26

Sturzbäche aus Regen peitschten über das Deck des Schiffes. Die barfüßigen Männer kauerten angespannt da, ihre Muskeln glänzten im schwachen, gelben Licht der Lampen, während sie verfolgten, wie der Abstand sich verringerte. Dann plötzlich machten sie einen Satz in die Dunkelheit. Nach der Landung sprangen sie auf, um die mit Bleigewichten beschwerten leichten Wurfleinen aufzufangen, die man ihnen über den trüben Abgrund in hohem Bogen hinterhergeworfen hatte. Hand über Hand zogen die Männer die schweren Taue zum Festmachen herüber, die an den Wurfleinen befestigt waren.

Mit raschen, gewandten Bewegungen schlangen sie die unterarmdicken Taue um die massiven Poller, stemmten die Füße in den Boden und lehnten sich in die Seile, wobei sie die Poller als Talje benutzten. Das nasse Holz knarrte und ächzte, als sich die Taue spannten. Die Männer gaben nach, bis sie die langsame, aber scheinbar unaufhaltsame Fahrt der Lady Sefa zum Stillstand gebracht hatten. Wie aus einem Mund stöhnend, begannen sie erneut zu ziehen, und Stück für Stück näherte sich das Schiff dem regennassen Kai, während die Männer an Bord die Fender über die Reling warfen, um den Rumpf zu schützen.

Schwester Ulicia stand zusammen mit den Schwestern Tovi, Cecilia, Armina, Nicci und Merissa dichtgedrängt unter einer Persenning, auf die der Regen niederprasselte, und sah zu, wie Captain Blake an Deck hin und her lief und Männern zornige Befehle zubrüllte, die sie nicht schnell genug ausführen konnten. Er hatte die Lady Sefa bei diesem Wetter — ganz zu schweigen von dieser Dunkelheit — nicht an dem schmalen Kai festmachen, sondern statt dessen weiter draußen vor Anker gehen und die Frauen im Beiboot an Land bringen wollen. Ulicia hatte keine Lust verspürt, bis auf die Haut naß zu werden, während man sie die halbe Meile an Land ruderte und hatte kurzerhand alle seine Ausreden, er müsse sämtliche Beiboote zu Wasser lassen, um das Schiff an den Kai zu schleppen, als unbedeutend abgetan. Ein scharfer Blick von ihr, und seine nochmalige Auflistung der Gefahren war verstummt, und er hatte sich mit zusammengepreßten Lippen an die Arbeit gemacht.

Der Kapitän riß seine durchnäßte Mütze vom Kopf und baute sich vor ihnen auf. »Ihr werdet in Kürze an Land sein, meine Damen.«

»Schien nicht so schwer zu sein, wie Ihr uns einreden wolltet, Captain«, meinte Ulicia.

Er zerknüllte seine Mütze. »Das Schiff ist im Hafen. Warum Ihr allerdings den weiten Weg die gesamte Küste entlang nach Grafan fahren wolltet, ist mir ein Rätsel. Von diesem gottverlassenen Armeevorposten über Land zurück nach Tanimura, das wird nicht so behaglich, als hättet Ihr uns gestattet, Euch auf direktem Weg über See dorthin zu bringen.«

Er verschwieg, daß sie dann sein Schiff schon Tage zuvor verlassen hätten. Was zweifellos der Grund war, warum er sich mit überschwenglicher Freundlichkeit angeboten hatte, sie, ihrer ursprünglichen Absicht entsprechend, auf direktem Weg nach Tanimura zurückzubringen. Nichts wäre Ulicia lieber gewesen, aber sie hatte in der Angelegenheit keine Wahl. Sie hatte getan, was man ihr befohlen hatte.

Sie hob den Kopf und spähte über den Kai hinweg zu der Stelle, wo er, wie sie wußte, wartete. Die Augen ihrer Begleiterinnen starrten ebenfalls in die Dunkelheit.

Die Hügel, von denen aus man den Hafen überblicken konnte, waren nur im knisternden Aufleuchten der Blitze zu erkennen, die urplötzlich aus dem Nichts aufflackerten, und dann sah man auch die massiven Steinmauern der Festung hoch oben auf einer entfernten Anhöhe. Ansonsten schienen die schwachen Lichter in einem pechschwarzen Himmel zu schweben.

Dort saß Jagang.

Im Traum vor ihm zu stehen war eine Sache — irgendwann wachte sie vielleicht wieder auf —, aber ihm leibhaftig zu begegnen eine ganz andere. Jetzt würde es kein Erwachen geben. Sie hielt sich fester an die Verbindung. Auch für Jagang würde es kein Erwachen geben. Ihr wahrer Geliebter würde sich seiner bemächtigen und ihn zwingen zu bezahlen.

»Sieht aus, als würdet Ihr erwartet.«

Ulicia riß sich aus ihren Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Kapitän. »Was?«

Er zeigte mit seiner Mütze auf eine Kutsche. »Die ist bestimmt für Euch, meine Damen. Außer den Soldaten ist niemand in der Nähe.«

Den starren Blick in die Dunkelheit gerichtet, entdeckte sie endlich die schwarze Kutsche mit ihrem Gespann aus sechs riesigen Wallachen, die auf der Straße oben über dem Kai wartete. Die Tür stand offen. Ulicia mußte sich daran erinnern, wieder auszuatmen.

Bald wäre es vorbei. Jagang würde bezahlen. Sie brauchten es nur zu Ende zu bringen.

Als ihre Augen erst einmal die bewegungslosen, dunklen Umrisse erfaßt hatten, konnte sie auch die Soldaten ausmachen. Sie standen überall. Auf den Hügeln rings um den Hafen waren viele Feuer zu erkennen. Dabei wußte sie, für jedes Feuer, das im Regen brannte, gab es zwanzig oder dreißig andere, die nicht angehen wollten. Auch ohne die Feuer zu zählen, war unschwer zu erkennen, daß es Hunderte waren.

Das Fallreep polterte übers Deck, als die Matrosen es ausführen. Mit einem dumpfen Schlag kippte ein Ende auf den Kai. Gleich nach dem Aufsetzen trabten die Matrosen mit dem Gepäck der Schwestern die Planke hinunter und hielten den Kai entlang auf die Kutsche zu.

»Es war mir ein Vergnügen, mit Euch Geschäfte zu machen, Schwester«, log Captain Blake. Er nestelte an seiner Mütze herum und wartete, daß sie endlich von Bord gingen. Er drehte sich zu den Männern an den Tauen um. »Haltet euch bereit, die Leinen loszumachen, Männer! Wir wollen mit der Flut auslaufen!«

Es brach kein Jubel aus, aber nur, weil sie die Folgen fürchteten, wenn sie ihre Freude darüber zeigten, daß sie ihre Passagiere los waren. Auf der Seereise zurück in die Alte Welt war es nötig gewesen, den Matrosen ein paar weitere Lektionen in Disziplin zu erteilen — Lektionen, die keiner von ihnen je vergessen würde.

Niemand bedachte die sechs Frauen auch nur mit einem Blick, während die Seeleute schweigend auf das Kommando ›Leinen los‹ warteten. Am Ende des Fallreeps hielten sich vier Mann mit gesenktem Blick bereit, in der Hand eine Stange, die die Ecke einer Persenning aus Segeltuch stützte, um sie über die Köpfe der Schwestern zu halten, damit sie nicht völlig durchnäßt wurden.

Ulicia verfügte über ebensoviel Energie wie das krachende Gewitter rings um sie und ihre fünf Begleiterinnen und hätte leicht ihr Han gebrauchen können, um sich und ihre fünf Schwestern vor dem Regen abzuschirmen, aber sie wollte die Verbindung erst benutzen, wenn die Zeit gekommen war. Damit hätte sie Jagang nur gewarnt. Außerdem machte es ihr Spaß, diese bedeutungslosen Würmer zu zwingen, die Persenning über ihre Köpfe zu halten. Sie konnten von Glück reden, daß sie die Verbindung nicht preisgeben wollte, sonst hätte sie sie alle miteinander abgeschlachtet. Und zwar in aller Ruhe.

Ulicia marschierte los, und auch ihre Schwestern setzten sich in Bewegung. Jede einzelne von ihnen besaß nicht nur die Gabe, mit der sie geboren worden war, das weibliche Han, sondern durch ein geheimes Ritual verfügten sie über das Gegenstück: das männliche Han, das sie jungen Zauberern gestohlen hatten. Neben der angeborenen Additiven Gabe war jede außerdem im Besitz von deren Ergänzung: Subtraktive Magie.

Und das alles war nun miteinander verbunden.

Ulicia war nicht sicher gewesen, ob es funktionieren würde. Nie zuvor hatten Schwestern der Finsternis, und mehr noch, Schwestern der Finsternis, denen es darüber hinaus gelungen war, das männliche Han aufzunehmen, versucht, ihre Kraft miteinander zu verbinden. Sie waren damit ein gefährliches Risiko eingegangen, die Alternativen jedoch waren nicht akzeptabel. Daß es funktionierte, hatte ihnen allen ein berauschendes Hochgefühl der Erleichterung verschafft. Daß es ihre wildesten Hoffnungen übertraf, hatte Ulicia in einen Rauschzustand versetzt, der durch den flüchtigen, doch heftigen Strom aus Magie hervorgerufen wurde, welcher durch ihren Körper jagte.

Sie hätte niemals für möglich gehalten, daß solch furchteinflößende Kraft zusammengetragen werden könnte. Außer dem Schöpfer oder dem Hüter gab es auf der Erde keine Kraft, die der, über die sie jetzt verfügten, auch nur nahekam.

Ulicia war der beherrschende Knoten der Verbindung und die einzige, die die Energie befehligen und lenken konnte. Ständig mußte sie das im Innern lodernde Feuer ihres Han kontrollieren. Worauf ihr Blick auch fiel, es schrie danach, entfesselt zu werden. Bald würde es soweit sein.

In der Verbindung besaßen das weibliche und das männliche Han, die Additive und die Subtraktive Magie, genug zerstörerische Energie, um ein Zaubererfeuer im Vergleich dazu wie eine Kerze aussehen zu lassen. Mit einem einzigen Gedanken könnte sie den Hügel, auf dem die Festung stand, dem Erdboden gleichmachen. Mit einem einzigen Gedanken könnte sie überhaupt alles in ihrem Blickfeld dem Erdboden gleichmachen, und womöglich noch darüber hinaus.

Wenn sie sicher gewesen wäre, daß Jagang sich in der Festung befand, hätte sie längst ihren alles vernichtenden Zorn freigesetzt. Wenn er jedoch nicht dort war und es ihnen nicht gelang, ihn zu finden und zu töten, bevor sie wieder einschliefen, dann würde er sich ihrer bemächtigen. Zuerst mußten sie feststellen, ob er sich dort befand. Anschließend würde sie eine Kraft freisetzen, wie man sie in dieser Welt noch nicht gesehen hatte, und Jagang in Staub verwandeln, bevor er auch nur mit der Wimper zucken konnte. Ihr Meister würde dann seine Seele bekommen und Jagang bis in alle Ewigkeit büßen lassen.

Am Ende des Fallreeps stellten sich die vier Matrosen um sie herum auf, um sie vor dem Regen zu schützen. Ulicia fühlte, wie sich die Muskeln bei allen ihren Schwestern anspannten, als sie den Kai entlanggingen. Über die Verbindung konnte sie jeden kleinen Schmerz, jede Pein und jede Freude spüren, die sie empfanden. In ihrem Geist waren sie eins. In ihrem Geist waren sie beseelt von einem Gedanken, einem Wunsch: sich von diesem Blutsauger zu befreien.

Schon bald, Schwestern, schon bald.

Und dann jagen wir den Sucher?

Ja, Schwestern, dann jagen wir den Sucher.

Während sie den Kai entlang marschierten, trabte ein Trupp schauerlich aussehender Soldaten mit klirrenden Waffen in der entgegengesetzten Richtung vorbei. Sie liefen, ohne anzuhalten, das glatte Fallreep hinauf. Der Corporal des Trupps blieb vor dem empörten Kapitän des Schiffes stehen. Sie verstand nicht, was der Soldat sagte, aber sie sah, wie Captain Blake die Arme in die Höhe riß, und konnte hören, wie er brüllte: »Was!« Der Kapitän warf wütend seine Mütze auf den Boden und setzte zu einem Wortschwall aus Einwänden an, den sie nicht verstand. Hätte sie die Verbindung ausgeweitet, hätte sie es gekonnt, aber sie wollte das Risiko nicht eingehen. Noch nicht. Die Soldaten zogen ihre Schwerter blank. Captain Blake stemmte die Fäuste in die Hüften und wandte sich kurz darauf an die Männer auf dem Kai.

»Macht die Leinen fest, Männer«, brüllte er zu ihnen hinunter. »Wir stechen heute abend nicht mehr in See!«

Als Ulicia die Kutsche erreichte, streckte ein Soldat seine Hand aus und befahl ihnen einzusteigen. Ulicia ließ die anderen zuerst hineinklettern. Sie spürte die Erleichterung der beiden älteren Frauen, als sie endlich auf dem dünn gepolsterten Ledersitz Platz nehmen konnten. Der Soldat befahl den vier Matrosen, die sie begleitet hatten, zur Seite zu treten und zu warten. Als Ulicia einstieg und die Tür hinter sich zuzog, sah sie, wie die Soldaten auf dem Schiff sämtliche Matrosen von der Lady Sefa das Fallreep hinuntertrieben.

Wahrscheinlich wollte Kaiser Jagang alle Zeugen zum Schweigen bringen, die ihn mit den Schwestern der Finsternis in Zusammenhang brachten. Jagang tat ihr damit einen Gefallen. Er würde natürlich keine Gelegenheit erhalten, die Besatzung des Schiffes zu töten. Sie dagegen schon, da man den Seeleuten nicht erlaubte, in See zu stechen. Sie lächelte ihren Schwestern zu. Durch die Verbindung wußten alle, was sie dachte. Jede der anderen fünf antwortete mit einem zufriedenen Lächeln. Die Seereise war entsetzlich gewesen. Dafür würden die Matrosen bezahlen.

Während der langsamen Fahrt zur Festung, am Ende einer Steigung, sah Ulicia im Aufleuchten eines Blitzes das Ausmaß der Armee, die Jagang versammelt hatte, und war überrascht. Immer wieder, wenn ein Blitz die Hügel erhellte, konnte sie Zelte sehen, so weit das Land reichte. Grashalmen im Frühling gleich, bedeckten sie die hügelige Landschaft. Ihre Anzahl ließ die Stadt Tanimura wie ein Dorf erscheinen. Sie hatte nicht gewußt, daß in der gesamten Alten Welt überhaupt so viele Soldaten unter Waffen standen. Nun, vielleicht würden sie sich ebenfalls als nützlich erweisen.

Wenn die verästelten Blitze unter den brodelnden Wolken aufflackerten, konnte sie auch die schauerliche Festung erkennen, in der Jagang auf sie wartete. Über die Verbindung konnte sie die Festung auch mit den Augen ihrer Schwestern sehen und ihre Angst fühlen. Sie alle wollten diese Hügelkuppe in die Vergessenheit sprengen, aber jede einzelne von ihnen wußte, daß sie dies nicht konnten. Noch nicht.

Es war ausgeschlossen, daß sie Jagang nicht erkannten, wenn sie vor ihm standen — es war ausgeschlossen, daß auch nur eine von ihnen dieses aufgesetzt grinsende Gesicht nicht wiedererkannte —, aber zuerst mußten sie ihn sehen, um ganz sicher zu sein.

Wenn wir ihn sehen, Schwestern, und wissen, daß er dort ist, dann wird er sterben.

Ulicia wollte die Angst in den Augen dieses Mannes erspähen, dieselbe Angst, die er in ihre Herzen gepflanzt hatte, aber sie wagte nicht, ihm irgendeinen Hinweis auf ihr Vorhaben zu geben. Ulicia wußte nicht, wozu er fähig war. Schließlich waren sie im Traum, der keiner war, noch nie von einem anderen als ihrem Meister, dem Hüter, besucht worden, und sie hatte nicht die geringste Absicht, Jagang, nur um der Genugtuung willen, ihn zittern zu sehen, durch irgend etwas zu warnen.

Sie hatte absichtlich gewartet, bis sie in den Hafen von Grafan einfuhren, bevor sie den Schwestern ihren Plan enthüllte — nur um sicherzugehen. Ihr Meister würde für Jagangs Bestrafung sorgen. Ihre Aufgabe war es nur, seine Seele an die Unterwelt zu liefern, in den Machtbereich des Hüters.

Der Hüter würde mehr als erfreut sein, wenn sie seine Macht in dieser Welt wiederhergestellt hätten, und würde sie mit einem Einblick in Jagangs Qualen belohnen, falls sie dies wünschten. Und wie sie es sich wünschten.

Die Kutsche kam mit einem Ruck vor dem beeindruckenden Tor der Festung zum Stehen. Ein stämmiger Soldat, der einen Fellumhang trug und genug Waffen, um alleine eine Armee von beträchtlicher Größe niederzumetzeln, befahl ihnen auszusteigen. Die sechs marschierten schweigend durch Regen und Matsch und betraten unter dem gewölbten Dach hinter dem eisernen Fallgitter hindurch die Festung. Man führte sie in einen dunklen Eingang, wo es hieß, sie sollten stehenbleiben und warten — so als hätte eine von ihnen die Absicht, sich auf den schmutzigen, kalten Steinfußboden zu setzen.

Schließlich hatten sie alle ihre feinste Kleidung angelegt: Tovi, die ein dunkles Kleid trug, das ihrer Figur schmeichelte, Cecilia, deren gebürstetes und ordentliches graues Haar einen schönen Kontrast zu ihrem tiefgrünen, am Kragen mit Spitzen besetzten Kleid bildete, Nicci in einem schlichten Kleid, schwarz wie stets und am Oberteil auf eine Weise mit Spitzen besetzt, die die Form ihres Busens betonte, Merissa in einem roten Kleid, der Farbe, die sie bevorzugte, und das aus gutem Grund, da es sich von der dichten Mähne dunklen Haares abhob, ganz zu schweigen davon, daß es ihre ausgezeichnete Figur hervorhob, Armina, die ein dunkelblaues Kleid anhatte, das ihren durchaus wohlgeformten Körper erkennen ließ und gut zu ihren himmelblauen Augen paßte, und Ulicia in ihrer kleidsamen Aufmachung, einen Ton heller im Blau als Arminas und im Dekollete sowie an den Handgelenken mit geschmackvollen Rüschen abgesetzt und in der Taille schmucklos, um ihre wohlgeformten Hüften nicht zu verbergen.

Sie alle wollten so schön wie möglich sein, wenn sie Jagang töteten.

Die schwarzen Steinwände des Raumes waren nackt bis auf zwei zischelnde Fackeln in ihren Halterungen. Während sie wartete, spürte Ulicia, wie der Zorn der anderen anschwoll, genau wie ihrer, und wie die gemeinsame Anspannung stieg.

Als die Seeleute umringt von Soldaten durch das Fallgitter kamen, öffnete einer der beiden Posten die innere Tür in die Festung und befahl den Schwestern mit einer rüden Kopfbewegung durchzugehen. Die Gänge waren so schmucklos wie der Eingangsraum. Schließlich handelte es sich um eine Festung, nicht um einen Palast, und man erhob keinen Anspruch auf Bequemlichkeit. Als sie ihren Wachen hinterhergingen, entdeckte Ulicia nur derbe Holzbänke und Fackeln in rostigen Halterungen. Die Türen bestanden aus ungehobelten Brettern mit Angeln aus Bandeisen, und nicht eine einzige Öllampe war zu sehen, während sie dem Weg ins Herz der Festung folgten. Das Ganze schien eher eine Kaserne für die Soldaten zu sein.

Die Wachen erreichten eine große Flügeltür und drehten sich mit dem Rücken zur Steinwand, nachdem sie sie geöffnet hatten. Einer von ihnen hob wichtigtuerisch den Daumen und wies damit in den großen Saal, der sich anschloß. Ulicia gelobte ihren Schwestern feierlich, sich sein Gesicht zu merken und ihn für seine Arroganz bezahlen zu lassen. Sie führte die fünf anderen Frauen hinein, als sich die Seeleute im Gang von hinten näherten, begleitet vom hallenden Tritt ihrer Stiefel auf dem Steinfußboden und dem Klirren der Waffen der Soldaten, die sie bewachten.

Der Saal war riesig. Glaslose Fenster hoch oben in den Wänden erlaubten einen Blick auf das Gewitter draußen und gestatteten dem Regen, in glänzenden Sturzbächen am dunklen Stein herabzurinnen. In den Vertiefungen zu beiden Seiten des Saals brannten große Feuer. Die Funken und der quellende Rauch stiegen hinauf zu den Fenstern, wo letzterer in Schwaden nach draußen abzog. Trotzdem hinterließ er einen stinkenden Dunst, der in der Luft zu stehen schien. In einem Kreis aus verrosteten Halterungen rings um den Saal zischten und fauchten Fackeln, zum Gestank von Schweiß gesellte sich so der Geruch von Pech. Alles in dem dunklen Saal flackerte im Schein der Feuer.

Zwischen den knisternden Doppelfeuern konnten sie im trüben Licht einen massiven Tisch aus Holzbohlen erkennen, der mit einer Fülle von Speisen gedeckt war. Nur ein einziger Mann saß daran, auf der anderen Seite, und betrachtete sie gleichgültig, während er sich ein Stück Spanferkel absägte.

Im trüben Flackerlicht war sie sich nicht sicher. Sie mußten aber ganz sicher sein.

Hinter dem Tisch an der Wand stand eine Reihe von Leuten, die offensichtlich keine Soldaten waren. Die Männer trugen weiße Hosen und sonst nichts. Die Frauen trugen Kleider mit ausgebeulten Beinen, die vom Knöchel bis zum Hals und von dort bis zu den Handgelenken reichten und die an der Taille mit einer weißen Kordel gerafft waren. Bis auf die Kordel war ihre Kleidung so hauchdünn, daß die barfüßigen Frauen ebensogut hätten nackt sein können.

Der Mann hob seine Hand, winkte mit Zeige- und Mittelfinger und befahl ihnen vorzutreten. Die sechs Frauen durchquerten den höhlenähnlichen Saal, der sie zwischen den dunklen Steinwänden, die den Schein der Feuer schluckten, zu erdrücken schien. Auf einem gewaltigen Bärenfell vor dem Tisch saßen zwei weitere absurd gekleidete Sklaven. Die Frauen standen hinter dem Tisch an der Wand, die Hände an den Seiten, die Körper steif und reglos. Den jungen Frauen hatte man allen einen Goldring mitten durch die Unterlippe gestochen.

Die Feuer hinter ihnen knackten und knallten, während die Schwestern immer tiefer in das Dunkel vordrangen. Einer der Männer in weißer Hose schenkte dem Mann Wein in einen Becher ein, als dieser ihn zur Seite hielt. Keiner der Sklaven sah die sechs Frauen an. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Mann, der alleine am Tisch saß.

Jetzt erkannten Ulicia und ihre Schwestern ihn.

Jagang.

Er war von durchschnittlicher Größe, jedoch stämmig, mit massigen Armen und breiter Brust. Seine nackten Schultern traten unter einer Fellweste hervor, die in der Mitte offenstand, so daß ein Dutzend Gold- und Juwelenketten sichtbar war, die sich in das Haar des tiefen Einschnitts zwischen seinen hervortretenden Brustmuskeln schmiegten. Die Ketten und Juwelen sahen aus, als hätten sie einst Königen und Königinnen gehört. Silberne Reifen umschlossen seine Arme oberhalb der mächtigen Bizeps. An jedem seiner dicken Finger trug er einen goldenen oder silbernen Ring.

Jede einzelne der Schwestern kannte die Schmerzen gut, die einem diese Finger zufügen konnten.

Sein kahlrasierter Kopf glänzte im flackernden Schein der Feuer. Er paßte zu seinen Muskeln. Ulicia konnte sich ihn nicht mit Haaren auf dem Kopf vorstellen. Das hätte ihm nur von seiner Bedrohlichkeit genommen. Sein Hals hätte einem Stier gehören mögen. An einem goldenen Ring an der Außenseite seines linken Nasenlochs war ein dünnes Goldkettchen befestigt, das bis zu einem weiteren Ring in der Mitte seines Ohres reichte. Er war glattrasiert bis auf einen fünf Zentimeter langen, geflochtenen Schnurrbart, der nur an den Ecken seines ekelhaften Grinsens wuchs, sowie einen weiteren geflochtenen Bart mitten unter seiner Unterlippe.

Seine Augen jedoch waren es, die jeden fesselten, den sie in den Blick faßten. Sie hatten überhaupt kein Weiß. Sie waren von einem dunklen Grau, das getrübt wurde von düsteren, dämmerigen Partikeln, und doch gab es nicht den geringsten Zweifel darüber, wann er einen ansah.

Sie waren wie ein Doppelfenster in die Welt der Alpträume.

Das fiese Grinsen verschwand und machte einem heimtückisch wütenden Funkeln Platz. »Ihr seid spät dran«, meinte er mit tiefer, heiserer Stimme, die sie ebenso mühelos erkannten wie seine alptraumhaften Augen.

Ulicia vergeudete keine Zeit mit einer Antwort und ließ sich auch nicht anmerken, was sie vorhatte. Sie verknotete die Ströme ihres Han, so daß sie jetzt sogar ihren Haß kontrollieren konnte und nur noch eine einzige Facette ihrer Gefühle — Furcht — auf ihren Gesichtern zu erkennen war, damit sie ihn nicht durch ihre Zuversicht warnten.

Ulicia verschrieb sich ganz der Vernichtung von allem, was sich vor ihren Zehen befand — im Umkreis von zwanzig Meilen.

Mit heftiger und derber Wucht riß sie die hemmenden Sperren von der ungestümen Energie, die dahinter gefangen war. Gedankenschnell, mit donnernder Heftigkeit, explodierten Additive und Subtraktive Magie in einer mörderischen Eruption nach vorne. Sogar die Luft verbrannte heulend. Der Saal fing Feuer in einem gleißend hellen Blitz aus doppelter Magie — Gegensätzen, die sich zu einer ohrenbetäubenden Entladung ihres Zorns verflochten.

Ulicia war selbst erstaunt, was sie hier entfesselt hatte.

Das Gewebe der Wirklichkeit schien zu zerreißen.

Ihr letzter Gedanke war, daß sie die gesamte Welt vernichtet haben mußte.

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