehle zu erteilen, war aber offenbar noch verlockender als die Schreibarbeit. »Ich laufe voraus und werde alle hinausgeschickt haben, bis Ihr dort seid.« Sie schmunzelte. »Ich bin froh, daß ich hier war, und nicht Dulcinia.«

Verna erinnerte sich, wie sehr sie und Phoebe sich damals geähnelt hatten. Verna fragte sich, ob sie wirklich so unreif gewesen war, als Annalina sie auf die Reise geschickt hatte. Ihr schien, sie war in den Jahren ihrer Abwesenheit nicht nur äußerlich älter geworden. Vielleicht hatte sie draußen in der Welt einfach mehr gelernt als im klösterlichen Leben des Palastes der Propheten.

Verna lächelte. »Fast wie eine von unseren alten Possen, was?«

Phoebe mußte kichern. »Aber ja, Verna. Nur wird es jetzt nicht damit enden, daß wir eintausend Gebetsketten aufziehen müssen.« Sie flitzte los, den Gang hinunter, und Röcke und Tuch flatterten ihr hinterher.

Verna war gerade erst bis in das Kernstück des Palastes vorgedrungen, bis vor die riesige, sechs Fuß dicke Steintür, die in den aus dem Muttergestein geschlagenen Gewölbekeller führte, auf dem der Palast stand, da kam ihr Phoebe bereits mit sechs Schwestern, zwei Novizinnen und drei jungen Männern im Geleit entgegen. Novizinnen und junge Männer wurden zu allen Tages- und Nachtzeiten unterrichtet. Manchmal wurden sie mitten in der Nacht zum Unterricht geweckt, zum Beispiel für Lektionen in den Gewölbekellern. Der Schöpfer kannte keine festen Stunden — und natürlich galt das auch für die, die in seinen Diensten standen. Sie verneigten sich alle miteinander wie ein Mann.

»Der Segen des Schöpfers sei mit euch«, sagte Verna zu ihnen; Fast hätte sie sich dafür entschuldigt, daß sie sie aus dem Keller vertrieben hatte, unterließ das jedoch und ermahnte sich, daß sie Prälatin war und es nicht nötig hatte, sich gegenüber irgend jemandem zu rechtfertigen. Das Wort der Prälatin war Gesetz und wurde ohne Frage befolgt. Trotzdem fiel es ihr schwer, sich nicht zu erklären.

»Alles bereit, Prälatin«, meinte Schwester Phoebe in würdevollem Ton. Phoebe deutete mit einem Nicken auf den dahinterliegenden Gewölbekeller. »Der eine, den Ihr treffen wolltet, befindet sich in einem der kleineren Räume.«

Verna nickte ihrer Assistentin zu, dann wandte sie sich den Novizinnen zu, die sie mit großen Augen ehrfürchtig anschauten. »Und wie kommen eure Studien voran?«

Zitternd wie Espenlaub, machten die beiden einen Knicks. Eine schluckte. »Sehr gut, Prälatin«, piepste sie und wurde rot im Gesicht.

Verna mußte daran denken, wie die Prälatin zum ersten Mal das Wort direkt an sie gerichtet hatte. Es war, als hätte der Schöpfer selbst gesprochen. Sie wußte noch, wieviel ihr das Lächeln der Prälatin bedeutet hatte, wie es sie aufgebaut und inspiriert hatte.

Verna ging in die Hocke, nahm die beiden Mädchen rechts und links in den Arm und drückte sie an sich. Sie gab jeder einen Kuß auf die Stirn.

»Sollte euch jemals etwas fehlen, habt keine Angst, zu mir zu kommen, dafür bin ich da. Ich liebe euch wie alle Kinder des Schöpfers.«

Die beiden Mädchen strahlten und machten erneut einen Knicks, der beim zweiten Mal ein wenig sicherer ausfiel. Mit großen Augen starrten sie auf den goldenen Ring an ihrem Finger. Als hätte er sie an etwas erinnert, küßten sie ihren Ringfinger und sprachen dabei leise ein Gebet an den Schöpfer. Verna tat dasselbe. Als sie das sahen, rissen sie abermals die Augen auf.

Sie hielt ihnen die Hand entgegen. »Wollt ihr den Ring küssen, der das Licht symbolisiert, dem wir alle folgen?« Sie nickten ernst und gingen nacheinander auf ein Knie, um den Ring mit dem Sonnenaufgangssymbol zu küssen.

Verna drückte die beiden schmächtigen Schultern. »Wie lauten eure Namen?«

»Helen, Prälatin«, meinte die eine.

»Valery, Prälatin«, die andere.

»Helen und Valery« Verna vergaß nicht, ein Lächeln aufzusetzen. »Denkt daran, Novizinnen Helen und Valery, zwar gibt es andere, zum Beispiel die Schwestern, die mehr wissen als ihr und die euch vieles lehren werden, trotzdem ist niemand dem Schöpfer näher als ihr, nicht einmal ich. Wir sind alle seine Kinder.«

Verna fühlte sich mehr als nur ein wenig unbehaglich, das Ziel der Verehrung zu sein, trotzdem lächelte sie, als die Gruppe weiterging, den steinernen Flur entlang.

Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, legte Verna ihre Hand auf die kalte, in die Wand eingelassene Metallplatte, jene Platte, die den Schlüssel zu dem Schild bildete, der die Gewölbekeller abschirmte. Der Boden bebte unter ihren Füßen, als sich die riesige, runde Tür in Bewegung setzte. Es geschah selten, daß die Haupttür geschlossen wurde. Von besonderen Umständen abgesehen, war die Prälatin die einzige, die den Eingang je versiegelte. Sie trat in das Gewölbe, als sich die Tür hinter ihr mit einem Knirschen schloß und sie in einer grabesähnlichen Stille zurückließ.

Verna ging an den alten, abgenutzten, mit Papieren und einigen der einfacheren Bücher mit Prophezeiungen übersäten Tischen vorbei. Die Schwestern hatten gerade unterrichtet. Die Lampen an den Wänden aus behauenem Stein taten wenig, um das Gefühl endloser Nacht zu mildern. Lange Reihen von Bücherregalen erstreckten sich zu beiden Seiten zwischen massigen Säulen, die die Gewölbedecke stützten.

Warren befand sich in einem der hinteren Räume. Die kleinen, ausgehöhlten Nischen unterlagen der Geheimhaltung und hatten daher gesonderte Türen und Schilde. Der Raum, in dem er sich befand, gehörte zu denen mit den ältesten, noch in Hoch-D’Haran geschriebenen Prophezeiungen. Nur wenige Menschen, darunter Warren und Vernas Vorgängerin, beherrschten Hoch-D’Haran.

Als sie in den Schein der Lampe trat, hob Warren, der lässig vor dem Tisch hockte und die verschränkten Arme darauf gelegt hatte, kurz den Kopf. »Phoebe meinte, Ihr wolltet die Gewölbe aufsuchen«, meinte er besorgt.

»Ich muß mit dir reden, Warren. Es ist etwas passiert.«

Er schlug eine Seite in dem Buch vor sich um, sah aber nicht auf. »Ja, also schön.«

Sie runzelte die Stirn, dann zog sie neben ihm einen Stuhl an den Tisch, setzte sich jedoch nicht. Mit einem Ruck ihres Handgelenks ließ Verna den Dacra in ihre linke Hand schnellen. Der Dacra, der anstelle der Klinge einen silbernen Stab besaß, wurde wie ein Messer benutzt, doch es war nicht die durch ihn hervorgerufene Wunde, die tötete. Der Dacra war eine Waffe, die uralte Magie besaß. Wurde sie in Verbindung mit dem Han ihres Trägers benutzt, beraubte sie, unabhängig von der Art der Wunde, das Opfer seiner Lebenskraft. Gegen seine Magie gab es kein Heilmittel.

Warren sah aus müden, roten Augen auf, als sie sich näher zu ihm beugte. »Warren, ich möchte, daß du dies an dich nimmst.«

»Das ist die Waffe der Schwestern.«

»Du besitzt die Gabe, dir wird er ebenso gute Dienste leisten wie mir.«

»Was soll ich damit tun?«

»Dich schützen.«

Er runzelte die Stirn. »Wie meint Ihr das?«

»Die Schwestern der…« Sie warf einen Blick nach hinten in den Hauptsaal. Selbst wenn er leer war, ließ sich unmöglich sagen, wie weit jemand mit Subtraktiver Magie hören konnte. Sie hatten sogar mitbekommen, wie Prälatin Annalina sie beim Namen genannt hatte. »Du weißt schon.« Sie senkte die Stimme. »Warren, du besitzt zwar die Gabe, nur wird sie dich nicht vor ihnen schützen. Aber das hier. Dagegen gibt es keinen Schutz. Keinen.« Sie ließ die Waffe mit geübter Eleganz in der Hand kreisen und dabei über die Fingerrücken wandern. Die mattsilberne Farbe war ein verwischter Fleck im Schein der Lampe. Sie fing ihn an der stabähnlichen Klinge auf und hielt ihm den Griff hin. »Ich habe oben weitere Dacras gefunden. Ich möchte, daß du einen bei dir trägst.«

Er machte eine unsichere Handbewegung. »Ich weiß nicht, wie man mit diesem Ding umgeht. Ich weiß nur, wie man in den alten Büchern liest.«

Verna packte ihn am Kragen seines violetten Gewandes und zog sein Gesicht heran. »Du stichst ihn ihnen einfach in den Leib. Bauch, Brust, Hals, Arm, Hand, Fuß — völlig egal. Stech ihnen den Dacra einfach in den Körper, während du in dein Han gehüllt bist, und sie sind tot, bevor du mit der Wimper zucken kannst.«

»Meine Ärmel sind nicht so eng wie Eure. Er wird nur herausfallen.«

»Warren, der Dacra weiß nicht, wo du ihn aufbewahrst, und es kümmert ihn auch nicht. Schwestern üben stundenlang und tragen ihn im Ärmel, damit sie ihn griffbereit haben. Wir machen das zu unserem Schutz, wenn wir auf Reisen gehen. Es ist egal, wo du ihn trägst, nur tragen mußt du ihn. Bewahr ihn in einer Tasche auf, wenn du willst. Nur setz dich nicht auf ihn drauf.«

Er nahm den Dacra seufzend entgegen. »Wenn es Euch glücklich macht. Aber ich glaube nicht, daß ich jemand erstechen könnte.«

Sie ließ sein Gewand los und blickte fort. »Du wirst überrascht sein, zu was man fähig ist, wenn man muß.«

»Seid Ihr deswegen gekommen? Weil Ihr einen Ersatzdacra gefunden habt?«

»Nein.« Sie zog das kleine Buch aus dem Beutel hinter ihrem Gürtel und warf es vor ihm auf den Tisch. »Gekommen bin ich deswegen.«

Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln. »Plant Ihr eine Reise, Verna?«

Sie blickte ihn finster an und versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Was ist los mit dir?«

Er schob das Buch von sich. »Ich bin einfach müde. Was ist an einem Reisebuch so wichtig?«

Sie senkte die Stimme. »Prälatin Annalina hat mir eine Nachricht hinterlassen, ich solle ihr privates Heiligtum aufsuchen, in ihrem Garten. Es war mit einem Schild aus Eis und Geist abgeschirmt.« Warren runzelte die Stirn. Sie zeigte auf den Ring. »Hiermit kann man es öffnen. Im Inneren fand ich dieses Reisebuch. Es war in ein Stück Papier eingeschlagen, auf dem nichts weiter stand als: ›Behüte dies mit deinem Leben.‹«

Warren nahm das Reisebuch in die Hand und blätterte die leeren Seiten durch. »Wahrscheinlich will sie Euch noch Anweisungen schicken.«

»Sie ist tot!«

Warren sah sie schief an. »Meint Ihr wirklich, das würde sie daran hindern?«

Verna mußte gegen ihren Willen schmunzeln. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht haben wir das andere mit ihr zusammen verbrannt, und sie hatte die Absicht, mein Leben aus der Welt der Toten zu bestimmen.«

Warren zog wieder ein mürrisches Gesicht. »Und wer hat nun das andere?«

Verna strich das Kleid hinter ihren Knien glatt, schob den Stuhl näher heran und setzte sich. »Ich weiß es nicht. Ich befürchte, es könnte sich um eine Warnung handeln. Vielleicht wollte sie, daß ich das andere finde und auf diese Weise unseren Feind erkenne.«

Warrens glatte Stirn legte sich in Falten. »Das ergibt keinen Sinn. Wie kommt Ihr darauf?«

»Ich weiß es nicht, Warren.« Verna wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. »Das war das einzige, was mir einfiel. Kannst du dir etwas vorstellen, was mehr Sinn ergibt? Warum sonst sollte sie mir nicht verraten, wer das andere hat? Wenn es jemand ist, der uns helfen soll, jemand, der auf unserer Seite steht, dann hätte sie mir doch den Namen verraten, oder wenigstens, daß es sich um einen Freund handelt.«

Warren richtete seinen starren Blick wieder auf den Tisch. »Kann schon sein.«

Verna mäßigte ihren Ton, bevor sie weitersprach. »Was ist los, Warren? Ich habe dich noch nie so gesehen.«

Sie sah ihm lange in seine sorgenvollen blauen Augen. »Ich habe ein paar Prophezeiungen gelesen, die mir nicht gefallen.«

Verna musterte prüfend sein Gesicht. »Was besagen sie?«

Nach einer langen Pause blätterte er mit zwei Fingern ein Blatt Papier um und schob es ihr hin. Schließlich nahm sie es auf und las es laut vor.

»Wenn die Prälatin und der Prophet im heiligen Ritual dem Licht übergeben werden, werden die Flammen einen Kessel voller Arglist zum Sieden bringen und einer falschen Prälatin zum Aufstieg verhelfen, die über den Tod des Palastes der Propheten herrschen wird. Im Norden wird der, der im Bunde mit der Klinge steht, diese zugunsten eines silbernen Doms eintauschen, denn er wird sie wieder zum Leben erwecken, und sie wird ihn in die Arme des Unheils treiben

Verna mußte schlucken und hatte Angst, Warren in die Augen zu sehen. Sie legte das Blatt auf den Tisch und legte die gefalteten Hände in den Schoß, damit das Zittern aufhörte. Stumm saß sie da, starrte auf sie herab und wußte nicht, was sie sagen sollte.

»Es handelt sich um die Prophezeiung eines wahren Astes«, meinte Warren schließlich.

»Das ist eine verwegene Behauptung, Warren, selbst für jemanden, der, was Prophezeiungen anbetrifft, so talentiert ist wie du. Wie alt ist diese Prophezeiung?«

»Noch keinen Tag.«

Sie hob ihre großen Augen. »Was?« sagte sie leise. »Warren, soll das heißen … sie ist über dich gekommen? Du hast endlich eine Prophezeiung gemacht?«

Warren erwiderte ihren Blick mit seinen starren, geröteten Augen. »Ja. Ich fiel in eine Art Trance, und in diesem Zustand der Verzückung hatte ich eine Vision von Teilen aus dieser Prophezeiung, zusammen mit den Worten. So ist es auch bei Nathan passiert, glaube ich. Wißt Ihr noch, wie ich Euch erzählte, allmählich begänne ich, die Prophezeiungen auf eine Weise zu verstehen wie noch nie zuvor? Es sind die Visionen, in denen sich die Prophezeiungen wahrhaft offenbaren sollen.«

Verna machte eine fahrige Handbewegung. »Aber die Bücher enthalten Prophezeiungen, keine Visionen. Die Worte sind es, die die Prophezeiungen ausmachen.«

»Die Worte sind nur der Weg, auf dem sie weitergegeben werden. Sie sollen nichts weiter als ein Hinweis sein, welcher die Vision in demjenigen auslöst, der die Gabe der Prophezeiung besitzt. All die Studien, die die Schwestern während der letzten dreitausend Jahre unternommen haben, haben nur zu einem begrenzten Verständnis geführt. Die geschriebenen Worte sollen das Wissen mittels Visionen an Zauberer weitergeben. Das habe ich gelernt, als diese Prophezeiung über mich kam. Es war, als hätte sich eine Tür in meinem Geist geöffnet. All die Zeit habe ich gesucht, und der Schlüssel befand sich in meinem eigenen Kopf.«

»Soll das heißen, du kannst irgendeine von diesen Prophezeiungen lesen und hast dabei eine Vision, die ihre wahre Bedeutung offenbart?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Kind, das gerade seine ersten Schritte macht. Ich habe noch einen langen Weg vor mir, bis ich über Zäune springen kann.«

Sie sah auf das Blatt, das auf dem Tisch lag, dann wandte sie den Blick ab und drehte den Ring an ihrem Finger. »Und bedeutet diese eine Prophezeiung, die über dich gekommen ist, nun das, was ich vermute?«

Warren befeuchtete sich die Lippen. »Wie der erste noch recht unsichere Schritt eines Kindes, so ist dies auch eine recht unklare Prophezeiung. Man könnte sagen, es handelt sich um eine Prophezeiung zum Üben. Ich habe noch weitere entdeckt, die ich für ähnliche Erstlingsversuche halte, wie zum Beispiel diese hier —«

»Warren, ist sie nun wahr oder nicht!«

Er zog sich die Ärmel herunter. »Es stimmt alles, nur sind die Worte, wie in allen Prophezeiungen, zwar wahr, bedeuten aber nicht unbedingt das, was sie zu bedeuten scheinen.«

Verna beugte sich dicht zu ihm vor und biß die Zähne aufeinander. »Beantworte die Frage, Warren. Wir sitzen in dieser Angelegenheit im selben Boot. Ich muß es wissen.«

Er winkte ab, so wie er es häufig tat, wenn er versuchte, die Wichtigkeit von etwas herunterzuspielen. Für Verna jedoch kam diese Handbewegung einer Warnung gleich. »Hört zu, Verna, ich werde Euch sagen, was ich weiß und was ich in der Vision gesehen habe. Aber das ist alles neu für mich und ich begreife noch nicht alles, auch wenn es meine eigene Prophezeiung ist.«

Sie funkelte ihn an. »Sag es mir, Warren.«

»Die Prälatin in der Prophezeiung, das seid nicht Ihr. Ich weiß nicht, wer es ist, aber Ihr seid es nicht.«

Verna schloß die Augen und seufzte. »Warren, dann ist es nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Wenigstens bin nicht ich es, die diese fürchterlichen Dinge tun muß. Wir können uns bemühen und die Prophezeiung in einen falschen Ast verwandeln.«

Warren wandte sich ab. Er steckte das Blatt Papier mit seiner Prophezeiung in ein offenes Buch und klappte es zu. »Verna, eine andere Frau kann erst Prälatin sein, wenn Ihr tot seid.«

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