Verna lief empört in dem kleinen Heiligtum auf und ab. Wie konnte Prälatin Annalina es wagen? Verna hatte ihr gesagt, sie solle ihr den genauen Wortlaut mitteilen, um zu beweisen, daß sie es wirklich war, und noch einmal erklären, daß sie Verna als unauffällige Schwester betrachtete, von der man wenig Notiz nahm. Verna wollte die Prälatin diese grausamen Worte wiederholen lassen, damit sie erfuhr, daß Verna wußte, daß sie benutzt wurde und in den Augen der Prälatin nur von geringem Nutzen war.
Wenn sie schon benutzt wurde und die Anweisungen der Prälatin befolgte, wie es gezwungenermaßen die Pflicht einer jeden Schwester war, dann sollte es diesmal wissentlich geschehen.
Verna hatte genug geweint. Sie hatte nicht die Absicht zu springen, wann immer diese Frau arroganterweise mit den Fingern schnippte. Verna hatte nicht ihr ganzes Leben dem Dasein als Schwester gewidmet, so viele Jahre so hart gearbeitet, um dermaßen respektlos behandelt zu werden.
Was sie am meisten ärgerte, war, daß sie es wieder getan hatte. Verna hatte der Prälatin erklärt, daß sie die Worte erst genau wiederholen mußte, um ihre Identität zu beweisen, sonst würde Verna das Buch den Flammen übergeben. Statt dessen hatte die Prälatin mit den Fingern geschnippt, und Verna war gesprungen.
Sie sollte das Buch einfach ins Feuer werfen, es vernichten. Sollte die Prälatin doch versuchen, sie dann noch zu benutzen. Sie sollte merken, wie leid Verna es war, zum Narren gehalten zu werden. Mal sehen, wie es ihr gefiel, wenn ihre Wünsche mißachtet wurden. Es geschähe ihr recht.
Genau das hätte sie tun sollen. Aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte das Buch noch immer in ihrem Gürtel stecken. Bei aller Gekränktheit, sie war noch immer eine Schwester. Sie mußte sichergehen. Die Prälatin hatte ihr noch immer nicht bewiesen, daß sie tatsächlich noch lebte und das zweite Buch besaß. Sobald sie sich Gewißheit verschafft hatte, würde Verna das Buch ins Feuer werfen.
Verna hörte auf, hin und her zu laufen und sah durch eines der Fenster in den Giebelwänden. Der Mond war aufgegangen. Diesmal würde es keine Gnade geben, wenn ihre Anweisungen nicht befolgt wurden. Sie schwor sich, entweder tat die Prälatin, was sie von ihr verlangte, und wies ihre Identität nach, oder Verna würde das Buch verbrennen. Dies war die letzte Chance für die Prälatin.
Verna nahm den mehrarmigen Kerzenhalter von dem kleinen Altar, über den das weiße, mit einem goldenen Faden verzierte Tuch drapiert war, und stellte ihn neben den kleinen Tisch. Die durchbrochene Schale, in der Verna das Buch überhaupt erst gefunden hatte, stand auf dem weißen Tuch auf dem Altar. Statt des Reisebuches brannte jetzt eine kleine Flamme darin. Wenn die Prälatin wieder nicht den Anweisungen folgte, würde das Buch in der Schale landen, in den Flammen.
Sie zog das kleine Buch aus der Tasche an ihrem Gürtel, legte es auf den kleinen Tisch und zog den dreibeinigen Schemel heran. Verna küßte den Ring der Prälatin an ihrem Ringfinger, holte tief Luft, sprach ein Gebet, in dem sie den Schöpfer um Unterweisung bat, und schlug das Buch auf.
Dort stand eine Nachricht. Seitenlang.
Meine liebste Verna, begann sie. Verna schürzte die Lippen. Liebste Verna, von wegen.
Meine liebste Verna, zuerst der einfache Teil. Ich bat dich, in das Heiligtum zu gehen, weil diese Angelegenheit gefährlich ist. Wir dürfen auf keinen Fall riskieren, daß andere meine Nachrichten lesen oder gar dahinterkommen, daß Nathan und ich noch leben. Das Heiligtum ist der einzige Ort, wo ich sicher sein kann, daß niemand sonst dies liest, und das ist auch der einzige Grund, wieso ich bis jetzt deine durchaus vernünftigen Vorsichtsmaßnahmen nicht befolgt habe. Natürlich erwartest du, daß ich meine Identität beweise, und jetzt, wo ich sicher sein kann, daß du allein bist und nicht entdeckt werden kannst, werde ich diesen Beweis liefern.
In Übereinstimmung mit der Vorsichtsmaßnahme, nur das Heiligtum für die Mitteilungen zu benutzen, mußt du sämtliche Nachrichten löschen, bevor du den Schutz des Heiligtums verläßt.
Bevor ich fortfahre — der Beweis. Deinem Wunsch gemäß nun also jene Worte, die ich zu dir bei unserem ersten Treffen nach deiner Rückkehr von der Reise anläßlich der Suche nach Richard gesagt habe:
»Ich habe Euch ausgewählt, Verna, weil Ihr ganz unten auf der Liste standet und weil Ihr, alles in allem, recht wenig bemerkenswert seid. Ich war nicht der Ansicht, daß Ihr eine von ihnen seid. Ihr seid ein Mensch, von dem man wenig Notiz nimmt. Ich bin überzeugt, die Schwestern Grace und Elizabeth haben es nur deshalb bis ganz oben auf die Liste geschafft, weil der, der die Schwestern der Finsternis befehligt, wer immer das ist, sie für verzichtbar hielt. Ich befehlige die Schwestern des Licht. Ich habe Euch aus demselben Grund ausgewählt.
Es gibt Schwestern, die für unsere Sache wertvoll sind. Für diese Aufgabe mußte ich eine Schwester aussuchen, deren Verlust uns nicht schmerzen würde. Der Junge erweist sich möglicherweise als wertvoll für uns, doch er ist nicht so wichtig wie andere Angelegenheiten im Palast. Möglicherweise ist er eine Hilfe. Es war schlicht eine Gelegenheit, die zu ergreifen ich für angebracht hielt.
Hätte es Schwierigkeiten gegeben und keine von Euch hätte es geschafft, zurückzukommen, nun, ich bin sicher, Ihr habt Verständnis dafür, daß ein General seine Truppen nicht bei einer Mission von geringer Dringlichkeit verlieren möchte.«
Verna klappte das Buch um und legte das Gesicht in ihre Hände. Es bestand kein Zweifel — es war Prälatin Annalina, die das andere Reisebuch besaß. Sie lebte, und Nathan wahrscheinlich auch.
Sie blickte die kleine Flamme in der Schale an. Die Worte brannten ihr in der Brust. Widerwillig, mit zitternden Fingern, drehte sie das Buch wieder herum und las weiter.
Verna, ich weiß, es hat dir bestimmt das Herz gebrochen, als du diese Worte gehört hast. Ich weiß, daß es mir das Herz gebrochen hat, sie auszusprechen, denn sie entsprachen nicht der Wahrheit. Dir muß es so vorkommen, als seist du auf gemeine Weise ausgenutzt worden. Es ist falsch, zu lügen, aber schlimmer ist es, das Böse triumphieren zu lassen, nur weil man auf Kosten des gesunden Menschenverstandes an der Wahrheit festhält. Würden mich die Schwestern der Finsternis nach meinen Plänen fragen, ich würde lügen. Alles andere hieße, dem Bösen zum Triumph zu verhelfen.
Ich werde dir jetzt die Wahrheit sagen, wohl wissend, daß du keinerlei Grund hast anzunehmen, daß meine Worte diesmal der Wahrheit entsprechen. Aber ich vertraue auf deine Intelligenz und weiß, wenn du meine Worte abwägst, wirst du die Wahrheit in ihnen erkennen.
Der eigentliche Grund, weshalb ich dich auf die Suche nach Richard geschickt habe, war der, daß du von allen Schwestern die einzige warst, der ich das Schicksal der Welt anvertrauen konnte. Jetzt weißt du, welche Schlacht Richard gegen den Hüter gewonnen hat. Ohne ihn wären wir alle an die Welt der Toten verlorengegangen. Das war keine Mission von geringer Dringlichkeit. Es war die wichtigste Mission, mit der je eine Schwester betraut wurde. Dir allein konnte ich sie anvertrauen.
Mehr als dreihundert Jahre vor deiner Geburt warnte Nathan mich vor dieser Gefahr für die Welt alles Lebendigen. Fünfhundert Jahre vor Richards Geburt wußten Nathan und ich, daß ein Kriegszauberer auf die Welt kommen würde. Die Prophezeiungen verrieten uns einiges von dem, was bis dahin geleistet werden mußte. Die Herausforderung war anders als alle anderen, denen wir uns je gegenübergesehen hatten.
Als Richard geboren wurde, reisten Nathan und ich mit dem Schiff rings um die große Barriere in die Neue Welt. Wir holten ein Buch der Magie aus der Burg der Zauberer, um zu verhindern, daß es Darken Rahl in die Hände fiel, und gaben es Richards Stiefvater, nachdem wir uns seines Versprechens versichert hatten, daß er Richard zwingen werde, es auswendig zu lernen. Nur durch solche Prüfungen und Ereignisse während seines Lebens in der Heimat konnte dieser junge Mann zu jener Sorte Mensch geschmiedet werden, die die geistigen Voraussetzungen besitzt, die erste Bedrohung, Darken Rahl, seinen wirklichen Vater, zu erkennen und später das Gleichgewicht in der Welt alles Lebendigen wiederherzustellen. Vielleicht ist er der wichtigste Mensch, der in den letzten dreitausend Jahren geboren wurde.
Richard ist der Kriegszauberer, der uns in die entscheidende Schlacht führen wird. Das sagen uns die Prophezeiungen, nicht aber, ob wir obsiegen werden. Diese Art von Kampf ist für die Menschheit neu. Unsere einzige Chance bestand vor allem darin, sicherzustellen, daß er in seiner Ausbildung als Mann nicht mit dem Makel behaftet wurde. In dieser Schlacht ist Magie vonnöten, aber das Herz muß sie bestimmen.
Ich habe dich ausgesandt, um ihn in den Palast zu holen, weil du die einzige warst, der ich die Erfüllung dieser Aufgabe anvertrauen konnte. Ich kannte deinen Mut und deine Seele, und ich wußte, daß du keine Schwester der Finsternis bist.
Bestimmt fragst du dich jetzt, wie ich zulassen konnte, daß du mehr als zwanzig Jahre nach ihm suchtest, wo ich doch die ganze Zeit seinen Aufenthaltsort kannte. Ich hätte auch warten und dich erst losschicken können, als er erwachsen war, und hätte dir schließlich seinen Aufenthaltsort verraten können, als er seine Gabe auslöste. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, daß ich dich ebenso benutzt habe wie Richard.
Wegen der bevorstehenden Herausforderungen mußte ich dir Dinge beibringen, die du im Palast der Propheten nicht hättest lernen können. Gleichzeitig wuchs Richard heran und lernte einige der wesentlichen Dinge, die er benötigte. Für mich war wichtig, daß du in der Lage warst, deinen Verstand zu gebrauchen und nicht bloß all die zahllosen Regeln des Palastes. Ich mußte dafür sorgen, daß du deine angeborenen Fähigkeiten in der wirklichen Welt entwickelst. Die bevorstehende Schlacht spielt sich in der wirklichen Welt ab, und die abgeschiedene Welt des Palastes ist nicht der Ort, an dem man etwas über das Leben lernt.
Ich erwarte nicht, daß du mir je verzeihst. Auch das ist eine der Bürden, die die Prälatin auf sich nehmen muß: den Haß eines Menschen, den sie liebt wie ihre eigene Tochter.
Als ich diese fürchterlichen Worte zu dir sagte, geschah auch dies in einer bestimmten Absicht. Ich mußte dich endgültig von den Lehren des Palastes befreien: immer zu tun, was man dir beigebracht hat, und blind alle Befehle zu befolgen. Ich mußte dich so wütend machen, daß du nur das tatest, was du für richtig hieltest. Seit deiner Kindheit war auf dein ungestümes Temperament Verlaß.
Ich konnte mich nicht darauf verlassen, daß du verstehen würdest, wenn ich dir die Gründe mitteilte, oder daß du das Erforderliche tun würdest. Manchmal hat ein Mensch nur dann gebührenden Einfluß auf die Geschehnisse, wenn er seinen eigenen moralischen Grundsätzen folgt, nicht aber, wenn er Befehle ausführt. So steht es in den Prophezeiungen. Ich verließ mich darauf, daß du, wenn du selbst die Entscheidung trägst, richtiges Handeln über deine Ausbildung stellen würdest.
Der andere Grund, weshalb ich dir diese Dinge gesagt habe, war der, daß ich eine meiner Verwalterinnen verdächtigte, eine Schwester der Finsternis zu sein. Ich wußte, mein Schild würde nicht verhindern, daß ihr meine Worte zu Ohren kommen. Ich ließ zu, daß meine Worte mich verrieten, damit sie mich angriff und sie unter Druck gerieten. Mir war bewußt, daß ich durchaus dabei hätte getötet werden können, doch zog ich dieses Schicksal der Möglichkeit vor, daß diese Welt in die Klauen des Hüters fiele. Manchmal muß sich die Prälatin sogar selbst benutzen.
Bis jetzt, Verna, bist du meinen Erwartungen vollends gerecht geworden. Du hast eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die Welt vor dem Hüter zu retten. Dank deiner Hilfe haben wir — bis jetzt — gesiegt.
Als zum ersten Mal mein Blick auf dich fiel, mußte ich schmunzeln, denn du hast so ein böses Gesicht gemacht. Weißt du noch, weshalb? Wenn nicht, werde ich es dir erzählen. Jede Novizin, die in den Palast gebracht wird, wird einer Prüfung unterzogen. Früher oder später beschuldigen wir sie dann ungerechterweise eines kleinen Verstoßes, an dem sie keine Schuld trägt. Die meisten weinen. Einige schmollen. Andere ertragen ihr Schuldgefühl mit stoischer Gelassenheit. Nur du wurdest böse über diese Ungerechtigkeit. Damit hattest du dich bewiesen.
Nathan hatte eine Prophezeiung entdeckt, in der es hieß, die, die wir brauchten, würde nicht lächeln, keinen Schmollmund ziehen und kein tapferes Gesicht machen, wenn man sie zu uns bringt, sondern ein zorniges, wütendes Gesicht. Als ich diesen Ausdruck in deinem Gesicht sah und deine kleinen, trotzig verschränkten Ärmchen, hätte ich fast laut gelacht. Endlich warst du in unsere Hände übergeben worden. Von diesem Tag an habe ich dich für das wichtigste Werk des Schöpfers benutzt.
Ich habe dich nach der Vorspiegelung meines Todes als Prälatin ausgesucht, weil du noch immer diejenige Schwester bist, der ich vor allen anderen traue. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich auf meiner gegenwärtigen Reise mit Nathan getötet werde, und sollte ich soweit kommen, wirst du ganz richtig Prälatin sein. Das ist mein Wunsch.
Dein gerechtfertigter Haß lastet schwer auf meinem Herzen, doch was zählt, ist die Vergebung des Schöpfers, und wenigstens die ist mir sicher, das weiß ich. Ich werde deine Verachtung als meine Bürde durch dieses Leben tragen, so wie ich auch andere Bürden auf mich genommen habe, von denen es keine Erlösung gibt. Das ist der Preis dafür, Prälatin im Palast der Propheten zu sein.
Verna schob das Buch von sich, sie konnte nicht weiterlesen. Ihr Kopf sank auf die verschränkten Arme, und sie schluchzte. Sie erinnerte sich zwar nicht mehr an die Ungerechtigkeit, von der die Prälatin gesprochen hatte, aber sie wußte noch, wie tief der Stachel gesessen hatte und wie wütend sie gewesen war. Hauptsächlich jedoch erinnerte sie sich noch an das Lächeln der Prälatin, und wie sie damit die Welt wieder geradegerückt hatte.
»Oh, geliebter Schöpfer«, klagte Verna laut, »du hast wirklich eine Närrin als Dienerin.«
Hatte sie sich zuvor gegrämt, weil sie geglaubt hatte, die Prälatin hätte sie benutzt, so litt sie jetzt Höllenqualen wegen der Seelenpein, die die Prälatin durchgemacht hatte. Als sie endlich den Strom ihrer Tränen zum Stillstand bringen konnte, zog sie das kleine Buch wieder heran und las weiter.
Doch vorbei ist vorbei, und jetzt müssen wir fortfahren in unserem Tun. In den Prophezeiungen heißt es, daß uns jetzt die größte Gefahr bevorsteht. Die vorigen Prüfungen hätten in einem endgültigen, fürchterlichen Schlag das Ende der Welt herbeigeführt. In einem einzigen Augenblick wäre alles unwiederbringlich verloren gewesen. Richard hat diese Prüfungen bestanden und uns vor diesem Schicksal bewahrt.
Jetzt steht uns eine größere Prüfung bevor. Sie entstammt nicht irgendeiner anderen Welt, sondern unserer eigenen. In diesem Kampf geht es um die Zukunft unserer Welt, die Zukunft der Menschheit und die Zukunft der Magie. Diesmal, in diesem Kampf um den Geist und das Herz der Menschen, wird es keinen endgültigen Schlag geben, kein plötzliches Ende, sondern die unerbittliche, zermürbende Mühsal eines Krieges, während der Schatten der Versklavung langsam über die Welt hinwegkriecht und den Lebensfunken der Magie auslöscht, durch den das Licht des Schöpfers entsteht.
Jener Krieg aus alter Zeit, der vor Tausenden von Jahren begonnen wurde, ist erneut aufgeflammt. Wir haben ihn unvermeidlich heraufbeschworen, indem wir diese Welt beschützten. Diesmal werden die Bemühungen Hunderter Zauberer kein Ende des Krieges bewirken. Diesmal haben wir nur einen Kriegszauberer, der uns führen wird. Richard.
Ich kann dir jetzt unmöglich alles erzählen. Manches weiß ich ganz einfach nicht, und sosehr es mich schmerzt, dich über einige Dinge, die ich weiß, im unklaren lassen zu müssen, versuche bitte zu verstehen, daß es wegen der Gabelungen in den Prophezeiungen, die richtig gewählt werden müssen, erforderlich ist, daß einige der Beteiligten instinktiv handeln und nicht auf Anweisung. Jedes andere Vorgehen würde die korrekten Gabelungen unpassierbar machen. Ein Teil unserer Aufgabe besteht darin, darauf zu hoffen, daß wir den Menschen beibringen können, richtig zu handeln, so daß sie, wenn die Prüfung kommt, das tun, was getan werden muß. Verzeih mir, Verna, aber wieder einmal bin ich gezwungen, einiges dem Schicksal zu überlassen.
Ich hoffe, du begreifst. Als Prälatin kann man nicht immer alles erklären, sondern muß den Menschen manchmal einfach eine Aufgabe stellen, in der Erwartung, daß sie sie erfüllen.
Verna seufzte. Sie wußte, wie wahr dies alles war. Sie selbst hatte längst den Versuch aufgegeben, alles jederzeit zu erklären, und war dazu übergegangen, einfach zu bitten, daß man ihre Anweisungen genauestens ausführte.
Einige Dinge jedoch kann und muß ich dir erklären, damit du uns helfen kannst. Nathan und ich befinden uns auf einer Mission von entscheidender Wichtigkeit. Im Augenblick dürfen nur er und ich wissen, worum es dabei geht.
Sollte ich überleben, habe ich die Absicht, in den Palast zurückzukehren. Bis dahin mußt du herausgefunden haben, wer von den Schwestern des Lichts, den Novizinnen und den jungen Burschen treu ergeben ist. Darüber hinaus mußt du alle herausfinden, die ihre Seele dem Hüter verschrieben haben.
»Was!« hörte Verna sich laut sagen. »Wie soll ich das schaffen!«
Ich überlasse es dir, einen Weg zu finden. Viel Zeit hast du nicht. Dies ist wichtig, Verna. Es muß geschehen, bevor Kaiser Jagang eintrifft.
Nathan und ich glauben, daß Jagang derjenige ist, den man im Krieg der Vorzeit als ›Traumwandler‹ bezeichnet hat.
Verna spürte, wie ihr der Schweiß zwischen ihren Schulterblättern die Wirbelsäule hinunterrann. Sie rief sich ihre Unterhaltung mit Schwester Simona ins Gedächtnis, als die Frau bei der bloßen Erwähnung von Jagangs Namen unkontrollierbar geschrien hatte. Schwester Simona hatte erzählt, Jagang sei in ihren Träumen erschienen. Jeder hielt Schwester Simona für verrückt.
Auch Warren hatte von einem Traumwandler gesprochen, der im Krieg der Vorzeit eine Art Waffe gewesen sei. Ihr Besuch bei Schwester Simona hatte seine Vermutungen bestätigt.
»Denke vor allem an eins: Ganz gleich, was geschieht, in deiner Loyalität zu Richard liegt deine einzige Rettung. Ein Traumwandler kann so gut wie jedem den Verstand rauben und ihn seinem Willen unterwerfen — denen, die die Gabe besitzen, eher noch als anderen. Es gibt nur einen Schutz — Richard. Einer seiner Vorfahren schuf eine Magie, die sie und alle, die ihnen gegenüber treu ergeben und ihnen zum beiderseitigen Wohl verbunden sind, vor der Macht der Traumwandler schützt. Diese Magie wird an jeden Rahl weitergegeben, der mit der Gabe geboren wird. Natürlich verfügt Nathan über dasselbe schützende Element in seiner Gabe, aber er ist nicht derjenige, der uns führen kann. Er ist ein Prophet und kein Kriegszauberer.«
Zwischen den Zeilen las Verna, daß es Wahnsinn wäre, ein treu ergebener Gefolgsmann Nathans zu sein. Der Mann war die Personifizierung eines Gewitters in einem Halsring.
Dadurch, daß du am freien Stücken dem Gesetz des Palastes zuwidergehandelt und Richard zur Flucht verholfen hast, bist du mit ihm verbunden. Diese Bande schützen dich vor der Macht des Traumwandlers, nicht aber vor der Macht, die er im Wachzustand in Form von Waffen und Gefolgsleuten hat. Dies ist zum Teil der Grund dafür, daß ich dich an jenem Tag in meinem Arbeitszimmer täuschen mußte. Auf diese Weise warst du gezwungen, Richard in Mißachtung dessen, was man dir beigebracht und befohlen hat, aus freien Stücken zu helfen.
Verna bekam eine Gänsehaut. Hätte sie die Prälatin überredet, ihre Pläne offenzulegen und ihr zu sagen, daß sie Richard zur Flucht verhelfen sollte, wäre sie jetzt ebenso anfällig für den Traumwandler wie Schwester Simona.
Nathan ist natürlich geschützt, und ich bin mit Richard über die Bande verbunden … schon seit langer, langer Zeit. Ich habe mich ihm verpflichtet, als ich ihm das erste Mal begegnete. In gewisser Weise überließ ich es ihm, seine eigenen Regeln aufzustellen, wie er für unsere Seite kämpfen will. Manchmal, ich muß es gestehen, war das schwierig. Er macht zwar, was nötig ist, um die unschuldigen, freien Menschen zu beschützen, die auf seine Hilfe angewiesen sind, aber er hat seinen eigenen Kopf und tut Dinge, die er nicht tun würde, wenn ich das Sagen hätte. Manchmal ist er eine ebenso schwere Prüfung wie Nathan. So ist das Leben.
Ich bin jetzt am Ende meiner Eröffnungen angelangt. Ich sitze hier in einem Zimmer eines gemütlichen Gasthofes und warte darauf, daß du dies liest. Lies meine Nachricht, sooft du willst. Ich werde hier warten, für den Fall, daß du mich etwas fragen möchtest. Du mußt verstehen, daß ich Hunderte von Jahren der Arbeit an den Geschehnissen und Prophezeiungen hinter mir habe und daß ich dir unmöglich all dieses Wissen in einer einzigen Nacht mitteilen kann, und schon gar nicht mittels eines Reisebuches. Aber ich werde dir deine Fragen beantworten, so gut ich kann.
Außerdem mußt du verstehen, daß es gewisse Dinge gibt, die ich dir nicht erzählen kann, weil ich sonst befürchten müßte, Prophezeiung und Ereignis mit dem Makel zu behaften. Jedes Wort, das ich dir sage, birgt diese Gefahr, wenn auch einige mehr als andere. Trotzdem mußt du einiges davon erfahren.
Dies nicht aus den Augen verlierend, erwarte ich deine Fragen. Bitte frage.
Als sie fertig war mit Lesen, richtete Verna sich auf. Fragen? Es würde hundert Jahre dauern, alles zu erfragen, was sie wissen wollte. Wo sollte sie anfangen? Geliebter Schöpfer, was waren überhaupt die wichtigen Fragen?
Sie las die gesamte Nachricht noch einmal durch, um sicherzugehen, daß sie nichts übersehen hatte, dann setzte sie sich hin und starrte auf die leere Seite vor sich. Schließlich griff sie zum Stift.
Liebste Mutter, bitte verzeiht, was ich über Euch gedacht habe.
Eure Stärke erfüllt mich mit Demut, mein törichter Stolz mit Scham. Bitte gebt acht, daß Ihr nicht getötet werdet. Ich bin nicht würdig, Prälatin zu sein. Ich bin ein Ochse, von dem Ihr verlangt, er solle durch die Lüfte kreisen wie ein Vogel.
Verna saß da, beobachtete das Buch und harrte der Antwort, falls die Prälatin tatsächlich wartete.
Danke, mein Kind. Du hast mir das Herz leichter gemacht. Frage, was du wissen mußt, und wenn ich kann, werde ich es dir beantworten. Ich werde die ganze Nacht hier sitzen, wenn ich dir bei deiner Bürde helfen kann.
Zum ersten Mal seit Tagen lächelte Verna. Diesmal waren ihre Tränen süß und nicht bitter.
Prälatin, seid Ihr auch wirklich in Sicherheit? Ist alles in Ordnung bei Euch und Nathan?
Verna, vielleicht freut es dich, wenn deine Freunde dich Prälatin nennen, mich jedoch nicht. Bitte nenne mich bei meinem Namen, wie es alle meine wirklichen Freunde tun.
Verna mußte laut lachen. Auch sie verdroß es, daß die Menschen darauf bestanden, sie ›Prälatin‹ zu nennen. Weitere Worte erschienen. Anns Nachricht ging weiter.
Und weiter: Ja, es geht mir gut, wie auch Nathan, der zur Zeit beschäftigt ist. Heute hat er sich ein Schwert gekauft und ficht jetzt in unserem Zimmer gegen die Luft. Er findet, daß er mit einem Schwert ›fesch‹ aussieht. Er ist ein tausend Jahre altes Kind, und wie ein Kind strahlt er in diesem Augenblick auch, während er unsichtbaren Feinden den Kopf abschlägt.
Verna las die Nachricht noch einmal, nur um sicher zu sein, daß sie richtig gelesen hatte. Nathan mit einem Schwert? Der Mann war doch gefährlicher, als sie geglaubt hatte. Die Prälatin hatte sicher alle Hände voll zu tun.
Ann, Ihr sagtet, ich müsse herausfinden, wer sich dem Hüter verschrieben hat. Ich habe keine Ahnung, wie mir das gelingen soll. Könnt Ihr mir helfen?
Wenn ich wüßte, wie man es macht, Verna, würde ich es dir sagen. Einige wenige haben meinen Verdacht erregt, die meisten aber nicht. Ich habe nie einen Weg finden können, zu unterscheiden, wer des Hüters war und wer nicht. Es gibt andere Dinge, um die ich mich kümmern muß, deshalb überlasse ich diese Angelegenheit dir. Denk immer daran, daß sie genauso verschlagen sein können wie der Hüter selbst. Einige, bei denen ich wegen ihrer unliebenswürdigen Art sicher war, daß sie gegen uns waren, standen loyal zu uns. Anderen, die sich offenbart haben und mit dem Schiff geflohen sind, hätte ich mein Lehen anvertraut. Glücklicherweise habe ich es nicht getan, sonst wäre ich jetzt tot.
Ann, ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll! Was, wenn ich versage?
Du darfst nicht versagen.
Verna wischte ihre schweißnassen Handflächen am Kleid ab.
Aber selbst wenn ich einen Weg finde, sie zu entlarven, was fange ich dann mit diesem Wissen an? Ich kann die Schwestern nicht bekämpfen, nicht bei der Kraft, über die sie verfügen.
Sobald du den ersten Teil vollbracht hast, Verna, werde ich es dir sagen. Du mußt wissen, daß die Prophezeiungen für Fälschungen anfällig sind. Und auch bei Gefahr. Genau wie Nathan und ich sie benutzen, um mit ihrer Hilfe die Geschehnisse zu beeinflussen, damit sie die rechte Gabelung einschlagen, können auch unsere Feinde sie benutzen.
Verna stieß einen verzweifelten Seufzer aus.
Wie kann ich unsere Feinde identifizieren, wenn ich schon als Prälatin so viel zu tun habe? Ich tue nichts anderes, als Berichte zu lesen, und doch gerate ich immer weiter ins Hintertreffen. Alle verlassen sich auf mich und arbeiten mir zu. Wie habt Ihr nur die Zeit gefunden, irgend etwas zu schaffen — hei all den Berichten?
Du liest die Berichte? Du meine Güte, Verna, bist du ehrgeizig. Als Prälatin bist du sicherlich gewissenhafter als ich.
Verna klappte die Kinnlade herunter.
Soll das heißen, ich brauche die Berichte nicht zu lesen?
Nun, Verna, sieh doch, welchen Wert es hat, sie zu lesen. Weil du die Berichte liest, hast du herausgefunden, daß die Pferde in den Ställen fehlen. Wir hätten uns ohne weiteres nach Verlassen des Palastes Pferde kaufen können, statt dessen jedoch haben wir diese genommen, um eine Spur zu hinterlassen. Wir hätten für die Leichen bezahlen können, anstatt komplizierte Vorkehrungen zu treffen, aber dann hättest du nicht mit dem Totengräber gesprochen. Wir waren bemüht, Spuren zu hinterlassen, denen du nachgehen konntest, um die Wahrheit zu entdecken. Einige der Spuren, die wir hinterlassen haben, waren recht aufwendig, wie jene der Entdeckung unserer ›Leichname‹, aber notwendig. Und du hast deine Sache gut gemacht und sie gefunden.
Verna spürte, wie sie errötete. Sie war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, der Angelegenheit der bereits vorbereiteten und in Leichentücher gehüllten Leichname nachzugehen. Dieser Hinweis war ihr vollkommen entgangen.
Ich muß jedoch gestehen, fuhr Ann fort, daß ich mir so gut wie nie die Mühe gemacht habe, Berichte zu lesen. Dafür sind die Helferinnen da. Ich erklärte ihnen einfach, sie sollten von ihrem Urteilsvermögen und ihrer Klugheit Gebrauch machen und die in den Berichten behandelten Angelegenheiten in Übereinstimmung mit dem größtmöglichen Nutzen für den Palast bearbeiten. Ab und an blieb ich dann vor ihnen stehen und zog irgendeinen Bericht hervor, an dem sie gearbeitet hatten, und las ihre Entscheidung. Ich sorgte stets dafür, daß sie ihre Arbeit gewissenhaft verrichteten — indem ich die Angst schürte, ich könnte die Anweisungen lesen, die sie in meinem Namen gegeben hatten, und sie unzureichend finden.
Verna war verblüfft. Soll das heißen, ich kann meinen Helferinnen oder Beraterinnen einfach sagen, wie ich die Dinge geregelt haben möchte, und ihnen dann die Berichte zur Bearbeitung geben? Ich brauche sie nicht alle zu lesen? Ich muß sie nicht alle abzeichnen?
Verna, du bist die Prälatin. Du kannst tun, was immer dir beliebt. Du bestimmst die Geschicke des Palastes, nicht umgekehrt.
Aber die Schwestern Leoma und Philippa, meine Beraterinnen, und Schwester Dulcinia, eine meiner Verwalterinnen, erzählen mir ständig, wie es gemacht werden muß. Sie sind so viel erfahrener als ich. Sie geben mir das Gefühl, ich würde den Palast vernachlässigen, wenn ich mich nicht persönlich um die Berichte kümmere.
Das tun sie, ja? schrieb Ann fast augenblicklich. #Oh, oh. Ich glaube, wäre ich an deiner Stelle, Verna, ich würde ein bißchen weniger zuhören und selbst ein wenig mehr reden. Du verfügst über einen finsteren Blick. Setze ihn ein.
Verna mußte schmunzeln, als sie das hörte. Sie sah die Szene bereits vor sich. Gleich morgen früh würde es im Büro der Prälatin ein paar Änderungen geben#.
Was ist Eure Mission, Ann? Was versucht Ihr zu erreichen?
Ich habe eine Kleinigkeit in Aydindril zu erledigen, dann hoffe ich zurückzukehren.
Ann wollte es ihr ganz offensichtlich nicht verraten, also überlegte Verna sich etwas anderes, was sie wissen wollte und was sie der Prälatin sagen mußte. Ihr fiel eine wichtige Sache ein.
Warren hat eine Prophezeiung abgegeben. Seine erste, wie er sagt.
Es folgte eine lange Pause. Verna wartete. Als die Nachricht schließlich eintraf, war die Schrift ein wenig sorgfältiger.
Kannst du dich noch Wort für Wort an sie erinnern?
Verna konnte unmöglich auch nur ein Wort dieser Prophezeiung vergessen. Ja.
Bevor Verna damit beginnen konnte, die Prophezeiung aufzuschreiben, wurde plötzlich eine Nachricht quer über die Seite gekritzelt. Das Gekrakel war riesengroß und wütend, der Text in großen Blockbuchstaben.
Schaff diesen Jungen aus dem Palast! Schaff ihn raus!
Eine Linie schlängelte sich über die Seite. Verna setzte sich aufrecht hin. Offensichtlich hatte Nathan Ann den Stift aus der Hand gerissen und die Nachricht hingeschrieben, und Ann war gerade dabei, ihn sich zurückzuholen. Es gab abermals eine lange Pause, und schließlich erschien wieder Anns Handschrift.
Entschuldige, Verna, wenn du sicher bist, daß du dich Wort für Wort an die Prophezeiung erinnerst, dann schreibe sie auf, damit wir sie sehen können. Wenn du dir über irgend etwas unsicher bist, sag es mir. Es ist wichtig.
Ich erinnere mich Wort für Wort an sie, da sie sich auf mich bezieht, schrieb Verna. Dort heißt es:
»Wenn die Prälatin und der Prophet im heiligen Ritual dem Licht übergeben werden, werden die Flammen einen Kessel voller Arglist zum Sieden bringen und einer falschen Prälatin zum Aufstieg verhelfen, die über den Untergang des Palastes der Propheten herrschen wird. Im Norden wird der, der im Bunde mit der Klinge steht, auf diese zugunsten der Silbernen Sliph verzichten, denn er wird sie wieder zum Leben erwecken, und sie wird ihn in die Arme des Unheils treiben.«
Wieder folgte eine Pause. Warte bitte, bis Nathan und ich uns das genau angesehen haben.
Verna saß da und wartete. Draußen zirpten die Käfer, quakten die Frösche. Verna stand auf, wobei sie stets ein Auge auf das Buch hielt, streckte sich und gähnte. Immer noch keine Nachricht. Sie setzte sich wieder und stützte das Kinn in die Hand. Langsam fielen ihr beim Warten die Augen zu.
Endlich zeichnete sich eine Nachricht ab.
Nathan und ich sind es durchgegangen, und Nathan meint, es handele sich um eine unreife Prophezeiung, und deshalb könne er sie nicht vollständig enträtseln.
Ann, die falsche Prälatin, das bin ich. Es macht mir große Sorgen, daß es in dieser Prophezeiung heißt, ich würde über den Untergang des Palastes herrschen.
Sofort kam die Antwort. Du bist nicht die falsche Prälatin aus dieser Prophezeiung.
Was bedeutet es dann?
Diesmal war die Pause kürzer. Die volle Bedeutung kennen wir nicht, aber wir wissen, daß du nicht die falsche Prälatin bist, die darin genannt wird.
Verna, höre genau zu. Warren muß den Palast verlassen. Es ist zu gefährlich für ihn, länger dortzubleiben. Er muß sich verstecken. Man könnte ihn sehen, wenn er in der Nacht aufbricht. Schicke ihn morgen früh unter dem Vorwand einer Besorgung in die Stadt. Im Gewirr der Menschen wird man ihn nicht verfolgen können. Gib ihm Gold mit, damit er keine Schwierigkeiten hat, das zu tun, was er tun muß.
Verna legte sich die Hand aufs Herz und schluckte. Sie beugte sich wieder über das Buch. Aber Prälatin, Warren ist der einzige, dem ich vertrauen kann. Ich brauche ihn. Ich kenne die Prophezeiungen nicht so wie er und wäre ohne ihn aufgeschmissen. Sie verschwieg, daß er ihr einziger Freund war, der einzige Freund, dem sie vertrauen konnte.
Verna, die Prophezeiungen sind in Gefahr. Wenn diesen Leuten ein Prophet in die Hände fällt … Die hastig hingekritzelte Nachricht hörte plötzlich auf. Kurz darauf ging sie weiter, in einer sorgfältigeren Schrift. Er muß fliehen. Verstehst du das?
Ja, Prälatin. Ich werde mich gleich morgen früh als erstes darum kümmern. Warren wird tun, was ich sage. Ich werde auf Eure Anweisungen vertrauen. Es ist wichtiger, daß er den Palast verläßt, als daß er mir hilft.
Danke, Verna.
Ann, welche Gefahr besteht für die Prophezeiungen?
Sie wartete einen Augenblick in der Stille des Heiligtums, dann setzte die Schrift schließlich wieder ein.
So wie wir unsere Bemühungen dadurch zu unterstützen versuchen, daß wir die Gefahren entlang verschiedener Gabelungen der Prophezeiungen kennen, so können auch jene, die die Menschheit unterjochen wollen, dieses Wissen dazu benutzen, die Ereignisse entlang bestimmter Gabelungen herbeizuführen, deren Eintreten sie sich wünschen. Auf diese Weise angewendet, können sich die Prophezeiungen gegen uns wenden. Wenn diese Leute über einen Propheten verfügen, könnten sie zu einem besseren Verständnis der Prophezeiungen sowie der Möglichkeiten gelangen, wie sie die Geschehnisse zu ihrem Vorteil lenken können.
Das Beeinflussen der Gabelungen kann ein Chaos heraufbeschwören, mit dem sie nicht einmal selbst rechnen und das sie nicht kontrollieren können. Das ist extrem gefährlich. Sie könnten uns alle unwiederbringlich über eine Klippe springen lassen.
Ann, soll das heißen, Jagang versucht, den Palast der Propheten an sich zu reißen? Und auch die Prophezeiungen in den Gewölbekellern?
Zögern. Ja.
Verna zögerte ebenfalls. Als ihr klar wurde, welcher Art der bevorstehende Kampf sein würde, bekam sie eine eiskalte Gänsehaut.
Wie können wir ihn aufhalten?
Der Palast der Propheten wird nicht so leicht fallen, wie Jagang glaubt. Er ist zwar der Traumwandler, aber wir haben die Kontrolle über unser Han. Diese Kraft ist auch eine Waffe. Auch wenn wir unsere Gabe immer dazu benutzt haben, das Leben zu bewahren und dabei zu helfen, das Licht des Schöpfers in diese Welt zu bringen, so mag dennoch eine Zeit kommen, in der wir unsere Gabe benutzen müssen, um zu kämpfen. Zu diesem Zweck müssen wir wissen, wer loyal zu uns steht. Du mußt herausfinden, wer nicht mit dem Makel behaftet ist.
Verna dachte sorgfältig nach, bevor sie zu schreiben begann. Ann, wollt Ihr uns etwa auffordern, Krieger zu werden, unsere Gabe dazu zu benutzen, die Kinder des Schöpfers niederzustrecken?
Ich sage dir, Verna, du wirst all deine Fähigkeiten einsetzen müssen, um zu verhindern, daß diese Welt für immer in die Finsternis der Tyrannei gerissen wird. Wir kämpfen zwar darum, den Kindern des Schöpfers zu helfen, aber wir tragen auch einen Dacra, oder nicht? Wenn wir tot sind, können wir den Menschen nicht helfen.
Verna strich sich über die Schenkel, als sie merkte, daß sie zitterten. Sie hatte Menschen getötet, und die Prälatin wußte das. Sie hatte Jedidiah getötet. Sie wünschte, sie hätte etwas zu trinken mitgebracht. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an.
Ich verstehe, schrieb sie schließlich. Ich werde tun, was ich tun muß.
Ich wünschte, ich könnte dich besser unterweisen, Verna, doch im Augenblick weiß ich nicht genug. Die Ereignisse rasen bereits dahin wie in einem Sturzbach. Richard hat bereits ohne Anleitung und wahrscheinlich aus reinem Instinkt übereilte Schritte unternommen. Wir wissen nicht genau, was er im Schilde führt, aber nach dem, was ich mir zusammengereimt habe, hat er die Midlands bereits in Aufruhr versetzt. Der Junge gibt keinen Augenblick Ruhe. Er scheint dabei seine eigenen Regeln aufzustellen.
Was hat er getan? fragte Verna. Sie hatte Angst vor der Antwort.
Irgendwie hat er das Kommando über D’Hara übernommen und Aydindril erobert. Er hat den Bund der Midlands für aufgelöst erklärt und die Kapitulation aller Länder verlangt.
Verna stockte der Atem. Aber die Midlands müssen doch die Imperiale Ordnung bekämpfen! Hat er den Verstand verloren? Wir können es uns nicht leisten, daß er D’Hara gegen die Midlands in den Krieg führt!
Er hat es bereits getan.
Die Midlands werden sich ihm nicht ergeben.
Nach meinen Informationen sind Galea und Kelton bereits in seiner Hand.
Man muß ihn aufhalten! Die Imperiale Ordnung ist die Bedrohung. Sie ist es, die bekämpft werden muß. Wir dürfen nicht zulassen, daß er einen Krieg in der Neuen Welt anfängt — diese Spaltung könnte fatale Folgen haben.
Verna, die Midlands sind von Magie durchzogen wie ein saftiges Stück Fleisch. Die Imperiale Ordnung wird sich diesen Braten scheibchenweise holen, so wie sie es mit der Alten Welt getan hat. Ein zauderndes Bündnis wird davor zurückschrecken, wegen einer einzigen Scheibe einen Großbrand auszulösen, und sie statt dessen aufgeben. Die nächste Scheibe wird im Namen von Beschwichtigung und Frieden geraubt werden. Und dann die nächste. Währenddessen werden die Midlands immer mehr geschwächt und die Imperiale Ordnung immer stärker. Als du unterwegs auf deiner Reise warst, hat die Imperiale Ordnung in weniger als zwanzig Jahren die gesamte Alte Welt an sich gerissen.
Richard ist ein Kriegszauberer. Seine Instinkte sind es, die ihn leiten, und alles, was er gelernt hat und schützt, bestimmt sein Handeln. Wir haben keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen.
In der Vergangenheit bestand die Bedrohung immer aus einer einzelnen Person wie Darken Rahl. Diesmal handelt es sich um eine Bedrohung wie aus einem Guß. Selbst wenn es uns gelänge, Jagang auf irgendeine Weise auszuschalten, würde ein anderer seinen Platz einnehmen. In diesem Kampf geht es um die Überzeugungen, Ängste und Ziele aller Menschen, nicht um einen einzelnen Führer.
Es gleicht in vielerlei Hinsicht der Angst, die die Menschen vor dem Palast empfinden. Angenommen, ein Führer täte sich hervor, so könnten wir diese Bedrohung nicht beseitigen, indem wir diesen Führer beseitigen. Die Angst säße noch immer in den Köpfen der Menschen, und ihnen den Führer zu nehmen hieße nichts weiter, als sie in ihrem Glauben zu bestärken, daß ihre Angst berechtigt war.
Geliebter Schöpfer, schrieb Verna zurück, was sollen wir denn bloß tun?
Eine Zeitlang geschah nichts. Wie ich schon sagte, Kind, ich kenne nicht alle Antworten. Aber eins kann ich dir verraten: In dieser Sache, in der letzten Prüfung, spielen wir alle eine Rolle, Richard aber ist der Schlüssel. Richard ist unser Führer. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was er tut, aber er ist der einzige, der uns zum Sieg führen kann. Wenn wir obsiegen wollen, müssen wir ihm folgen. Ich sage nicht, daß wir nicht versuchen können, ihn mit dem, was wir wissen, zu beraten und zu lenken. Aber er ist ein Kriegszauberer, und dies ist der Krieg, den zu führen er geboren wurde.
Nathan hat darauf aufmerksam gemacht, daß es in den Prophezeiungen einen Ort mit dem Namen die Große Leere gibt. Enden wir auf diesem Ast, dann ist er der Ansicht, daß es dahinter keinen Raum mehr für Magie gibt und daher keine Prophezeiung, die sie erklärt. Die Menschheit wird auf ewig ohne Magie in dieses Unbekannte treten. Jagang will die Welt in diese Leere hineinführen.
Bedenke vor allem eins: Ganz gleich, was geschieht, du mußt Richard gegenüber loyal bleiben. Du kannst mit ihm sprechen, ihn beraten, ihm gut zureden, aber du darfst nicht gegen ihn kämpfen. Loyalität Richard gegenüber ist das einzige, was Jagang daran hindert, in deinen Verstand einzudringen. Hat sich ein Traumwandler erst deines Verstandes bemächtigt, bist du für unsere Sache verloren.
Verna mußte schlucken. Ihr zitterte der Stift in der Hand. Ich verstehe. Gibt es irgend etwas, womit ich helfen kann?
Zur Zeit nur das, was ich dir bereits gesagt habe. Du mußt schnell handeln. Der Krieg ist uns bereits davongeeilt. Wie ich gehört habe, gibt es Mriswiths in Aydindril.
Beim letzten Teil der Nachricht riß Verna erschrocken die Augen auf. »Geliebter Schöpfer«, sagte sie laut, »gib Richard Kraft.«