6

Auf der gewölbten Steinbrücke, die über den Flußkern zur Insel Drahle und dem Palast der Propheten führte, standen in einer Reihe, Schulter an Schulter, die Schwestern Philippa, Dulcinia und Maren — wie drei Habichte, die auf ihr abendliches Fressen lauerten. Sie hatten die Hände ungeduldig in die Hüften gestemmt. Die Sonne stand hinter ihnen, daher lagen ihre Gesichter im Schatten, trotzdem konnte Schwester Verna ihre finsteren Mienen erkennen. Warren betrat zusammen mit ihr die Brücke, Schwertmann Andellmere dagegen hatte seinen Auftrag erledigt und entfernte sich hastig in eine andere Richtung.

Die grauhaarige Schwester Dulcinia, die Zähne fest zusammengebissen, beugte sich vor, als Schwester Verna vor ihr stehenblieb. »Wo hast du gesteckt! Du hast uns alle warten lassen!«

Die Trommeln in der Stadt schlugen unbeirrt weiter ihren Takt im Hintergrund — dem langsamen Tröpfeln von Regen gleich. Schwester Verna verbannte sie aus ihren Gedanken.

»Ich war spazieren und habe über die Zukunft des Palastes und das Werk des Schöpfers nachgedacht. Ich hatte nicht erwartet, daß die Verleumdungen schon so früh beginnen würden, wo doch Prälatin Annalinas Asche kaum erkaltet ist.«

Schwester Dulcinia beugte sich noch weiter vor, ihre stechenden blauen Augen bekamen einen gefährlichen Schimmer. »Wage es nicht, uns gegenüber unverschämt zu sein, Schwester Verna, oder du wirst dich sehr schnell als Novizin wiederfinden. Jetzt, da du in das Leben im Palast zurückgekehrt bist, tätest du gut daran, dir die Gepflogenheiten hier wieder ins Gedächtnis zu rufen und deinen Vorgesetzten den gehörigen Respekt zu erweisen.«

Schwester Dulcinia richtete sich wieder auf, so als zöge sie ihre Krallen zurück, jetzt, nachdem die Drohung ausgesprochen war. Sie erwartete keinen Widerspruch. Schwester Maren, eine stämmige Frau mit Muskeln wie ein Waldarbeiter und der dazugehörigen Zunge, lächelte zufrieden. Die große, düstere Schwester Philippa, deren vorstehende Wangenknochen und schmaler Kiefer ihr ein exotisches Aussehen verliehen, hielt ihre dunklen Augen auf Schwester Verna gerichtet und beobachtete sie mit ausdrucksloser Miene.

»Meine Vorgesetzten?« fragte Schwester Verna. »In den Augen des Schöpfers sind wir alle gleich.«

»Gleich!« Schwester Maren schnaubte gereizt. »Eine interessante Vorstellung. Wenn wir eine Revisionsverhandlung einberiefen, um über den Fall deines zänkischen Verhaltens zu beraten, dann würdest du schon sehen, wie ›gleich‹ du bist. Und sehr wahrscheinlich würdest du dich zusammen mit meinen übrigen Novizinnen bei der Hausarbeit wiederfinden, nur wäre diesmal kein Richard hier, der sich einmischen und dich dort rausholen würde.«

»Tatsächlich, Schwester Maren.« Schwester Verna zog eine Braue hoch. »Was Ihr nicht sagt.« Warren schob sich langsam hinter sie, in ihren Schatten. »Wenn ich mich recht erinnere, und bitte verbessert mich, wenn ich mich irre, so habt Ihr beim letzten Mal, als ich ›dort rauskam‹ gesagt, dies sei deshalb geschehen, weil Ihr zum Schöpfer gebetet hättet und dabei darauf gekommen wärt, ich könnte Ihm besser dienen, wenn man mich wieder zur Schwester machte. Und jetzt sagt Ihr, es sei Richards Werk gewesen. Ist meine Erinnerung falsch?«

»Du wagst es, meine Worte in Zweifel zu ziehen?« Schwester Maren preßte ihre Hände so fest zusammen, daß ihre Knöchel sich weiß färbten. »Ich habe schon zweihundert Jahre vor deiner Geburt unverschämte Schwestern bestraft! Wie kannst du es wagen —«

»Ihr habt zwei Versionen desselben Sachverhalts erzählt. Da nicht beide wahr sein können, müßt Ihr wohl die Unwahrheit gesprochen haben. Nicht wahr? Es scheint, als hättet Ihr euch in eine Lüge verstrickt, Schwester Maren. Ich hätte gedacht, daß gerade Ihr alles daran setzen würdet, daß das Lügen Euch nicht zur Gewohnheit wird. Die Schwestern des Lichts legen sehr viel Wert auf Ehrlichkeit und verabscheuen Lügen — noch mehr als Respektlosigkeit. Und welche Strafe hat meine Vorgesetzte, die Leiterin der Novizinnen, sich nun selbst verordnet, um ihre Lügen zu sühnen?«

»Sieh an, sieh an«, sage Schwester Dulcinia mit einem aufgesetzten Grinsen. »Welche Dreistigkeit. Wäre ich an deiner Stelle, Schwester Verna, und spielte ich mit dem Gedanken, mich im Wettstreit um die Stellung der Prälatin selbst aufzustellen, wie du es offensichtlich tust, würde ich mir diesen anmaßenden Gedanken gleich aus dem Kopf schlagen. Wenn Schwester Leoma mit dir fertig wäre, bliebe nicht mehr genug übrig, um sich damit in den Zähnen herumzustochern.«

Schwester Verna erwiderte das aufgesetzte Lächeln. »Aha, Schwester Dulcinia, Ihr habt also die Absicht, Schwester Leoma zu unterstützen, ja? Oder wollt Ihr sie bloß ein wenig beschäftigen und sie so aus dem Weg räumen, während Ihr selbst das Amt anstrebt?«

Schwester Philippa sprach mit ruhiger Stimme, die keinen Widerstand duldete. »Genug. Es gibt wichtigere Dinge, um die wir uns zu kümmern haben. Machen wir diesem Scheingefecht ein Ende, damit wir mit der Auswahl fortfahren können.«

Schwester Verna stemmte die Fäuste in die Hüften. »Und was für ein Scheingefecht wäre das?«

Schwester Philippa drehte sich mit einer anmutigen Bewegung zum Palast um, ihr schlichtes, aber elegantes gelbes Gewand umfloß sie. »Folge uns, Schwester Verna. Du hast uns lange genug aufgehalten. Du bist die letzte, dann können wir mit unseren Geschäften fortfahren. Mit deiner Dreistigkeit werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt beschäftigen.«

Die beiden anderen Schwestern schlossen sich ihr an, als sie sich wie schwebend über die Brücke entfernte. Schwester Verna und Warren blickten sich fragend an, dann gingen sie ihnen nach.

Warren verlangsamte seinen Schritt, so daß die drei Schwestern einen kleinen Vorsprung bekamen. Mit finsterer Miene beugte er sich dicht zu ihr vor, damit er leise sprechen konnte, ohne daß sie es hörten.

»Schwester Verna! Manchmal glaube ich, Ihr könntet selbst die strahlende Sonne dazu bringen, böse auf Euch zu sein! Während der letzten zwanzig Jahre war es hier so friedlich, daß ich ganz vergessen hatte, wieviel Ärger Ihr mit Eurer Zunge anrichten könnt. Warum tut Ihr das? Macht es Euch einfach Spaß, ohne Sinn und Zweck Schwierigkeiten zu bereiten?«

Er lächelte sie an, während sie ihm einen vernichtenden Blick zuwarf, und dann wechselte er das Thema. »Warum glaubt Ihr, stecken die drei wohl zusammen? Ich dachte, sie wären Widersacherinnen?«

Schwester Verna blickte kurz zu den drei Schwestern hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie nichts hören konnten. »Wenn man seinem Gegner ein Messer in den Rücken stecken will, muß man ihm zuerst nahe genug kommen.«


Im Herzen des Palastes blieben die drei Schwestern vor den schweren Türen aus Walnußholz, die in den großen Saal führten, so unvermittelt stehen, daß Schwester Verna und Warren fast in sie hineingelaufen wären. Die drei drehten sich um. Schwester Philippa legte die Fingerspitzen einer Hand auf Warrens Brust und schob ihn einen Schritt zurück.

Dann hielt sie ihm einen ihren langen, eleganten Zeigefinger vor die Nase und fixierte Warren mit kalt funkelndem Blick. »Dies ist eine Angelegenheit unter Schwestern.« Sie betrachtete seinen nackten Hals. »Und wenn die neue Prälatin, wer immer sie auch sein mag, eingesetzt ist, wird man dir einen neuen Rada’Han um den Hals legen müssen, solltest du den Wunsch haben, auch weiterhin im Palast der Propheten zu bleiben. Wir können unmöglich junge Burschen dulden, die sich unserem Einfluß nicht gebührend unterwerfen.«

Schwester Verna stützte Warren mit unsichtbarer Hand im Rücken, damit er nicht weiter zurückwich. »Ich habe ihm den Halsring kraft meiner Befugnis als Schwester des Lichts abgenommen. Das geschah im Namen des Palastes. Niemand wird das rückgängig machen.«

Schwester Philippa schenkte ihr einen finsteren Blick. »Über diese Angelegenheit werden wir uns später, zu einem angemessenen Zeitpunkt, unterhalten.«

»Hören wir endlich auf damit«, meinte Schwester Dulcinia, »es gibt Wichtigeres, um das wir uns zu kümmern haben.«

Schwester Philippa nickte. »Folge uns, Schwester Verna.«

Warren zog den Kopf ein und wirkte verloren, als eine der Schwestern ihr Han dazu benutzte, die schweren Türen aufzustoßen, so daß die drei hindurchmarschieren konnten. Da sie nicht wie ein begossener Pudel aussehen wollte, der ihnen beim Hineingehen hinterhertrabte, beschleunigte Schwester Verna ihre Schritte und ging neben ihnen her. Schwester Dulcinia stieß ein lautes Zischen aus. Schwester Maren versuchte es mit einem ihrer berüchtigten Blicke, die unglückliche Novizinnen so gut kannten, äußerte jedoch keinerlei Protest. Auf Schwester Philippas Gesicht war der leise Anflug eines Lächelns zu erkennen. Wer hinsah, hätte durchaus glauben können, daß Schwester Verna auf ihre Anweisung hin neben ihnen ging.

Sie blieben unter dem inneren Rand der niedrigen Decke stehen, zwischen den weißen Säulen mit den güldenen Kapitellen, die wie eingerollte Eichenblätter geformt waren — und dort wartete Schwester Leoma, mit dem Rücken zu ihnen. Sie hatte ungefähr Schwester Vernas Größe, ihr Schopf aus glattem, weißem Haar, das sie lose mit einem einzelnen, goldenen Band zusammengebunden hatte, reichte bis zur Mitte ihres Rückens. Sie trug ein bescheidenes, braunes, fast bodenlanges Kleid.

Dahinter öffnete sich die große Eingangshalle auf einen gewaltigen Saal, den eine riesige Gewölbedecke krönte. Bunte Glasfenster hinter der oberen Empore warfen farbiges Licht in die gerippte Kuppel, die mit Darstellungen von Schwestern in altertümlichen Gewändern bemalt war. Sie umringten eine Lichtgestalt, die den Schöpfer darstellen sollte. Mit ausgestreckten Armen schien er seine Liebe über die Schwestern auszubreiten, die wiederum zärtlich die Arme zu ihm ausstreckten.

Hinter den verzierten Steingeländern der zwei Ränge Balkone rings um den Saal standen Schwestern und Novizinnen und starrten schweigend nach unten. Überall auf dem blankpolierten Boden mit dem Zickzackmuster standen Schwestern: meist jene, wie Schwester Verna bemerkte, die älter waren und von höherem Rang. Vereinzeltes Hüsteln hallte durch den riesigen Raum, doch niemand sprach.

In der Mitte des Saales, unterhalb der Figur, die den Schöpfer darstellte, stand eine einzelne hüfthohe, weiße gekehlte Säule in einem schwachen Lichtstrahl. Das Licht hatte keine ersichtliche Quelle. Die Schwestern standen in gehörigem Abstand von der Säule und ihrer geheimnisvollen Umhüllung aus Licht entfernt und ließen soviel Raum als möglich, woran sie auch gut taten, wenn der Lichtstrahl das war, was Schwester Verna vermutete. Ein kleiner Gegenstand, was genau, konnte sie nicht erkennen, lag auf der oben flachen Säule.

Schwester Leoma drehte sich um. »Ach. Ich bin froh, daß du dich zu uns gesellst, Schwester.«

»Ist es das, was ich denke?« fragte Schwester Verna.

Ein kaum merkliches Lächeln verzog leicht die Fältchen in Schwester Leomas Gesicht. »Falls du an ein Lichtnetz denkst, dann ja. Ich würde sagen, nicht einmal die Hälfte von uns besitzt das Talent oder die Kraft, eines zu weben. Recht bemerkenswert, meinst du nicht auch?«

Schwester Verna kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was auf der Säule lag. »Ich habe dieses Postament noch nie zuvor gesehen, jedenfalls nicht hier drinnen. Was ist es? Wo kommt es her?«

Schwester Philippa starrte auf den weißen Pfeiler in der Mitte des Saales. Ihre Arroganz war verflogen. »Als wir vom Begräbnis zurückkamen, stand es dort und wartete.«

Schwester Verna sah wieder zum Postament hinüber. »Was liegt darauf?«

Schwester Leoma faltete die Hände. »Der Ring der Prälatin — ihr Amtsring.«

»Der Ring der Prälatin! Was in aller Welt tut er dort?«

Schwester Philippa zog eine Braue hoch. »Ganz recht — was tut er eigentlich dort?«

Schwester Verna konnte in ihren dunklen Augen eine winzige Andeutung von Beunruhigung entdecken. »Aber was soll —«

»Geh einfach hin und versuche, ihn aufzunehmen«, sagte Schwester Dulcinia. »Nicht, daß es dir gelingen wird, natürlich«, fügte sie kaum hörbar hinzu.

»Wir wissen nicht, warum er dort liegt«, sagte Schwester Leoma, deren Stimme einen vertrauteren Ton annahm, wie er unter Schwestern üblich war. »Als wir zurückkehrten, lag er dort. Wir haben versucht, ihn zu untersuchen, aber wir kommen nicht an ihn heran. In Anbetracht der seltsamen Natur des Schildes haben wir uns überlegt, es wäre klug, festzustellen, ob jemand von uns in seine Nähe gelangen und vielleicht seinen Zweck erkennen kann, bevor wir fortfahren. Wir alle haben versucht, uns ihm zu nähern, doch niemandem gelang es. Du bist die letzte, die es noch nicht probiert hat.«

Schwester Verna zog ihr Wolltuch höher. »Was passiert, wenn man sich ihm zu nähern versucht?«

Schwester Dulcinia und Schwester Maren sahen zur Seite. Schwester Philippa blickte Schwester Verna in die Augen. »Es ist nicht angenehm. Ganz und gar nicht angenehm.«

Das überraschte Schwester Verna keineswegs. Sie war lediglich überrascht, daß niemand verletzt worden war. »Es grenzt an ein Verbrechen, ein Lichtschild zu errichten und ihn dort zurückzulassen, wo ein Nichtsahnender aus Versehen hineinlaufen kann.«

»Das ist recht unwahrscheinlich«, meinte Schwester Leoma. »Jedenfalls, wenn man bedenkt, wo er steht. Die Putzfrauen haben ihn entdeckt. Sie waren klug genug, sich von ihm fernzuhalten.«

Es war äußerst seltsam, daß keine der Schwestern imstande gewesen war, den Schild zu durchbrechen und an den Ring heranzukommen, was, wie Schwester Verna sicher vermutete, alle versucht hatten. Wenn eine von ihnen beweisen könnte, daß sie die Kraft besaß, den Ring der Prälatin zurückzuholen — ohne Hilfe, dann wäre dies recht bezeichnend.

Sie blickte kurz zu Schwester Leoma hinüber. »Habt Ihr versucht, die Netze miteinander zu verbinden, um dem Schild die Kraft zu nehmen?«

Schwester Leoma schüttelte den Kopf. »Der Überlegung folgend, daß es sich möglicherweise um einen auf eine auserwählte Schwester abgestimmten Schild handelt, haben wir beschlossen, daß zuerst jede eine Chance bekommen soll. Wir wissen nicht, welchen Zweck dies haben könnte, doch wenn es stimmt, und es sich um einen defensiven Schild handelt, dann könnte es durchaus sein, daß das, was geschützt werden soll, durch das Verbinden und die Entnahme der Kraft zerstört wird. Du bist die einzige, die es noch nicht versucht hat.« Sie seufzte matt. »Wir haben sogar Schwester Simona hier heraufgeschafft.«

Schwester Verna senkte die Stimme, als es plötzlich still wurde. »Geht es ihr schon besser?«

Schwester Leoma starrte zum Bild des Schöpfers hinauf. »Sie hört noch immer Stimmen, und letzte Nacht, als wir draußen auf dem Hügel waren, hatte sie wieder einen ihrer irren Träume.«

»Geh und stelle fest, ob du den Ring holen kannst, damit wir mit dem Auswahlverfahren fortfahren können«, forderte Schwester Dulcinia sie auf. Sie warf Schwester Philippa und Leoma einen drohenden Blick zu, so als wollte sie sagen, es sei genug geredet worden. Schwester Philippa ließ den Blick ausdrucks- und kommentarlos über sich ergehen. Schwester Maren sah voller Ungeduld zu dem sanften Lichtschein hinüber, unter dem das Objekt ihrer Begierde lag.

Schwester Leoma deutete mit einer Bewegung ihrer schwieligen Hand auf die weiße Säule. »Verna, meine Liebe, bringe uns den Ring, wenn du dazu imstande bist. Wir müssen uns wieder um die Angelegenheiten des Palastes kümmern. Wenn du es nicht schaffst, nun, dann sind wir wohl gezwungen, dem Schild mit anderen Mitteln seine Kraft zu nehmen und den Ring der Prälatin zurückzuholen. Geh jetzt, mein Kind.«

Schwester Verna atmete tief durch und beschloß, kein Aufhebens davon zu machen, daß eine andere Schwester, eine Gleichgestellte, sie als ›Kind‹ bezeichnet hatte, und trat über den blankpolierten Fußboden vor. Von den gedämpften, fernen Trommelschlägen abgesehen, waren ihre durch den riesigen Saal hallenden Schritte das einzige Geräusch. Schwester Leoma war älter als sie und verdiente wohl ein gewisses Maß an Achtung. Sie sah hinauf zu den Balkonen und erkannte ihre Freundinnen, die Schwestern Amelia, Phoebe und Janet, die ihr zaghaft zulächelten. Schwester Verna biß entschlossen die Zähne aufeinander.

Sie hatte keinerlei Vorstellung, was der Ring der Prälatin unter einem so gefährlichen Schild, einem Lichtschild, zu suchen hatte. Irgend etwas stimmte da nicht. Ihr Atem ging schneller bei dem Gedanken, daß es sich vielleicht um das Werk einer Schwester der Finsternis handeln könnte. Vielleicht argwöhnte eine von ihnen, daß sie zuviel wußte, und hatte den Schild auf sie abgestimmt. Sie ging etwas langsamer. Wenn das stimmte, und es ein Trick war, um sie zu beseitigen, konnte es durchaus passieren, daß sie ohne jede Vorwarnung verbrannt wurde.

Nur ihre Schritte dröhnten ihr in den Ohren, als sie die äußere Begrenzung des Netzes spürte. Sie konnte sehen, wie der Goldring blinkte. Voller Anspannung erwartete sie etwas Unangenehmes, wie es die anderen offenbar erlebt hatten, doch sie verspürte nichts als Wärme, wie von einer sommerlichen Sonne. Langsam, Schritt für Schritt, ging sie weiter, aber die Temperatur stieg nicht weiter an.

Den wenigen, leise-erschrockenen Lauten, die sie hörte, entnahm sie, daß keine der anderen so weit gekommen war. Doch mußte sie es deshalb noch lange nicht schaffen, den Ring wirklich zu nehmen.

Durch den zarten, weißen Lichtschein hindurch konnte sie die Schwestern sehen, die mit aufgerissenen Augen das Geschehen verfolgten.

Dann plötzlich stand sie wie im verschwommenen Licht eines Traumes vor dem Postament. Der Schein im Zentrum des Schildes war so hell geworden, daß sie die Gesichter der Dahinterstehenden nicht mehr erkennen konnte.

Der Goldring der Prälatin lag auf einem gefalteten Stück Pergament, das mit einem roten Wachssiegel verschlossen war, in das man das Sonnenaufgangssymbol des Ringes gedrückt hatte. Unter dem Ring waren Buchstaben zu erkennen. Sie schob den Ring zur Seite und drehte das Pergament mit einem Finger, damit sie es lesen konnte.

Wenn du lebend diesem Netz entkommen willst, stecke dir den Ring auf den dritten Finger deiner linken Hand, küsse ihn, dann erbrich das Siegel und lies meine Worte darin den anderen Schwestern vor — Prälatin Annalina Aldurren.

Schwester Verna starrte auf die Worte. Sie schienen zurückzustarren, abwartend. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie erkannte die Handschrift der Prälatin durchaus wieder, war sich aber bewußt, daß es eine Fälschung sein konnte. Wenn es sich um einen Trick einer Schwester der Finsternis handelte, besonders einer, die einen Hang für Dramatik hatte, konnte ein Befolgen der Anweisungen den Tod bedeuten. Wenn nicht, dann ihr Nichtbefolgen. Sie blieb reglos einen Augenblick lang stehen und versuchte sich eine Alternative zu überlegen. Ihr fiel nichts ein.

Schwester Verna streckte die Hand aus und nahm den Ring. Aus der Dunkelheit dahinter hörte sie überraschte Laute. Sie drehte den Ring zwischen ihren Fingern und betrachtete das Symbol der aufgehenden Sonne. Er fühlte sich warm an, so als würde er von einer inneren Quelle erwärmt. Er sah aus wie der Ring der Prälatin, und ein Gefühl in der Magengrube sagte ihr, daß er es war. Sie blickte noch einmal auf die Worte auf dem Pergament.

Wenn du lebend diesem Netz entkommen willst, stecke dir den Ring auf den dritten Finger deiner linken Hand, küsse ihn, dann erbrich das Siegel und lies meine Worte darin den anderen Schwestern vor — Prälatin Annalina Aldurren.

Schwester Vernas Atem ging flach und schwer, als sie den Ring über den dritten Finger ihrer linken Hand streifte. Sie führte die Hand an die Lippen und küßte den Ring, während sie den Schöpfer in einem stummen Gebet um Unterweisung und Kraft bat. Sie zuckte zusammen, als ein Lichtstrahl aus der Gestalt des Schöpfers über ihr hervorschoß und sie in einen gleißend hellen Lichtkegel hüllte. Die Luft ringsum summte deutlich hörbar. Überall im Saal waren Schreie und Protestrufe der Schwestern zu hören, doch in dem Licht, in dem sie stand, konnte sie niemanden erkennen.

Schwester Verna nahm das Pergament in die zitternden Hände. Das Summen in der Luft wurde lauter. Sie wollte fortlaufen, brach statt dessen das Siegel. Der Lichtkegel, der aus dem Abbild des Schöpfers über ihr kam, nahm an Helligkeit zu, bis er gleißend hell erstrahlte.

Schwester Verna faltete das Pergament auseinander und hob den Kopf, obwohl sie die Gesichter ringsum nicht erkennen konnte. »Man hat mich bei Todesstrafe angewiesen, diesen Brief hier vorzulesen.«

Niemand erwiderte etwas, also richtete sie den Blick auf die säuberlich geschriebenen Worte. »Hier steht: ›So sollen alle hier Versammelten sowie die Nichtanwesenden meinen letzten Befehl vernehmen.‹« Schwester Verna hielt inne und mußte schlucken, als den Schwestern vor Schreck der Atem stockte.

»›Die Zeiten sind schwierig, und der Palast kann sich einen langen Kampf um meine Nachfolge nicht leisten. Und einen solchen werde ich auch nicht zulassen. Hiermit übe ich mein Hoheitsrecht als Prälatin aus, wie es im Kanon des Palastes festgeschrieben steht, und ernenne meine Nachfolgerin. Sie steht vor euch und trägt den Ring ihres Amtes. Die Schwester, die dies verliest, ist von nun an Prälatin. Die Schwestern des Lichts werden ihr gehorchen. Alle werden ihr gehorchen.

Der Bann, den ich über dem Ring zurückgelassen habe, wurde mit der Hilfe und der Anleitung des Schöpfers selbst eingerichtet. Widersetzt ihr euch meinem Ansinnen, so tut ihr dies auf eigene Gefahr.

Es ist eure Pflicht, der neuen Prälatin zu dienen und den Palast der Propheten und alles, wofür er steht, zu beschützen. Möge das Licht euch beistehen und euch immer führen.

Geschrieben eigenhändig, bevor ich aus diesem Leben in die sanften Hände des Schöpfers hinüberwandle — Prälatin Annalina Aldurren.‹«

Mit einem Donnerschlag, der den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ, erloschen der Lichtkegel und der Lichtschein, der sie umhüllte.

Verna Sauventreen ließ die Hand mit dem Brief sinken, hob den Kopf und sah die überwältigten Gesichter ringsum. Ein leises Rascheln ging durch den Saal, als die Schwestern des Lichts sich auf ein Knie niederließen und vor ihrer neuen Prälatin den Kopf beugten.

»Das kann nicht sein«, sagte sie leise bei sich.

Schleppenden Schritts ging sie über den blankpolierten Boden und ließ den Brief aus den Fingern gleiten. Von hinten kamen Schwestern vorsichtig herbeigeeilt und schnappten nach dem Brief, um die letzten Worte von Prälatin Annalina Aldurren mit eigenen Augen nachzulesen.

Die vier Schwestern erhoben sich, als sie näher kam. Schwester Marens feines, sandfarbenes Haar umrahmte ein aschfahles Gesicht. Schwester Dulcinias blaue Augen waren weit aufgerissen und ihr Gesicht gerötet. Schwester Philippas sonst so gelassener Gesichtsausdruck bot jetzt ein Bild der Bestürzung.

Schwester Leomas faltige Wangen verzogen sich zu einem breiten, freundlichen Lächeln. »Ihr werdet Rat und Unterweisung brauchen, Schw … Prälatin.« Ihr Lächeln war dahin, als sie gegen ihren Willen schlucken mußte. »Wir stehen bereit, Euch auf jede Weise zu helfen, wo wir nur können. Wir stehen zu Eurer Verfügung. Wir sind dazu da, um Euch zu dienen…«

»Danke«, sagte Schwester Verna mit schwacher Stimme, als sie sich wieder auf den Weg nach draußen machte. Ihre Füße schienen sich von ganz allein zu bewegen.

Draußen wartete Warren. Sie drückte die Türen zu und stand wie benommen vor dem jungen, blonden Zauberer. Warren ließ sich mit tiefer Verbeugung auf ein Knie nieder.

»Prälatin.« Er sah grinsend auf. »Ich habe an der Tür gelauscht«, erklärte er.

»Nenne mich nicht so.« Die eigene Stimme klang hohl in ihren Ohren.

»Warum nicht? Das ist es doch, was Ihr jetzt seid.« Sein Grinsen wurde breiter. »Das ist —«

Sie drehte sich um und wollte gehen. Endlich begann ihr Verstand wieder zu funktionieren. »Komm mit.«

»Wo gehen wir hin?«

Verna legte den Zeigefinger an die Lippen und warf ihm über ihre Schulter einen finsteren Blick zu, und sofort schloß er den Mund. Warren mußte sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, als sie davonmarschierte. Sie schickte sich an, den Palast der Propheten zu verlassen. Wann immer er den Mund abermals öffnen wollte, legte sie erneut den Finger an die Lippen. Schließlich seufzte er, stopfte seine Hände in die Ärmel seines Gewandes, richtete den Blick nach vorn und lief neben ihr her.

Draußen vor dem Palast standen Novizinnen und junge Männer, die das Glockenläuten gehört hatten, mit dem die Ernennung der neuen Prälatin verkündet wurde, sahen den Ring und verbeugten sich. Verna ging an ihnen vorbei, den Blick nach vorn gerichtet. Als sie die Brücke über den Kern überquerte, verbeugten sich die Wachen.

Am Ende der Brücke stieg sie zum Ufer hinab und lief den Pfad durch die Binsen entlang. Warren mußte sich noch immer beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, als sie an den kleinen Anlegestellen vorüberging, die jetzt alle verlassen dalagen, weil die Boote sich draußen auf dem Fluß befanden und ihre Fischer, langsam flußabwärts rudernd, Netze auswarfen oder Leinen hinter sich herzogen. Bald würden sie zurückkommen, um ihren Fisch auf dem Markt in der Stadt zu verkaufen.

Ein Stück flußaufwärts vom Palast der Propheten, an einer menschenleeren, flachen Stelle in der Nähe eines hier zutage tretenden Felsens, den das Wasser gurgelnd und plätschernd umspielte, blieb sie stehen. Sie blickte finster in das wirbelnde Wasser und stemmte ihre Fäuste in die Hüften.

»Eins schwöre ich, wäre diese aufdringliche alte Frau nicht tot, ich würde sie mit bloßen Händen erwürgen.«

»Wovon redet Ihr?« fragte Warren.

»Von der Prälatin. Wäre sie in diesem Augenblick nicht in den Händen des Schöpfers, ich würde ihr meine um den Hals legen.«

Warren lachte stillvergnügt in sich hinein. »Das wäre ein recht seltsamer Anblick, Prälatin.«

»Nenne mich nicht so!«

Waren runzelte die Stirn. »Aber das seid Ihr doch jetzt: die Prälatin.«

Sie packte sein Gewand mit beiden Fäusten an den Schultern. »Warren, du mußt mir helfen. Du mußt mich aus dieser Geschichte rausholen.«

»Was! Aber das ist doch wunderbar! Verna, Ihr seid nun Prälatin!«

»Nein. Das kann ich nicht. Warren, du kennst alle Bücher in den Gewölbekellern unten, du hast die Gesetze des Palastes studiert — du mußt etwas finden, um mich aus dieser Lage zu befreien. Es muß einen Weg geben. Es gibt in den Büchern bestimmt etwas, wodurch dies verhindert werden kann.«

»Verhindert? Es ist bereits geschehen. Und davon abgesehen, etwas Besseres hätte gar nicht passieren können.« Er neigte den Kopf fragend zur Seite. »Warum habt Ihr mich den weiten Weg hierhergebracht?«

Sie ließ sein Gewand los. »Denk nach, Warren. Warum wurde die Prälatin umgebracht?«

»Sie wurde von Schwester Ulicia getötet, einer der Schwestern der Finsternis. Sie wurde getötet, weil sie gegen deren Bosheit gekämpft hat.«

»Nein, Warren, ich sagte, denk nach. Sie wurde umgebracht, weil sie mir eines Tages in ihrem Büro erklärte, sie wisse über die Schwestern der Finsternis Bescheid. Schwester Ulicia war eine ihrer Verwalterinnen und hat gelauscht, als die Prälatin ihr Wissen preisgegeben hat.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Der Raum war abgeschirmt, dafür hatte ich gesorgt. Aber damals war mir nicht klar, daß die Schwestern der Finsternis möglicherweise Subtraktive Magie anwenden können. Schwester Ulicia lauschte durch den Schild hindurch, kam zurück und tötete die Prälatin. Hier draußen können wir sehen, ob jemand nah genug ist, um uns sprechen zu hören, hier gibt es keine Ecke, hinter der man sich verstecken könnte.« Sie deutete mit dem Kopf auf das plätschernde Wasser. »Und das Wasser übertönt den Klang unserer Stimmen.«

Warren sah sich nervös um. »Ich verstehe, was Ihr meint. Aber Prälatin, manchmal trägt das Wasser Geräusche ziemlich weit.«

»Ich sagte, hör auf, mich so zu nennen. Bei all den Geräuschen ringsum, und wenn wir leise sprechen, wird das Wasser unsere Stimmen übertönen. Wir dürfen nicht riskieren, im Palast ein einziges Wort darüber zu verlieren. Wenn wir darüber sprechen müssen, dann werden wir stets nach draußen aufs Land gehen, wo wir sehen können, ob jemand in der Nähe ist. So, und jetzt wirst du einen Weg finden, wie ich aus dem Amt der Prälatin entlassen werden kann.«

Warren stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Hört doch endlich auf damit. Ihr seid für die Stellung als Prälatin qualifiziert, vielleicht mehr als irgendeine der anderen Schwestern. Die Prälatin muß, abgesehen von Erfahrung, über außergewöhnliche Kraft verfügen.« Er wandte den Blick ab, als sie eine Braue hochzog. »Ich habe uneingeschränkten Zugang zu allem, was in den Gewölbekellern lagert. Ich habe die Berichte gelesen.« Er sah sie wieder an. »Als Ihr Richard gefangennahmt, sind die beiden anderen Schwestern gestorben, und dabei haben sie ihre Kraft an Euch weitergegeben. Ihr besitzt die Kraft, das Han, dreier Schwestern.«

»Das ist wohl kaum die einzige Anforderung, Warren.«

Er beugte sich vor. »Wie gesagt, ich habe uneingeschränkten Zugang zu den Büchern. Ich kenne die Anforderungen. Es gibt nichts, was Euch die Berechtigung absprechen könnte, Ihr erfüllt sämtliche Bedingungen. Ihr solltet Mut daraus schöpfen, Prälatin zu sein. Das ist das Beste, was passieren konnte.«

Schwester Verna seufzte. »Hast du mit deinem Halsring auch deinen Verstand verloren? Welchen Grund sollte ich haben, Prälatin sein zu wollen?«

»Jetzt können wir den Schwestern der Finsternis auf die Schliche kommen.« Warren setzte ein vertrauliches Lächeln auf. »Ihr werdet die Machtbefugnis haben, das zu tun, was getan werden muß.« Seine blauen Augen funkelten. »Wie gesagt, das ist das Allerbeste, was passieren konnte.«

Sie warf die Hände in die Luft. »Warren, daß ich Prälatin geworden bin, ist das Allerschlimmste, was passieren konnte. Diese Machtbefugnis engt mich ebenso ein wie der Halsring, den du froh bist, los zu sein.«

Warren runzelte die Stirn. »Wie meint Ihr das?«

Sie strich sich die braunen Locken aus dem Gesicht. »Warren, die Prälatin ist eine Gefangene ihrer Machtbefugnis. Hast du Prälatin Annalina oft gesehen? Nein. Und warum nicht? Weil sie in ihrem Büro saß und die Verwaltung des Palastes überwachte. Es gab tausend Dinge, um die sie sich hat kümmern müssen, Tausende von Fragen, die ihrer Aufmerksamkeit bedurften, Hunderte von jungen Männern und Schwestern, die betreut werden mußten, darunter auch das ewige Dilemma Nathan. Du hast ja keine Vorstellung, wieviel Ärger dieser Mann bereitet hat. Man mußte ihn unter ständiger Bewachung halten.

Die Prälatin kann auch nicht einfach mal vorbeischauen, um eine Schwester oder einen jungen Mann während seiner Ausbildung zu besuchen. Jeder würde sofort in Panik verfallen und sich fragen, was er oder sie falsch gemacht hätte, was man der Prälatin über sie berichtet hätte. Mit einer Prälatin spricht man niemals über etwas Beiläufiges, stets glaubt man, sie würde nach Verborgenem suchen. Nicht etwa, weil sie das will — es ist einfach so, daß niemand über die Macht ihrer Stellung hinwegsehen kann.

Wagt sie sich einmal aus ihren Zimmern heraus, ist sie augenblicklich eine Gefangene der Zeremonien ihres Amtes. Wenn sie in den Speisesaal geht, um zu Abend zu essen, wagt niemand, sein Gespräch fortzusetzen. Alles sitzt stumm da, beobachtet sie und hofft, nicht von ihr angesehen, oder schlimmer noch, gebeten zu werden, ihr Gesellschaft zu leisten.«

Warren sackte ein wenig in sich zusammen. »So habe ich das noch nie betrachtet.«

»Wenn deine Vermutungen über die Schwestern der Finsternis stimmen, und ich sage nicht, daß es so ist, dann würde mich meine Stellung als Prälatin daran hindern, herauszufinden, wer sie sind.«

»Prälatin Annalina hat es nicht daran gehindert.«

»Weißt du das? Wäre sie nicht Prälatin gewesen, hätte sie diese fehlgeleiteten Schwestern vielleicht schon vor langer Zeit aufgespürt, als sie noch etwas gegen sie hätte unternehmen können. Vielleicht hätte sie sie ausrotten können, bevor sie damit anfingen, unsere jungen Burschen umzubringen, ihnen ihr Han zu stehlen und mächtig zu werden. So, wie die Dinge liegen, kam ihre Entdeckung zu spät und hat zu nichts weiter als ihrem Tod geführt.«

»Aber vielleicht fürchten sie Euer Wissen und geben sich auf irgendeine Weise zu erkennen.«

»Wenn es Schwestern der Finsternis im Palast gibt, dann wissen sie um meine Beteiligung an der Entdeckung der sechs Geflohenen. Und wenn überhaupt, dann werden sie es gerne sehen, daß man mich zur Prälatin gemacht hat, weil mir dadurch die Hände gebunden sind und ich ihnen nicht in die Quere kommen kann.«

Warren legte einen Finger an seine Lippen. »Aber es muß doch etwas nützen, daß Ihr Prälatin geworden seid.«

»Es wird mich nur hindern, die Schwestern der Finsternis aufzuhalten. Du mußt mir helfen, Warren. Du kennst die Bücher. Es muß doch etwas geben, daß mich aus dieser Lage befreit.«

»Prälatin —«

»Nenn mich nicht so!«

Warren wand sich verzweifelt. »Aber das ist es, was Ihr seid. Ich kann Euch mit keinem geringeren Titel ansprechen.«

Sie seufzte. »Die Prälatin, Prälatin Annalina, bat ihre Freunde, sie mit Ann anzusprechen. Wenn ich jetzt Prälatin bin, dann bitte ich dich, mich mit Verna anzusprechen.«

Warren legte die Stirn in Falten und dachte darüber nach. »Nun … ich glaube, wir sind Freunde.«

»Wir sind mehr als Freunde, Warren. Du bist der einzige, dem ich vertrauen kann. Zur Zeit habe ich niemand anderes.«

Er nickte. »Gut, dann also Verna.« Er verzog den Mund und überlegte. »Verna, Ihr habt recht: Ich kenne die Bücher. Ich kenne die Anforderungen, und Ihr erfüllt sie alle. Ihr seid jung für eine Prälatin, aber nur, weil es so etwas noch nie gegeben hat. Im Gesetz gibt es keine Bestimmungen bezüglich des Alters. Mehr noch, ihr besitzt das Han dreier Schwestern. Es gibt keine Schwester, jedenfalls keine Schwester des Lichts, die Euch ebenbürtig wäre. Das allein beweist Eure Eignung mehr als genug. Die Kraft, die Beherrschung des Han, ist eine wesentliche Überlegung bei der Entscheidung, wer Prälatin wird.«

»Es muß doch irgend etwas geben, Warren. Denk nach.«

In seinen blauen Augen spiegelte sich Wissen und Bedauern wider. »Ich kenne die Bücher, Verna. Sie drücken sich sehr klar aus. Ist die Prälatin einmal formal ernannt, wird ihr dort ausdrücklich untersagt, sich ihrer Pflicht zu entziehen. Erst im Tod darf sie die Berufung abtreten. Solange Prälatin Annalina nicht wieder zum Leben erwacht und Ihre Stellung zurückverlangt, sehe ich kaum eine Möglichkeit, wie Ihr zurücktreten könnt. Ihr seid Prälatin.«

Auch Verna wußte keine Lösung. Sie saß in der Falle. »So lange ich denken kann, hat diese Frau mein Leben verdreht. Sie hat diesen Bann auf mich abgestimmt, ich weiß, daß sie es war. Sie hat mich in diese Falle gelockt. Ich wünschte, ich könnte sie erwürgen!«

Warren legte ihr sachte eine Hand auf den Arm. »Verna, würdet Ihr jemals zulassen, daß eine Schwester der Finsternis Prälatin wird?«

»Natürlich nicht.«

»Glaubt Ihr, Ann würde das?«

»Nein, aber ich verstehe nicht —«

»Verna, Ihr habt gesagt, Ihr könntet niemandem außer mir vertrauen. Denkt an Ann. Sie war in der gleichen Klemme. Sie durfte nicht zulassen, daß durch einen Zufall eine von ihnen Prälatin wird. Sie lag im Sterben. Und so tat sie das einzig Mögliche. Sie konnte niemandem vertrauen außer Euch.«

Verna starrte ihm in die Augen, während seine Worte in ihrem Kopf nachhallten. Dann ließ sie sich auf einen glatten, dunklen Stein am Wasser fallen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Geliebter Schöpfer«, sagte sie leise, »bin ich wirklich so selbstsüchtig?«

Warren setzte sich neben sie. »Selbstsüchtig? Dickköpfig, manchmal, aber nie selbstsüchtig.«

»Ach, Warren, sie muß manchmal so alleine gewesen sein. Wenigstens war Nathan bei ihr … am Ende.«

Warren nickte. Nach einer Weile blickte er sie an. »Wir stecken richtig in Schwierigkeiten, nicht wahr, Verna.«

»In einem ganzen Palast voller Schwierigkeiten, Warren. Säuberlich zusammengehalten von einem Ring aus Gold.«

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