44

»Bitte, Zauberer Zorander.«

Der dürre Zauberer schaufelte ohne aufzusehen weiter Bohnen mit Speck in den Mund. Sie begriff nicht, wie der Mann soviel essen konnte.

»Hörst du mir zu?«

Es war nicht ihre Art, zu schreien, aber sie war mit ihrer Geduld am Ende. Die Angelegenheit erwies sich als noch lästiger, als sie sich vorgestellt hatte. Sie wußte, sie mußte es tun, um ihn weniger feindselig zu stimmen, aber das ging zu weit.

Mit einem wohligen Seufzer schleuderte Zauberer Zorander seine Blechschale auf ihr Gepäck. »Gute Nacht, Nathan.«

Nathan zog eine Braue hoch, als Zauberer Zorander in sein Bettzeug kroch. »Gute Nacht, Zedd.«

Seit sie den alten Zauberer gefangen hatte, war auch Nathan gefährlich schwierig geworden. Noch nie hatte er eine so begabte Gruppe von Menschen um sich gehabt. Ann sprang auf und stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und blickte wütend auf das weiße Haar, das unter der Decke hervorlugte.

»Zauberer Zorander, ich flehe dich an.«

Es machte sie rasend, ihn auf so unterwürfige Art zu bitten, aber sie hatte zu ihrem Leidwesen lernen müssen, was dabei herauskommen konnte, wenn sie die Kraft seines Halsrings benutzte, um ihn mittels unangenehmer Methoden ins Gebet zu nehmen. Es verblüffte sie, wie der Mann es schaffte, mit seinen Tricks ihre Sperre zu durchbrechen, die sie mit seinem Halsring verknüpft hatte, doch zu Nathans großer Freude gelang es ihm. Sie fand dies alles andere als komisch.

Ann war den Tränen nahe. »Bitte, Zauberer Zorander.«

Sein Kopf drehte sich nach oben, der Schein des Feuers zeichnete die Furchen seines Gesichts in harten Schatten nach. Er sah sie aus seinen haselbraunen Augen an.

»Wenn du das Buch noch ein einziges Mal aufschlägst, bist du tot.«

Mit gespenstischer Verstohlenheit schmuggelte er Banne an ihren Schilden vorbei, wenn sie es am wenigsten erwartete. Es war ihr unbegreiflich, wie er das Reisebuch mit einem Lichtbann hatte belegen können. Sie hatte es an jenem Abend aufgeschlagen und die Nachricht von Verna gesehen, daß man sie gefaßt und ihr einen Halsring umgelegt hatte, und dann war alles fürchterlich schiefgegangen.

Das Öffnen des Buches hatte den Lichtbann ausgelöst. Sie hatte gesehen, wie er stärker wurde und aufleuchtete. Ein leuchtendes, glühendes Stück Kohle war in die Luft geschossen, und der alte Zauberer hatte ihr seelenruhig erklärt, wenn sie das Buch nicht wieder geschlossen hätte, bis der glühende Lichtfunke zu Boden fiel, würde sie verbrannt werden.

Ein Auge immer auf den zischend herabstürzenden Funken haltend, hatte sie Verna nur hastig eine Nachricht hinkritzeln können, daß sie fliehen und die Schwestern fortschaffen müsse. Sie hatte das Buch gerade noch rechtzeitig geschlossen. Mit der tödlichen Wirkung des Banns scherzte er nicht, das wußte sie.

Sogar jetzt konnte sie ein schwaches Glühen um das Buch erkennen. Einen ähnlichen Bann hatte sie noch nie gesehen, und ihr war schleierhaft, wie er es geschafft hatte, ihn anzubringen, obwohl sie eine Sperre um seine Kraft errichtet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Buch öffnen sollte, ohne getötet zu werden.

Ann hockte sich neben das Bettzeug. »Zauberer Zorander, sicherlich hast du allen Grund, über mich erzürnt zu sein, aber hier geht es um Leben und Tod. Ich muß eine Nachricht abschicken. Das Leben von Schwestern steht auf dem Spiel. Zauberer Zorander, bitte. Es könnte sein, daß Schwestern sterben. Ich weiß, du bist ein guter Mensch und würdest das nicht wollen.«

Er holte einen Finger unter der Decke hervor und zeigte auf sie. »Du hast mich zum Sklaven gemacht. Das hast du dir und deinen Schwestern selbst eingebrockt. Ich sagte es bereits, du hast das Abkommen gebrochen und damit deine Schwestern zum Tod verurteilt. Du bringst das Leben von Menschen, die ich liebe, in Gefahr. Du hast mich daran gehindert, die magischen Gegenstände in der Burg zu beschützen. Du bringst das Leben meines Volkes in den Midlands in Gefahr. All diese Menschen könnten sterben, nur weil du mir das angetan hast.«

»Begreifst du nicht, daß unser aller Leben miteinander verknüpft ist? Dies ist ein Krieg gegen die Imperiale Ordnung, nicht zwischen uns. Ich möchte dir keinen Schaden zufügen, nur damit du mir hilfst.«

Er knurrte. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe: du oder Nathan, einer von euch sollte immer wach bleiben. Solltet ihr beide schlafen, wirst du nie wieder aufwachen. Das ist eine faire Warnung, auch wenn du sie nicht verdient hast.«

Er wälzte sich auf die andere Seite und zog die Decke hoch.

Gütiger Schöpfer, geschah all dies gemäß der Prophezeiung, oder lief alles fürchterlich verkehrt? Ann ging ums Feuer herum zu Nathan.

»Nathan, kannst du ihm nicht ein wenig Vernunft beibringen?«

Nathan sah sie an. »Ich sagte es bereits, dieser Teil des Planes ist der reine Wahnsinn. Einem jungen Mann einen Halsring umzulegen ist eine Sache, aber dies bei einem Zauberer der Ersten Ordnung zu tun ist etwas völlig anderes. Es war deine Idee, nicht meine.«

Sie biß die Zähne zusammen und packte ihn am Hemd. »Verna könnte in diesem Halsring getötet werden. Wenn sie stirbt, schweben auch unsere Schwestern in tödlicher Gefahr.«

Er nahm einen Löffel Bohnen. »Ich habe dich von Anfang an vor diesem Plan gewarnt. In der Burg bist du fast umgekommen. Dieser zweite Teil der Prophezeiung jedoch ist noch gefährlicher. Ich habe mit ihm gesprochen, er sagt dir die Wahrheit. Soweit es ihn betrifft, bringst du seine Freunde in Lebensgefahr. Wenn er kann, wird er dich töten, um zu fliehen und ihnen zu helfen. Daran habe ich keinen Zweifel.«

»Nathan, wie kannst du nach all den Jahren, die wir zusammen waren, so gefühllos sein?«

»Du meinst, wie kann ich mich nach all den Jahren der Gefangenschaft immer noch dagegen wehren?«

Ann wandte ihr Gesicht ab, als ihr eine Träne über die Wange lief. Sie würgte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

»Nathan«, meinte sie leise, »hast du ein einziges Mal in all der Zeit, die du mich kennst, gesehen, daß ich jemandem etwas Grausames angetan hätte — aus einem anderen Grund, als Leben zu beschützen? Habe ich deines Wissens ein einziges Mal aus einem anderen Grund für etwas gekämpft, als Leben und Freiheit zu bewahren?«

»Ich nehme an, du meinst eine andere Freiheit als die meine.«

Sie räusperte sich. »Ich weiß, ich werde mich dem Schöpfer gegenüber dafür verantworten müssen. Aber ich tue es, weil ich nicht anders kann und weil ich dich mag, Nathan. Ich weiß, was draußen in der Welt aus dir werden würde. Du würdest von Menschen, die dich nicht verstehen, gejagt und umgebracht.«

Nathan warf seine Schale zu den anderen. »Willst du die erste oder die zweite Wache?«

Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Wenn du so versessen auf deine Freiheit bist, was hindert dich dann, während deiner Wache einzuschlafen, damit ich getötet werde?«

Seine durchdringenden blauen Augen nahmen einen bitteren Ausdruck an. »Ich will diesen Halsring loswerden. Das einzige, was ich dafür nicht tun werde, ist, dich zu töten. Wäre ich bereit, diesen Preis zu bezahlen, wärst du schon tausendmal tot, und das weißt du.«

»Tut mir leid, Nathan. Ich weiß, du bist ein guter Mann, und ich bin mir durchaus der entscheidenden Rolle bewußt, die du dabei gespielt hast, mir beim Bewahren des Lebens zu helfen. Dich dazu zwingen zu müssen tut mir im Herzen weh.«

»Mich zwingen?« Er lachte. »Ann, du bist die komischste Frau, die mir je begegnet ist. Das meiste davon hätte ich um nichts missen wollen. Welche andere Frau hätte mir ein Schwert gekauft? Oder mir einen Grund gegeben, es zu benutzen?

Diese tollkühne Prophezeiung besagt, daß du ihn zornig herbeibringen mußt, und du machst deine Sache ganz hervorragend. Ich fürchte, es könnte sogar funktionieren. Ich werde die erste Wache übernehmen. Vergiß nicht, nach deinem Bettzeug zu sehen. Diesen Schneeflöhen bin ich immer noch nicht auf die Schliche gekommen.«

»Ich auch nicht. Mich juckt es noch immer.« Sie kratzte sich gedankenverloren am Hals. »Wir sind fast zu Hause. Bei diesem Tempo wird es nicht mehr lange dauern.«

»Zuhause«, meinte er spöttisch. »Und dann bringst du uns um.«

»Gütiger Schöpfer«, sagte sie leise bei sich, »was bleibt mir für eine Wahl?«


Richard lehnte sich in seinem Sessel zurück und gähnte. Er war so müde, daß er kaum die Augen offenhalten konnte. Sein Räkeln und Gähnen veranlaßte Berdine, die unmittelbar neben ihm saß, das gleiche zu tun. Raina, auf der anderen Seite des Zimmers an der Tür, wurde ebenfalls von dem Gähnen angesteckt. Es klopfte, und Richard sprang auf. »Herein!« Egan steckte seinen Kopf herein. »Ein Bote ist hier.« Richard machte eine Handbewegung, und Egans Kopf verschwand. Ein d’Haranischer Soldat in einem schweren Umhang und nach Pferd riechend kam hereingeeilt und salutierte mit der Faust auf seinem Herzen.

»Setz dich. Du siehst aus, als hättest du einen anstrengenden Ritt hinter dir«, sagte Richard.

Der Soldat richtete die Streitaxt an seinem Gürtel und blickte kurz auf den Stuhl. »Mir geht es gut, Lord Rahl, aber ich fürchte, ich habe nichts zu berichten.«

Richard sank in seinen Sessel zurück. »Verstehe. Keine Spur? Nichts?«

»Nein, Lord Rahl. General Reibisch trug mir auf, Euch mitzuteilen, daß sie gut vorankommen und jeden Zoll absuchen, bis jetzt aber keine Spur gefunden haben.«

Richard seufzte enttäuscht. »Na gut. Danke. Am besten gehst du etwas essen.«

Der Mann salutierte und verabschiedete sich. Seit zwei Wochen, beginnend eine Woche nach dem Aufbruch der Streitmacht, hatten Richard jeden Tag Boten Bericht erstattet. Da das Heer sich aufgeteilt hatte, um verschiedene Routen abzudecken, schickte jede Gruppe ihre eigenen Boten. Dies war an diesem Tag der fünfte.

Berichte über Ereignisse zu hören, die Wochen zuvor, als die Boten von ihren Einheiten aufgebrochen waren, geschehen waren, das war, als sähe man dabei zu, wie Geschichte passierte. Welche Entwicklung ihm auch zu Ohren kam, sie hatte in der Vergangenheit stattgefunden. Soweit Richard wußte, konnte es sein, daß sie Kahlan vor einer Woche gefunden hatten und sich auf dem Rückweg befanden, während er noch immer Berichte über Mißerfolge zu hören bekam. An diese unerschütterliche Hoffnung klammerte er sich vor allem.

Er hatte die Zeit genutzt und sich von all den Sorgen nicht ablenken lassen, indem er an der Übersetzung des Tagebuches arbeitete. Das vermittelte ihm weitgehend das gleiche Gefühl wie der Erhalt der täglichen Berichte, wie das Beobachten des Ablaufs der Geschichte. Schon bald verstand Richard mehr von diesem Dialekt des Hoch-D’Haran als Berdine.

Da er die Geschichte von Die Abenteuer von Bonnie Day kannte, hatten sie größtenteils damit gearbeitet und, nachdem sie die Bedeutung der Wörter herausgefunden hatten, eine lange Liste mit Vokabeln erstellt, die ihnen Anhaltspunkte für das Tagebuch lieferten. Durch das Lernen der Wörter konnte Richard immer größere Teile des Buches lesen, indem er den genauen Wortlaut Stück für Stück zusammensetzte. Das wiederum ermöglichte ihm, immer mehr Leerstellen in seinem Gedächtnis aufzufüllen und dadurch noch mehr Wörter zu verstehen.

Mittlerweile war es oft einfacher für ihn, sein frischgewonnenes Wissen einfach zu benutzen, um direkt aus dem Tagebuch zu übersetzen, als es Berdine zu zeigen und sie die Arbeit machen zu lassen. Er fing an, im Schlaf auf Hoch-D’Haran zu träumen und es im Wachzustand zu sprechen.

Der Zauberer, der das Tagebuch geschrieben hatte, nannte nirgendwo seinen Namen. Es handelte sich nicht um offizielle Aufzeichnungen, sondern um ein privates Tagebuch, daher hatte er keinen Grund, sich mit Namen zu nennen. Berdine und Richard waren dazu übergegangen, ihn Kolo zu nennen, eine Kurzform für koloblicin, ein hoch-d’Haranisches Wort, das ›Starker Ratgeber‹ bedeutete.

Mit Richards wachsendem Verständnis des Tagebuches trat ein zunehmend beängstigendes Bild zutage. Kolo hatte sein Tagebuch während jenes Krieges in der Vorzeit geführt, in dessen Folge die Türme der Verdammnis im Tal der Verlorenen aufgestellt worden waren. Schwester Verna hatte ihm einmal erzählt, die Türme hätten dieses Tal mehr als dreitausend Jahre lang bewacht und hätten einzig dem Zweck gedient, einen großen Krieg zu verhindern. Nachdem er erfahren hatte, wie verzweifelt diese Zauberer daran gearbeitet hatten, die Türme zu aktivieren, bereitete es Richard zunehmend Sorge, daß er sie zerstört hatte.

An einer Stelle hatte Kolo davon gesprochen, daß seine Tagebücher ihn seit seiner Jugend begleitet und er etwa eins pro Jahr vollgeschrieben habe. Dieses, Nummer siebenundvierzig, mußte also verfaßt worden sein, als er irgendwo zwischen Anfang und Mitte fünfzig war. Richard hatte vor, in die Burg zu gehen und Kolos andere Tagebücher zu suchen, doch dieses barg noch immer viele Geheimnisse.

Offenbar hatte Kolo in der Burg die Aufgabe eines Vertrauten und Ratgebers innegehabt. Die meisten Zauberer besaßen beide Seiten der Gabe, die Additive sowohl als auch die Subtraktive, einige jedoch nur die Additive. Kolo empfand großes Mitleid mit denen, die nur mit einer Seite der Gabe geboren waren, und hatte das Gefühl, sie in Schutz nehmen zu müssen. Viele betrachteten diese ›unglücklichen Zauberer‹ angeblich als nahezu hilflos, Kolo jedoch war der Ansicht, daß sie auf ihre einzigartige Weise auch ihren Teil beitragen konnten, und setzte sich für ihre Gleichberechtigung in der Burg ein.

Zu Kolos Zeit lebten Hunderte von Zauberern dort oben, und es wimmelte von Familien, Freunden und Kindern. Die jetzt menschenleeren Hallen waren einst von Gelächter, Gesprächen und unbeschwerter Harmonie erfüllt gewesen. Verschiedentlich erwähnte Kolo eine Fryda, wahrscheinlich seine Frau, sowie seinen Sohn und seine jüngere Tochter. Kinder waren auf bestimmte Ebenen in der Burg beschränkt und besuchten Unterrichtsstunden, in denen sie die typischen Fächer wie Lesen, Schreiben und Rechnen, aber auch Prophezeiungen und den Gebrauch der Gabe lernten.

Doch über dieser gewaltigen, von Leben, Arbeit und Familienglück überschäumenden Burg hing der Schatten des Todes. Die Welt befand sich im Krieg.

Es gehörte unter anderem zu Kolos Pflichten, die Sliph zu bewachen, wenn er an der Reihe war. Richard erinnerte sich, daß der Mriswith in der Burg ihn gefragt hatte, ob er gekommen sei, die Sliph zu wecken. Dabei hatte er nach unten auf den Raum gedeutet, wo sie Kolos Tagebuch gefunden hatten, und gesagt, endlich sei der Weg zu ihr wieder frei. Auch Kolo bezeichnete die ›Sliph‹ als eine »Sie«, wenn er gelegentlich davon sprach, ›sie‹ beobachte ihn beim Schreiben seines Tagebuches.

Weil es so mühsam war, das Tagebuch auf Hoch-D’Haran zu entziffern, waren sie davon abgekommen, hin und her zu springen, denn das führte bloß dazu, sie zu verwirren. Es war einfacher, am Anfang zu beginnen und die Worte der Reihenfolge nach zu übersetzen, und auf diese Weise Kolos Eigenarten im Gebrauch der Sprache kennenzulernen, was es ihnen wiederum erleichterte, Besonderheiten seiner Ausdrucksweise zu erkennen. Sie hatten das Tagebuch erst zu einem Viertel übertragen, aber der Vorgang gewann mit Richards Erlernen des Hoch-D’Haran beträchtlich an Tempo.

Als Richard sich zurücklehnte und erneut gähnte, beugte sich Berdine zu ihm. »Was bedeutet dieses Wort?«

»›Schwert‹«, antwortete er ohne Zögern. Er erinnerte sich an das Wort aus Die Abenteuer von Bonnie Day.

»Hm. Seht her. Ich glaube, Kolo spricht von Eurem Schwert.«

Die Vorderbeine von Richards Stuhl knallten mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, als er sich nach vorne beugte. Er nahm das Buch und das Stück Papier zur Hand, das sie benutzt hatte, um die Übersetzung niederzuschreiben. Richard überflog die Übersetzung, dann nahm er das Original und zwang sich, es in Kolos Worten zu lesen.

Heute ist der dritte Versuch gescheitert, ein Schwert der Wahrheit zu schmieden. Die Frauen und Kinder der fünf Männer wandeln weinend vor untröstlicher Seelenqual durch die Korridore. Wie viele Männer werden noch sterben, bis wir Erfolg haben oder den Versuch als unmöglich aufgeben? Das Ziel ist es vielleicht wert, doch der Preis wird immer furchtbarer.

»Ihr habt recht. Offenbar schreibt er darüber, wie sie versucht haben, das Schwert der Wahrheit herzustellen.«

Richard erschauderte, als er erfuhr, daß Männer bei der Herstellung seines Schwertes ums Leben gekommen waren. Ihm wurde sogar ein wenig übel dabei. Er hatte das Schwert immer für einen Gegenstand der Magie gehalten und geglaubt, es sei vielleicht ein gewöhnliches Schwert, das ein mächtiger Zauberer irgendwann einmal mit einem Bann belegt hatte. Zu erfahren, daß Menschen bei seiner Erschaffung gestorben waren, erfüllte ihn mit Scham, weil er es die meiste Zeit als selbstverständlich hingenommen hatte.

Richard wandte sich dem nächsten Abschnitt des Tagebuches zu. Eine Stunde lang zog er die Listen und Berdine zu Rate, dann hatte er ihn übersetzt.

Vergangene Nacht haben unsere Feinde Attentäter durch die Sliph geschickt. Wäre der Wachhabende nicht so aufmerksam gewesen, hätten sie Erfolg damit gehabt. Sind die Türme erst fertig, wird die Alte Welt wahrhaftig abgeschottet sein, und die Sliph wird schlafen. Dann werden wir alle ruhen können — bis auf den Unglücklichen, der Wache schiebt. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir unmöglich wissen können, wann — wenn überhaupt — die Banne entfacht werden oder sich jemand in der Sliph befindet, daher kann der Wachhabende nicht rechtzeitig abberufen werden. Wenn die Türme zum Leben erweckt werden, wird der Mann, der sie bewacht, mit ihr versiegelt werden.

»Die Türme«, sagte Richard. »Als sie die Türme fertiggestellt haben, die die Alte von der Neuen Welt trennen, wurde jener Raum ebenfalls versiegelt. Deswegen war Kolo dort unten. Er konnte nicht heraus.«

»Und warum ist der Raum dann jetzt offen?« fragte Berdine.

»Weil ich die Türme zerstört habe. Wißt Ihr noch, wie ich sagte, es sähe so aus, als sei Kolos Raum innerhalb der letzten paar Monate gesprengt worden? Daß der Schimmel von den Wänden verbrannt sei und noch keine Zeit gehabt habe nachzuwachsen? Es muß passiert sein, weil ich die Türme zerstört habe. Außerdem wurde dadurch Kolos Raum zum ersten Mal seit dreitausend Jahren entsiegelt.«

»Warum sollte jemand den Raum mit dem Brunnen versiegeln?«

Richard mußte sich zwingen, ein verständnisloses Gesicht aufzusetzen. »Ich glaube, diese Sliph, von der Kolo ständig spricht, lebt in diesem Brunnen.«

»Was ist diese Sliph? Der Mriswith hat sie ebenfalls erwähnt.«

»Das weiß ich nicht, aber irgendwie haben sie diese Sliph, was immer sie ist, benutzt, um an andere Orte zu reisen. Kolo spricht davon, der Feind habe Attentäter durch die Sliph geschickt. Sie haben gegen die Menschen in der Alten Welt gekämpft.«

Berdine senkte besorgt die Stimme und beugte sich zu ihm vor.

»Soll das heißen, Ihr glaubt, diese Zauberer konnten von hier aus den weiten Weg bis in die Alte Welt reisen und wieder zurück?«

Richard kratzte sich an der juckenden Stelle in seinem Nacken. »Ich weiß es nicht, Berdine. So hört es sich jedenfalls an.«

Berdine starrte ihn an, als warte sie auf weitere Beweise dafür, daß er den Verstand verlor. »Lord Rahl, wie könnte so etwas möglich sein?«

»Woher soll ich das wissen?« Richard sah aus dem Fenster. »Es ist spät. Wir sollten ein wenig schlafen.«

Berdine gähnte erneut. »Klingt, als wäre es eine gute Idee.«

Richard klappte Kolos Tagebuch zu und klemmte es unter den Arm. »Ich werde bis zum Einschlafen im Bett noch etwas lesen.«


Tobias Brogan betrachtete den Mriswith auf der Kutsche, den im Inneren sowie die anderen inmitten der Reihen seiner Männer, auf deren Rüstungen die Sonne blinkte. Er konnte alle Mriswiths sehen, keiner war unsichtbar und konnte sich an ihn heranschleichen, um zu lauschen. Jedes Mal, wenn er den Kopf der Mutter Konfessor in der Kutsche von der Seite erblickte, kochte er vor Zorn. Es machte ihn wütend, daß sie noch immer lebte und daß der Schöpfer ihm untersagt hatte, die Klinge gegen sie zu erheben.

Er blickte kurz zur Seite, um sich zu vergewissern, ob Lunetta nahe genug war, ihn zu verstehen, wenn er leise sprach.

»Lunetta, allmählich versetzt mich das in große Unruhe.«

Sie lenkte ihr Pferd näher, während sie dahinritten, damit sie mit ihm sprechen konnte, sah jedoch nicht zu ihm hin, falls einer der Mriswiths herschaute. Botschafter des Schöpfers oder nicht, sie konnte diese Schuppenwesen nicht ausstehen.

»Aber Lord General, Ihr habt behauptet, der Schöpfer habe, als er kam, um zu Euch zu sprechen, gesagt, Ihr müßtet es tun. Es ist eine sehr große Ehre für Euch, vom Schöpfer aufgesucht zu werden und sein Werk zu tun.«

»Ich glaube, der Schöpfer…«

Der Mriswith auf der Kutsche stand auf und deutete mit einer Kralle nach vorn, als sie über die Hügelkuppe kamen. »Sssseht!« stieß er mit einem scharfen Zischen hervor und fügte nach dem Wort ein kehliges Klicken hinzu.

Brogan hob den Kopf und erblickte eine große Stadt, die sich unter ihnen ausbreitete, und dahinter den glitzernden Ozean. Mitten in der Weite des Häusermeeres befand sich ein riesiger Palast, dessen Türme und Dächer in der Sonne funkelten. Ein goldener, von der Sonne beschienener Fluß teilte sich und umspülte die Insel, auf der er stand. Brogan hatte früher schon Städte gesehen, hatte früher schon prächtige Orte kennengelernt, dergleichen aber noch nie. Trotz seines Widerwillens war er von Ehrfurcht erfüllt.

»Er ist wunderschön«, hauchte Lunetta.

»Lunetta«, sagte er leise. »Gestern nacht hat mich der Schöpfer erneut aufgesucht.«

»Wirklich, mein Lord General? Das ist wunderbar. Es ist eine Ehre, daß Ihr in letzter Zeit so oft aufgesucht werdet. Der Schöpfer muß große Pläne mit Euch haben, mein Bruder.«

»Die Dinge, die er mir mitteilt, werden zunehmend fragwürdiger.«

»Der Schöpfer? Fragwürdig?«

Brogan blickte sie an. »Lunetta, ich glaube, es gibt Ärger. Ich glaube, der Schöpfer steht im Begriff, den Verstand zu verlieren.«

Загрузка...