45

Als die Kutsche hielt, kletterte der Mriswith heraus und ließ die Tür offen. Kahlan warf einen Blick zur einen Seite aus dem Fenster, zur anderen aus der Tür und sah, daß die Mriswiths sich entfernten, um sich untereinander zu besprechen. Endlich waren sie beide alleine.

Adie beugte sich zur Seite und sah aus dem Fenster. »Gütige Seelen«, flüsterte sie entsetzt, »wir befinden uns mitten in Feindesland.«

»In Feindesland? Wovon redest du? Wo sind wir?«

»In Tanimura«, sagte Adie leise. »Das ist der Palast der Propheten.«

»Der Palast der Propheten? Bist du sicher?«

Adie richtete sich auf. »Ganz sicher. Ich war eine Zeitlang hier, als ich noch jünger war, vor fünfzig Jahren.«

Kahlan starrte ungläubig. »Du bist in die Alte Welt gereist? Du warst im Palast der Propheten?«

»Das ist lange her, Kind, und eine lange Geschichte. Dafür fehlt uns jetzt die Zeit, aber das war damals, nachdem der Lebensborn meinen Pell umgebracht hatte.«

Sie waren jeden Tag bis lange nach Einbruch der Dunkelheit und morgens vor Sonnenaufgang unterwegs gewesen, aber wenigstens hatten Kahlan und Adie in der Kutsche etwas Schlaf gefunden. Die Männer zu Pferd dagegen nicht. Ständig hatte die beiden Frauen ein Mriswith oder manchmal auch Lunetta bewacht, daher hatten sie seit Wochen kaum mehr als ein paar Worte miteinander wechseln können. Den Mriswiths war es egal, ob sie schliefen, sie hatten sie jedoch gewarnt, was geschehen würde, wenn sie miteinander sprachen. Kahlan zweifelte nicht an ihrem Wort.

Mit den Wochen war das Wetter auf dem Weg nach Süden wärmer geworden, sie fröstelte aber noch immer in der Kutsche, und sie und Adie schmiegten sich aneinander, um sich zu wärmen.

»Ich frage mich, weshalb sie uns hierhergebracht haben«, meinte Kahlan.

Adie beugte sich noch näher. »Ich frage mich, wieso sie uns nicht getötet haben.«

Kahlan schaute aus dem Fenster und sah, wie sich ein Mriswith mit Brogan und seiner Schwester unterhielt. »Weil wir lebend für sie ganz offensichtlich von größerem Wert sind.«

»Wert? Für was?«

»Was denkst du? Was könnten sie vorhaben? Als ich versuchte, die Midlands zu einigen, schickten sie mir einen Zauberer, der mich töten sollte, und ich mußte fliehen, als Aydindril in die Hände der Imperialen Ordnung fiel. Wer schmiedet die Midlands jetzt wohl zum Widerstand gegen sie zusammen?«

Adie zog die Brauen zusammen. »Richard.«

Kahlan nickte. »Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Sie hatten mit der Eroberung der Midlands begonnen und brachten die Länder dazu, sich ihnen anzuschließen. Richard hat die Spielregeln verändert und ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er die Länder zwang, sich ihm zu ergeben.«

Kahlan starrte aus dem Fenster hinaus. »Sosehr es schmerzt, das zuzugeben, Richard hat vielleicht das einzige getan, was den Menschen der Midlands eine Chance läßt.«

»Wie kann man uns dazu benutzen, an Richard ranzukommen?« Adie tätschelte Kahlans Knie. »Ich weiß, er liebt dich, Kahlan. Aber er ist nicht dumm.«

»Die Imperiale Ordnung auch nicht.«

»Was sonst könnte es sein?«

Kahlan blickte in Adies weiße Augen. »Hast du jemals gesehen, wie die Sanderianer einen Berglöwen jagen? Sie binden eins ihrer Lämmer an einen Baum und lassen es nach seiner Mutter schreien. Dann setzen sie sich hin und warten.«

»Du glaubst, wir sind Lämmer, die man an einen Baum gebunden hat?«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Die Männer der Imperialen Ordnung sind nicht dumm. Mittlerweile werden sie auch Richard nicht mehr für einen Narren halten. Richard würde niemals ein einzelnes Leben gegen die Freiheit aller eintauschen. Andererseits hat er ihnen auch gezeigt, daß er nicht davor zurückschreckt, die Initiative zu ergreifen. Sie könnten ihn zu der Annahme verleiten, daß er einen Rettungsversuch durchführen kann, ohne dafür etwas hergeben zu müssen.«

»Und, haben sie recht?«

Kahlan seufzte. »Was meinst du?«

Adies grinste freudlos. »Solange du lebst, wird er sein Schwert selbst gegen ein Unwetter erheben.«

Kahlan sah zu, wie Lunetta von ihrem Pferd herunterkletterte. Die Mriswiths entfernten sich zum hinteren Ende der Reihen der Männer in den karminroten Capes.

»Wir müssen fliehen, Adie, oder Richard wird uns folgen. Offenbar zählt die Imperiale Ordnung darauf, daß er kommt, sonst wären wir längst tot.«

»Kahlan, mit diesem verfluchten Ring um den Hals kann ich nicht einmal eine Lampe anzünden.«

Verzweifelt seufzend blickte Kahlan nach hinten aus dem Fenster und sah, wie die Mriswiths sich in den dunklen Wald entfernten. Im Gehen zogen sie ihre Capes um sich und wurden unsichtbar.

»Ich weiß. Ich kann meine Kraft auch nicht berühren.«

»Wie können wir dann fliehen?«

Kahlan beobachtete die in Fetzen bunten Stoffes gehüllte Magierin, wie sie sich der Kutsche näherte. »Wenn es uns gelingt, Lunetta auf unsere Seite zu ziehen, könnte sie uns vielleicht helfen.«

Adie stieß ein unangenehmes Grinsen aus. »Sie wird sich nicht gegen ihren Bruder stellen.« Adie legte nachdenklich verwirrt die Stirn in Falten. »Eine merkwürdige Person. Irgend etwas an ihr ist seltsam.«

»Seltsam? Was denn?«

Adie schüttelte den Kopf. »Sie berührt die ganze Zeit ihre Kraft.«

»Die ganze Zeit?«

»Ja. Eine Magierin, oder von mir aus ein Zauberer, setzt seine Kraft nur ein, wenn er sie braucht. Sie ist anders. Sie berührt ihre Kraft ständig. Ich habe nie gesehen, daß sie sich nicht in ihre Kraft gehüllt hätte wie in ihre bunten Lumpen. Sehr seltsam.«

Die beiden verstummten, als Lunetta ächzend vor Anstrengung in die Kutsche geklettert kam. Sie ließ sich auf den Sitz gegenüber fallen und lächelte die beiden freundlich an. Offenbar war sie bei guter Laune. Kahlan und Adie erwiderten das Lächeln. Als die Kutsche mit einem Ruck anfuhr, setzte sich Kahlan zurecht und benutzte die Gelegenheit, einen prüfenden Blick aus dem Fenster zu werfen. Mriswiths sah sie keine, aber das mußte nicht immer etwas heißen.

»Sie sind fort«, sagte Lunetta.

»Bitte?« fragte Kahlan vorsichtig nach.

»Die Mriswiths sind fort.« Alle schnappten nach den Haltegriffen in der Kutsche, als diese über Furchen holperte. »Sie haben uns gesagt, wir sollen alleine Weiterreisen.«

»Wohin?« fragte Kahlan in der Hoffnung, die Frau in ein Gespräch zu verwickeln.

Lunettas Augen leuchteten unter ihren buschigen Brauen auf. »Zum Palast der Propheten.«

Adie machte ein finsteres Gesicht.

»Wir sind keine Hexen.«

Lunetta sah sie erstaunt an.

»Tobias sagt, wir sind streganiche. Tobias ist der Lord General. Tobias ist ein großer Mann.«

»Wir sind keine Hexen«, wiederholte Adie. »Wir sind Frauen, die die Gabe besitzen, die uns geschenkt wurde vom Schöpfer aller Dinge. Der Schöpfer würde uns doch nichts schenken, das von Übel ist, oder?«

Lunetta zögerte keinen Augenblick. »Tobias sagt, der Hüter hätte uns diese schändliche Magie geschenkt. Tobias irrt sich nie.«

Adie lächelte, als sie den zunehmend erbosten Ausdruck auf Lunettas Gesicht bemerkte. »Natürlich nicht, Lunetta. Dein Bruder scheint ein großer, mächtiger Mann zu sein, ganz wie du sagst.« Adie schlug ein Bein übers andere und ordnete ihre Gewänder. »Hast du das Gefühl, böse zu sein, Lunetta?«

Lunetta legte einen Augenblick lang nachdenklich die Stirn in Falten. »Tobias sagt, ich bin böse. Er versucht, mir zu helfen, Gutes zu tun, um den Makel des Hüters auszugleichen. Ich helfe ihm, das Böse auszurotten, damit er das Werk des Schöpfers tun kann.«

Kahlan merkte, daß Adie keinen Schritt weiterkam, außer vielleicht insoweit, als sie Lunetta erzürnte, daher wechselte sie das Thema, bevor die Dinge eskalierten. Schließlich hatte Lunetta die Macht über ihre Halsringe.

»Warst du schon oft im Palast der Propheten?«

»Oh, nein«, meinte Lunetta. »Dies ist das erste Mal. Tobias sagt, der Palast ist ein Haus des Bösen.«

»Warum bringt er uns dann dorthin?« fragte Kahlan beiläufig.

Lunetta zuckte die Achseln. »Die Boten haben gesagt, wir sollen dorthin gehen.«

»Die Boten?«

Lunetta nickte. »Die Mriswiths. Sie sind Boten des Schöpfers. Sie sagen uns, was wir tun sollen.«

Kahlan und Adie verschlug es die Sprache. Schließlich fand Kahlan ihre Stimme wieder. »Wenn es ein Haus des Bösen ist, dann mutet es doch seltsam an, daß der Schöpfer will, daß wir dorthin gehen. Dein Bruder scheint den Boten des Schöpfers nicht zu trauen.« Kahlan hatte gesehen, wie Brogan ihnen finstere Blicke nachgeworfen hatte, als sie im Wald verschwunden waren.

Lunettas kleine, runde Augen huschten zwischen den beiden hin und her. »Tobias sagt, ich soll nicht darüber sprechen.«

Kahlan faltete die Hände über dem Knie. »Du glaubst nicht, daß die Boten deinem Bruder etwas antun würden, nicht wahr? Ich meine, wenn der Palast ein Ort des Bösen ist, wie dein Bruder sagt…«

Die untersetzte Frau beugte sich nach vorn. »Das würde ich nicht zulassen. Mama hat gesagt, ich soll Tobias immer beschützen, weil er wichtiger ist als ich. Tobias ist der Auserwählte.«

»Warum hat deine Mama —«

»Ich glaube, wir sollten jetzt nicht mehr reden«, meinte Lunetta mit drohendem Unterton.

Kahlan ließ sich wieder in ihren Sitz zurücksinken und sah aus dem Fenster. Offenbar gehörte nicht viel dazu, Lunettas Zorn zu erregen. Kahlan entschied, es sei das beste, sie jetzt nicht weiter zu bedrängen. Auf Brogans Drängen hin hatte Lunetta bereits mit der Macht experimentiert, die der Halsring ihr verlieh.

Kahlan sah zu, wie die Gebäude am Fenster vorüberzogen, und versuchte sich vorzustellen, daß Richard hier gewesen war und dieselben Bilder gesehen hatte. Dadurch fühlte sie sich ihm näher, und es nahm ihr ein wenig von der fürchterlichen Sehnsucht in ihrem Herzen.

Richard, mein Liebster, bitte lauf nicht in diese Falle, um mich zu retten. Laß mich sterben. Rette statt dessen die Midlands.

Kahlan hatte eine Vielzahl von Städten gesehen, jede einzelne in den Midlands, und diese hier war wie fast alle anderen. Am Stadtrand gab es baufällige Hütten, viele nicht mehr als Schuppen, die man an einige der älteren Gebäude oder Lagerhäuser angebaut hatte. Auf dem weiteren Weg in die Stadt wurden die Gebäude prunkvoller, und es gab Geschäfte jeder Art. Sie passierten verschiedene große Märkte voller Menschen, die Kleider in leuchtenden Farben trugen.

Über der gesamten Stadt lag das unablässige Schlagen von Trommeln. Es war ein langsamer Rhythmus, der an den Nerven zerrte. Als Lunetta sich umsah, mit den Augen nach den Männern an den Trommeln suchte, erkannte Kahlan, daß ihr dieser Lärm ebenfalls nicht behagte. Brogan ritt jetzt ganz dicht neben der Kutsche, und die Trommeln machten auch ihn offensichtlich nervös.

Wieder schnappten sie alle drei nach den Haltegriffen, als die Kutsche auf eine steinerne Brücke holperte. Beim Fahren über das Pflaster knirschten die Räder laut. Das Geräusch ging an die Nerven. Durch das Fenster sah Kahlan beim Überqueren des Flusses den hochaufragenden Palast.

Die Kutsche hielt in einem weitläufigen Innenhof mit grünen, von Bäumen umsäumten Rasenflächen. Die Männer in den karminroten Capes ringsum saßen aufrecht in ihren Sätteln und machten keinerlei Anstalten abzusteigen.

Plötzlich erschien Brogans säuerliches Gesicht im Fenster. »Aussteigen«, knurrte er. Kahlan wollte aufstehen. »Ihr nicht. Ich meine Lunetta. Ihr könnt bleiben, wo Ihr seid, bis man Euch sagt, daß Ihr Euch rühren sollt.« Er strich sich mit den Knöcheln über seinen Schnäuzer. »Über kurz oder lang werdet Ihr mir gehören. Dann werdet Ihr für Eure schmutzigen Verbrechen bezahlen.«

»Die Mriswiths werden nicht zulassen, daß ihr kleines Schoßhündchen mich bekommt«, sagte Kahlan. »Der Schöpfer wird nicht zulassen, daß so einer wie Ihr mich mit seinen dreckigen Händen anfaßt. Ihr seid nicht mehr wert als der Dreck unter den Fingernägeln des Hüters, und das weiß der Schöpfer. Er kann Euch nicht ausstehen.«

Kahlan spürte einen brennenden Schmerz in den Beinen, der vom Halsring ausging und sie bewegungsunfähig machte, und dazu ein Stechen in der Kehle, das ihr die Stimme nahm. Lunettas Augen funkelten. Aber Kahlan hatte gesagt, was ihr auf der Seele lag.

Wenn Brogan sie tötete, würde Richard nicht kommen, sie zu retten.

Brogans Augen traten vor, und sein Gesicht wurde so rot wie sein Cape. Er biß die Zähne aufeinander. Plötzlich griff er in die Kutsche, wollte sie packen. Lunetta ergriff seine Hand, als hätte er sie ihr gereicht.

»Helft Ihr mir herunter, mein Lord General? Meine Hüfte schmerzt von der holprigen Fahrt. Der Schöpfer war so gütig, Euch soviel Kraft zu schenken, mein Bruder. Hört auf das, was er sagt.«

Kahlan versuchte zu schreien, ihn zu verspotten, aber ihre Stimme ließ sie im Stich. Lunetta hinderte sie daran, auch nur ein einziges Wort herauszubringen.

Brogan schien wieder zur Besinnung zu kommen und half Lunetta widerwillig herunter. Er wollte sich gerade wieder zur Kutsche umdrehen, als er sah, wie sich jemand näherte. Die Frau scheuchte ihn mit einer arroganten Handbewegung fort. Kahlan verstand nicht, was die Frau sagte, doch Brogan raffte die Zügel seines Pferdes an sich und gab seinen Männern ein Zeichen, ihm zu folgen.

Man befahl Ahern, vom Kutschbock zu steigen und sich den Männern des Lebensborns anzuschließen. Er warf ihr einen raschen, mitfühlenden Blick über die Schulter zu. Kahlan betete zu den gütigen Seelen, daß sie ihn nicht umbrachten, jetzt, nachdem seine Kutsche ihre Fracht abgeliefert hatte. Plötzlich wurde es laut, als die Männer zu Pferd sich in Bewegung setzten und allesamt Brogan und Lunetta hinterher ritten.

Dann wurde es still in der frühmorgendlichen Luft, und Kahlan spürte, wie der Zugriff des Halsrings nachließ. Wieder einmal wurde sie qualvoll daran erinnert, daß sie Richard gezwungen hatte, einen dieser Ringe anzulegen, und jeden Tag dankte sie den gütigen Seelen dafür, weil er schließlich verstanden hatte, warum sie es getan hatte: Sie wollte ihm das Leben retten und verhindern, daß die Gabe ihn tötete. Die Ringe jedoch, die sie und Adie trugen, waren anders als Richards, nicht zu ihrer Hilfe da. Diese Halsringe waren nichts weiter als Handschellen in einer anderen Form.

Eine junge Frau näherte sich mit großen Schritten der Kutsche und schaute hinein. Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, das wenig Zweifel an der Wohlgeformtheit ihres Körpers ließ. Der lange Haarschopf, der ihr Gesicht einrahmte, war ebenso dunkel wie ihre Augen. In der Gegenwart dieser überwältigend sinnlichen Frau kam Kahlan sich plötzlich vor wie ein Haufen Schmutz.

Die Frau maß Adie mit den Augen. »Eine Magierin. Nun, vielleicht läßt sich eine Verwendung für dich finden.« Ihr wissender Blick fiel auf Kahlan. »Kommt mit.«

Sie machte ohne ein weiteres Wort kehrt und wollte gehen. Kahlan spürte einen heißen, schmerzhaften Stich in ihrem Rücken, der sie aus der Kutsche stieß. Stolpernd fand sie ihr Gleichgewicht wieder, als sie den Boden berührte. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich umdrehen und Adie die Hand reichen, bevor diese stürzte. Die beiden beeilten sich, die Frau einzuholen, bevor sie ihnen einen weiteren schmerzhaften Stich versetzte.

Kahlan und Adie hasteten der Frau hinterher. Der Halsring ließ ihre Beine zucken und drängte sie, Schritt zu halten, während die Frau im roten Kleid in königlicher Haltung einherstolzierte. Kahlan kam sich vor wie eine trottelige Närrin. Adie wurde, anders als sie selbst, nicht getrieben. Kahlan biß die Zähne zusammen. Am liebsten hätte sie die überhebliche Frau gewürgt.

Andere Frauen und einige Männer in Roben schlenderten durch die milde Morgenluft. Der Anblick all dieser sauberen Menschen erinnerte sie in aller Schärfe daran, daß sie über und über mit Straßenstaub bedeckt waren. Trotzdem hoffte sie, daß man ihr nicht erlauben würde, ein Bad zu nehmen. Vielleicht erkannte Richard sie unter all dem Schmutz ja nicht. Vielleicht kam er überhaupt nicht, um sie zu holen.

Bitte, Richard, beschütze die Midlands. Bleib dort.

Sie liefen unter überdachten Laubengängen entlang, an deren Seiten auf Gittern Efeu mit duftenden weißen Blüten rankte, dann führte man sie durch ein Tor in einer hohen Mauer. Wachposten verfolgten die Szene, machten aber keinerlei Anstalten, die Frau, die sie führte, anzusprechen. Nachdem sie einen schattigen Pfad unter weit ausladenden Bäumen überquert hatten, betraten sie ein großes Gebäude, das ganz und gar nicht aussah wie das Rattenloch, das Kahlan erwartet hatte. Eher wirkte es wie ein richtiger Gästeflügel für Würdenträger, die auf Besuch im Palast weilten.

Die Frau im roten Kleid blieb vor einer mit Schnitzereien verzierten Tür in einer massiven Einfassung aus Stein stehen. Sie schob den Riegel der Tür mit einem Ruck zur Seite und trat vor ihnen ein. Das Zimmer war elegant, mit schweren Vorhängen, hinter denen man in einen steilen Graben von vielleicht dreißig Fuß blickte. Es gab mehrere dick mit Goldbrokat gepolsterte Sessel, einen Tisch und Schreibtisch aus Mahagoni und ein Bett mit Baldachin.

Die Frau drehte sich zu Kahlan um. »Dies wird Euer Zimmer sein.« Sie ließ ein kurzes Lächeln sehen. »Wir wollen, daß Ihr es bequem habt. Ihr werdet unsere Gäste sein, bis wir mit Euch fertig sind.

Versucht Ihr, den Schild zu durchbrechen, den ich an Eurer Tür und an Eurem Fenster anbringe, werdet Ihr auf Händen und Knien kriechen und kotzen, bis sich Eure Rippen anfühlen, als würden sie bersten. Das ist nur beim ersten Verstoß so. Nach dem ersten werdet Ihr keinerlei Verlangen verspüren, dergleichen noch einmal zu versuchen. Was beim zweiten Verstoß geschieht, wollt Ihr mit Sicherheit nicht wissen.«

Sie zeigte mit dem Finger auf Adie, hielt aber den Blick aus ihren dunklen Augen weiter auf Kahlan gerichtet. »Macht mir irgendeinen Ärger, und ich werde Eure Freundin hier bestrafen. Auch wenn Ihr vielleicht glaubt, Ihr habt einen starken Magen, so versichere ich Euch, Ihr werdet zu einer anderen Einschätzung kommen. Habt Ihr verstanden?«

Kahlan nickte, denn sie hatte Angst, daß sie nicht sprechen durfte.

»Ich habe Euch etwas gefragt«, sagte die Frau in ruhigem Ton. Adie sackte mit einem Schrei auf dem Boden zusammen. »Ihr werdet mir antworten.«

»Ja! Ja, ich habe verstanden! Bitte, tut ihr nicht weh!«

Als Kahlan sich umdrehte, um der nach Luft japsenden Frau zu helfen, erklärte ihr die Frau, sie solle die ›alte Frau‹ in Ruhe lassen, damit sie sich von selbst erholen könne.

Kahlan richtete sich widerwillig auf und überließ es Adie, auf die Beine zu kommen. Der kritisch musternde Blick der Frau wanderte der Länge nach an Kahlan hinunter, dann wieder hoch. Das spöttische Grinsen auf ihrem Gesicht brachte Kahlans Blut in Wallung.

»Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte die Frau.

»Nein.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Oh, oh, dieser ungezogene Junge. Wenn man es recht bedenkt, sollte es mich wohl nicht überraschen, daß Richard mich gegenüber seiner zukünftigen Gemahlin nicht erwähnt hat.«

»Wenn man was recht bedenkt?«

»Ich bin Merissa. Wißt Ihr jetzt, wer ich bin?«

»Nein.«

Sie gab ein leises Lachen von sich, so entnervend elegant wie alles andere an ihr. »Oh, wie ungezogen von ihm, solch schlüpfrige Geheimnisse seiner zukünftigen Gemahlin zu verschweigen.«

Kahlan wünschte sich, den Mund halten zu können, aber das war unmöglich. »Welche Geheimnisse?«

Merissa zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Als Richard hier Schüler war, gehörte ich zu seinen Lehrerinnen. Ich habe sehr viel Zeit mit ihm verbracht.« Das spöttische Lächeln kehrte zurück. »Wir haben so manche Nacht miteinander verbracht. Ich habe ihm viel gezeigt. Ein so starker und aufmerksamer Liebhaber. Hättet Ihr ihm jemals beigewohnt, hättet Ihr von meinen … eher zärtlichen Unterweisungen profitieren können.«

Noch einmal hörte man Merissas leises, elegantes Lachen, als sie entschlossenen Schritts das Zimmer verließ und Kahlan vor dem Schließen der Tür ein letztes Lächeln zuwarf.

Kahlan stand da und ballte ihr Fäuste so fest, daß die Nägel sich in ihre Handfläche gruben. Sie hätte schreien mögen. Als die Schwestern des Lichts gekommen waren, um Richard in den Palast zu holen, da hatte Kahlan ihn gezwungen, den Halsring anzulegen. Er hatte geglaubt, sie habe es getan, weil sie ihn nicht liebte. Er hatte geglaubt, sie habe ihn fortgeschickt, weil sie ihn nie wiedersehen wollte.

Wie konnte er einer Frau widerstehen, die so schön war wie Merissa? Er hätte keinen Grund dazu gehabt.

Adie packte sie an der Schulter und riß sie herum. »Hör bloß nicht auf sie.«

Kahlan spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. »Aber…«

»Richard liebt dich. Sie will dich nur quälen. Sie ist eine grausame Frau und genießt es, dich leiden zu sehen.« Adie hob einen Finger und zitierte ein altes Sprichwort. »›Laß niemals eine schöne Frau den Weg für dich wählen, wenn sie einen Mann im Blick hat.‹ Merissa hatte Richard im Blick. Ich kenne diesen lüsternen Blick. Das ist nicht die Lust auf einen Mann. Das ist die Gier nach seinem Blut.«

»Aber…«

Adie schüttelte den Finger. »Du darfst wegen ihr nicht deinen Glauben an Richard verlieren. Denn genau das will sie. Richard liebt dich.«

»Und ich werde sein Tod sein.«

Mit einem gequälten Schluchzen sank Kahlan in Adies Arme.

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