21

Schwester Philippa brachte ihre ohnehin bereits stattliche Größe so gut es ging zur Geltung, indem sie den Rücken durchdrückte. Dabei gelang es ihr, ihre lange, gerade Nase zu rümpfen, ohne daß es so aussah, als würde sie tatsächlich die Nase rümpfen. Doch genau das tat sie.

»Prälatin, bestimmt habt Ihr die Angelegenheit nicht mit genügend Sorgfalt betrachtet. Wenn Ihr vielleicht noch ein wenig länger darüber nachdenkt, werdet Ihr erkennen, daß die Ergebnisse aus dreitausend Jahren diese dringende Notwendigkeit bestätigen.«

Den Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Kinn in die Fläche ihrer geöffneten Hand gelegt, überflog Verna einen Bericht und bewirkte dadurch, daß man sie unmöglich ansehen konnte, ohne ihren Amtsring mit dem Symbol der aufgehenden Sonne zu bemerken. Sie hob kurz den Kopf, um sich zu vergewissern, ob Schwester Philippa sie auch tatsächlich anschaute.

»Vielen Dank, Schwester, für deinen Rat, aber ich habe die Angelegenheit bereits ausgiebig überdacht. Es ist nicht erforderlich, noch tiefer in einem ausgetrockneten Brunnen zu graben. Man wird davon nur durstiger — dadurch kommt vielleicht Hoffnung auf, aber man findet kein Wasser.«

Schwester Philippas dunkle Augen und exotische Gesichtszüge verrieten nur selten eine Regung, trotzdem bemerkte Verna ein Anspannen der Muskeln an ihrem schmalen Kiefer.

»Aber Prälatin … wir werden nicht in der Lage sein festzustellen, ob ein junger Mann die erforderlichen Fortschritte macht oder ob er genug gelernt hat, um von seinem Rada’Han befreit zu werden. Es ist die einzige Möglichkeit.«

Verna verzog das Gesicht über den Bericht, den sie gerade las. Sie legte ihn zur späteren Bearbeitung zur Seite und widmete sich nun voll und ganz ihrer Beraterin. »Wie alt bist du, Schwester?«

Schwester Philippas finstere Miene blieb unbeirrt. »Vierhundertneunundsiebzig Jahre, Prälatin.«

Verna mußte gestehen, daß sie ein wenig Neid verspürte. Die Frau sah kaum älter aus als sie, und doch war sie in Wirklichkeit gut dreihundert Jahre älter. Die über zwanzigjährige Abwesenheit aus dem Palast hatte Verna Zeit gekostet, die sie niemals würde aufholen können. Sie würde niemals über die Lebenszeit verfügen, um das gleiche zu lernen wie diese Frau.

»Wie viele Jahre davon im Palast der Propheten?«

»Vierhundertundsiebzig, Prälatin.« Daß sie diesmal Vernas Titel ein wenig anders betonte, war nicht leicht herauszuhören, es sei denn, man achtete darauf. Verna hatte darauf geachtet.

»So. Du behauptest also, der Schöpfer habe dir eine Zeitspanne von vierhundertsiebzig Jahren gewährt, um sein Werk kennenzulernen, um mit jungen Männern zu arbeiten und ihnen beizubringen, wie man seine Gabe beherrscht und Zauberer wird, und während all dieser Zeit sei es dir angeblich nicht gelungen, zu einer Entscheidung über das Wesen deiner Schüler zu gelangen?«

»Nun ja, Prälatin, das war nicht genau das, was —«

»Willst du mir etwa weismachen, Schwester, ein ganzer Palast voller Schwestern des Lichts sei nicht gescheit genug, um zu entscheiden, ob ein junger Mann, der seit über zweihundert Jahren unserer Obhut und Vormundschaft unterliegt, zur Beförderung bereit ist — ohne daß man ihn einer brutalen Schmerzensprüfung unterzieht? Hast du so wenig Vertrauen in die Schwestern? Oder in die Weisheit des Schöpfers, der uns auserwählt hat, um sein Werk zu tun? Willst du mir vielleicht erzählen, der Schöpfer habe uns, uns allen zusammen, Tausende von Jahren der Erfahrung geschenkt, und wir seien immer noch zu unwissend, um sein Werk zu tun?«

»Ich denke, Prälatin, vielleicht seid Ihr —«

»Die Erlaubnis wird verweigert. Jemandem solche Schmerzen zuzufügen, ist ein abscheulicher Mißbrauch des Rada’Han. Der Verstand eines Menschen kann daran zerbrechen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß junge Männer bei diesen Prüfungen gestorben sind.

Geh und erkläre diesen Schwestern, ich würde von ihnen erwarten, daß sie sich ein Verfahren überlegen, wie diese Aufgabe ohne Blutvergießen, Erbrechen und Geschrei zu bewerkstelligen ist. Du könntest sogar etwas Revolutionäres vorschlagen, wie … ach, was weiß ich … wie vielleicht mit den jungen Männern zu reden? Es sei denn, die Schwestern befürchten, sie könnten überlistet werden. In diesem Fall will ich, daß sie mir dies eingestehen und einen Bericht darüber schreiben, für die Akten.«

Schwester Philippa stand einen Augenblick lang schweigend da. Vermutlich überlegte sie, welchen Sinn es hatte, noch länger zu widersprechen. Widerstrebend verbeugte sie sich schließlich. »Ein sehr weiser Entschluß, Prälatin. Vielen Dank, daß Ihr mich erleuchtet habt.«

Sie machte kehrt und wollte gehen, doch Verna rief sie zurück. »Ich weiß, wie du dich fühlst, Schwester. Mich hat man das gleiche gelehrt wie dich. Ich habe das gleiche geglaubt. Ein junger Mann von gerade mal gut zwanzig Jahren hat mir gezeigt, wie sehr ich mich geirrt habe. Manchmal beschließt der Schöpfer, uns Sein Wissen auf eine Weise zu vermitteln, auf die wir nicht vorbereitet sind. Er erwartet aber, daß wir bereit sind, Seine Weisheit zu empfangen, wenn er sie uns darbietet.«

»Sprecht Ihr von dem jungen Richard?«

Verna ließ den Daumennagel über die unordentlichen Kanten der Stapel mit Berichten gleiten, die ihrer Erledigung harrten. »Ja.« Sie gab ihren offiziellen Tonfall auf. »Philippa, ich habe gelernt, daß diese jungen Männer, diese Zauberer, in eine Welt hinausgeschickt werden, in der sie auf die Probe gestellt werden. Der Schöpfer will, daß wir entscheiden, ob wir ihnen genug beigebracht haben, damit sie den Schmerz dessen, was sie zu sehen und zu spüren bekommen, schadlos überstehen.« Sie klopfte sich auf die Brust. »Hier drinnen. Wir müssen entscheiden, ob sie in der Lage sind, die schmerzhaften Entscheidungen zu fällen, die die Erleuchtung des Schöpfers manchmal verlangt. Das ist die Bedeutung der Schmerzensprüfung. Ihre Fähigkeit, Qualen auszuhalten, verrät uns nichts über ihr Herz, ihren Mut oder ihr Mitgefühl.

Du selbst, Philippa, hast eine Schmerzensprüfung bestanden. Du wolltest darum kämpfen, Prälatin zu werden. Hunderte von Jahren hast du auf das Ziel hingearbeitet, wenigstens ernsthaft an dem Wettstreit teilzunehmen. Die Ereignisse haben dich um diese Chance gebracht, und dennoch hast du mir gegenüber nie ein böses Wort verloren, obwohl dich dieser Schmerz jedesmal überkommen muß, wenn du mich siehst. Statt dessen hast du in der Vergangenheit dein Bestes gegeben, um mich in diesem Amt zu beraten, und hast stets im Interesse des Palastes gehandelt — trotz dieses Schmerzes.

Wäre mir besser damit gedient gewesen, wenn ich darauf bestanden hätte, dich durch Folter darauf zu prüfen, ob du meine Beraterin werden kannst? Hätte das irgendwas bewiesen?«

Schwester Philippas Wangen hatten sich gerötet. »Ich will nicht lügen und so tun, als sei ich mit Euch einer Meinung, aber zumindest sehe ich jetzt, daß ihr tatsächlich Erde aus dem Brunnen geschaufelt und ihn nicht einfach als trocken aufgegeben habt, nur weil Ihr nicht schwitzen wolltet. Ich werde Eure Anweisung augenblicklich ausführen, Verna.«

Verna lächelte. »Danke, Philippa.«

Auf Philippas Gesicht zeigte sich ein leiser Anflug eines Lächelns. »Durch Richard hat sich bei uns einiges verändert. Ich dachte, er wollte uns alle umbringen, und dann stellt sich heraus, daß er ein größerer Freund des Palastes ist als alle anderen Zauberer in den letzten dreitausend Jahren.«

Verna lachte schallend. »Wenn du wüßtest, wie oft ich um die Kraft beten mußte, ihn nicht zu erwürgen.«

Als Philippa ging, konnte Verna durch die Tür zum Vorzimmer erkennen, daß Millie auf die Erlaubnis wartete, eintreten und saubermachen zu dürfen. Verna räkelte sich gähnend, nahm den Bericht, den sie zur Seite gelegt hatte, und ging zur Tür. Sie winkte Millie in ihr Büro und richtete ihr Augenmerk auf die beiden Verwalterinnen, die Schwestern Dulcinia und Phoebe.

Bevor Verna ein Wort herausbringen konnte, erhob Schwester Dulcinia sich mit einem Stapel von Berichten. »Wenn Ihr soweit seid, Prälatin, wir haben das hier für Euch vorbereitet.«

Verna nahm den Stapel entgegen, der ungefähr soviel wog wie ein kleines Kind und legte ihn sich halb auf die Hüfte. »Ja, gut, danke. Es ist spät. Warum macht ihr zwei nicht Schluß?«

Schwester Phoebe schüttelte den Kopf. »Mich stört das nicht, Prälatin. Die Arbeit bereitet mir Spaß, und —«

»Und morgen ist wieder ein langer, arbeitsreicher Tag. Ich werde nicht zulassen, daß du bei der Arbeit einnickst, weil du nicht genügend Schlaf bekommst. Und nun geht schon, alle beide.«

Phoebe raffte ein Bündel Papiere zusammen, wahrscheinlich, um sie in ihr Zimmer mitzunehmen und weiter daran zu arbeiten. Phoebe schien zu glauben, daß sie sich in einer Art Papierwettrennen befanden. Wann immer sie vermutete, es könnte auch nur eine entfernte Chance bestehen, daß Verna tatsächlich aufholte, fing sie wie besessen an zu arbeiten und produzierte — fast wie durch Magie — immer mehr von diesem Zeug. Dulcinia schnappte sich ihren Teebecher vom Schreibtisch und ließ die Papiere liegen. Sie arbeitete in einem gemessenen Tempo, ging nie soweit, sich anzustrengen, um Verna vorauszubleiben, trotzdem gelang es ihr fast nach Belieben, stapelweise sortierte und mit Anmerkungen versehene Berichte abzuliefern.

Keine der beiden mußte befürchten, daß Verna sie einholte — mit jedem Tag geriet sie weiter ins Hintertreffen.

Die beiden Schwestern verabschiedeten sich und gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, der Schöpfer möge der Prälatin einen erholsamen Schlaf gewähren.

Verna wartete, bis sie die Tür erreicht hatten. »Ach, Schwester Dulcinia, da wäre eine kleine Angelegenheit, um die du dich bitte morgen kümmern möchtest.«

»Natürlich, Prälatin. Um was geht es?« Verna legte den Bericht, den sie mitgebracht hatte, auf Dulcinias Schreibtisch, wo sie ihn gleich als erstes sehen würde, wenn sie sich am Morgen hinsetzte. »Um die Bitte um Unterstützung von einer jungen Frau und ihrer Familie. Einer unserer Zauberer wird Vater.«

Phoebe quiekte. »Oh, das ist ja wunderbar! Beten wir, daß es mit dem Segen des Schöpfers ein Junge wird und er die Gabe hat. In der Stadt ist niemand mehr mit der Gabe geboren worden seit … nun, ich kann mich nicht einmal an das letzte Mal erinnern. Vielleicht wird dieses Mal…«

Vernas finstere Miene brachte sie endlich zum Schweigen. Verna wandte ihre Aufmerksamkeit Schwester Dulcinia zu. »Ich möchte mir diese junge Frau ansehen und auch den jungen Mann, der für ihren Zustand verantwortlich ist. Morgen wirst du einen Termin vereinbaren. Vielleicht sollten die Eltern auch dabeisein, schließlich bitten sie um Unterstützung.«

Schwester Dulcinia beugte sich ein wenig vor, einen leeren Ausdruck im Gesicht. »Gibt es ein Problem damit, Prälatin?«

Verna schob den Stapel Berichte auf ihrer Hüfte zurecht. »Das will ich meinen. Einer unserer jungen Männer hat eine Frau geschwängert.«

Schwester Dulcinia stellte ihren Tee auf der Schreibtischecke ab und kam einen Schritt näher. »Aber Prälatin, aus eben diesem Grund erlauben wir unseren Schützlingen doch, in die Stadt zu gehen. Dadurch können sie nicht nur ihre zügellosen Anwandlungen ausleben, damit sie sich ihren Studien widmen können, gelegentlich bringt uns das auch ein Kind mit der Gabe ein.«

»Ich werde nicht zulassen, daß der Palast sich in die Schöpfung und in das Leben unschuldiger Menschen einmischt.«

Schwester Dulcinia musterte Verna in ihrem schlichten, dunkelblauen Kleid von oben bis unten. »Prälatin, Männer haben solche unkontrollierbaren Gelüste.«

»Die habe ich auch, aber mit des Schöpfers Hilfe ist es mir bislang gelungen, niemanden zu erwürgen.«

Ein stechender Blick von Schwester Dulcinia machte Phoebes Lachen ein Ende. »Männer sind anders, Prälatin. Sie können sich nicht beherrschen. Wenn wir ihnen diese kleine Ablenkung zugestehen, stärkt das ihre Konzentration beim Unterricht. Die Entschädigung kann der Palast sich durchaus leisten. Es ist ein geringer Preis, wenn man bedenkt, daß uns dies gelegentlich zudem einen jungen Zauberer einbringt.«

»Die Aufgabe des Palastes ist es, unseren jungen Männern beizubringen, ihre Gabe auf verantwortungsbewußte Weise einzusetzen, mit Zurückhaltung, und sich dabei vollauf der Konsequenzen bewußt zu sein, die mit der Ausübung ihrer Fähigkeit einhergehen. Wenn wir sie ermuntern, sich in anderen Bereichen des Lebens auf genau entgegengesetzte Weise zu verhalten, untergräbt das die Ziele unserer Ausbildung.

Und was das Ergebnis anbetrifft, daß manchmal aus diesen wahllosen Paarungen jemand mit der Gabe hervorgeht, so gibt es keinen Hinweis darauf, ob dieses Verhalten dem zuträglich ist. Wer will behaupten, daß ein verantwortungsvolleres und beherrschteres Handeln sowie sinnvolle Paarungen nicht sogar mehr als diesen trostlosen Prozentsatz an Nachkommen mit der Gabe hervorbringen würde? Soweit wir wissen, kann diese lüsterne Unbedachtheit ihrer Fähigkeit, die Gabe weiterzugeben, möglicherweise sogar abträglich sein.«

»Oder sie entwickelt sich dadurch erst zur größtmöglichen Wahrscheinlichkeit, so gering diese auch ist.«

Verna zuckte die Achseln. »Vielleicht. Ich weiß jedoch, daß die Fischer draußen auf dem Fluß nicht ihr ganzes Leben lang an genau derselben Stelle ihre Netze auswerfen, nur weil sie dort einmal einen Fisch gefangen haben. Uns gehen nur wenige Fische ins Netz, also wird es für uns Zeit, weiterzuziehen.«

Schwester Dulcinia hakte ihre Hände ineinander und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. »Prälatin, der Schöpfer hat die Menschen mit ihrer Natur gesegnet, so wie sie ist, und wir haben keine Möglichkeit, sie zu verändern. Männer und Frauen werden auch weiterhin tun, was ihnen Vergnügen bereitet.«

»Natürlich werden sie das, aber solange wir die Kosten der Folgen tragen, ermutigen wir sie auch noch dazu. Wenn alles ohne Folgen bleibt, geht die Selbstbeherrschung verloren. Wie viele Kinder sind ohne einen Vater aufgewachsen, weil wir den Schwangeren Gold gegeben haben? Ersetzt dieses Gold die Erziehung? Wie viele Leben haben wir mit unserem Gold zum Nachteil hin beeinflußt?«

Dulcinia breitete verzweifelt die Hände aus. »Unser Gold hilft ihnen.«

»Unser Gold ermutigt die Frauen in der Stadt zu leichtfertigem Handeln und dazu, mit unseren jungen Burschen ins Bett zu gehen, denn das trägt ihnen ohne jede Mühe lebenslangen Unterhalt ein.« Verna deutete mit ihrer freien Hand auf die Stadt. »Wir entwürdigen die Menschen mit unserem Gold. Wir haben sie zu wenig mehr als Zuchtvieh degradiert.«

»Aber wir benutzen diese Methode seit Tausenden von Jahren, um die Zahl derer mit der Gabe zu vergrößern. Es wird fast niemand mehr geboren, der die Gabe hat.«

»Dessen bin ich mir bewußt, aber unser Geschäft ist die Ausbildung von Menschen, nicht ihre Zucht. Unser Gold erniedrigt sie zu Geschöpfen, die aus Goldgier handeln, statt sie zu Menschen zu machen, die ein Kind aus Liebe zeugen.«

Schwester Dulcinia verschlug es die Sprache, doch nur kurz. »Wie können wir so herzlos erscheinen, jemandem die Hilfe von ein wenig unseres Goldes zu verweigern? Menschenleben sind wichtiger als Gold.«

»Ich habe die Berichte gesehen. Es handelt sich wohl kaum um ›ein wenig‹ Gold. Aber darum geht es gar nicht. Es geht vielmehr darum, daß wir die Kinder unseres Schöpfers heranzüchten wie Vieh, was eine Herabwürdigung aller Werte bewirkt.«

»Aber wir bringen unseren jungen Burschen doch Werte bei! Die Menschen, als Krönung der Schöpfung, sprechen auf die Lehre der Werte an, denn sie haben das nötige Urteilsvermögen, ihre Bedeutung zu erkennen.«

Verna seufzte. »Schwester, angenommen, wir predigten Aufrichtigkeit und verteilten gleichzeitig einen Penny für jede Lüge, die man uns erzählt. Was glaubst du, wäre das Ergebnis?«

Schwester Phoebe hielt sich die Hand vor den Mund, als sie loslachte. »Ich wußte nicht, daß Ihr so herzlos seid, Prälatin, die neugeborenen Kinder des Schöpfers hungern zu lassen.«

»Der Schöpfer hat ihren Müttern Brüste gegeben, damit sie ihre Kinder säugen können, nicht damit sie dem Palast Gold entlocken.«

Schwester Dulcinias Gesicht wurde karminrot. »Aber Männer haben nun einmal unkontrollierbare Gelüste!«

Verna senkte aufgebracht die Stimme. »Die Gelüste eines Mannes sind nur dann wirklich unkontrollierbar, wenn eine Magierin einen Betörungsbann ausspricht. Keine Schwester hat je auch nur über eine einzige Frau der Stadt einen Betörungsbann ausgesprochen. Muß ich dich daran erinnern, daß eine Schwester, wenn sie dies tut, sich glücklich schätzen könnte, wenn sie aus dem Palast gewiesen oder gar gehenkt würde? Wie du sehr wohl weißt, ist der Betörungsbann die moralische Entsprechung einer Vergewaltigung.«

Dulcinia erblaßte. »Ich sage nicht, daß —«

Verna blickte nachdenklich an die Decke. »Ich erinnere mich, daß die letzte Schwester, die einen Betörungsbann ausgesprochen hat vor … wieviel? Vor fünfzig Jahren erwischt wurde.«

Schwester Dulcinias Blick schien einen Ausweg zu suchen, fand aber keinen. »Das war eine Novizin, Prälatin, keine Schwester.«

Verna funkelte Dulcinia noch immer an. »Du warst im Tribunal, wie ich mich ebenfalls erinnere.« Dulcinia nickte. »Und du hast dafür gestimmt, sie aufzuhängen. Ein armes junges Ding, das erst ein paar Jahre hier war, und du hast dafür gestimmt, sie aufzuhängen.«

»So lautete das Gesetz«, erwiderte sie, ohne aufzusehen.

»So lautete die Höchststrafe.«

»Andere haben ebenso gestimmt wie ich.«

Verna nickte. »Ja, das haben sie. Es war ein Unentschieden, sechs gegen sechs. Prälatin Annalina hat dieses Patt überwunden, indem sie dafür stimmte, die junge Frau zu verbannen.«

Schwester Dulcinia hob endlich den Blick. »Ich bleibe dabei, sie hatte unrecht. Valdora schwor unsterbliche Rache. Sie schwor, den Palast der Propheten zu zerstören. Sie spie der Prälatin ins Gesicht und versprach, sie eines Tages umzubringen.«

Verna legte die Stirn in Falten. »Ich habe mich immer gefragt, Dulcinia, weshalb man dich ins Tribunal berufen hat.«

Schwester Dulcinia schluckte. »Weil ich ihre Ausbilderin war.«

»Tatsächlich. Ihre Lehrerin.« Verna schnalzte mit der Zunge. »Von wem hat diese junge Frau wohl den Betörungsbann gelernt?«

Die Farbe schoß zurück in Dulcinias Gesicht. »Das konnte niemals mit Sicherheit festgestellt werden. Wahrscheinlich von ihrer Mutter. Mütter bringen jungen Magierinnen oft solche Dinge bei.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört, aber damit kenne ich mich nicht aus. Meine Mutter hatte nicht die Gabe, sie war eine Aussetzerin. Deine Mutter hatte die Gabe, wenn ich mich recht erinnere…«

»Ja, das stimmt.« Schwester Dulcinia küßte ihren Ringfinger und sprach dabei leise ein Gebet an den Schöpfer, ein sehr persönlicher Akt der Hingabe, wie er häufig durchgeführt wurde, aber selten nur in Gegenwart von anderen. »Es wird spät, Prälatin. Wir möchten Euch nicht länger aufhalten.«

Verna lächelte. »Ja. Also dann gute Nacht.«

Schwester Dulcinia verneigte sich förmlich. »Wie Ihr befehlt, Prälatin, werde ich mich morgen um die Angelegenheit mit der schwangeren Frau und dem jungen Zauberer kümmern, nachdem ich das mit Schwester Leoma geklärt habe.«

Verna zog eine Braue hoch. »Ach? Schwester Leoma steht im Rang jetzt über der Prälatin, ja?«

»Äh, nein, Prälatin«, stammelte Schwester Dulcinia. »Es ist nur so, Schwester Leoma möchte, daß ich … ich dachte nur, Ihr wolltet, daß ich Eure Beraterin von Eurer Entscheidung unterrichte … damit es sie nicht … unvorbereitet trifft.«

»Schwester Leoma ist meine Beraterin, Schwester, und ich unterrichte sie von meinen Entscheidungen, wenn ich es für notwendig halte.«

Phoebes rundliches Gesicht neigte sich mal zur einen, mal zur anderen Frau, während sie schweigend den Wortwechsel verfolgte.

»Wie Ihr wünscht, Prälatin, so wird es geschehen«, sagte Schwester Dulcinia. »Bitte verzeiht mir den … Übereifer, meiner Prälatin helfen zu wollen.«

Verna zuckte die Achseln, so gut dies unter der Last der Berichte möglich war. »Natürlich, Schwester. Gute Nacht.«

Heilfroh verabschiedeten sich die beiden ohne weitere Widerworte. Vor sich hin murmelnd, schleppte Verna den Stapel Berichte in ihr Büro und ließ ihn auf ihren Schreibtisch fallen, neben die anderen, mit denen sie sich noch befassen mußte. Sie betrachtete Millie, die ein Stück entfernt in einer Ecke mit einem Putzlappen einen Flecken bearbeitete, den nie jemand bemerken würde, und bliebe er die nächsten hundert Jahre dort.

Im schwach beleuchteten Büro war es still bis auf das Wischen von Millies Lappen und ihr leises Gemurmel. Verna schlenderte hinüber zu dem Bücherschrank, in dessen Nähe die Frau auf ihren Knien arbeitete, und ließ den Finger über die Bücher gleiten, ohne die Blattgoldtitel auf den abgewetzten Rücken der alten Ledereinbände wirklich anzuschauen.

»Wie geht es deinen alten Knochen heute abend, Millie?«

»Oh, davon fang’ ich besser gar nicht erst an, Prälatin, sonst hab’ ich gleich überall auf meinem Körper Eure Hände, die zu heilen versuchen, was nicht geheilt werden kann. Das Alter, wißt Ihr.« Mit dem Knie schob sie den Eimer näher heran, während ihre Hand zu einer anderen Stelle des Teppichs weiterwanderte, um darauf herumzuschrubben. »Wir werden alle alt. Der Schöpfer muß es so gewollt haben, da kein Sterblicher etwas dagegen machen kann. Ich hatte zwar mehr Zeit, als den meisten gewährt wird — für die Arbeit hier im Palast, meine ich.« Ihre Zunge schob sich aus dem Mundwinkel, als sie noch mehr Kraft in den Lappen legte. »Ja, der Schöpfer hat mich mit mehr Jahren gesegnet, als ich zu nutzen weiß.«

Verna hatte die drahtige, zierliche Frau nie anders gesehen als im Zustand resoluter Geschäftigkeit. Selbst beim Sprechen wischte sie unaufhörlich Staub oder rubbelte mit dem Daumen an einem Flecken herum oder polkte mit dem Fingernagel an einer Schmutzkruste, die außer ihr niemand sah.

Verna zog einen Band heraus und schlug ihn auf. »Nun, ich weiß, Prälatin Annalina wußte es zu schätzen, daß du all die Jahre ganz in ihrer Nähe warst.«

»Oh ja, viele Jahre waren das. Viele, viele Jahre.«

»Eine Prälatin, das wird mir allmählich klar, hat herzlich wenig Freundinnen. Es war gut, daß sie deine Freundschaft hatte. Für mich wird es gewiß kein geringerer Trost sein, dich in meiner Nähe zu wissen.«

Millie fluchte leise brummend über einen widerspenstigen Flecken. »O ja, wir haben so manches Mal bis spät in die Nacht geplaudert. Sie war aber auch eine so wunderbare Frau. Weise und gütig. Sie hat jedem zugehört, selbst der alten Millie.«

Lächelnd blätterte Verna gedankenverloren eine Seite des Buches um, das sich mit den geheimnisvollen Gesetzen eines längst untergegangenen Königreiches beschäftigte. »Es war wirklich freundlich von dir, ihr zu helfen. Mit dem Ring und dem Brief, meine ich.«

Millie sah auf, ein Grinsen schlich sich auf ihre dünnen Lippen. Ihre Hand hörte tatsächlich auf zu wischen. »Ah, Ihr wollt also alles darüber hören, so wie all die anderen.«

Verna klappte das Buch zu. »Die anderen? Welche anderen?«

Millie tunkte den Lappen in das Seifenwasser. »Die Schwestern — Leoma, Dulcinia, Maren, Philippa, die anderen eben. Ihr kennt sie doch, nicht wahr?« Sie befeuchtete eine Fingerspitze und rubbelte quietschend einen Flecken unten an der dunklen Holzvertäfelung ab. »Es können noch ein paar mehr gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr. Das Alter, wißt Ihr. Sie kamen alle nach dem Begräbnis zu mir. Nicht zusammen, nein, das nicht«, sagte sie mit einem stillvergnügten Glucksen. »Ihr wißt schon, jede für sich, mit den Augen in die Schatten blinzelnd, während sie mir die gleiche Frage stellten wie Ihr.«

Verna hatte ihren Vorwand am Bücherschrank vergessen. »Und was hast du ihnen erzählt?«

Millie wrang den Lappen aus. »Die Wahrheit natürlich, so wie ich sie auch Euch erzählen werde, wenn Ihr Lust habt, sie Euch anzuhören.«

»Habe ich«, sagte Verna und ermahnte sich, jede Schärfe im Tonfall zu vermeiden. »Schließlich bin ich jetzt die Prälatin und denke, ich sollte ebenfalls davon erfahren. Warum ruhst du dich nicht ein wenig aus und erzählst mir die Geschichte.«

Mit einem gequälten Stöhnen rappelte Millie sich mühsam auf und sah Verna mit ihren durchdringenden Augen an. »Vielen Dank, Prälatin. Aber ich habe noch Arbeit zu erledigen, wißt Ihr. Ich möchte nicht, daß Ihr denkt, ich sei eine Trödlerin, die lieber schwatzt, als ihren Lappen zu schwingen.«

Verna tätschelte der alten Frau die Schulter. »Mach dir deshalb keine Sorgen, Millie. Erzähle mir von Prälatin Annalina.«

»Na ja, sie lag auf dem Sterbebett, als ich sie sah. Ich habe auch in Nathans Zimmern saubergemacht, wißt Ihr, und da hab’ ich sie gesehen, als ich in Nathans Zimmer ging. Die Prälatin hat niemandem außer mir erlaubt, zu diesem Mann hineinzugehen. Kann ich ihr auch nicht verdenken, auch wenn der Prophet zu mir immer freundlich war. Außer wenn er wegen irgendwas an die Decke ging und anfing zu schreien, wißt Ihr. Nicht wegen mir, versteht Ihr, sondern wegen seiner Situation und all dem anderen, weil er die ganzen Jahre in seinen Gemächern eingesperrt war. Das zehrt vermutlich an einem Mann.«

Verna räusperte sich. »Ich könnte mir denken, daß es dir schwerfiel, die Prälatin in diesem Zustand zu sehen.«

Millie legte eine Hand auf Vernas Arm. »Da sagt Ihr was. Es hat mir das Herz gebrochen, wirklich. Aber sie war freundlich wie immer, trotz ihrer Schmerzen.«

Verna biß sich auf die Lippe. »Du wolltest mir vom Ring erzählen und von dem Brief.«

»Ach, richtig.« Millie kniff die Augen zusammen, dann streckte sie die Hand aus und zupfte Verna ein Staubkorn von der Schulter ihres Kleides. »Ihr solltet mich das für Euch ausbürsten lassen. Es ist nicht gut, wenn die Leute denken…«

Verna ergriff die schwielige Hand der Frau. »Millie, das ist sehr wichtig für mich. Könntest du mir bitte erklären, wie du zu dem Ring gekommen bist?«

Millie lächelte reumütig. »Ann erklärte mir, daß sie im Sterben liege. Sie hat das einfach so gesagt, wirklich. ›Millie, ich sterbe.‹ Na ja, da hab’ ich geweint. Sie war lange, lange Zeit meine beste Freundin gewesen. Sie lächelte und nahm meine Hand, genau so wie jetzt Ihr, und erzählte mir, da sei noch ein letzter Gefallen, um den sie mich bitten wolle. Sie zog ihren Ring vom Finger und gab ihn mir. In meine andere Hand legte sie den Brief. Der war mit Wachs verschlossen und trug das Siegel des Rings.

Sie erklärte mir, wie ich den Ring während des Begräbnisses auf den Brief legen sollte, oben auf das Postament, das ich dort reintragen sollte. Und ich solle darauf achten, den Ring erst ganz zum Schluß mit dem Brief in Berührung zu bringen, sonst könnte mich die Magie, mit der sie ihn umgeben hatte, töten. Sie warnte mich mehrmals, darauf zu achten, daß sie sich nicht berührten, bis ich alles richtig gemacht hatte. Sie erklärte mir genau, was ich tun mußte, in welcher Reihenfolge. Und das hab’ ich gemacht. Ich habe sie nie wiedergesehen, nachdem sie mir den Ring gegeben hatte.«

Verna starrte durch die offenen Türen hinaus in den Garten, den aufzusuchen sie noch kein einziges Mal die Zeit gefunden hatte. »Wann genau war das?«

»Diese Frage hat mir keine der anderen gestellt«, murmelte Mühe vor sich hm. Sie strich mit einem dünnen Finger über ihre Unterlippe. »Mal sehen. Das ist schon eine Weile her. Ja, richtig. Das war lange vor der Wintersonnenwende. Richtig, es war gleich nach dem Angriff, an dem Tag, als Ihr mit Richard aufgebrochen seid: Also, das war wirklich ein netter Junge. Freundlich wie ein Sonnentag war er. Hat sich immer lächelnd erkundigt, wie es mir ging. Die meisten anderen Burschen beachten mich gar nicht, aber der junge Richard hat mich immer gegrüßt, ja, das hat er, und ein freundliches Wort hat er auch immer für mich gehabt.«

Verna hörte nur halb hin. Sie erinnerte sich an den Tag, von dem Millie sprach. Sie und Warren waren zusammen mit Richard aufgebrochen, um ihn durch den Schild hindurchzubringen, der ihn an den Palast fesselte. Nachdem sie den Schild durchquert hatten, waren sie zum Volk der Baka Ban Mana gezogen und hatten sie alle in das Tal der Verlorenen, ihre alte Heimat, geführt. Von dort waren sie dreitausend Jahre zuvor vertrieben worden, damit die Türme errichtet werden konnten, die die Alte von der Neuen Welt trennten. Richard brauchte die Hilfe der Seelenfrau des Stammes.

Richard hatte unvorstellbare Kräfte benutzt, nicht nur Additive Magie, sondern auch Subtraktive, um die Türme zu zerstören, das Tal zu befreien und es den Baka Ban Mana zurückzugeben. Anschließend hatte er sich auf seine verzweifelte Mission begeben, den Hüter der Toten daran zu hindern, durch das Tor zur Unterwelt in die Welt der Lebenden zu entkommen. Die Wintersonnenwende war gekommen und gegangen, daher wußte sie, daß er dabei erfolgreich gewesen war.

Plötzlich drehte sich Verna zu Millie um. »Das ist fast einen Monat her. Lange bevor sie starb.«

Millie nickte. »Ja, ich glaube, das könnte in etwa stimmen.«

»Willst du damit sagen, daß sie dir den Ring fast drei Wochen vor ihrem Tod gegeben hat?« Millie nickte. »Warum so lange vorher?«

»Sie sagte, sie wolle ihn bei mir wissen, bevor es ihr noch schlechter ginge und sie nicht mehr in der Verfassung wäre, sich von mir zu verabschieden oder mir die richtigen Anweisungen zu geben.«

»Verstehe. Und als du danach noch einmal zurückkamst, vor ihrem Tod, ging es ihr da noch schlechter, so wie sie es vermutet hatte?«

Millie zuckte die Achseln und seufzte. »Das war das einzige Mal, daß ich sie gesehen habe. Als ich wiederkam, um sie zu besuchen und sauberzumachen, meinten die Wachen, Nathan und die Prälatin hätten strikten Befehl erlassen, daß niemand hineingelassen werden dürfe. Nathan sollte wohl nicht gestört werden, während er sein Bestes gab, um sie zu heilen. Also hab’ ich mich, so leise wie ich konnte, auf Zehenspitzen davongeschlichen.«

Verna seufzte. »Nun, danke für deine Auskunft, Millie.« Verna warf einen Blick auf ihren Schreibtisch und die wartenden Stapel mit Berichten. »Ich sollte wohl auch am besten wieder an die Arbeit gehen, sonst denken alle noch, ich sei faul.«

»Ach, das ist aber schade, Prälatin. So eine wundervolle, warme Nacht. Ihr solltet den Garten ein wenig genießen.«

Verna knurrte. »Ich habe soviel Arbeit zu erledigen, daß ich nicht einmal meine Nase hinausgesteckt habe, um mir den Garten der Prälatin anzusehen.«

Millie war schon auf dem Weg zu ihrem Eimer, als sie sich plötzlich noch einmal umdrehte. »Prälatin! Mir ist gerade noch etwas eingefallen, was Ann zu mir gesagt hat.«

Verna zog sich die Schultern ihres Kleides zurecht. »Sie hat dir noch etwas erzählt? Etwas, das du den anderen erzählt hast, aber vergessen hast, mir zu sagen?«

»Nein, Prälatin«, flüsterte Millie und eilte herbei. »Nein, sie erzählte es mir und meinte, ich solle es niemandem weitererzählen, außer der neuen Prälatin. Aus irgendeinem Grund ist es mir bis zu diesem Augenblick völlig entfallen.«

»Vielleicht hat sie die Nachricht zusammen mit allem übrigen mit einem Bann belegt, damit du dich bei allen anderen außer der neuen Prälatin nicht daran erinnerst.«

»Das könnte sein«, sagte Millie und rieb sich die Lippe. Sie sah Verna in die Augen. »Ann hat solche Sachen häufiger gemacht. Manchmal konnte sie ganz schön heimlichtuerisch sein.«

Verna lächelte freudlos. »Ja, ich weiß, ich habe auch gelegentlich unter ihren Machenschaften leiden müssen. Wie lautet die Nachricht?«

»Sie meinte, ich soll Euch sagen, daß Ihr darauf achten sollt, nicht zuviel zu arbeiten.«

Verna stemmte eine Hand in ihre Hüfte. »Das ist die Nachricht?«

Millie nickte, beugte sich vor und senkte die Stimme. »Außerdem meinte sie, daß Ihr Euch gelegentlich im Garten entspannen sollt. Aber als sie das sagte, zog sie mich am Arm zu sich, sah mir direkt in die Augen und meinte, ich solle Euch auch sagen, daß Ihr auf jeden Fall das Heiligtum der Prälatin aufsuchen sollt.«

»Heiligtum? Welches Heiligtum?«

Millie drehte sich um und zeigte durch die offene Tür. »Draußen im Garten gibt es zwischen den Bäumen und Büschen ein kleines Häuschen. Sie nannte es ihr Heiligtum. Ich war niemals drin. Sie hat mir nie erlaubt, dort sauberzumachen. Sie mache es selbst sauber, sagte sie, weil ein Heiligtum ein unantastbarer Raum sei, wo jemand alleine sein könne und in den niemand sonst einen Fuß setzen dürfe. Sie ging dort manchmal hin, ich glaube, um zu beten und um Unterweisung durch den Schöpfer zu erbitten, vielleicht aber auch nur, um alleine zu sein. Sie meinte, ich soll Euch unbedingt sagen, daß Ihr es aufsuchen sollt.«

Verna seufzte verzweifelt. »Klingt, als wollte sie mir auf diesem Weg mitteilen, daß ich die Unterstützung des Schöpfers brauche, um mich durch all die Schreibarbeiten zu quälen. Sie hatte manchmal einen eigenartigen Sinn für Humor.«

Millie lachte still in sich hinein. »Ja, Prälatin, den hatte sie allerdings. Einen eigenartigen Sinn für Humor.« Millie legte ihre Hände auf ihre errötenden Wangen. »Möge der Schöpfer mir vergeben. Sie war eine gütige Frau. Ihr Humor war niemals verletzend gemeint.«

»Nein, das wohl nicht.«

Verna rieb sich die Schläfen und wollte zum Schreibtisch. Sie war müde, und die Vorstellung, noch mehr geisttötende Berichte zu lesen, machte ihr angst. Sie blieb stehen und drehte sich noch einmal zu Millie um. Die Tür zum Garten stand weit offen und ließ die frische Nachtluft herein.

»Millie, es ist spät, warum gehst du nicht etwas zu Abend essen und ruhst dich ein wenig aus. Ruhe tut den müden Knochen gut.«

Millie feixte. »Wirklich, Prälatin? Es macht Euch nichts aus, daß Euer Büro im Schmutz versinkt?«

Verna lachte leise. »Millie, ich habe so viele Jahre unter freiem Himmel gelebt, daß mir der Schmutz ans Herz gewachsen ist. Das ist in Ordnung, wirklich. Ruh dich ein wenig aus.«

Verna stand in der Tür zu ihrem Garten und schaute hinaus in die Nacht, auf die mit Mondlichttupfern übersäte Erde unter den Bäumen und den Reben, während Millie ihre Lappen und den Eimer zusammensuchte. »Dann gute Nacht, Prälatin. Viel Vergnügen bei Eurem Besuch im Garten.«

Sie hörte, wie die Tür geschlossen und es still im Zimmer wurde. Sie spürte die milde feuchte Brise und sog den wohlriechenden Duft der Blätter, Blumen und der Erde ein.

Verna warf einen letzten Blick zurück in ihr Büro, dann trat sie hinaus in die wartende Nacht.

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