35

»Faßt nichts an«, warnte Richard sie mit einem tadelnden Blick über die Schulter. »Das meine ich ernst.«

Die drei Mord-Sith antworteten nicht. Sie drehten sich und blickten hinauf zu der hohen Decke des Gewölbes über dem Eingang und betrachteten die riesigen, fein verfugten Blöcke aus dunklem Granit gleich hinter den hochgezogenen, schweren Fallgittern, die den Eingang zur Burg der Zauberer markierten.

Richard blickte an Ulic und Egan vorbei und sah sich kurz nach der breiten Straße um, die sie die Bergflanke hinauf und schließlich über eine steinerne, zweihundertfünfzig Schritte lange Brücke geführt hatte, die einen Abgrund mit fast lotrechten Wänden überspannte, der, so schien es, Hunderte von Metern in die Tiefe reichte. Er konnte den Boden des gähnenden Abgrundes nicht erkennen, denn ganz weit unten schmiegten sich Wolken an die eisglatten Seiten, so daß der Boden fast nicht zu sehen war. Beim Überschreiten der Brücke und beim Blick hinab in diesen dunklen, zerklüfteten Schlund war ihm schwindlig geworden. Er fand es unvorstellbar, wie man die Steinbrücke über ein solches Hindernis hinweg hatte erbauen können.

Wenn man nicht gerade Flügel besaß, gab es nur diesen einen Weg hinein ins Innere der Burg.

Die offizielle Eskorte des Lord Rahl, fünfhundert Mann, wartete hinten, auf der anderen Seite der Brücke. Sie hatte ihn ursprünglich in die Burg hinein begleiten wollen. Doch dann hatten sie schließlich nach einer scharfen Spitzkehre diese Stelle erreicht, und aller Augen, seine eingeschlossen, hatten hinaufgesehen zu der gewaltigen Anlage der Burg, den hochaufragenden Mauern aus Gebirgsgestein, den Brustwehren, Bollwerken, Türmen, Verbindungsgängen und Brücken, die einem in ihrer Gesamtheit, wie sie aus dem Fels des Berges herausragten, ein Gefühl düsterer Bedrohlichkeit vermittelten und die irgendwie lebendig wirkten, so als sähen sie einen an. Richard hatte bei dem Anblick weiche Knie bekommen, und als er den Befehl gab, hier zu warten, war kein einziges Wort des Protestes laut geworden.

Es hatte Richard eine beträchtliche Überwindung gekostet, weiterzugehen. Die Vorstellung jedoch, all diese Soldaten könnten Zeuge werden, wie ihr Lord Rahl, ihr Zauberer, vor dem Betreten der Burg der Zauberer zurückschreckte, hatte seine Füße vorangetrieben, obwohl ihm alles andere lieber gewesen wäre. Richard nahm seinen Mut zusammen und erinnerte sich daran, daß Kahlan ihm erzählt hatte, die Burg sei von Bannen geschützt, und es gebe dort Orte, die nicht einmal sie betreten könne, weil diese Banne einem so sehr den Mut raubten, daß man einfach nicht weitergehen könne. Das war alles, beruhigte er sich, nur ein Bann, der die Neugierigen abschreckte, nur ein Gefühl, keine wirkliche Bedrohung.

»Warm ist es hier«, bemerkte Raina, die sich mit ihren dunklen Augen erstaunt umschaute.

Sie hatte recht, stellte Richard fest. Nach dem Passieren des eisernen Fallgitters hatte die Luft mit jedem Schritt an Kälte verloren, bis sie drinnen einem angenehmen Frühlingstag glich. Der düstere, stahlgraue Himmel, in den die jähe Bergflanke oberhalb der Burg hinaufragte, und der bitterkalte Wind auf der nach oben führenden Straße hatten dagegen überhaupt nichts Frühlingshaftes.

Der Schnee auf seinen Stiefeln begann zu schmelzen. Sie alle zogen ihre schweren Umhänge aus und warfen sie auf einen Haufen seitlich an der Steinmauer. Richard prüfte, ob sein Schwert locker in der Scheide saß.

Die hohe, überwölbte Öffnung, unter der sie hindurchgingen, war gut fünfzig Fuß lang. Richard erkannte, daß es nicht mehr war als eine Bresche in der äußeren Ummauerung. Dahinter führte die Straße über offenes Gelände, bevor sie sich tunnelartig in das Fundament einer hohen Steinmauer bohrte und in der Dunkelheit dahinter verschwand. Wahrscheinlich ging es dort bloß zu den Ställen, redete er sich ein. Kein Grund, dort hineinzugehen.

Richard mußte seinem Drang widerstehen, sich in sein schwarzes Mriswithcape zu hüllen und unsichtbar zu machen. In der letzten Zeit hatte er dies immer häufiger getan und nicht nur in dem Alleinsein Trost gefunden, das sich dadurch erzielen ließ, sondern in dem seltsamen, unerklärlich angenehmen Gefühl, das fast vergleichbar war mit dem Gefühl der Sicherheit der Magie des Schwertes an seiner Hüfte, welches immer da war, stets auf den leisesten Wink von ihm gehorchte, immer sein Verbündeter und Fürsprecher war.

Die feinen Fugen der Quader ringsum verwandelten den trostlosen Innenhof in einen schroffen Canyon, dessen Wände von einer Anzahl Türen durchbrochen war. Richard beschloß, einem Pfad aus Trittsteinen über den Schotter aus Granitsplittern zu der größten der Türen zu folgen.

Plötzlich packte Berdine seinen Arm so fest, daß er vor Schmerz zusammenzuckte und der Tür den Rücken zukehrte, um ihre Finger zu lösen.

»Berdine«, sagte er, »was tut Ihr da? Was ist los?«

Er befreite seinen Arm aus ihrem Griff, aber sie schnappte erneut danach. »Seht doch«, meinte sie schließlich in einem Ton, daß sich ihm die Nackenhaare sträubten. »Was glaubt Ihr, was das ist?«

Alles drehte sich um und blickte in die Richtung, in die sie mit ihrem Strafer gezeigt hatte.

Irgend etwas versetzte die Gesteinssplitter und Steine in wellenförmige Bewegungen, so als schwämme unter der Oberfläche ein gewaltiger Fisch aus Stein. Als das unsichtbare, unterirdische Etwas näher kam, rückte jeder in die Mitte seines Trittsteins. Der Schotter knirschte und wogte wellenförmig wie das Wasser eines Sees.

Berdine verstärkte schmerzhaft ihren Griff an seinem Arm, als der Wellenkamm heranrollte. Selbst Ulic und Egan stockte, wie den anderen, der Atem, als er unter den Trittsteinen zu ihren Füßen vorbeizuziehen schien und die Wellen Steinsplitter auf die Felsen spülten, auf denen sie standen. Als die Woge vorüber war, verebbte die Bewegung, und schließlich war alles wieder ruhig.

»Na schön, und was war das?« stieß Berdine hervor. »Und was wäre mit uns passiert, hätten wir statt dieses Weges zu der Tür dort einen anderen gewählt, zu einer der anderen Türen?«

»Woher soll ich das wissen?«

Sie sah ungläubig zu ihm auf. »Ihr seid ein Zauberer. Ihr solltet so etwas wissen.«

Berdine hätte eigenhändig gegen Ulic und Egan gekämpft, hätte er den Befehl dazu gegeben, aber gespenstische Magie, das war etwas ganz anderes. Keiner der fünf fürchtete sich vor Stahl, aber sie scheuten nicht im geringsten davor zurück, ihm ihre Ängstlichkeit gegenüber Magie ganz offen zu zeigen. Unzählige Male hatten sie es ihm erklärt: Sie waren der Stahl gegen den Stahl, damit er die Magie gegen die Magie sein konnte.

»Hört zu, Ihr alle. Ich habe Euch schon einmal erklärt, ich weiß nicht viel darüber, was es heißt, ein Zauberer zu sein. Ich bin noch nie hier gewesen. Ich weiß nichts über diesen Ort. Ich weiß nicht, wie ich Euch beschützen kann. Werdet Ihr jetzt also tun, was ich verlange, und bei den Soldaten auf der anderen Seite der Brücke warten? Bitte?«

Ulic und Egan verschränkten als Antwort darauf nur die Arme.

»Wir werden Euch begleiten«, beharrte Cara.

»Ganz recht«, fügte Raina hinzu.

»Ihr könnt uns nicht daran hindern«, meinte Berdine, als sie endlich seinen Arm losließ.

»Aber es könnte gefährlich werden!«

»Und dann müssen wir Euch beschützen«, sagte Berdine.

Richard blickte wütend auf sie herab. »Und wie? Indem ihr mir das Blut aus dem Arm preßt?«

Berdine wurde rot. »Verzeiht.«

»Hört zu, ich weiß nichts über die Magie hier. Ich kenne die Gefahren nicht, und noch weniger weiß ich, wie man dagegen vorgeht.«

»Deswegen müssen wir ja mitkommen«, erklärte Cara übertrieben geduldig. »Ihr wißt nicht, wie Ihr Euch selbst schützen könnt. Vielleicht können wir helfen. Wer will behaupten, daß ein Strafer« — sie zeigte mit dem Daumen auf Ulic und Egan — »oder Muskeln nicht gerade das sind, was Ihr braucht? Was, wenn Ihr einfach in ein Loch stürzt, in dem es keine Leiter gibt, und es ist niemand da, der Eure Hilferufe hört? Ihr könntet schließlich auch durch etwas verletzt werden, das nichts mit Magie zu tun hat.«

Richard seufzte. »Na schön, also gut. Vermutlich habt Ihr nicht ganz unrecht.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Aber beschwert Euch nicht bei mir, wenn Euch irgendein steinerner Fisch oder sonstwas den Fuß abreißt.«

Die drei Frauen lächelten zufrieden. Selbst Ulic und Egan mußten schmunzeln. Richard stieß einen matten Seufzer aus.

»Also dann kommt.«

Er wandte sich der zwölf Fuß hohen Tür zu, die sich ein wenig zurückversetzt in einer Nische befand. Das Holz war grau und verwittert und wurde von einfachen, aber massiven Eisenbändern zusammengehalten, aus denen abgesägte Nägel, so dick wie seine Finger, hervorragten. Oberhalb der Tür hatte man Worte in den steinernen Sturz gehauen, in einer Sprache, die keiner von ihnen kannte. Richard wollte gerade nach der Klinke greifen, als die Tür begann, an geräuschlosen Angeln nach innen zu schwenken.

»Und er behauptet, nicht zu wissen, wie er seine Magie benutzen soll«, meinte Berdine amüsiert.

Richard vergewisserte sich ein letztes Mal der Entschlossenheit in ihren Augen. »Nicht vergessen, faßt nichts an.« Sie nickten. Er atmete tief durch und drehte sich zum Eingang um. Dabei kratzte er sich hinten am Hals.

»Hat Euch meine Salbe nicht gegen den Ausschlag geholfen?« erkundigte sich Cara, als sie durch die Tür in den dahinterliegenden, trostlosen Raum traten. Es roch nach feuchtem Stein.

»Nein. Jedenfalls bislang noch nicht.«

Ihre Stimmen hallten in der riesigen Eingangskammer von der gut dreißig Fuß hohen Balkendecke wider. Richard verlangsamte seine Schritte, sah sich in dem beinahe leeren Raum um und blieb dann stehen.

»Die Frau, von der ich sie gekauft habe, versprach mir, sie werde Euren Ausschlag heilen. Sie erzählte, sie sei aus gewöhnlichen, üblichen Bestandteilen hergestellt, wie weißem Rhabarber, Lorbeersaft, Butter und weichgekochtem Ei. Als ich ihr dann aber sagte, es sei äußerst wichtig, gab sie noch ein paar besondere, kostspielige Zutaten hinzu. Sie sagte, sie habe rote Betonie, ein Schweinegeschwür und das Herz einer Schwalbe hinzugegeben. Und weil ich Eure Beschützerin bin, mußte ich ihr mein Mondblut bringen. Sie rührte es mit einem rotglühenden Nagel unter. Ich blieb und sah zu, um sicherzugehen.«

»Das hättet Ihr mir sagen sollen, bevor ich sie benutzt habe«, brummte Richard und machte sich auf, tiefer in die düstere Kammer vorzudringen.

»Was?« Er tat ihre Frage mit einer Handbewegung ab. »Also, jedenfalls habe ich ihr erklärt, bei dem Preis, den ich gezahlt habe, sollte es auch wirken. Denn wenn nicht, würde ich wiederkommen, und sie würde den Tag bereuen, an dem sie versagt hatte. Sie versprach, es werde wirken. Ihr habt doch daran gedacht, ein wenig auf die linke Ferse zu reiben, wie ich Euch gesagt habe, oder?«

»Nein, ich habe sie nur auf den Ausschlag aufgetragen.« Jetzt wünschte er, er hätte es nicht getan.

Cara warf die Hände in die Höhe. »Na, kein Wunder: Ich habe Euch doch erklärt, daß Ihr sie auch auf die linke Ferse reiben müßt. Die Frau meinte, der Ausschlag sei vermutlich ein Riß in Eurer Aura, und Ihr müßtet auch die linke Ferse damit einreiben, um die Verbindung zur Erde zu schließen.«

Richard hatte nur halb zugehört. Er wußte, daß sie sich nur mit dem Klang ihrer Stimme Mut machen wollte.

Hoch oben zu ihrer Rechten fiel das Tageslicht in langen, steilen Balken durch kleine Fenster in den Raum. Zu beiden Seiten einer überwölbten Öffnung am gegenüberliegenden Ende hielten reich verzierte Holzstühle Wache. Unter der Fensterscheibe hing ein Wandteppich, dessen Bild zu verblichen war, um es zu erkennen. Eine Reihe von Kerzen steckte in einfachen Haltern an der gegenüberliegenden Wand. Ein schwerer, von Böcken gestützter Tisch stand, getaucht in einen strahlend hellen Lichtbalken, fast genau in der Mitte des Raumes. Ansonsten war der Raum leer.

Sie gingen voran, begleitet vom Echo der Schritte auf den Fliesen. Richard sah, daß auf dem Tisch Bücher lagen. Seine Hoffnung stieg. Bücher waren der Grund, weshalb er hergekommen war. Es konnte noch Wochen dauern, bis Kahlan und Zedd wieder zurück waren, und er fürchtete, daß er gezwungen war, schon vorher etwas zum Schutz der Burg zu unternehmen. Die Warterei machte ihn rastlos und setzte ihm zu.

Da die d’Haranische Armee Aydindril besetzt hielt, bestand im Augenblick die größte Gefahr in einem Angriff auf die Burg der Zauberer. Er hoffte, Bücher zu finden, die ihm irgendwelches Wissen vermittelten, ihm vielleicht sogar erläuterten, wie er Teile seiner Magie benutzen konnte, damit er, falls ihn jemand mit Magie angriff, möglicherweise den Schlüssel fand, ihn abzuwehren. Er befürchtete, die Imperiale Ordnung könnte einen Teil der in der Burg aufbewahrten Magie rauben. Auch Mriswiths spielten in seinen Überlegungen eine Rolle.

Auf dem Tisch lag nahezu ein Dutzend Bücher, alle von derselben Größe. Die Worte auf den Einbänden waren in einer Sprache verfaßt, die er nicht kannte. Ulic und Egan stellten sich mit dem Rücken zum Tisch, während Richard mit dem Finger ein paar Bücher zur Seite schob, um die darunterliegenden besser sehen zu können. Irgend etwas an ihnen kam ihm vertraut vor.

»Sieht aus, als wären es alles dieselben Bücher, aber in verschiedenen Sprachen«, meinte er, halb zu sich selbst.

Eines, das ihm auffiel, drehte er um und warf einen Blick auf den Titel. Und plötzlich wurde ihm bewußt, daß er, obwohl er ihn nicht lesen konnte, die Sprache irgendwo schon einmal gesehen hatte. Dann erkannte er die beiden Worte wieder. Das erste, fuer, und das dritte, ost, waren Worte, die er nur zu gut kannte. Der Titel war in Hoch-D’Haran.

In den Gewölbekellern im Palast der Propheten hatte Warren ihm eine Prophezeiung gezeigt, die sich auf ihn bezog und ihn als fuer grissa ost drauka bezeichnete: der Bringer des Todes. Das erste Wort in diesem Titel war der bestimmte Artikel, und das dritte, ost, stand für die Verknüpfung der beiden Teile.

»Fuer Ulbrecken ost Brennika Dieser.« Richard stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Ich wüßte zu gerne, was das bedeutet.«

»Die Abenteuer von Bonnie Day. Glaube ich.«

Richard drehte sich um und sah, daß Berdine über seine Schulter auf den Tisch blickte. Sie trat zurück und wandte ihre blauen Augen ab, als glaubte sie, etwas Unrechtes getan zu haben.

»Was habt Ihr gesagt?« fragte er leise.

Berdine zeigte auf das Buch. »Fuer Ulbrecken ost Brennika Dieser. Ihr sagtet, Ihr würdet gerne wissen, was das bedeutet. Ich glaube, es bedeutet Die Abenteuer von Bonnie Day. Es ist ein alter Dialekt.«

Die Abenteuer von Bonnie Day war der Titel eines Buches, das Richard seit seiner frühesten Kindheit besessen hatte. Damals war es sein Lieblingsbuch gewesen, und er hatte es so oft gelesen, daß er es praktisch auswendig kannte.

Erst nach seinem Eintreffen im Palast der Propheten in der Alten Welt hatte er herausgefunden, daß Nathan Rahl, ein Prophet und Richards Vorfahr, das Buch geschrieben hatte. Nathan hatte das Buch, wie er sagte, als Leitfaden für Prophezeiungen geschrieben und vielversprechenden jungen Burschen geschenkt. Nathan hatte Richard erzählt, bis auf Richard hätte alle Besitzer des Buches ein tödliches Schicksal ereilt.

Bei Richards Geburt waren die Prälatin und Nathan in die Neue Welt gekommen und hatten Das Buch der gezählten Schatten aus der Burg der Zauberer entwendet, um zu verhindern, daß es Darken Rahl in die Hände fiel. Sie hatten es an Richards Stiefvater, George Cypher, weitergegeben und ihm das Versprechen abgenommen, Richard das ganze Buch Wort für Wort auswendig lernen zu lassen und es dann zu vernichten. Das Buch der gezählten Schatten wurde benötigt, um die Kästchen der Ordnung in D’Hara zu öffnen. Richard kannte dieses Buch noch immer auswendig — jedes einzelne Wort.

Richard erinnerte sich gerne an die glücklichen Zeiten seiner Jugend, als er noch zu Hause bei seinem Vater und seinem Bruder gelebt hatte. Er hatte seinen älteren Bruder sehr gerne gemocht und zu ihm aufgesehen. Wer hätte damals geahnt, welche heimtückischen Wendungen das Leben nehmen würde? Doch zu diesen Zeiten der Unschuld gab es kein Zurück.

Nathan hatte ihm damals ebenfalls eine Ausgabe von Die Abenteuer der Bonnie Day dagelassen. Auch die Ausgaben hier, in den anderen Sprachen, mußte er bei seinem Aufenthalt unmittelbar nach Richards Geburt hier in der Burg zurückgelassen haben.

»Woher wißt Ihr, was dort steht?« fragte Richard.

Berdine schluckte. »Es ist in Hoch-D’Haran, allerdings in einem alten Dialekt.«

An der Art, wie sie die Augen aufriß, merkte Richard, daß er offenbar eine furchteinflößende Miene aufgesetzt hatte. Er gab sich alle Mühe, seine Züge zu glätten.

»Soll das heißen, daß Ihr Hoch-D’Haran versteht?« Sie nickte. »Ich habe gehört, es sei eine tote Sprache. Ein Gelehrter, ein Bekannter von mir, der Hoch-D’Haran versteht, meinte, daß fast niemand mehr diese Sprache spricht. Woher könnt Ihr sie?«

»Von meinem Vater«, sagte sie. Ihre Stimme wurde ausdruckslos. »Das war einer der Gründe, weshalb mich Darken Rahl als Mord-Sith ausgewählt hat.« Ihr Gesicht war erstarrt. »Es gab nur noch wenige, die HochD’Haran verstanden. Mein Vater war einer von ihnen. Darken Rahl benutzte Hoch-D’Haran für seine Magie, und er mochte es nicht, wenn auch noch andere diese Sprache verstanden.«

Richard brauchte nicht zu fragen, was aus ihrem Vater geworden war.

»Das tut mir leid, Berdine.«

Er wußte, daß diejenigen, die man als Mord-Sith in die Leibeigenschaft preßte, während ihrer Ausbildung gezwungen wurden, ihre Väter zu Tode zu foltern. Man nannte dies das dritte Brechen. Es war ihre letzte Prüfung.

Sie zeigte keinerlei Regung. Sie hatte sich hinter die eiserne Maske ihrer Ausbildung zurückgezogen. »Darken Rahl wußte, daß mein Vater mir ein wenig der alten Sprache beigebracht hatte, aber als Mord-Sith war ich für ihn keine Bedrohung. Er fragte mich gelegentlich, wie ich bestimmte Worte auslegen würde. Hoch-D’Haran ist eine Sprache, die schwer zu übersetzen ist. Viele Worte, besonders in den älteren Dialekten, weisen Bedeutungen auf, die nur im Zusammenhang verstanden werden können. Ich bin alles andere als eine Expertin, trotzdem verstehe ich etwas. Darken Rahl beherrschte Hoch-D’Haran meisterhaft.«

»Und wißt Ihr, was fuer grissa ost drauka bedeutet?«

»Das ist ein sehr alter Dialekt. In diesen alten Versionen bin ich nicht sehr beschlagen.« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube, die wörtliche Übersetzung lautet ›Der Bringer des Todes‹. Wo habt Ihr das gehört?«

Über die Schwierigkeiten der anderen Bedeutungen wollte er im Augenblick nicht weiter grübeln. »In einer alten Prophezeiung. Darin wird mir dieser Name gegeben.«

Berdine verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Zu Unrecht, Lord Rahl. Es sei denn, er bezieht sich auf Euer Geschick im Umgang mit Euren Feinden und nicht Euren Freunden.«

Richard mußte lächeln. »Danke, Berdine.«

Ihr Lächeln kehrte zurück wie die Sonne hinter abziehenden Sturmwolken.

»Sehen wir mal, was wir hier sonst noch Interessantes finden«, sagte er und steuerte auf die überwölbte Öffnung am anderen Ende des Raumes zu.

Beim Durchschreiten der Öffnung spürte Richard, wie ein kribbelndes, kitzelndes Gefühl in einer rasiermesserscharfen Linie über seine Haut hinwegstrich. Nach Passieren der Öffnung war es verschwunden. Er hörte Raina seinen Namen rufen und drehte sich um.

Die übrigen auf der anderen Seite preßten ihre Hände gegen die Luft, als wäre sie eine Scheibe aus undurchdringlichem Glas. Ulic schlug mit der Faust dagegen, ohne jeden Erfolg.

»Lord Rahl!« rief Cara. »Wie kommen wir hier durch?«

Richard ging zu dem Durchgang zurück. »Ich bin nicht sicher. Ich besitze Magie, die es mir ermöglicht, Schilde zu passieren. Hier, Berdine, gebt mir Eure Hand. Mal sehen, ob das funktioniert.«

Er steckte seine Hand durch die unsichtbare Barriere, und sie ergriff ohne Zögern sein Handgelenk. Langsam zog er ihre Hand auf sich zu, bis sie in den Schild eindrang.

»Oh, kalt ist das«, beklagte sie sich.

»Alles in Ordnung? Wollt Ihr es jetzt ganz wagen?«

Daraufhin nickte sie, und er zog sie weiter. Als sie durch war, fröstelte sie und schüttelte sich, als wäre sie über und über mit Käfern bedeckt.

Cara streckte ihre Hand Richtung Durchgang. »Jetzt ich.«

Richard wollte schon die Hand nach ihr ausstrecken, hielt dann aber inne. »Nein. Ihr übrigen wartet hier, bis wir zurückkommen.«

»Was!« kreischte Cara. »Ihr müßt uns mitnehmen!«

»Es gibt Gefahren, von denen ich nicht das geringste weiß. Ich kann unmöglich die ganze Zeit auf Euch aufpassen. Berdine genügt, für den Fall, daß ich Schutz benötige. Ihr übrigen wartet hier. Sollte irgend etwas passieren, wißt Ihr, wie Ihr hier wieder rauskommt.«

»Aber Ihr müßt uns mitnehmen«, flehte Cara ihn an. »Wir dürfen Euch nicht ohne Schutz lassen.« Sie drehte sich um. »Erkläre du es ihm, Ulic.«

»Sie hat recht, Lord Rahl. Es wäre besser, wenn wir Euch begleiten.«

Richard schüttelte den Kopf. »Eine ist genug. Wenn mir irgend etwas zustößt, kommt Ihr nicht mehr durch den Schild zurück. Falls etwas passiert und wir nicht zurückkommen, bin ich darauf angewiesen, daß Ihr unsere Sache weiterführt. Dann übernehmt Ihr die Führung, Cara, und holt Hilfe für uns, wenn Ihr könnt. Wenn nicht, nun, dann kümmert Ihr Euch um alles, bis mein Großvater Zedd und Kahlan hier eintreffen.«

»Tut es nicht!« Er hatte Cara noch nie so verzweifelt gesehen. »Lord Rahl, wir können es uns nicht erlauben, Euch zu verlieren.«

»Es wird schon gutgehen, Cara. Wir kommen zurück, das verspreche ich. Zauberer halten stets ihr Versprechen.«

Cara schnaubte verärgert. »Und warum gerade sie?«

Berdine warf ihr welliges, braunes Haar über die Schulter und blitzte Cara selbstzufrieden lächelnd an. »Weil Lord Rahl mich am liebsten mag.«

»Cara«, sagte Richard mit einem finsteren Seitenblick auf Berdine, »ich tue es, weil Ihr die Führerin seid. Wenn mir irgend etwas zustößt, möchte ich, daß Ihr die Führung übernehmt.«

Cara stand einen Augenblick da und dachte nach. Schließlich machte sich auch bei ihr ein selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen breit. »Also schön. Aber Ihr solltet nie wieder solche Tricks versuchen.«

Richard zwinkerte ihr zu. »Wenn Ihr es sagt.« Er blickte in den düsteren Korridor hinein. »Kommt, Berdine. Wir müssen uns umsehen, damit wir fertig werden und diesen unheimlichen Ort wieder verlassen können.«

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