47

Verna blinzelte in das grelle Licht einer Lampe, als die Tür aufging. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Es war zu früh für Leomas Rückkehr. Jetzt schon zitterte sie vor Angst, die Tränen traten ihr in die Augen.

»Los, hier rein«, schnauzte Leoma jemanden an.

Verna setzte sich auf und sah, wie sich eine kleine, dürre Frau in den Eingang schob. »Wieso muß ich das tun?« beklagte sich eine vertraute Stimme. »Ich will ihre Zelle nicht saubermachen. Das gehört nicht zu meiner Arbeit.«

»Ich habe hier drinnen mit ihr zu arbeiten, und der Gestank macht mich fast blind. Jetzt geh dort rein und beseitige diesen Gestank, oder ich sperre dich hier zusammen mit ihr ein, um dir den gebührenden Respekt vor einer Schwester beizubringen.«

Murrend kam die Frau in die Zelle gewatschelt und schleppte ihren schweren Eimer mit Seifenwasser herein. »Stinkt tatsächlich«, verkündete sie. »Stinkt nach ihresgleichen.« Der Eimer wurde mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden abgesetzt. »Dreckige Schwester der Finsternis.«

»Wisch einfach mit etwas Seifenwasser durch und mach schnell. Ich habe zu arbeiten.«

Verna hob den Kopf und sah Millie, die sie anstarrte. »Millie…«

Verna drehte das Gesicht zur Seite, aber nicht schnell genug, bevor Millie sie anspuckte. Sie wischte sich den Speichel mit dem Handrücken von der Wange.

»Dreckiger Abschaum. Wenn ich mir vorstelle, daß ich Euch vertraut habe. Wenn ich mir vorstelle, daß ich Euch als Prälatin respektiert habe. Und die ganze Zeit habt Ihr dem Namenlosen gedient. Soweit es mich betrifft, könnt Ihr hier drin verfaulen. Euer wandelnder, dreckiger Leichnam erfüllt den Palast mit seinem Gestank. Hoffentlich peitschen sie Euch, bis Euch die Haut vom Leib —«

»Das reicht«, sagte Leoma. »Mach einfach sauber, dann kannst du dich aus ihrer abscheulichen Gegenwart befreien.«

Millie brummte angeekelt. »Kann mir nicht schnell genug gehen.«

»Keinem von uns gefällt es, sich im selben Raum mit einer Verruchten wie ihr aufzuhalten. Es ist jedoch meine Pflicht, sie zu verhören, und du könntest wenigstens dafür sorgen, daß es ein bißchen weniger stinkt.«

»Ja, Schwester. Für Euch werde ich es tun, für eine echte Schwester des Lichts, damit Ihr wenigstens nicht ihren Gestank zu ertragen braucht.« Millie spie noch einmal in Vernas Richtung.

Verna war den Tränen nahe. Es war demütigend, daß Millie diese schrecklichen Dinge über sie dachte. Und alle anderen auch. Sie war längst selbst nicht mehr völlig sicher, ob sie nicht stimmten. Die Schmerzensprüfung hatte ihr dermaßen den Kopf verdreht, daß sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, ob sie bei klarem Verstand war, wenn sie an ihre Unschuld glaubte. Vielleicht war es verkehrt, Richard ergeben zu sein. Schließlich war er auch nur ein Mensch.

Sobald Millie fertig war, würde Leoma aufs neue beginnen. Sie hörte sich selbst über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage schluchzen. Als Leoma das Schluchzen hörte, lächelte sie.

»Leer den stinkenden Nachttopf aus«, sagte Leoma.

Millie blähte angewidert die Wangen auf. »Also schön, also schön, haltet nur Euren Rock fest, dann werde ich ihn leeren.«

Millie schob den Eimer mit dem Seifenwasser näher an Vernas Strohlager heran und holte den randvollen Nachttopf. Sich die Nase zuhaltend, trug sie ihn mit ausgestrecktem Arm aus der Zelle.

Als sie schlurfend den Korridor entlang verschwunden war, fragte Leoma: »Ist dir irgendeine Veränderung aufgefallen?«

Verna schüttelte den Kopf. »Nein, Schwester.«

Leoma zog die Augenbrauen hoch. »Die Trommeln. Sie haben aufgehört.«

Verna erschrak, als sie es bemerkte. Sie mußten aufgehört haben, während sie schlief.

»Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein, Schwester.«

»Es bedeutet, daß der Kaiser nicht mehr fern ist und bald eintreffen wird. Vielleicht morgen. Er will, daß unser kleines Experiment Ergebnisse bringt. Heute abend wirst du entweder deiner Treue zu Richard abschwören, oder du wirst dich gegenüber Jagang verantworten müssen. Deine Zeit ist abgelaufen. Denk darüber nach, während Millie deinen Dreck wegmacht.«

Leise vor sich hinfluchend kam Millie mit dem leeren Nachttopf zurück. Sie stellte ihn in der hinteren Ecke ab und ging wieder daran, den Boden zu schrubben. Sie tunkte ihren Lappen ins Wasser, klatschte ihn auf den Boden und arbeitete sich langsam zu Verna vor.

Verna fuhr sich mit der Zunge über ihre aufgesprungenen Lippen und starrte das Wasser an. Auch wenn es seifig war, es würde ihr nichts ausmachen. Sie überlegte, ob sie es schaffen würde, einen Schluck davon hinunterzustürzen, bevor Leoma sie daran hinderte. Wahrscheinlich nicht.

»Eigentlich brauchte ich das nicht zu machen«, nörgelte Millie bei sich, aber laut genug, damit die beiden anderen es hören konnten. »Schlimm genug, daß ich im Zimmer des Propheten saubermachen muß, jetzt wo wir einen neuen haben. Ich dachte, ich brauchte nicht mehr im Zimmer eines Wahnsinnigen zu putzen. Es wird wohl langsam Zeit, daß eine jüngere Frau die Arbeit macht. Ein seltsamer Mann ist das. Propheten sind alle verrückt, ja, das sind sie. Dieser Warren gefällt mir auch nicht besser als der letzte.«

Verna wäre bei der Erwähnung von Warrens Namen fast in Tränen ausgebrochen, so sehr vermißte sie ihn. Sie fragte sich, ob sie ihn gut behandelten. Leoma beantwortete ihre unausgesprochene Frage.

»Ja, er ist tatsächlich etwas eigenartig. Aber die Prüfungen mit dem Halsring bringen ihn wieder auf Trab. Dafür werde ich sorgen.«

Verna wandte die Augen von Leoma ab. Ihm tat sie es also ebenfalls an. Oh, guter Warren.

Millie schob ihren Eimer mit einem Knie beim Schrubben näher. »Sieh mich nicht an. Ich will deinen ekelhaften Blick nicht auf meinem Körper liegen haben. Man kriegt ja eine Gänsehaut davon, als ob der Namenlose selbst einen ansähe.«

Verna senkte den Blick. Millie warf den Lappen in den Eimer und tauchte tief mit den Händen ein, um ihn auszuwaschen. Sie sah über die Schulter nach hinten, während sie den Lappen im Wasser hin und her schwenkte.

»Ich bin bald fertig. Nicht bald genug für mich, aber bald. Dann habt Ihr diese ruchlose Verräterin ganz alleine für Euch. Hoffentlich geht Ihr nicht zu behutsam mit ihr um.«

Leoma lächelte. »Sie bekommt, was sie verdient.«

Millie zog ihre Hände aus dem Seifenwasser. »Gut.« Dann stieß sie derb mit einer nassen, schwieligen Hand gegen Vernas Füße. »Nimm deine Füße weg! Wie soll ich den Boden wischen, wenn du hier sitzt wie festgewachsen?«

Verna spürte einen festen Gegenstand an ihrer Hüfte, als Millie ihre Hand wegzog.

»Dieser Warren ist auch so ein Ferkel. Ständig ist sein Zimmer das reinste Durcheinander. Heute früh war ich erst dort, und gestunken hat es fast so schlimm wie in diesem Schweinestall.«

Verna legte ihre Hände neben ihre Beine und schob sie unter die Oberschenkel, so als wollte sie sich abstützen, während sie die Füße für Millie anhob. Ihre Finger stießen gegen etwas Hartes, Dünnes. Anfangs wußte ihr benommener Verstand mit dem Gefühl nichts anzufangen. Dann wurde es ihr ruckartig klar.

Es war ein Dacra.

Ihre Brust schnürte sich zusammen. Ihre Muskeln wurden steif. Sie konnte sich kaum zwingen zu atmen.

Plötzlich spie ihr Millie wieder ins Gesicht, so daß sie zusammenzuckte und den Kopf wegdrehte. »Wage bloß nicht, eine ehrliche Frau auf diese Weise anzusehen! Halte deine Augen von mir fern!«

Verna wurde klar, daß Millie offenbar ihre Reaktion bemerkt hatte.

»Fertig«, meinte sie und richtete ihren drahtigen Körper auf, »es sei denn, Ihr wollt, daß ich sie bade. Wenn, dann solltet Ihr Euch das besser noch einmal durch den Kopf gehen lasen. Dieses gottlose Weibstück rühre ich nicht an.«

»Nimm einfach deinen Eimer und geh«, sagte Leoma mit wachsender Ungeduld.

Verna hielt den Dacra so fest mit ihrer Faust umklammert, daß ihr die Finger kribbelten. Ihr Herz pochte so heftig, als wollte es ihr die Rippen brechen.

Millie schlurfte aus der Zelle, ohne sich umzudrehen. Leoma stieß die Tür zu.

»Dies ist deine letzte Chance, Verna. Weigerst du dich auch weiterhin, wirst du dem Kaiser übergeben. Dann wirst du dir bald wünschen, du hättest mit mir zusammengearbeitet, soviel kann ich dir versprechen.«

Komm näher, dachte Verna. Komm näher.

Sie fühlte, wie die erste Schmerzwelle durch ihren Körper jagte. Sie ließ sich nach hinten auf das Lager fallen und drehte sich von Leoma fort. Komm näher.

»Setz dich auf und sieh mich an, wenn ich mir dir spreche!«

Verna bekam nur einen leisen Schrei heraus, blieb aber, wo sie war, in der Hoffnung, Leoma näher heranlocken zu können. Wenn sie aus dieser Entfernung zustieß, hatte sie keine Chance. Die Frau würde sie daran hindern, bevor sie die Entfernung überbrückt hatte. Sie mußte näher heran.

»Ich sagte, setz dich aufrecht hin!« Leomas Schritte kamen näher.

Gütiger Schöpfer, bitte lasse sie nahe genug kommen.

»Du wirst mich ansehen und mir sagen, daß du dich von Richard lossagst. Du mußt dich von ihm lossagen, damit der Kaiser in deine Gedanken eindringen kann. Er wird wissen, ob du deine Treue aufgegeben hast, glaube also nicht, du könntest lügen.«

Noch ein Schritt. »Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«

Noch ein Schritt. Eine Faust packte ihr Haar und riß ihren Kopf nach oben. Leoma war nahe genug, doch Vernas Arme brannten vor Schmerzen, und sie konnte ihre Hand nicht heben. Oh, gütiger Schöpfer, mach, daß sie die Prüfung nicht an meinen Armen beginnt. Laß sie mit den Beinen anfangen. Ich brauche meine Arme.

Statt in ihren Beinen anzufangen, schoß der nervenversengende Schmerz durch ihre Arme nach unten. Unter Aufbietung aller Kraft versuchte Verna, die Hand mit dem Dacra zu heben. Sie ließ sich nicht bewegen. Ihre Finger zuckten unter stechenden Schmerzen.

Allen Bemühungen zum Trotz wurden ihre Finger unter Krämpfen aufgerissen, und der Dacra fiel heraus.

»Bitte«, schluchzte sie, »nimm diesmal nicht meine Beine. Ich flehe dich an, nimm nicht meine Beine.«

Leoma riß ihr den Kopf an den Haaren nach hinten, dann schlug die Frau ihr ins Gesicht. »Beine, Arme, das ist vollkommen egal. Du wirst dich unterwerfen.«

»Du kannst mich nicht zwingen. Du wirst scheitern, und dann…« Weiter kam Verna nicht, bevor die Hand ihr wieder ins Gesicht schlug.

Der sengende Schmerz sprang auf ihre Beine über, die unkontrollierbar zuckten. Vernas Arme kribbelten, aber wenigstens konnte sie sie bewegen. Ihre Hand tastete, verzweifelt nach dem Dacra suchend, blind über das Lager.

Ihr Daumen stieß dagegen. Sie schloß die Finger um den kühlen Metallgriff und zog ihn in ihre Hand.

Unter Aufbietung all ihrer Kraft und Entschlossenheit rammte Verna den Dacra in Leomas Oberschenkel.

Leoma schrie auf und ließ Vernas Haare los.

»Sei still!« keuchte Verna. »Ich habe einen Dacra in dir. Beweg dich nicht.«

Langsam senkte Leoma eine Hand, um ihr Bein oberhalb des Dacra in ihrem Oberschenkelmuskel zu befühlen. »Du kannst unmöglich glauben, daß das funktioniert.«

Verna schluckte, kam wieder zu Atem. »Nun, ich denke, es wird sich herausstellen, nicht? Nach Lage der Dinge habe ich nichts zu verlieren. Du schon — dein Leben.«

»Sei vorsichtig, Verna, oder es wird dir sehr, sehr leid tun. Zieh ihn raus, und ich werde so tun, als wäre es nie geschehen. Zieh ihn einfach raus.«

»Oh, ich glaube, das ist kein guter Rat, Beraterin.«

»Ich habe die Gewalt über deinen Halsring. Ich brauche nichts weiter zu tun, als dein Han zu blockieren. Zwingst du mich dazu, wird es dir noch schlimmer ergehen.«

»Wirklich, Leoma? Nun, ich denke, ich sollte dir erklären, daß ich auf meinen zwanzig Jahren Reise eine Menge über den Gebrauch des Dacra gelernt habe. Es stimmt zwar, daß du mein Han über den Rada’Han blockieren kannst, aber nicht schnell genug, um zu verhindern, daß ich vorher einen winzigen Strom davon berühren kann. Nach meinen Erfahrungen wird das genügen, denke ich. Wenn ich mein Han berühre, bist du auf der Stelle tot.

Zweitens, um mein Han blockieren zu können, mußt du mit ihm über den Ring in Verbindung treten. Das verleiht dir die Fähigkeit, es zu beeinflussen — so funktioniert es. Was meinst du? Wird das Blockieren meines Han durch deine Berührung an sich schon den Dacra auslösen und dich töten? Ich weiß selbst nicht ganz genau, aber ich muß dir sagen, ich für meinen Teil, den Teil, der das Heft in der Hand hält, bin bereit, es auszuprobieren. Was meinst du? Willst du es ausprobieren, Leoma?«

Lange herrschte Schweigen in der schwach beleuchteten Zelle. Verna spürte, wie warmes Blut über ihre Hand rann. Endlich drang Leomas Stimme in die Stille ein. »Nein. Was soll ich tun?«

»Nun, zuerst einmal wirst du mir diesen Rada’Han abnehmen, und dann, da ich dich zu meiner Beraterin ernannt habe, werden wir uns ein wenig unterhalten — und du wirst mich beraten.«

»Wenn ich dir den Halsring abgenommen habe, wirst du den Dacra herausziehen. Dann werde ich dir sagen, was du wissen willst.«

Verna schaute in die von Panik erfüllten Augen, die sie beobachteten. »Du bist wohl kaum in der Position, Forderungen zu stellen. Ich bin in dieser Zelle gelandet, weil ich zu vertrauensselig war. Ich habe meine Lektion gelernt. Der Dacra bleibt, wo er ist, bis ich mit dir fertig bin. Wenn du nicht tust, was ich sage, bist du lebend für mich wertlos. Hast du das begriffen, Leoma?«

»Ja«, kam die schicksalergebene Antwort.

»Dann laß uns beginnen.«


Wie ein Pfeil schoß er in mörderischem Tempo voran, gleichzeitig jedoch glitt er mit der langsamen Eleganz einer Schildkröte im stillen Wasser einer mondbeschienenen Nacht dahin. Es gab weder warm noch kalt. Seine Augen sahen Licht und Dunkel in einem einzigen, gespenstischen Bild, während seine Lungen unter der süßen Gegenwart der Sliph, die er in seine Seele atmete, anschwollen.

Es war das Gefühl des vollkommenen Glücks.

Plötzlich war es vorbei.

Bilder explodierten rings um ihn. Bäume, Felsen, Sterne, der Mond. Bei diesem Panorama packte ihn das Entsetzen.

Atme, forderte sie ihn auf.

Die Vorstellung erschreckte ihn. Nein.

Atme, fordere sie ihn auf.

Er dachte an Kahlan, an sein Verlangen, ihr zu helfen, und atmete aus, leerte seine Lungen von dem Gefühl vollkommenen Glücks.

Widerstrebend, dennoch gierig, sog er die fremde Luft in sich hinein.

Geräusche stürzten von allen Seiten auf ihn ein — Insekten, Vögel, Fledermäuse, Frösche, Blätter im Wind, alles schnatterte, jubilierte, klickte, pfiff und raschelte — schmerzhaft in seiner Allgegenwart.

Ein Arm setzte ihn ermutigend auf der Steinmauer ab, während sich die nächtliche Welt ringsum in seinem Kopf setzte und vertraut wurde. Er sah seine Mriswithfreunde, die sich im dunklen Wald hinter den steinernen Ruinen rings um den Brunnen verteilten. Ein paar hockten auf verstreuten Quadern, ein paar standen zwischen Säulenresten. Offenbar befanden sie sich am Rand eines uralten, zerfallenen Gebäudes.

»Ich danke dir, Sliph.«

»Wir sind dort, wohin du reisen wolltest«, sagte sie, und ihre Stimme hallte durch die Nachtluft.

»Wirst du … hier sein, wenn ich wieder reisen möchte?«

»Wenn ich wach bin, bin ich stets bereit zu reisen.«

»Wann schläfst du?«

»Wenn du es mir sagst, Herr.«

Richard nickte, ohne recht zu wissen, wem oder was er zunickte. Er blickte hinaus in die Nacht und entfernte sich vom Brunnen der Sliph. Er kannte diesen Wald, nicht vom Augenschein, sondern von einem fast greifbaren Gefühl her. Es war der Hagenwald, wenn es sich auch um eine Stelle handeln mußte, die sehr viel tiefer in dem weiten Gebiet lag, als er sich je hineingewagt hatte, denn diesen aus Stein erbauten Ort hatte er noch nie gesehen. An den Sternen las er ab, in welcher Richtung Tanimura lag.

Mriswiths strömten in großer Zahl aus dem düsteren, umliegenden Wald zu der Ruine. Viele gingen mit einem ›Willkommen, Hautbruder‹ an ihm vorüber. Im Vorbeigehen schlugen die Mriswiths ihre dreiklingigen Messer leicht gegen seines und brachten beide zum Klingen.

»Möge dein Yabree bald singen, Hautbruder«, sagte ein jeder dabei.

Richard kannte die richtige Entgegnung nicht, also sagte er einfach: »Danke.«

Als die Mriswiths sich an ihm vorbei zur Sliph stahlen und gegen sein Yabree schlugen, hielt das sirrende Klingen jedesmal länger an, und das angenehme Summen wärmte seinen ganzen Arm. Als sich weitere Mriswiths näherten, hielt er es anders, so daß er nur sein Yabree gegen ihre schlagen konnte.

Richard blickte hoch zum aufgehenden Mond und zur Stellung der Sterne. Es war früher Abend, und am westlichen Himmel war noch ein schwaches Leuchten zu erkennen. Er hatte Aydindril mitten in der Nacht verlassen. Es konnte unmöglich dieselbe Nacht sein. Es mußte die darauffolgende Nacht sein. Er hatte fast einen ganzen Tag in der Sliph verbracht.

Es sei denn, es waren zwei Tage. Oder drei. Oder ein Monat, oder gar ein Jahr. Er hatte keine Möglichkeit, das festzustellen. Er wußte nur, daß es mindestens ein Tag war. Der Mond hatte dieselbe Größe. Vielleicht war es doch nur ein Tag.

Er wartete, um den nächsten Mriswith gegen sein Yabree schlagen zu lassen. Hinten stiegen sie in die Sliph. Eine regelrechte Schlange von ihnen wartete darauf, daß sie an die Reihe kamen. Es verstrichen nur Sekunden, bis wieder einer von der Mauer heruntersprang und sich in das schimmernde Quecksilber stürzte.

Richard blieb stehen, um zu spüren, wie der Yabree das wärmende Surren durch seinen ganzen Körper sandte. Lächelnd registrierte er das singende Summen, das leise Lied, das ihm angenehm in den Ohren und in seinen Gliedern klang.

Dann verspürte er ein störendes Verlangen, das das freudige Lied unterbrach.

Er hielt einen Mriswith an. »Wo werde ich gebraucht?« Der Mriswith zeigte mit seinem Yabree auf etwas. »Sie wird dich hinbringen. Sie kennt den Weg.«

Richard schlenderte in der vom Mriswith angegeben Richtung los. Im Schatten bei einer eingestürzten Mauer wartete eine Gestalt. Der Gesang seines Yabree trieb ihn weiter vor Verlangen.

Die Gestalt war kein Mriswith, sondern eine Frau. Er glaubte, sie im Schein des Mondes wiederzuerkennen.

»Guten Abend, Richard.«

Er trat einen Schritt zurück. »Merissa!«

Sie lächelte freundlich. »Wie geht es meinem Schüler? Viel Zeit ist vergangen. Ich hoffe, du bist wohlauf und dein Yabree singt für dich.«

»Ja«, stammelte er. »Er singt davon, daß jemand nach mir verlangt.«

»Die Königin!«

»Ja, die Königin. Sie verlangt nach mir.«

»Und? Bist du bereit, ihr zu helfen? Sie zu befreien?«

Er nickte. Sie drehte sich um und führte ihn tiefer in die Ruinen hinein. Mehrere Mriswiths schlossen sich ihnen an, als sie durch die eingefallenen Türen ins Innere traten. Mondlicht fiel durch efeuüberwucherte Mauerlücken, als die Wände jedoch stabiler wurden, entzündete sie im Gehen eine Flamme in ihrer Handfläche. Richard folgte ihr Stufen hinauf, die sich in die düsteren Ruinen schraubten, durch Korridore, die offenbar seit Tausenden von Jahren niemand mehr betreten hatte.

Als sie einen riesigen Saal betraten, genügte die Helligkeit des Lichtes in ihrer Hand plötzlich nicht mehr. Merissa schickte eine kleine Flamme in die Fackeln auf beiden Seiten und tauchte den riesigen Raum damit in ein flackerndes Licht. Ringförmig um den riesigen Saal zogen sich längst vergessene, mit Staub und Spinnweben bedeckte Emporen, von denen aus man auf ein gefliestes Wasserbecken blickte, das das Hauptgeschoß bildete. Die Fliesen, einst weiß, waren mittlerweile dunkel von Flecken und Schmutz, und das trübe Wasser des Beckens war durchsetzt mit Schlinggewächsen. Oben in der Mitte war die teils überkuppelte Decke offen, und dahinter ragten Gebäude in die Höhe.

Die Mriswiths glitten neben ihn und blieben dicht bei ihm stehen. Sie schlugen ihre Yabree gegen seine. Das angenehme Singen brachte das ruhige Zentrum in seinem Inneren zum Schwingen.

»Dies ist der Platz der Königin«, meinte einer »Wir können zu ihr, und wenn die Jungen geboren werden, dürfen sie sich entfernen, doch die Königin darf diesen Ort nicht verlassen.«

»Warum nicht?« fragte Richard.

Der andere Mriswith trat nach vorne und streckte seine Kralle aus. Als sie mit etwas Unsichtbarem in Berührung kam, glühte ein großer, kuppelförmiger Schild sanft leuchtend auf. Die glänzende Kuppel paßte genau unter jene aus Stein, nur daß sie oben kein Loch aufwies. Der Mriswith zog die Kralle zurück, und der Schild wurde wieder unsichtbar.

»Die Zeit der alten Königin läuft ab, und sie wird schließlich sterben. Wir haben alle von ihrem Fleisch gegessen, und aus dem letzten ihrer Jungen ist eine neue Königin hervorgegangen. Die neue Königin singt zu uns durch den Yabree und teilt uns mit, daß sie reichlich Junge hat. Es ist an der Zeit, daß die neue Königin weiterzieht und unsere neue Kolonie aufbaut.

Die Große Barriere ist verschwunden, und die Sliph wurde geweckt. Jetzt mußt du der Königin helfen, damit wir neue Reiche gründen können.«

Richard nickte. »Ja. Sie muß frei sein. Ich kann ihr Verlangen spüren. Es erfüllt mich mit dem Gesang. Warum habt ihr sie nicht befreit?«

»Das können wir nicht. So wie du gebraucht wurdest, um die Türme auszuschalten und die Sliph aufzuwecken, so kannst auch nur du die Königin befreien. Es muß geschehen, bevor du zwei Yabree in Händen hältst und sie beide zu dir singen.«

Geleitet von seinem Instinkt ging Richard zur Treppe an der Seite. Er spürte, daß der Schild am unteren Rand stärker war. Er mußte oben durchbrochen werden. Er hielt den Yabree vor seine Brust und stieg die steinernen Stufen hinauf. Er versuchte, sich vorzustellen, wie wundersam zwei von ihnen wären. Sein tröstliches Lied beruhigte ihn, doch das Verlangen der Königin trieb ihn weiter. Die Mriswiths blieben zurück, Merissa dagegen folgte ihm.

Richard bewegte sich, als wäre er den Weg schon einmal gegangen. Die Stufen führten nach draußen, dann eine Wendeltreppe neben den eingestürzten Säulen hinauf. Das Mondlicht warf zackige Schatten zwischen die schroffen Steine, die sich inmitten der Ruinen erhoben.

Endlich erreichten sie die Spitze eines kleinen, kreisrunden Beobachtungsturmes, zu dem seitlich Pfeiler aufstrebten, die weiter oben durch die Überreste einer mit Wasserspeiern verzierten Balkenkonstruktion verbunden waren. Offenbar hatte diese einst die gesamte Kuppel umspannt und Türme wie den, auf dem sie standen, miteinander verbunden. Von dem hohen Turm aus konnte Richard durch die Kuppelöffnung nach unten blicken. Das gewölbte Dach stand voller gewaltiger Säulen, die Dornen gleich nach außen und in Reihe nach unten verliefen.

Merissa, in einem roten Kleid, der Farbe, die sie stets getragen hatte, wenn sie zu ihm gekommen war, um ihn zu unterrichten, schmiegte sich fest an ihn und blickte schweigend hinunter in die Kuppel.

Richard spürte, wie die Königin unten in dem trüben Becken nach ihm rief, ihn drängte, sie zu befreien. Das Singen seines Yabree fuhr ihm in die Knochen.

Er streckte die Hand aus und ließ sein Verlangen nach außen strömen. Er streckte den anderen Arm nach vorne und richtete den Yabree parallel zu den Fingern seiner anderen Hand nach unten. Die stählernen Messer erklangen, von der Kraft, die durch ihn hindurchströmte, in Schwingungen versetzt.

Die Klingen des Yabree schwangen, ihr Surren wurde höher, bis die Nacht aufschrie. Der Ton war schmerzhaft, doch Richard ließ es nicht leiser werden. Merissa wandte sich ab und hielt sich die Ohren zu, als die Luft vom Geheul des Yabree widerhallte.

Der kuppelförmige Schild unter ihnen erzitterte und begann zu glühen. Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern zersplitterte der Schild. Stücke davon, glühendem Glas gleich, regneten auf das Becken herab und erloschen noch im Fallen.

Der Yabree verstummte, und die Nacht war wieder still.

Eine massige Gestalt regte sich und befreite sich aus den Schlingpflanzen. Flügel wurden, ihre Kraft erprobend, ausgebreitet, dann erhob sich die Königin mit verzweifelten Schlägen in die Luft. Mit den nötigsten Flügelschlägen stieg sie zum Rand der Kuppel auf, wo sie mit den Krallen am Mauerwerk Halt suchte. Sie begann, am Mauerwerk des Turmes hinaufzuklettern, auf dem Richard und Merissa standen. Mit sicheren, langsamen und kräftigen Zügen hievte sie ihren glänzenden, massigen Körper die Säule hinauf.

Endlich hielt sie an und klammerte sich an den Pfeiler neben Richard, so wie sich ein klauenbewehrter Salamander an einen glitschigen Baumstamm krallt. Im hellen Licht des Mondes konnte Richard erkennen, daß sie rot war wie Merissas Kleid. Zuerst glaubte Richard, einen roten Drachen vor sich zu haben, bei näherem Hinsehen jedoch konnte er die Unterschiede erkennen.

Arme und Beine waren muskulöser als die eines Drachens und mit kleineren Schuppen bedeckt, die eher denen eines Mriswiths glichen. Eine erhabene Reihe ineinandergreifender Panzerplatten zog sich vom Schwanzende bis zu einem Stachelbüschel am Kopfansatz der Länge nach an der Wirbelsäule entlang. Oben auf dem Kopf, am Ansatz mehrerer langer, biegsamer Stacheln, befand sich eine vorstehende, mit Reihen schuppenlosen Fleisches besetzte Wölbung, die gelegentlich beim Ausatmen flatterte.

Der Kopf der Königin schwenkte herum, schaute, suchte. Ihre Flügel entfalteten sich und strichen leise durch die Nachtluft. Sie wollte etwas.

»Was suchst du?« fragte Richard.

Sie verdrehte den Kopf nach unten, zu ihm, stieß ein verärgertes Schnaufen aus, das ihn in einen eigenartigen Duft einhüllte. Irgendwie empfand er dadurch ihr Verlangen intensiver. Der Duft besaß eine Bedeutung, die er verstand. »Ich will an diesen Ort

Dann drehte sie den Kopf nach draußen in die Nacht hinter den Pfeilern. Sie schnaubte und stieß dabei ein langes, langsames Grollen aus, das in der Luft zu beben schien. Richard konnte erkennen, daß sie die Luft durch die fleischigen Streifen auf ihrem Kopf ausatmete. Sie flatterten und erzeugten dadurch das Geräusch. Den schweren Duft noch immer in der Nase, betrachtete er die Weite der Nacht vor dem Turm.

Die Luft schimmerte und wurde heller, als vor ihm ein Bild aufzutauchen begann. Die Königin trompetete erneut, und das Bild hellte sich noch mehr auf. Es handelte sich um eine Szene, die Richard wiedererkannte — Aydindril, wie durch einen unheimlichen, bräunlichen Nebel hindurch. Richard konnte die Gebäude der Stadt erkennen, den Palast der Konfessoren, und, als sie erneut trompetete und das Bild, das vor ihm durch den Nachthimmel zog, ein weiteres Mal heller wurde, die Burg der Zauberer, die sich an der Bergflanke erhob.

Ihr Kopf schwenkte zu ihm herum, sonderte wieder einen Duft ab, anders als der erste. »Wie komme ich an diesen Ort?«

Richard staunte grinsend, daß er über einen Duft verstand, was sie sagen wollte. Er grinste auch deshalb, weil er ihr helfen konnte.

Er streckte den Arm aus, und ein Glühen schoß aus ihm hervor, das die Sliph beleuchtete. »Dort. Sie wird dich hinbringen.«

Die Königin löste sich flügelschlagend vom Pfeiler und glitt hinüber zur Sliph. Sehr gut fliegen konnte die Königin nicht, wie Richard erkannte. Sie konnte ihre Flügel ein wenig zu ihrer Unterstützung einsetzen, aber bis nach Aydindril fliegen konnte sie nicht. Sie brauchte Hilfe, um dorthin zu kommen. Die Sliph schloß die Königin schon in ihre Arme, als diese noch die Flügel einfaltete. Das Quecksilber nahm sie auf, und die rote Königin verschwand.

Richard lächelte vor Freude über den singenden Yabree in seiner Hand, dessen Summen ihm in die Knochen fuhr.

»Wir sehen uns unten, Richard«, sagte Merissa. Er spürte, wie sie ihn plötzlich hinten an seinem Hemdkragen packte und ihn mit der Kraft ihres Han über die Umrandung des Turmes schleuderte.

Instinktiv streckte Richard die Hand aus und bekam im Fallen gerade noch den Rand der Kuppelöffnung zu fassen. Er hing pendelnd an seinen Fingern, seine Füße baumelten über einer Tiefe von fast einhundert Fuß. Scheppernd landete sein Yabree unten auf dem Steinboden. Als nun unvermittelt die Panik über ihn hereinbrach, war ihm, als wache er in einem Alptraum auf.

Das Singen war vorbei. Ohne den Yabree war sein Kopf plötzlich erschreckend klar. Mit einem entsetzlichen Schaudern wurde er sich des heimtückischen Zaubers bewußt und was dieser mit ihm angestellt hatte.

Merissa beugte sich vor, sah ihn dort hängen und schleuderte einen Blitz aus Feuer auf ihn herab. Er schwenkte seine Füße nach innen, und die Flammen verfehlten ihn knapp. Denselben Fehler würde sie kein zweites Mal machen.

Hektisch tastete Richard unter dem Kuppelrand nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten. Seine Finger fanden eine gekehlte Stützstrebe. Erfüllt von dem verzweifelten Verlangen, vor Merissa zu fliehen, packte er sie und schwang sich unter die Kuppel, als ein weiterer Feuerblitz an ihm vorüberschoß, in dem trüben Becken unten explodierte und schmutzigen Schaum in die Luft schleuderte.

Eine Hand unter die andere setzend, getrieben von Angst — nicht nur vor Merissa, sondern auch vor der Höhe —, begann er, an der Strebe hinunterzuklettern. Merissa lief zur Treppe. Je tiefer er kletterte, desto steiler wurde die Strebe, bis sie schließlich bei Erreichen des unteren Kuppelrandes fast senkrecht verlief.

Seine Finger schmerzten, Richard selbst ächzte vor Anstrengung, und ein Gefühl der Scham überwältigte ihn. Wie konnte er nur so dumm sein? Was hatte er sich bloß gedacht? Dann überkam es ihn, und ihm wurde schlecht, als er begriff.

Das Mriswithcape.

Er erinnerte sich, wie Berdine nach draußen gerannt war, Kolos Tagebuch in der Hand, und ihm zugerufen hatte, das Cape auszuziehen. Er erinnerte sich, daß er im Tagebuch gelesen hatte, wie nicht nur die Mriswiths selbst, sondern auch ihre Feinde magische Dinge schufen, die die nötigen Veränderungen herbeiführten, um Menschen gewisse Fähigkeiten wie Stärke und Durchhaltevermögen zu verleihen, oder die Kraft, einen Lichtstrahl zu einem zerstörerischen Punkt zu bündeln, die Fähigkeit, über große Strecken sehen zu können, sogar bei Nacht.

Offenbar handelte es sich bei dem Mriswithcape um einen dieser Gegenstände, der benutzt wurde, um Zauberern die Fähigkeit zu verleihen, sich unsichtbar zu machen. Kolo hatte davon gesprochen, daß viele der von ihnen entwickelten Waffen auf furchtbare Weise nach hinten losgegangen waren. Durchaus möglich, daß sogar die Mriswiths vom Feind geschaffen worden waren.

Gütige Seelen, was hatte er nur angerichtet? Was hatte er getan? Er mußte dieses Cape loswerden. Berdine hatte ihn warnen wollen.

Das Dritte Gesetz der Magie: Leidenschaft ist stärker als Vernunft. Er hatte so leidenschaftlich versucht, zu Kahlan zu gelangen, daß er nicht von seiner Vernunft Gebrauch gemacht und Berdines Warnung in den Wind geschlagen hatte. Wie sollte er die Imperiale Ordnung jetzt noch aufhalten? Seine Torheit hatte ihnen geholfen.

Unter größer Anstrengung klammerte Richard sich an die Strebe, als sie fast senkrecht wurde. Noch zehn Fuß.

In einem Türeingang erschien Merissa. Ein Blitz fuhr in einem Lichtbogen durch den Raum. Richard löste seinen Griff und ließ sich zu Boden fallen. Das laute Krachen des Donners tat ihm in den Ohren weh. Der Blitz war ihm gefährlich nah gekommen und hätte ihm fast den Kopf abgerissen. Richard mußte fort von ihr. Er mußte fliehen.

»Ich habe deine zukünftige Braut getroffen, Richard.«

Richard erstarrte mitten in der Bewegung. »Wo ist sie?«

»Komm raus, und wir unterhalten uns darüber. Ich werde dir erzählen, wie sehr ich ihre Schreie genießen werde.«

»Wo ist sie!«

Merissas Lachen hallte durch die Kuppel. »Hier, mein Schüler. Hier in Tanimura.«

Rasend vor Wut setzte Richard einen Lichtblitz frei. Er erhellte den Saal, schoß donnernd zu der Stelle hinüber, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Steinsplitter segelten, Rauchfahnen hinter sich herziehend, durch die Luft. Er wunderte sich nur schwach, wie ihm dergleichen gelungen war. Das Verlangen.

»Warum! Warum wollt Ihr sie quälen!«

»Ach, Richard, es geht mir nicht darum, sie zu quälen, sondern dich. Ihre Qual ist deine Qual. Sie ist nur ein Mittel, um dein Blut zu bekommen.«

Richard suchte die Eingänge ab. »Warum wollt Ihr mein Blut?«

Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als er sich duckte und zu einem Durchgang rannte.

»Weil du alles verdorben hast. Du hast meinen Herrn und Meister in der Unterwelt eingesperrt. Ich sollte meinen Lohn bekommen. Ich sollte Unsterblichkeit erlangen. Ich habe meinen Teil getan, aber du hast es verdorben.«

Ein verdrehter Blitz aus schwarzem Licht schnitt ein sauberes Nichts in eine Wand gleich neben ihm. Sie benutzte Subtraktive Magie. Sie war eine Magierin von unvorstellbarer Kraft, und sie war in der Lage zu erkennen, wo er sich befand, konnte ihn fühlen. Wieso traf sie ihn dann nicht?

»Aber schlimmer noch«, meinte sie und tippte mit einem schlanken Finger an den Goldring in ihrer Unterlippe, »du bist schuld, daß ich diesem Schwein Jagang dienen muß. Du hast ja keine Ahnung, was er mir angetan hat. Du kannst dir nicht vorstellen, wozu er mich zwingt. Alles wegen dir! Alles wegen dir, Richard Rahl! Aber ich werde dich dafür bezahlen lassen. Ich habe geschworen, in deinem Blut zu baden, und das werde ich auch tun.«

»Was ist mit Jagang? Du wirst ihn erzürnen, wenn du mich umbringst.«

Hinter ihm brach Feuer aus und trieb ihn zur nächsten Säule.

»Ganz im Gegenteil. Jetzt, nachdem du deine Pflicht erfüllt hast, bist du für den Traumwandler nicht mehr von Nutzen. Als Belohnung darf ich mich deiner annehmen, ganz wie es mir beliebt — und ich habe schon ein paar interessante Ideen.«

So konnte er also nicht vor ihr fliehen. Versteckte er sich hinter einer Wand, erspürte sie ihn mit ihrem Han.

Er dachte erneut an Berdine, hob gerade die Hand und packte das Mriswithcape, um es sich vom Rücken herunterzureißen, dann hielt er inne. Merissa würde ihn nicht mit Hilfe ihres Han finden können, wenn er sich durch die Magie des Capes verbarg. Die Magie des Capes jedoch war jene Kraft, die die Mriswiths hervorbrachte.

Kahlan war gefangen. Merissa hatte gesagt, ihre Qual sei seine. Er durfte nicht zulassen, daß sie Kahlan etwas antaten. Er hatte keine Wahl.

Er warf das Cape um seinen Körper und wurde unsichtbar.

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