3

Die Mriswiths reagierten auf die Bedrohung, nahmen Gestalt an und stürzten sich auf den Gar. Die Magie des Schwertes, der Zorn, überschwemmte Richard in seiner ganzen Wildheit, als er sah, wie sein Freund angegriffen wurde. Er sprang die Stufen hinab, hinein in den Kampf.

Geheul schlug ihm entgegen, da sich der Gar nun auf die Mriswiths stürzte. Jetzt, in der Hitze des Kampfes, waren sie zu erkennen. Vor dem Weiß der Steine und des Schnees waren sie immer noch schwer auszumachen, Richard konnte sie dennoch gut genug sehen. Es waren an die zehn, soweit er dies in all dem Durcheinander sagen konnte. Unter ihren Capes trugen sie schlichte Felle, die so weiß waren wie alles übrige an ihnen. Richard hatte sie vorher schwarz gesehen, doch er wußte, daß die Mriswiths die Farbe ihrer Umgebung annehmen konnten. Feste glatte Haut spannte sich über ihre Köpfe bis zum Hals hinunter, wo sie Falten zu werfen begann und in fest anliegende, ineinandergreifende Schuppen überging. Lippenlose Mäuler wurden aufgerissen, so daß man kleine, nadelspitze Zähne sah. Mit den Fäusten ihrer mit Schwimmhäuten versehenen Klauen umklammerten sie die Hefte dreiklingiger Messer. Kleine, runde, glänzende Augen fixierten voller Abscheu den rasenden Gar.

Geschmeidig umkreisten sie die dunkle Gestalt in ihrer Mitte. Ihre weißen Capes bauschten sich hinter ihnen auf, als sie über den Schnee hinwegglitten. Einige gerieten durch den Angriff ins Trudeln oder taumelten außer Reichweite und entkamen so den mächtigen Armen des Gar. Andere bekam der Gar mit den Krallen zu fassen, riß sie auf und verspritzte dabei Mengen von Blut auf dem Schnee.

Sie waren so sehr mit Gratch beschäftigt, daß Richard ihnen in den Rücken fallen konnte, ohne auf Widerstand zu stoßen. Nie zuvor hatte er gegen mehr als einen Mriswith gleichzeitig gekämpft, und bereits das war eine ernstzunehmende Prüfung gewesen, doch jetzt, während der Zorn der Magie durch seinen Körper flutete, hatte er nur noch eins im Sinn: Gratch zu helfen. Richard streckte zwei von ihnen nieder, bevor sie dazu kamen, sich der neuen Bedrohung zuzuwenden. Schrilles Todesgeheul zerriß die Morgenluft. Nadelspitz und schmerzhaft klang es ihm in den Ohren.

Richard spürte andere hinter sich, zog sich Richtung Palast zurück. Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum und sah, wie plötzlich drei weitere auftauchten. Sie stürzten herbei, um sich in den Kampf zu werfen — nur Fräulein Sanderholt war ihnen noch im Weg. Diese schrie auf, als sie merkte, daß die näher kommenden Bestien ihr den Fluchtweg abschnitten. Sie machte kehrt und lief vor ihnen davon. Doch das Rennen würde sie verlieren, wie Richard erkannte — und er war zu weit entfernt, um rechtzeitig zu ihr zu gelangen.

Mit einem schwungvollen Rückhandschlag seines Schwertes schlitzte er einen seiner schuppigen Gegner auf. »Gratch!« schrie er. »Gratch!«

Gratch, der gerade einem Mriswith den Kopf abdrehte, sah auf. Richard zeigte mit dem Schwert auf Fräulein Sanderholt.

»Gratch! Beschütze sie!«

Gratch begriff sofort, in welcher Gefahr Fräulein Sanderholt schwebte. Er schleuderte den schlaffen, kopflosen Kadaver zur Seite und war mit einem Satz in der Luft. Richard duckte sich. Die schnellen Schläge seiner ledrigen Flügel trugen den Gar über Richards Kopf hinweg und die Stufen hinauf.

Gratch riß die Frau mit seinen pelzigen Armen hoch. Ihre Füße lösten sich mit einem Ruck vom Boden und schwebten über die kreisenden Messer der Mriswith hinweg. Gratch breitete die Flügel aus, legte sich in die Kurve, bevor das Gewicht der Frau ihm Schwung nahm, stürzte hinter den Mriswiths in die Tiefe, bremste dann mit einem mächtigen Flügelschlag und setzte Fräulein Sanderholt auf dem Boden ab. Ohne Pause warf er sich dann wieder in den Kampf, schlug und biß, geschickt den blinkenden Messern ausweichend, mit Krallen und Reißzähnen um sich.

Richard wirbelte herum zu den drei Mriswiths am Fuß der Treppe. Er ging auf im Zorn des Schwertes, wurde eins mit der Magie und den Seelen derer, die das Schwert vor ihm geschwungen hatten. Er bewegte sich mit der trägen Eleganz eines Tanzes — des Tanzes mit den Toten. Die drei Mriswiths gingen auf ihn los, ein anmutiger Ansturm blitzblanker Klingen. Mit einem Schwenk lösten sie ihre Formation auf, zwei glitten über die Stufen nach oben und wollten ihn einkreisen. Mit einer mühelosen, zwingenden Drehung bekam Richard den Zurückgebliebenen vor die Spitze seiner Klinge.

Zu seiner Überraschung schrien die beiden anderen auf. »Nein!«

Richard hielt überrascht inne. Er hatte nicht gewußt, daß Mriswiths sprechen konnten. Sie warteten zögernd auf den Stufen, fixierten ihn mit ihren kleinen, runden, glänzenden schlangengleichen Augen. Auf ihrem Weg die Treppe hoch zu Gratch waren sie fast schon an Richard vorbei. Offensichtlich hatten sie es auf Gratch abgesehen, mutmaßte er.

Richard sprang die Stufen hinauf und verstellte ihnen den Weg. Wieder lösten sie ihre Formation auf, und jeder übernahm eine Seite. Richard täuschte nach links an, dann wirbelte er herum und drosch auf den anderen ein. Richards Schwert zerschmetterte die Dreifachklinge in seiner Klaue. Ohne zu zögern, wirbelte der Mriswith herum und wich so dem tödlichen Stoß von Richards Klinge aus, doch als das Wesen sich drehte und näher kam, um selbst einen Hieb anzubringen, zog Richard sein Schwert zurück und schlitzte ihm damit den Hals auf. Der Mriswith brüllte, ging taumelnd zu Boden, krümmte sich und vergoß sein Blut im Schnee.

Bevor Richard sich dem anderen zuwenden konnte, sprang dieser ihn von hinten an. Die beiden wälzten sich die Stufen hinunter. Sein Schwert und eines der dreiklingigen Messer glitten scheppernd über den Stein am Fuß der Treppe, schlidderten außer Reichweite und versanken im Schnee.

Sie wälzten sich herum, und beide versuchten, die Oberhand zu gewinnen. Die drahtige Bestie legte ihm die schuppigen Arme um die Brust und drückte zu, wollte Richard auf den Bauch zwingen. Der Sucher spürte den fauligen Atem in seinem Nacken. Er konnte zwar sein Schwert nicht sehen, aber er spürte dessen Magie und wußte genau, wo es lag. Er wollte danach greifen, doch das Gewicht des Mriswith hinderte ihn daran. Er versuchte sich nach vorn zu ziehen, doch der vom Schnee glatte Stein bot nicht genügend Halt. Das Schwert blieb unerreichbar.

Der Zorn verlieh ihm Kraft. Richard richtete sich wankend auf. Der Mriswith, der ihn immer noch mit schuppigen Armen umklammert hielt, schlang ein Bein um seines. Richard stürzte mit dem Gesicht nach vorn zu Boden, das Gewicht des Mriswith auf seinem Rücken preßte ihm den Atem aus den Lungen. Das zweite Messer des Mriswith schwebte Zentimeter über seinem Gesicht.

Vor Anstrengung ächzend, stemmte Richard sich mit einem Arm hoch und packte mit dem anderen das Gelenk der Hand, die das Messer hielt. Mit einer ungeheuer kraftvollen, fließenden Bewegung wuchtete er den Mriswith zurück, tauchte unter dem Arm hindurch und schraubte ihn im Hochkommen einmal ganz herum. Knochen brachen mit dumpfen Knacken. Mit seiner anderen Hand drückte Richard ihm das Messer auf die Brust. Der Mriswith, mitsamt Cape und allem anderen, nahm plötzlich eine ekelhafte, schwach grünliche Farbe an.

»Wer hat dich geschickt!« Als er nicht antwortete, verdrehte Richard ihm den Arm noch weiter, klemmte ihn auf dem Rücken der Bestie fest. »Wer hat dich geschickt!«

Der Mriswith erschlaffte. »Der Traumwandler«, zischelte er.

»Wer ist der Traumwandler? Warum bist du hier?«

Eine wächsern gelbliche Farbe überkam den Mriswith in Wellen. Er riß die Augen auf, als er erneut zu fliehen versuchte. »Grünauge!«

Plötzlich wurde Richard von einem krachenden Schlag zurückgeworfen. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte etwas Dunkles, Pelziges den Mriswith. Klauen rissen seinen Kopf nach hinten. Reißzähne bohrten sich in seinen Hals. Ein mächtiger Ruck, und die Kehle wurde ihm herausgerissen. Richard rang entsetzt nach Atem.

Er keuchte noch immer, als der Gar auf ihn losging. Richard warf die Arme hoch, als das riesige Tier gegen ihn prallte. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Die schiere Größe des Gar war erdrückend, seine furchterregende Kraft überwältigend. Ebensogut hätte Richard versuchen können, einen Berg zurückzuhalten, der auf ihn stürzte. Triefende Reißzähne schnappten nach seinem Gesicht.

»Gratch!« Er krallte seine Fäuste in das Fell. »Gratch! Ich bin’s, Richard!« Das zähnefletschende Gesicht wich ein kleines Stück zurück. Mit jedem Schnaufen entwich dampfender Atem, der nach dem Verwesungsgeruch des Mriswithblutes stank. Die leuchtend grünen Augen blinzelten. Richard strich über die sich hebende Brust. »Alles in Ordnung, Gratch. Es ist vorbei. Beruhige dich.«

Die eisenharten Muskeln der Arme, die ihn hielten, wurden schlaff. Das zähnefletschende Gesicht verzog sich zu einem faltigen Grinsen. Tränen traten ihm in die Augen, als Gratch Richard an seine Brust drückte.

»Grrratch haaaat Rrrrraaaach liiiieerrg.«

Richard gab dem Gar einen Klaps auf die Schulter und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. »Ich hab’ dich auch lieb, Gratch.«

Gratch, dessen Augen jetzt wieder funkelten, hielt Richard vor seinen Körper und musterte ihn kritisch, so als wollte er sich versichern, ob sein Freund unversehrt war. Mit einem murmelnden, gurgelnden Geräusch machte er seiner Erleichterung Luft — weil er Richard unverletzt vorfand oder weil er sich zurückgehalten hatte, bevor er ihn in Stücke gerissen hätte, war Richard nicht ganz klar, aber eins wußte er: er war selbst erleichtert, daß es vorüber war. Jetzt, wo die Angst, der Zorn und die Raserei des Kampfes abklangen, zog sich ein dumpfer Schmerz durch seine Muskeln.

Richard atmete tief durch. Das Gefühl, den plötzlichen Angriff überstanden zu haben, versetzte ihn in ein Hochgefühl, doch daß Gratch, sonst so sanft, plötzlich zur tödlich wilden Bestie geworden war, beunruhigte ihn. Mit einem flüchtigen Blick erfaßte er die erschreckend große Menge übelriechenden, geronnenen Blutes überall im Schnee. Das war nicht Gratch alleine gewesen. Als der letzte Rest des magischen Zorns verrauchte, kam ihm der Gedanke, daß Gratch ihn möglicherweise in einem ähnlichen Licht sah. Ebenso wie Richard hatte Gratch sich der Bedrohung gewachsen gezeigt.

»Du wußtest, daß sie hier waren, Gratch, nicht wahr?«

Gratch nickte begeistert und unterstrich dies noch mit einem leisen Knurren. Vielleicht hatte Gratch damals, als Richard ihn zum letzten Mal so heftig knurren gehört hatte, vor dem Hagenwald, auch die Gegenwart des Mriswith gespürt, dachte er.

Die Schwestern des Lichts hatten ihm erzählt, daß die Mriswiths gelegentlich den Hagenwald verließen und daß niemand, weder die Schwestern des Lichts — die Magierinnen waren — und nicht einmal Zauberer imstande waren, ihre Gegenwart wahrzunehmen oder jemals eine Begegnung mit ihnen überlebt hatten. Richard hatte sie spüren können, weil er als erster seit nahezu dreitausend Jahren mit beiden Seiten der Gabe geboren worden war. Wie konnte also Gratch wissen, wo sie waren?

»Konntest du sie sehen, Gratch?« Gratch deutete auf einige der Kadaver, so als wollte er sie Richard zeigen. »Nein, jetzt kann ich sie sehen. Ich meine vorher, als ich mich mit Fräulein Sanderholt unterhielt und du geknurrt hast. Konntest du sie da schon sehen?« Gratch schüttelte den Kopf. »Konntest du sie hören oder riechen?« Gratch legte nachdenklich die Stirn in Falten, seine Ohren zuckten, dann schüttelte er erneut den Kopf. »Woher wußtest du dann, daß sie da waren, bevor du sie sehen konntest?«

Das riesige Tier zog seine Brauen, dick wie Axtgriffe, zusammen und blickte Richard fragend von oben an. Er zuckte die Achseln. Sein Unvermögen, eine befriedigende Antwort zu geben, schien ihn zu verwirren.

»Soll das heißen, du konntest sie spüren, bevor du sie gesehen hast? Irgend etwas hat dir gesagt, daß sie da sind?«

Grinsend nickte Gratch, froh, weil Richard zu verstehen schien. Aus einem ähnlichen Grund hatte Richard von ihrer Anwesenheit gewußt — er konnte sie spüren, im Geiste sehen, bevor er sie mit den Augen erblickte. Aber Gratch besaß die Gabe nicht. Wieso war er dazu fähig?

Vielleicht, weil Tiere Dinge eher spürten als Menschen. Wölfe wußten gewöhnlich, daß man da war, bevor man wußte, das sie da waren. Gewöhnlich bemerkte man ein Reh im Gebüsch erst dann, wenn es Reißaus nahm, weil es einen längst gewittert hatte, bevor man es selbst zu Gesicht bekam. Im allgemeinen hatten Tiere schärfere Sinne als Menschen, und Raubtiere mit die schärfsten. Und Gratch war ganz gewiß ein Raubtier. Dieser Sinn hatte ihm offenbar mehr genützt als Richard die Magie.

Fräulein Sanderholt war zum Fuß der Treppe heruntergekommen und legte Gratch eine bandagierte Hand auf den pelzigen Arm. »Gratch … danke.« Sie wandte sich Richard zu und senkte die Stimme. »Ich dachte schon, er würde mich auch umbringen«, gestand sie. Kurz sah sie zu den zerfetzten Leichen hinüber. »Ich habe gesehen, wie Gars das gleiche Menschen angetan haben. Als er mich packte, war ich überzeugt, er würde mich töten. Aber ich habe mich geirrt. Er ist anders.« Sie blickte erneut zu Gratch hoch. »Du hast mir das Leben gerettet. Danke.«

Gratch lächelte, und man konnte seine blutverschmierten Reißzähne in ihrer ganzen Länge sehen. Der Anblick verschlug ihr den Atem.

Richard blickte hinauf in das finster wirkende, grinsende Gesicht. »Hör auf zu grinsen, Gratch. Du machst ihr schon wieder angst.«

Seine Mundwinkel senkten sich, seine Lippen bedeckten die gewaltigen, gefährlich scharfen Reißzähne. Sein faltiges Gesicht nahm einen schmollenden Ausdruck an. Gratch hielt sich für liebenswert, und ihm erschien es nur natürlich, daß alle anderen ihn ebenfalls so betrachteten.

Fräulein Sanderholt strich Gratch über den Arm. »Schon gut. Sein Lächeln kommt vom Herzen und ist auf seine Art auch schön. Ich bin einfach … nicht daran gewöhnt, das ist alles.«

Gratch lächelte Fräulein Sanderholt erneut an, diesmal schlug er dazu noch temperamentvoll mit den Flügeln. Fräulein Sanderholt konnte nicht anders, sie wich taumelnd einen Schritt zurück. Sie stand gerade erst im Begriff zu verstehen, daß dieser Gar anders war als die, die für die Menschen von jeher eine Bedrohung darstellten, doch ihre Instinkte waren noch immer mächtiger als diese Erkenntnis. Gratch ging auf die Frau zu, um sie an sich zu drücken. Richard war überzeugt, daß sie vor Angst sterben würde, bevor sie die gute Absicht des Gar erkannte, also hielt er Gratch mit der Hand zurück.

»Er mag Euch, Fräulein Sanderholt. Er wollte Euch nur umarmen, das ist alles. Aber ich denke, es reicht, wenn Ihr Euch bedankt.«

Schnell fand sie ihre Fassung wieder. »Unsinn.« Sie lächelte freundlich und breitete die Arme aus. »Ich möchte in die Arme genommen werden, Gratch.«

Gratch gurgelte vor Wonne und hob sie hoch. Leise warnte Richard Gratch, behutsam mit ihr umzugehen. Fräulein Sanderholt kicherte unterdrückt und hilflos. Als sie wieder auf dem Boden stand, zupfte sie ihr Kleid über ihrem knochigen Körper zurecht und zog das Wolltuch ungeschickt über ihre Schultern. Sie strahlte freundlich.

»Ihr habt recht, Richard. Er ist kein Haustier. Er ist ein Freund.«

Gratch nickte begeistert. Seine Ohren zuckten, während er erneut mit den ledrigen Flügeln schlug.

Richard zog ein weißes, fast sauberes Cape von einem Mriswith in der Nähe. Er bat Fräulein Sanderholt um Erlaubnis, und als sie einverstanden war, schob er sie vor die Eichentür eines kleinen, niedrigen Steinschuppens. Er legte ihr das Cape um die Schultern und zog ihr die Kapuze über den Kopf.

»Ich möchte, daß Ihr Euch konzentriert«, erklärte er ihr. »Konzentriert Euch auf das Braun der Tür hinter Euch. Haltet das Cape unter Eurem Kinn zusammen und schließt die Augen, wenn Euch das beim Konzentrieren hilft. Stellt Euch vor, Ihr seid eins mit der Tür und habt dieselbe Farbe wie sie.«

Sie sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Warum sollte ich das tun?«

»Ich möchte sehen, ob Ihr Euch unsichtbar machen könnt wie sie.«

»Unsichtbar!«

Richard lächelte aufmunternd. »Versucht es doch einfach mal!«

Sie atmete hörbar aus, schließlich nickte sie. Langsam schloß sie die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger und langsamer. Nichts geschah. Richard wartete noch ein Weilchen, doch noch immer passierte nichts. Das Cape blieb weiß, nicht ein Faden darin färbte sich braun. Schließlich öffnete sie die Augen wieder.

»Bin ich unsichtbar geworden?« fragte sie, und es klang, als machte ihr diese Vorstellung angst.

»Nein«, mußte Richard zugeben.

»Das habe ich mir gedacht. Aber wie machen diese widerlichen Schlangenmenschen sich unsichtbar?« Sie warf das Cape mit einem Schulterzucken ab und schüttelte sich vor Ekel. »Und wie kommt Ihr darauf, daß ich das könnte?«

»Sie heißen Mriswiths. Und es sind die Capes, die ihnen das ermöglichen. Daher dachte ich, Ihr könntet es vielleicht auch.« Sie sah ihn zweifelnd an. »Hier, ich will es Euch beweisen.«

Richard nahm ihren Platz vor der Tür ein und zog die Kapuze seines Mriswithcapes hoch. Dann schlug er das Cape übereinander, schloß es, und konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe. Einen Atemzug später nahm das Cape genau die Farbe dessen an, was sich hinter ihm befand. Richard wußte, daß die Magie des Capes, offenbar unterstützt durch seine eigene, irgendwie auch die bloßliegenden Teile seines Körpers verhüllte, so daß er völlig verschwand.

Als er sich vor der Tür bewegte, veränderte sich das Cape stets so, daß es genau mit dem übereinstimmte, was sie hinter ihm sah, und als er vor die weißen Steine trat, schienen die farblosen Steinblöcke und die dunkleren Fugen über ihn hinwegzugleiten und ahmten den Hintergrund so täuschend nach, als blickte sie durch ihn hindurch. Aus Erfahrung wußte Richard, daß es selbst dann keinen Unterschied machte, wenn der Hintergrund sehr vielfältig war. Das Cape war in der Lage, sich allem anzupassen, was sich hinter ihm befand.

Als Richard sich entfernte, starrte Fräulein Sanderholt noch immer auf die Tür, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, Gratch dagegen ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Die grünen Augen des Gar bekamen etwas zunehmend Bedrohliches, während er Richards Bewegungen folgte. Sein Knurren wurde lauter.

Richard ließ es dabei bewenden. Die Hintergrundfarben lösten sich vom Cape, und es wurde, als er die Kapuze zurückschlug, wieder schwarz. »Ich bin’s noch immer, Gratch.«

Fräulein Sanderholt erschrak, fuhr herum und entdeckte ihn an seinem neuen Standort. Gratchs Knurren verlor sich, ging erst in Verwirrung, dann in ein Grinsen über. Als er das neue Spiel durchschaute, fing er leise gurgelnd an zu lachen.

»Richard«, stammelte Fräulein Sanderholt, »wie habt Ihr das gemacht? Wie habt Ihr Euch unsichtbar gemacht?«

»Es ist das Cape. Er macht mich nicht wirklich unsichtbar, aber irgendwie kann es seine Farbe ändern, sich dem Hintergrund anpassen und so das Auge täuschen. Vermutlich braucht man Magie, damit das Cape funktioniert, und Ihr besitzt keine. Ich dagegen wurde mit der Gabe geboren, deshalb funktioniert es bei mir.« Richard sah sich nach den toten Mriswiths um. »Ich denke, es ist am besten, wenn wir die Capes verbrennen, damit sie nicht in falsche Hände fallen.«

Richard sagte Gratch, er solle die Capes von oben auf der Treppe holen, während er sich bückte, um die unten liegenden einzusammeln.

»Richard, meint Ihr, es könnte … gefährlich sein, die Capes dieser unheilvollen Geschöpfe zu benutzen?«

»Gefährlich?« Richard richtete sich auf und kratzte sich im Nacken. »Ich wüßte nicht, wieso. Es wechselt doch nur die Farbe, sonst nichts. Wißt Ihr, so wie manche Frösche oder Salamander die Farbe wechseln können, um sich dem anzupassen, worauf sie hocken, wie zum Beispiel einem Felsen, einem Baumstamm oder einem Blatt.«

Sie half ihm, so gut ihre verletzten Hände es zuließen. »Ich habe diese Frösche gesehen. Ich hielt es immer für eines der Wunder unseres Schöpfers, daß sie das konnten.« Sie sah lächelnd zu ihm hoch. »Vielleicht hat der Schöpfer Euch mit demselben Wunder gesegnet, weil Ihr die Gabe besitzt. Er sei gelobt, Sein Segen hat geholfen, uns zu retten.«

Als Gratch ihr die übrigen Capes reichte, eines nach dem anderen, damit sie sie auf das Bündel packen konnte, legte sich ein Gefühl der Besorgnis auf Richards Brust. Er hob den Kopf und sah den Gar an.

»Gratch, du spürst doch keine weiteren Mriswiths mehr, oder?«

Der Gar reichte Fräulein Sanderholt das letzte Cape, dann ließ er den Blick aufmerksam in die Ferne schweifen. Schließlich schüttelte er den Kopf. Richard atmete erleichtert auf.

»Hast du eine Idee, wo sie hergekommen sein könnten, Gratch? Irgendeine bestimmte Richtung?«

Wieder drehte sich Gratch langsam um und betrachtete sorgsam prüfend die Umgebung. Einen totenstillen Augenblick lang richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Burg der Zauberer, wanderte dann aber weiter. Schließlich zuckte er die Achseln und machte ein kleinlautes Gesicht.

Richard ließ den Blick über die Stadt Aydindril schweifen, musterte sorgfältig die Truppen der Imperialen Ordnung, die er unten erkennen konnte. Sie setzten sich aus Männern vieler Nationen zusammen, hatte man ihm erzählt, doch die Kettenhemden, Panzer und das dunkle Leder, das die meisten trugen, kannte er: D’Haraner.

Richard knotete das letzte lose Ende um die Capes, schnürte sie zu einem festen Bündel zusammen und warf das Ganze auf den Boden. »Was ist mit Euren Händen passiert?«

Sie hielt sie ihm hin und drehte sie. Die Bandage aus weißem Tuch war mit getrockneten Flecken aus Bratenfett, Soßen und Ölen verschmutzt, war schmuddelig von der Asche und dem Ruß der Feuer. »Man hat mir die Fingernägel mit Zangen rausgezogen, damit ich gegen die Mutter Konfessor aussage … gegen Kahlan.«

»Und — habt Ihr?« Sie wendete den Blick ab, und Richard wurde rot, als ihm klar wurde, wie seine Frage geklungen haben mußte. »Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht. Niemand kann erwarten, daß Ihr Euch ihren Forderungen unter Folter widersetzt. Die Wahrheit ist solchen Menschen gleichgültig. Kahlan würde niemals glauben, daß Ihr sie verraten habt.«

Sie zuckte mit einer Schulter und ließ die Hände sinken. »Ich habe mich geweigert, die Dinge zu sagen, die ich über sie erzählen sollte. Sie verstand, genau wie Ihr gesagt habt. Kahlan selbst befahl mir, gegen sie auszusagen, damit sie mir nicht noch mehr antun. Dennoch, es war die reinste Qual, solche Lügen auszusprechen.«

»Ich wurde mit der Gabe geboren, aber ich weiß nicht, wie man sie benutzt, sonst würde ich versuchen, Euch zu helfen.« Er wand sich vor Mitgefühl. »Lassen denn die Schmerzen wenigstens inzwischen nach?«

»Ich fürchte, jetzt, wo die Imperiale Ordnung im Besitz von Aydindril ist, haben die Schmerzen gerade erst begonnen.«

»Waren es die D’Haraner, die Euch das angetan haben?«

»Nein. Ein keltonischer Zauberer hat es angeordnet. Kahlan hat ihn bei ihrer Flucht getötet. Die meisten Soldaten der Imperialen Ordnung in Aydindril sind allerdings D’Haraner.«

»Wie haben sie die Menschen in der Stadt behandelt?«

Sie rieb sich mit den bandagierten Händen über die Arme, als fröstelte sie in der winterlichen Luft. Richard hätte ihr fast sein Cape um die Schultern gelegt, besann sich jedoch eines Besseren und half ihr statt dessen, ihr Tuch zurechtzurücken.

»Die D’Haraner haben zwar im letzten Herbst Aydindril eingenommen, und im Kampf sind ihre Soldaten brutal vorgegangen, aber seit sie jeglichen Widerstand niedergeschlagen und die Stadt übernommen haben, sind sie, solange ihre Befehle befolgt werden, nicht mehr so grausam. Vielleicht ist es ihnen wichtiger, daß ihre Beute unversehrt bleibt.«

»Das könnte sein. Was ist mit der Burg? Haben sie die auch eingenommen?«

Sie warf einen Blick über die Schulter, den Berg hinauf. »Ich bin mir nur nicht sicher, aber ich glaube nicht. Die Burg ist durch Banne geschützt, und nach dem, was man mir erzählt hat, fürchten sich die D’Haranischen Truppen vor Magie.«

Richard rieb sich nachdenklich das Kinn. »Was geschah, nachdem der Krieg mit D’Hara vorüber war?«

»Offenbar haben die D’Haraner, wie andere auch, Verträge mit der Imperialen Ordnung geschlossen. Nach und nach übernahmen die Keltonier das Ruder. Die D’Haraner stellten zwar noch immer den größten Teil der Kampftruppen, duldeten aber stillschweigend die keltonische Herrschaft über die Stadt. Keltonier fürchten Magie nicht so sehr wie die D’Haraner. Prinz Fyren von Kelton und dieser keltonische Zauberer beherrschten den Rat. Da mittlerweile Prinz Fyren, der Zauberer und der Rat tot sind, weiß ich nicht genau, wer im Augenblick das Sagen hat. Vermutlich die D’Haraner, womit wir weiterhin der Gnade der Imperialen Ordnung ausgeliefert wären.

Nun, da die Mutter Konfessor und die Zauberer fort sind, mache ich mir Sorgen, was aus uns wird. Ich weiß, sie mußten fliehen, sonst wären sie ermordet worden, aber…«

Ihre Stimme verlor sich, daher beendete er den Satz für sie. »Seit die Midlands geschaffen wurden und man Aydindril als deren Herzstück gründete, hat hier niemand anderes regiert als die Mutter Konfessor.«

»Ihr kennt Euch in der Geschichte aus?«

»Kahlan hat mir ein wenig darüber erzählt. Es betrübt sie zutiefst, daß sie Aydindril verlassen mußte, doch ich versichere Euch, wir werden nicht zulassen, daß Aydindril und die Midlands an die Imperiale Ordnung fallen.«

Fräulein Sanderholt wandte sich resigniert ab. »Was einmal war, ist nicht mehr. Mit der Zeit wird die Imperiale Ordnung die Geschichte dieses Ortes umschreiben, und die Midlands werden in Vergessenheit geraten.

Richard, ich weiß, Ihr könnt es kaum erwarten, aufzubrechen und Euch ihr anzuschließen. Sucht Euch einen Ort, wo Ihr Euer Leben in Frieden und Freiheit leben könnt. Seid nicht verbittert über das, was verloren ist. Wenn Ihr zu Kahlan kommt, dann erklärt ihr, daß es zwar Menschen gab, die bei ihrer Scheinhinrichtung gejubelt haben, daß aber viel mehr Menschen verzweifelt waren, als sie von ihrem Tod erfuhren. In den Wochen nach ihrer Flucht habe ich die Seite gesehen, die sie nicht gesehen hat. Es gibt hier böse, habgierige Menschen wie überall — aber es gibt auch gute Menschen, die sie immer in Ehren halten werden. Wir sind zwar jetzt Untertanen der Imperialen Ordnung, doch die Erinnerung an die Midlands wird, solange wir leben, in unseren Herzen weiterbestehen.«

»Danke, Fräulein Sanderholt. Ich weiß, es wird ihr Mut machen, zu hören, daß sich nicht alle innerlich von ihr und den Midlands abgewendet haben. Aber verzweifelt nicht! Solange die Midlands in unseren Herzen weiterbestehen, gibt es noch Hoffnung. Wir werden uns behaupten.«

Sie lächelte, doch tief in ihren Augen konnte er zum ersten Mal ins Innerste ihrer Verzweiflung blicken. Sie glaubte ihm nicht. Das Leben unter der Imperialen Ordnung, so kurz es bisher gedauert haben mochte, war brutal genug gewesen, selbst den kleinsten Funken Hoffnung auszulöschen. Deshalb hatte sie Aydindril auch gar nicht erst verlassen. Wo sollte sie auch hin?

Richard nahm sein Schwert aus dem Schnee und wischte die blinkende Klinge an der Fellkleidung eines Mriswith ab. Er steckte das Schwert zurück in seine Scheide.

Die beiden drehten sich um, als sie nervöses Geflüster hörten, und erblickten eine Gruppe Küchenangestellte, die sich nahe dem oberen Treppenabsatz versammelt hatten und ungläubig das Blutbad im Schnee anstarrten — und Gratch. Ein Mann hatte eines der dreiklingigen Messer aufgehoben und betrachtete es von allen Seiten. Aus Angst, die Stufen hinunterzukommen, in Gratchs Nähe, versuchte er durch hartnäckiges Winken, Fräulein Sanderholt auf sich aufmerksam zu machen. Mit einer gereizten Geste bewegte sie ihn dazu, herunterzukommen.

Offenkundig hatte ihm eher ein Leben voll harter Arbeit als das Alter zugesetzt, auch wenn sein gelichtetes Haar schon das erste Grau zeigte. Er stieg die Stufen in einer schlingernden Gangart hinab, als hätte er einen schweren Getreidesack auf seinen gebeugten Schultern. Dann nickte er Fräulein Sanderholt knapp und ehrerbietig zu, während sein Blick von ihr zu den Leichen hinüberzuckte, zu Gratch, zu Richard, und dann wieder zurück zu ihr.

»Was gibt es, Hank?«

»Ärger, Fräulein Sanderholt.«

»Im Augenblick habe ich mit meinem eigenen Ärger genug zu tun. Könnt ihr das Brot nicht ohne mich dort aus den Ofen holen?«

Er nickte hastig. »Doch, Fräulein Sanderholt. Aber bei diesem Ärger geht es um«, er starrte haßerfüllt auf den stinkenden Mriswithkadaver neben sich, »um diese Wesen.«

Richard richtete sich auf. »Was ist mit ihnen?«

Hank warf einen Blick auf das Schwert an seiner Hüfte, dann wandte er die Augen ab. »Ich glaube, es war…« Als er den Kopf hob und Gratch ansah und dieser lächelte, verschlug es dem Mann die Stimme.

»Sieh mich an, Hank.« Richard wartete, bis er gehorchte. »Der Gar wird dir nichts tun. Diese Wesen heißen Mriswith, Gratch und ich haben sie getötet. Jetzt erzähl mir von dem Ärger.«

Er wischte sich die Handflächen an seiner wollenen Hose ab. »Ich habe mir ihre Messer angesehen. Offenbar sind sie es gewesen.« Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Es geht das Gerücht, daß jeden Augenblick eine Panik ausbrechen kann. Menschen wurden ermordet. Die Sache ist, niemand hat gesehen, wie. Den Opfern wurden mit einem dreiklingigen Gegenstand die Bäuche aufgeschlitzt.«

Richard stöhnte gequält auf und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Das ist die Art, wie Mriswiths töten — sie weiden ihre Opfer aus, und man sieht sie nicht einmal kommen. Wo wurden diese Leute umgebracht?«

»Überall in der Stadt, alle ungefähr zur selben Zeit, gleich beim ersten Morgenlicht. Nach dem, was ich gehört habe, müssen es wohl mehrere Täter gewesen sein. Nach der Anzahl dieser Mriswithwesen zu schließen, habe ich wohl recht damit. Die Toten markieren ihre Wege, die wie Speichen eines Wagenrades alle hierherführen.

Sie haben getötet, wer immer ihnen im Weg stand: Männer, Frauen, sogar Pferde. Unter den Soldaten ist Unruhe ausgebrochen, denn es hat auch ein paar von ihnen erwischt, und die übrigen sind offenbar der Ansicht, daß es sich um eine Art Angriff handelt. Eines dieser Mriswithwesen ist mitten durch eine Menschenmenge gezogen, die sich auf der Straße versammelt hatte. Der Bastard hat sich nicht die Mühe gemacht, sie zu umgehen, sondern sich einen Weg durch ihre Mitte freigeschlagen.« Hank warf einen besorgten Blick auf Fräulein Sanderholt. »Einer ist durch den Palast gezogen. Hat eine Magd, zwei Wachen und Jocelyn umgebracht.«

Fräulein Sanderholt erschrak und schlug sich die bandagierte Hand vor den Mund. Sie schloß die Augen und sprach leise ein Gebet.

»Tut mir leid, Fräulein Sanderholt, aber ich denke, Jocelyn hat nicht gelitten. Ich war sofort bei ihr, und da war sie schon tot.«

»Sonst noch jemand vom Küchenpersonal?«

»Nur Jocelyn. Sie war wegen einer Besorgung unterwegs und nicht in der Küche.«

Gratch betrachtete Richard stumm, der seinerseits hinauf zu den Bergen blickte, zu den steinernen Mauern. Der Schnee darüber leuchtete rosa im Licht der Dämmerung. Er schürzte verzweifelt die Lippen und ließ den Blick erneut über die Stadt schweifen, während ihm die Galle in die Kehle stieg.

»Hank.«

»Sir?«

Richard drehte sich wieder um. »Ich möchte, daß du ein paar Männer zusammenholst. Tragt die Mriswiths zur Vorderseite des Palastes und reiht sie vor dem Haupteingang auf. Tut es jetzt gleich, bevor sie hartgefroren sind.« Seine Kiefermuskeln standen hervor, als er die Zähne aufeinanderbiß. »Steckt die Köpfe auf Spieße. Reiht sie sauber und ordentlich zu beiden Seiten auf, so daß jeder, der den Palast betritt, zwischen ihnen hindurch muß.«

Hank räusperte sich, als wollte er protestieren, doch dann fiel sein Blick auf das Schwert an Richards Seite, und statt dessen sagte er: »Sofort, Sir.« Er verneigte kurz den Kopf vor Fräulein Sanderholt und eilte zum Palast, um Hilfe zu holen.

»Die Mriswiths besitzen zweifellos Magie. Vielleicht hält die Angst davor die D’Haraner für eine Weile vom Palast fern.«

Ihre Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht. »Richard, diese Wesen besitzen, wie Ihr sagt, ganz offenbar Magie. Kann jemand außer Euch diese Schlangenmenschen sehen, wenn sie sich anschleichen und dabei die Farbe verändern?«

Richard schüttelte den Kopf. »Nach dem, was man mir erzählt hat, kann nur meine einzigartige Magie sie erspüren. Aber offensichtlich hat auch Gratch diese Fähigkeit.«

»Die Imperiale Ordnung predigt, Magie sei böse, und auch jene, die sie besitzen. Was, wenn dieser Traumwandler die Mriswiths geschickt hat, um die zu töten, die Magie haben?«

»Durchaus möglich. Worauf wollt Ihr hinaus?«

Sie betrachtete ihn eine Weile mit ernster Miene. »Euer Großvater, Zedd, besitzt Magie, ebenso wie Kahlan.«

Er bekam eine Gänsehaut, als er hörte, wie sie seine Befürchtungen laut aussprach. »Ich weiß. Aber vielleicht habe ich eine Idee. Jetzt muß ich mich erst mal um das kümmern, was hier vor sich geht, um die Imperiale Ordnung.«

»Was wollt Ihr denn damit erreichen?« Sie holte tief Luft und mäßigte ihren Tonfall. »Ich will Euch nicht kränken, Richard. Ihr besitzt zwar die Gabe, aber Ihr wißt nicht, wie man sie anwendet.

Ihr seid kein Zauberer, Ihr könnt hier nicht helfen. Flieht, solange Ihr noch könnt.«

»Wohin denn! Wenn die Mriswiths mich hier erwischen können, dann können sie das überall. Es gibt keinen Ort, an dem man sich lange verstecken kann.« Er sah zur Seite und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Ich weiß selbst, daß ich kein Zauberer bin.«

»Aber was —«

Er warf ihr einen wütenden, raubvogelhaften Blick zu. »Kahlan hat die Midlands als Mutter Konfessor im Namen der Midlands in den Krieg gegen die Imperiale Ordnung und gegen deren Tyrannei geführt. Die Imperiale Ordnung beabsichtigt, alle Magie auszumerzen und alle Menschen zu unterwerfen. Wenn wir nicht kämpfen und alle Menschen befreien sowie alle, die Magie besitzen, werden wir entweder ermordet oder versklavt. Es kann erst dann Frieden geben — sei es für die Midlands oder für jedes andere freie Land oder Volk —, wenn die Imperiale Ordnung vernichtet ist.«

»Es sind zu viele, Richard. Was glaubt Ihr denn allein erreichen zu können?«

Er war es leid, überrascht zu werden und nicht zu wissen, was ihn als nächstes erwartete. Er war es leid, als Gefangener gehalten, gefoltert, ausgebildet, angelogen zu werden. Mit ansehen zu müssen, wie hilflose Menschen dahingemetzelt wurden. Er mußte etwas tun.

Er war zwar kein guter Zauberer, aber er kannte einen. Zedd war nur wenige Wochen in Richtung Südwesten entfernt. Zedd würde verstehen, daß Aydindril von der Imperialen Ordnung befreit und die Burg der Zauberer beschützt werden mußte. Wenn die Imperiale Ordnung diese Magie zerstörte, ginge sie dann nicht — womöglich für alle Zeiten — verloren?

Wenn es sein mußte, gab es noch andere — im Palast der Propheten in der Alten Welt —, die vielleicht bereit und in der Lage waren zu helfen. Warren war sein Freund, und obwohl seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen war, war er ein Zauberer und kannte sich mit Magie aus. Jedenfalls besser als Richard.

Auch Schwester Verna würde ihm helfen. Die Schwestern waren ebenfalls Magierinnen und besaßen die Gabe, auch wenn sie nicht so mächtig waren wie ein Zauberer. Allerdings traute er außer Schwester Verna keiner von ihnen. Nun, vielleicht auch Prälatin Annalina. Es gefiel ihm nicht, daß sie ihm Informationen vorenthielt und die Wahrheit nach Bedarf zurechtbog, doch das machte sie nicht aus Böswilligkeit — was sie getan hatte, war allein aus Sorge um die Lebenden geschehen. Ja, Ann würde ihm vielleicht helfen.

Und dann war da noch Nathan, der Prophet. Nathan, der den größten Teil seines Lebens unter dem Bann des Palastes gelebt hatte, war an die tausend Jahre alt. Was dieser Mann wußte, überstieg Richards Fassungsvermögen. Er hatte gewußt, daß Richard ein Kriegszauberer war, der erste, der seit Tausenden von Jahren geboren worden war, und er hatte ihm geholfen, die Bedeutung dessen zu verstehen und zu akzeptieren. Nathan hatte ihm schon einmal geholfen, und Richard war ziemlich sicher, er würde ihm noch einmal helfen. Nathan war ein Rahl, Richards Vorfahr.

Verzweifelte Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. »Der Aggressor stellt die Regeln auf. Ich muß sie irgendwie verändern.«

»Was werdet Ihr tun?«

Richard blickte voller Zorn zur Stadt hinüber. »Ich muß etwas tun, was sie nicht erwarten.« Er fuhr mit seinen Fingern über den erhabenen Golddraht, der das Wort WAHRHEIT auf dem Heft seines Schwertes bildete, und zur selben Zeit spürte er dessen wutschäumende Magie. »Ich trage das Schwert der Wahrheit, das mir von einem echten Zauberer verliehen wurde. Ich habe eine Pflicht. Ich bin der Sucher.« Im Taumel des gärenden Zornes, der hochkam, sobald er an die von den Mriswiths ermordeten Menschen dachte, sagte er leise zu sich selbst: »Ich schwöre, ich werde diesem Traumwandler Alpträume bereiten.«

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