40

Ann entfuhr ein schauderhafter Schrei, und die Tränen brannten ihr in den Augen. Ihren Entschluß, nicht zu schreien, hatte sie längst aufgegeben. Wer außer dem Schöpfer würde es hören, wen würde es kümmern?

Valdora zog das blutverschmierte Messer zurück. »Hat es weh getan?« Als sie grinste, wurden wieder ihre Zahnlücken sichtbar, und ein stillvergnügtes Lachen kämpfte sich den Weg nach draußen frei. »Wie gefällt es Euch, wenn ein anderer entscheidet, was mit Euch geschieht? Genau das habt Ihr getan. Ihr habt entschieden, wie ich sterben soll. Ihr habt mir das Leben versagt. Ein Leben, das ich hätte im Palast führen können. Ich wäre noch immer jung. Ihr dagegen habt beschlossen, mich sterben zu lassen.«

Ann zuckte zusammen, als die Messerspitze ihr in die Seite stach. »Ich habe Euch etwas gefragt, Prälatin. Wie gefällt Euch das?«

»Vermutlich nicht besser als dir.«

Das Grinsen kehrte zurück. »Guuuut. Ihr sollt die Schmerzen kennenlernen, die ich all die Jahre erduldet habe.«

»Ich habe dir ein Leben gelassen, wie jeder andere es hat. Ein Leben, das du gestalten konntest, wie du wolltest. Man hat dir gelassen, was dir der Schöpfer gegeben hatte — genau wie jedem anderen, der auf diese Welt kommt. Ich hätte dich hinrichten lassen können.«

»Weil ich jemanden in meinen Bann geschlagen habe! Ich bin eine Magierin! Das ist es, was der Schöpfer mir mitgegeben hat, und ich habe Gebrauch davon gemacht!«

Ann wußte, diese Auseinandersetzung war sinnlos, aber sie war ihr immer noch lieber, als daß Valdora wortlos ihre Arbeit mit dem Messer wieder aufnahm.

»Du hast die Mitgift des Schöpfers dazu benutzt, anderen etwas zu nehmen, das sie nicht freiwillig hergegeben hätten. Du hast ihre Liebe geraubt, ihr Herz, ihr Leben. Dazu hattest du kein Recht. Du hast von der Hingabe genascht wie von Süßigkeiten auf einem Jahrmarkt. Du hast die Menschen mit Magie an dich gebunden, um sie dann wie abgelegte Kleider fortzuwerfen und dir einen anderen zu angeln.«

Das Messer piekste sie erneut. »Und Ihr habt mich verbannt.«

»Wie viele Menschenleben hast du zerstört? Man hat dir gut zugeredet, man hat dich gewarnt, man hat dich bestraft. Trotzdem hast du immer weitergemacht. Erst danach hat man dich aus dem Palast der Propheten gewiesen.«

In Anns Schultern pochte ein dumpfer Schmerz. Sie lag nackt ausgestreckt auf einem Holztisch, die Handgelenke am einen Ende über ihrem Kopf magisch festgezurrt, ihre Füße am anderen. Der Bann schnitt schlimmer ein als ein festes Hanfseil. Sie war so hilflos wie ein zum Ausbluten aufgehängtes Schwein.

Valdora hatte einen Bann benutzt — noch etwas, das sie wer weiß wo gelernt hatte —, um Anns Han zu sperren. Sie fühlte, daß es noch da war, wie ein warmes Feuer an einem Winterabend, gleich hinter einem Fenster, eine einladende, vielversprechende Wärme, und dennoch außer Reichweite.

Ann starrte hinauf zum Fenster gleich unterhalb der Decke des kleinen Raumes aus steinernen Mauern. Bald würde es dämmern. Wieso war er nicht gekommen? Er hätte längst kommen müssen, um sie zu retten, und anschließend hätte sie ihn irgendwie einfangen sollen. Doch er hatte sich nicht blicken lassen.

Noch war es nicht taghell. Er konnte immer noch erscheinen. Gütiger Schöpfer, laß ihn nur bald kommen.

Es sei denn, dies war der falsche Tag. Panik erfüllte sie. Was, wenn sie sich verrechnet hatten? Nein. Nathan und sie waren die Tabellen durchgegangen. Heute war der richtige Tag. Außerdem waren es eher die Ereignisse als der Tag selbst, die die Prophezeiung erfüllten. Daß man sie gefangengenommen hatte, besagte, daß dies der richtige Tag war. Hätte man sie eine Woche vorher gefangengenommen, dann wäre eben das der richtige Tag gewesen. Der heutige Tag lag im Bereich der Möglichkeiten. Die Prophezeiung war erfüllt. Aber wo blieb er?

Ann merkte, daß Valdora aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Neben ihr stand sie nicht. Sie hätte weitersprechen sollen. Sie hätte…

Plötzlich spürte sie einen scharfen, brennenden Schmerz, als das Messer ihre Fußsohle der Länge nach einschnitt. Sie riß mit dem ganzen Körper an den Fesseln. Wieder trat ihr der Schweiß auf die Stirn und rann über ihre Kopfhaut. Dann wiederholte sich der Schmerz, ein weiterer Schnitt, begleitet von einem weiteren ohnmächtigen Schrei.

Ihre Schreie hallten von den steinernen Mauern wider, als Valdora ihr einen Hautstreifen von der Fußsohle riß.

Ann zitterte unkontrollierbar. Ihr Kopf fiel zur Seite. Das kleine Mädchen, Holly, blickte sie an. Ann fühlte, wie ihr die Tränen über den Nasenrücken und in das andere Auge liefen, bis sie schließlich vom Gesicht hinuntertropften.

Zitternd starrte sie Holly an und wunderte sich, welch grausame Dinge Valdora einem so unschuldigen Kind beibrachte. Sie würde das Herz dieses kleinen Geschöpfes noch in Stein verwandeln.

Valdora hielt ein kleines, weißes Hautröllchen in die Höhe. »Schau Holly, wie sauber sie abgeht, wenn du es genau machst, wie ich sage. Möchtest du es selbst mal probieren, Liebes?«

»Großmutter«, sagte Holly, »muß das sein? Sie hat uns doch nichts getan. Sie ist nicht wie die anderen. Sie hat nie versucht, uns weh zu tun.«

Valdora gestikulierte mit dem Messer, um ihre Worte zu unterstreichen. »Doch, das hat sie, Liebes. Sie hat mir weh getan. Sie hat mir meine Jugend gestohlen.«

Holly warf einen Blick auf Ann, die noch immer vor Schmerzen zitterte. Für jemanden, der so jung war, blieb das kleine Mädchen seltsam ruhig. Sie hätte eine hervorragende Novizin abgegeben, und eines Tages eine großartige Schwester. »Sie hat mir eine Silbermünze geschenkt. Sie wollte uns nicht weh tun. Das macht keinen Spaß. Ich will das nicht tun.«

Valdora lachte stillvergnügt in sich hinein. »Nun, wir werden es trotzdem tun.« Sie fuchtelte mit dem Messer. »Hör auf deine Großmutter. Sie hat es verdient.«

Holly musterte die alte Frau kühl. »Nur weil du älter bist als ich, hast du deswegen noch lange nicht recht. Ich sehe mir das nicht länger an. Ich gehe nach draußen.«

Valdora zuckte mit den Achseln. »Wenn du willst. Das ist eine Sache zwischen der Prälatin und mir. Wenn du nichts lernen willst, dann geh nach draußen und spiele.«

Holly verließ entschlossen das Zimmer. Ann hätte sie für ihren Mut küssen können.

Valdoras Gesicht kam näher. »Nur Ihr und ich, Prälatin.« Ihre Kiefermuskeln spannten sich. »Sollen — wir — jetzt — endlich…«, zur Betonung jedes Wortes stach sie Ann das Messer in die Seite, »… anfangen?« Sie neigte den Kopf, um Ann besser in die Augen blicken zu können. »Es ist bald Zeit zu sterben, Prälatin. Ich glaube, ich würde gerne sehen, wie Ihr Euch zu Tode schreit. Sollen wir es mal versuchen?«


»Da drüben!« Zedd versuchte, trotz seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit so gut es ging in die entsprechende Richtung zu zeigen. »In der Burg brennt ein Licht.«

Obwohl das Morgengrauen bereits eingesetzt hatte und der Himmel heller wurde, war es immer noch so dämmrig, daß man das gelbe Leuchten erkennen konnte, das aus mehreren Fenstern drang. Gratch bemerkte ebenfalls, was Zedd gesehen hatte, und schwenke ab in Richtung Burg.

»Verdammt«, murmelte er, »wenn dieser Bursche schon in der Burg ist, werde ich…«

Gratch knurrte, als er Zedds offenkundige Anspielung auf Richard hörte. An die Brust des Gar gepreßt, konnte Zedd das Knurren eher an seinem Rücken fühlen als hören. Er warf einen Blick auf den Erdboden tief unten.

»Ich werde ihn retten müssen, mehr wollte ich damit nicht sagen, Gratch. Wenn Richard in Schwierigkeiten steckt, werde ich dort runtergehen und ihn retten müssen.«

Gratch gab ein zufriedenes Gurgeln von sich.

Hoffentlich steckte Richard nicht in Schwierigkeiten. Die Anstrengung, den Bann so lange aufrechtzuerhalten, um sich so leicht zu machen, damit Gratch ihn eine ganze Woche tragen konnte, hatte Zedd fast seine gesamte Kraft gekostet. Er glaubte kaum, daß er noch stehen, viel weniger noch jemanden retten konnte. Nach dieser Geschichte würde er sich tagelang erholen müssen.

Zedd streichelte die gewaltigen, pelzigen Arme um seinen Körper. »Ich liebe Richard auch, Gratch. Wir werden ihm helfen. Wir beide werden ihn beschützen.« Zedd riß die Augen auf. »Gratch! Paß auf, wo du hinfliegst! Langsamer!«

Zedd hielt sich die Arme vors Gesicht, als Gratch auf die Brustwehr zustürzte. Zwischen seinen Armen hindurchblinzelnd, konnte er sehen, wie die Mauer mit beängstigender Geschwindigkeit näher raste. Er keuchte, als Gratch fester zupackte und bei dem Versuch, ihren senkrechten Sturz zu bremsen, wild mit den Flügeln schlug.

Zedd merkte, daß ihm der Bann zu entgleiten drohte. Er war zu erschöpft, ihn länger festzuhalten, und wurde zu schwer für Gratch. Verzweifelt zog er den Bann zurück — wie man ein Ei auffängt, das vom Tisch herunterrollt.

Er bekam den Bann gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor er erlosch.

Schließlich bremste sie Gratchs Flügelschlag, und er zog hoch. Mit einem eleganten Flattern setzte der Gar sie auf der Brustwehr auf. Zedd fühlte, wie sich die pelzigen Arme von seinen schweißdurchtränkten Kleidern lösten.

»Tut mir leid, Gratch. Die Magie wäre mir fast entglitten. Es wäre meine Schuld gewesen, wenn uns beiden etwas zugestoßen wäre.«

Gratch bestätigte das mit einem gedankenverlorenen Knurren. Seine leuchtend grünen Augen bohrten sich suchend in die Dunkelheit. Überall ragten Mauern in die Höhe, und es gab Hunderte von Orten, an denen man sich verstecken konnte. Gratch schien sie alle abzusuchen.

Ein leises Knurren löste sich aus der Kehle des Gar. Das grüne Leuchten wurde intensiver. Zedd blickte suchend in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Gratch hingegen schon.

Zedd zuckte zusammen, als der Gar sich mit einem plötzlichen Röhren in das Dunkel stürzte.

Wuchtige Krallen fetzten durch die nächtliche Luft. Reißzähne schnappten ins Leere.

Allmählich erkannte Zedd Schatten, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Capes blähten sich, und Messer blinkten, als die Wesen den Gar umtanzten und -wirbelten.

Mriswiths.

Die Wesen stießen klickende Zischlaute aus, als sie auf das große, pelzige Tier losgingen. Gratch bekam sie mit den Krallen zu fassen, riß ihre schuppige Haut auseinander, verspritzte ihr Blut und ihre Eingeweide. Ihr Todesgeheul ließ es Zedd eiskalt den Rücken hinunterlaufen.

Zedd spürte die Bewegung in der Luft, als einer an ihm vorbeisegelte. Er hatte es auf den Gar abgesehen. Der Zauberer streckte die Hand aus und warf eine Kugel aus flüssigem Feuer, die den Mriswith traf, sein Cape in Brand setzte und ihn dann ganz in Flammen hüllte.

Plötzlich wimmelte es auf der Brustwehr von diesen Wesen. Zedd, der tief graben mußte, um noch Kraft aufzubieten, riß eine Linie aus verdichteter Luft zurück und warf damit mehrere von ihnen über den Rand. Gratch schleuderte einen der Angreifer mit solcher Brutalität gegen die Mauer, daß er beim Aufprall zerplatzte.

Zedd war auf die regelrechte Schlacht, die plötzlich zu allen Seiten ausgebrochen war, nicht vorbereitet. Er befand sich in einem derart lähmenden Erschöpfungszustand, daß seine panische Suche nach Ideen nichts Einfallsreicheres zutage förderte als einen simplen Zauber aus Feuer und Luft.

Plötzlich ging ein Mriswith mit seiner Klinge auf Zedd los. Der Zauberer schleuderte eine Linie aus Luft, scharf wie eine Axt. Sie spaltete den Schädel des Mriswith. Er benutzte ein Netz, um mehrere von Gratch fortzuziehen, und warf sie über den Mauerrand. Hier auf der äußeren Brustwehr bedeutete dies ein Sturz von mehreren tausend Fuß — senkrecht in die Tiefe.

Die Mriswiths achteten größtenteils gar nicht auf Zedd, so versessen waren sie darauf, den Gar zu überwältigen. Wieso wollten sie den Gar unbedingt töten? So wie Gratch sie abfertigte, sah es so aus, als hegten sie einen urtümlichen Haß auf das Flügeltier.

Plötzlich öffnete sich eine Tür, und ein Lichtkeil bohrte sich in die vormorgendliche Dunkelheit. Eine kleine Gestalt zeichnete sich als Silhouette im Licht ab. Im Schein des Lichts konnte Zedd erkennen, wie sämtliche Mriswiths auf den Gar losgingen. Er stürzte los und schleuderte eine Faustvoll Feuer los, die drei der schuppigen Kreaturen einhüllte.

Ein Mriswith wirbelte vorbei, stieß krachend gegen Zedds Schulter und holte ihn von den Beinen. Er sah, wie die Mriswiths über den Gar herfielen, ihn rücklings gegen die mit Zinnen besetzte Mauer prügelten.

Zedd sah noch, wie sie alle zusammen in einer einzigen, kochenden Masse über die Mauerkante gingen und in die Tiefe stürzten. Dann schlug er mit dem Kopf auf einen Stein.


Kreischend öffnete sich die Tür. Als Valdora sich von ihrem Werk erhob, versuchte Ann keuchend wieder zu Atem zu kommen und gleichzeitig gegen die Dunkelheit anzukämpfen, die ihren Verstand einzuhüllen drohte. Sie hielt es nicht mehr länger aus. Sie war am Ende. Sie konnte nicht mehr schreien. Gütiger Schöpfer, sie hielt einfach nicht mehr länger durch. Wieso war er nicht gekommen, um sie zu retten?

»Großmutter.« Vor Anstrengung ächzend, mühte Holly sich ab, etwas Zentimeter für Zentimeter in den Raum zu zerren. »Großmutter. Draußen ist etwas Seltsames passiert.«

Valdora drehte sich zu dem Mädchen um. Unter allergrößter Mühe hob Holly schnaufend einen dürren alten Mann an seinem kastanienbraunen Gewand hoch und lehnte ihn an die Wand. Blut lief ihm seitlich übers Gesicht und verklebte sein gewelltes, weißes Haar, das wirr von seinem Kopf abstand.

»Er ist ein Zauberer, Großmutter. Er ist halbtot. Ich habe gesehen, wie er mit einem Gar gekämpft hat und mit einigen anderen Kreaturen, die ganz mit Schuppen bedeckt waren.«

»Wie kommst du darauf, daß er ein Zauberer ist?«

Holly richtete sich auf und stand nach Luft japsend über dem am Boden liegenden Mann. »Er hat seine Gabe benutzt. Er hat mit Feuerbällen um sich geworfen.«

Valdora runzelte die Stirn. »Ach, wirklich? Ein Zauberer. Wie interessant.« Sie kratzte sich an der Nase. »Was ist mit den Kreaturen geschehen, und mit dem Gar?«

Holly machte große, kreisende Bewegungen mit den Armen und beschrieb den Kampf. »Und dann haben sie sich alle auf den Gar geworfen und sind zusammen über die Mauer gestürzt. Ich bin zum Rand gelaufen, um nachzuschauen, konnte sie aber nicht mehr sehen. Sie sind alle den Berg hinuntergefallen.«

Anns Kopf sank mit einem dumpfen Schlag zurück auf den Tisch. Gütiger Schöpfer, es war der Zauberer, der sie retten sollte.

Es war alles umsonst. Sie würde sterben. Wie hatte sie so verblendet sein können, zu glauben, ein derart riskanter Plan würde tatsächlich gelingen?

Nathan. Sie fragte sich, ob er jemals ihre Leiche finden und so erfahren würde, was geschehen war. Oder ob es ihm überhaupt etwas ausmachen würde, daß seine Wächterin tot war. Sie war eine törichte, törichte alte Frau, die sich selbst für zu schlau gehalten hatte. Einmal zu oft hatte sie sich an einer Prophezeiung zu schaffen gemacht und sich dabei ins eigene Fleisch geschnitten. Nathan hatte recht. Sie hätte auf ihn hören sollen.

Ann zuckte zusammen, als sie merkte, daß Valdora sich mit einem boshaften Grinsen über sie beugte. Sie schob Ann die Messerspitze unter das Kinn.

»Nun, meine liebe Prälatin, es scheint, als müßten wir uns eines Zauberers entledigen.« Sie fuhr Ann mit der Messerspitze über den Hals. Ann spürte, wie sie an der Haut zerrte, wie sie in ihrer langsamen Bewegung schnitt und kratzte.

»Bitte, Valdora, sag Holly, daß sie den Raum verlassen soll. Du solltest nicht zulassen, daß deine Enkelin mit ansehen muß, wie du jemanden tötest.«

Valdora drehte sich um. »Du möchtest gerne zuschauen, nicht wahr, Liebes?«

Holly schluckte. »Nein, Großmutter. Sie hat uns nie weh tun wollen.«

»Ich hab dir doch schon gesagt, mir hat sie weh getan.«

Holly zeigte auf den Zauberer. »Ich habe ihn hergebracht, damit du ihm helfen kannst.«

»Oh, nein. Kommt nicht in Frage. Er muß ebenfalls sterben.«

»Und womit hat er dir weh getan?«

Valdora zuckte mit den Achseln. »Wenn du nicht zuschauen willst, dann geh. Mir macht das nichts aus.«

Holly machte kehrt, hielt dann einen Augenblick inne, um den Mann anzusehen. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter, als wollte sie ihn trösten, dann rannte sie hinaus.

Valdora wandte sich wieder um. Sie legte Ann das Messer an die Wange, unter das eine Auge. »Soll ich Euch zuerst die Augen ausstechen?«

Ann kniff die Augen zu. Sie konnte es nicht länger aushalten.

»Nein!« Valdora stieß ihr die Spitze unters Kinn. »Schließt die Augen nicht! Ihr werdet zusehen! Wenn Ihr sie nicht aufmacht, werde ich sie Euch erst recht ausstechen!«

Ann öffnete die Augen. Sie biß sich auf die Unterlippe und verfolgte, wie Valdora ihr die Spitze auf die Brust legte und den Griff senkrecht anhob.

»Endlich«, sagte Valdora leise. »Rache.«

Sie hob das Messer an. Mitten in der Luft hielt es inne. Sie holte tief Luft.

Ein Zucken ging durch Valdoras Körper, als die Klinge eines Schwertes aus der Mitte ihrer Brust hervorbrach.

Sie riß die Augen auf und stieß ein gurgelndes Kreischen aus. Das Messer fiel zu Boden.

Nathan stemmte Valdora einen Fuß in den Rücken und zog das Schwert aus der Frau. Sie schlug hart auf den Steinboden.

Ann schluchzte voller Erleichterung. Tränen strömten ihr aus den Augen, als die Banne brachen, die sie an Handgelenken und Füßen fesselten.

Nathan blickte verbittert auf sie herab, wie sie auf dem Tisch lag. »Törichtes Weib«, sagte er leise, »was hast du dir antun lassen.«

Er bückte sich, nahm sie in die Arme und weinte wie ein Kind. Seine Arme fühlten sich so süß an wie die des Schöpfers, als er sie an seine Brust drückte.

Als ihr Weinen nachließ, löste er sich von ihr, und sie sah, daß seine Kleidung blutdurchtränkt war. Von ihrem Blut.

»Nimm die Sperre fort, und dann leg dich wieder hin und laß mich sehen, ob ich diese schlimmen Wunden vielleicht heilen kann.«

Ann schob seine Hand fort. »Nein. Zuerst muß ich tun, weshalb ich hergekommen bin.« Sie zeigte auf den Mann. »Das ist er. Das ist der Zauberer, dessentwegen wir gekommen sind.«

»Hat das nicht Zeit?«

Sie wischte sich das Blut und die Tränen aus den Augen. »Ich habe diese Prophezeiung bis hierhin durchgestanden, Nathan. Laß sie mich zu Ende führen. Bitte.«

Mit einem angewiderten Seufzer griff er in einen Beutel neben der Scheide an seinem Gürtel und zog einen Rada’Han heraus. Er reichte ihn ihr, als sie vom Tisch hinunterglitt. Als ihre Füße den Boden berührten, brach sie unter den Schmerzen zusammen. Nathan fing sie mit starken Armen auf und half ihr, vor dem bewußtlosen Zauberer niederzuknien.

»Hilf mir, Nathan. Öffne ihn für mich. Sie hat mir fast alle meine Finger gebrochen.«

Zitternd legte sie dem Zauberer den Ring um den Hals. Mit ihren Handflächen gelang es ihr schließlich, ihn einschnappen zu lassen. Damit schloß sie nicht nur den Ring, sondern auch dessen Magie. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt.

In der Tür stand Holly. »Ist Großmutter tot?«

Ann ließ sich auf die Fersen zurückfallen. »Ja, mein Kind. Es tut mir leid.« Sie hielt ihr die Hand hin. »Wie würde es dir gefallen, bei einer Heilung statt bei einer Folter zuzusehen?«

Holly ergriff die Hand vorsichtig. Sie warf einen Blick auf den am Boden liegenden Zauberer. »Und er? Wirst du ihn auch heilen?«

»Ja, Holly, ihn auch.«

»Deswegen habe ich ihn reingeholt — damit ihm jemand hilft. Nicht, damit er umgebracht wird. Sie war immer so gemein.«

»Ich weiß«, sagte Ann.

Eine Träne lief dem Mädchen über die Wange. »Und was soll jetzt aus mir werden?« fragte sie leise.

Ann lächelte unter Tränen. »Ich bin Annalina Aldurren, Prälatin der Schwestern des Lichts, und das schon eine ganze Weile. Ich habe so manche junge Frau aufgenommen, die die Gabe besaß, und ihr gezeigt, eine wundervolle Frau zu werden, die den Menschen hilft und sie heilt. Ich wäre überglücklich, wenn du bei uns eintreten würdest.«

Holly nickte, und ein Lächeln stahl sich auf ihr tränenverschmiertes Gesicht. »Für mich hat Großmutter immer gesorgt, aber zu anderen Menschen war sie gemein, manchmal jedenfalls. Meist zu denen, die uns weh tun oder uns betrügen wollten. Aber das hast du nie versucht. Es war nicht recht von ihr, dir weh zu tun. Es tut mir leid, daß sie nicht netter war. Es tut mir leid, daß sie gemein war und sterben mußte.«

Ann küßte dem Mädchen die Hand. »Mir auch. Mir auch.«

»Ich habe die Gabe.« Sie schaute auf aus großen, traurigen Augen. »Kannst du mir beibringen, wie man damit heilt?«

»Es wäre mir eine Ehre.«

Nathan hob sein Schwert auf und steckte es mit einer dramatischen Geste in die Scheide zurück. »Willst du jetzt endlich geheilt werden? Oder willst du lieber verbluten, damit ich mich zum ersten Mal an einer Wiederauferstehung versuchen kann?«

Ann zuckte zusammen, als sie sich erhob. »Heile mich, mein Retter.«

Er sah sie voller Argwohn an. »Dann gib mir Zugriff auf meine Kraft, Frau. Mit meinem Schwert kann ich dich nicht heilen.«

Ann schloß die Augen und hob eine Hand. Sie stellte ihre Sinne auf seinen Rada’Han ein und entfernte die Sperre aus seinem Fluß des Han. »Es ist vollbracht.«

Nathan brummte. »Ich weiß, daß es vollbracht ist. Schließlich fühle ich, daß es wieder da ist.«

»Hilf mir auf den Tisch, Nathan.« Holly hielt ihre Hand, während Ann aufgehoben wurde.

Nathan betrachtete den auf dem Boden liegenden Zauberer. »Nun, endlich hast du ihn. Soweit ich weiß, ist jemandem wie ihm noch nie ein Halsring umgelegt worden.« Er sah sie aus seinen durchdringenden, blauen Augen an. »Jetzt, wo du einen Zauberer der Ersten Ordnung in der Hand hast, fängt dein Plan erst an, wirklich irrsinnig zu werden.«

Ann seufzte, als seine heilenden Hände endlich über ihren Körper strichen. »Ich weiß. Hoffentlich hat Verna ihre Sache inzwischen gut gemacht.«

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