41

Zedd schnappte nach Luft und riß die Augen auf. Er setzte sich kerzengerade auf. Eine große Hand auf seiner Brust drückte ihn wieder nach unten.

»Immer mit der Ruhe, alter Mann«, meinte eine tiefe Stimme.

Zedd starrte hoch in das Gesicht mit dem kantigen Kinn. Das schulterlange, weiße Haar fiel nach vorne, als der Mann sich vorbeugte und die Hände zu beiden Seiten neben Zedds Kopf aufstützte.

»Wen meinst du mit ›alter Mann‹, alter Mann?«

Die durchdringenden blauen Augen unter der Raubvogelstirn lächelten, so wie der Rest des Gesichts auch. Es war ein zwiespältiges Antlitz, das Zedd verstörend fand. »Nun, wo du es sagst, ich bin wohl tatsächlich ein wenig älter als du, denke ich.«

Irgend etwas an diesem Gesicht war vertraut. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Zedd stieß die Hände des anderen zur Seite, setzte sich abermals auf und deutete mit einem knochigen Finger auf den großen Mann.

»Du siehst aus wie Richard. Wieso siehst du aus wie Richard?«

Der Mann strahlte von einem Ohr zum anderen. Die Stirnpartie sah immer noch wie die eines Habichts aus. »Wir sind miteinander verwandt.«

»Ein Verwandter! Verdammt!« Zedd sah genauer hin. »Groß. Muskulös. Blaue Augen. Haar von ähnlicher Beschaffenheit. Dieser Kiefer. Schlimmer noch, die Augen.« Zedd verschränkte die Arme. »Du bist ein Rahl«, verkündete er.

»Sehr gut. Dann kennst du also Richard.«

»Ihn kennen. Ich bin sein Großvater.«

Der andere runzelte die Stirn. »Großvater…« Er wischte sich mit einer seiner großen Hände durchs Gesicht. »Gütiger Schöpfer«, murmelte er, »was hat uns diese Frau nur eingebrockt?«

»Frau? Welche Frau?«

Mit einem Seufzer ließ er die Hand fallen. Das Lächeln kehrte zurück, und er verneigte sich. Eine ganz ordentliche Verbeugung, wie Zedd fand. »Erlaube mir, daß ich mich vorstelle. Ich bin Nathan Rahl.« Er richtete sich auf. »Dürfte ich vielleicht deinen Namen erfahren, Freund?«

»Freund?«

Nathan klopfte mit den Knöcheln an Zedds Stirn. »Ich habe gerade deinen Schädelbruch geheilt. Das sollte doch ein wenig ins Gewicht fallen.«

»Nun ja«, knurrte Zedd, »vielleicht hast du recht. Danke, Nathan. Ich bin Zedd. Eine recht ordentliche Demonstration der Heilkunst, wenn mein Schädel wirklich gebrochen war.«

»Oh, das war er. Wie es scheint, bekomme ich reichlich Gelegenheit zum Üben. Wie fühlst du dich?«

Zedd machte eine Bestandsaufnahme. »Ganz gut. Ich fühle mich gut. Meine Kraft ist wieder da…« Stöhnend fiel ihm wieder ein, was geschehen war. »Gratch. Gütige Seelen, ich muß hier raus.«

Nathan legte Zedd die Hand auf die Brust und hielt ihn zurück. »Wir müssen uns ein wenig unterhalten, mein Freund. Zumindest hoffe ich, daß wir Freunde werden können. Leider haben wir einiges gemeinsam, abgesehen davon, daß wir mit Richard verwandt sind.«

Zedd betrachtete den großen Mann ungläubig. »Und das wäre?«

Nathan knöpfte sein Rüschenhemd oben auf. Seine Brust war über und über mit getrocknetem Blut bedeckt. Nathan hakte einen Finger in den mattsilbernen Ring um seinen Hals und hob ihn ein Stück an.

Zedds Stimme bekam einen düsteren Unterton. »Ist es das, was ich glaube, daß es ist?«

»Du bist zweifellos ein ziemlich kluger Bursche, sonst wärst du ihr nicht so wichtig.«

Zedd blickte ihm in seine blauen Augen. »Und welches verhängnisvolle Ding haben wir nun gemeinsam?«

Nathan streckte die Hand aus und zog an einem Gegenstand um Zedds Hals. Zedd riß die Hände hoch und betastete den glatten Metallring. Er konnte keine Naht entdecken.

»Was hat das zu bedeuten? Warum tust du so etwas?«

Nathan seufzte tief. »Ich nicht, Zedd.« Er zeigte auf jemanden. »Sie.«

Eine untersetzte, alte Frau mit grauem, zu einem losen Knoten hinter ihrem Kopf zusammengebundenem Haar kam gerade zur Tür herein. Sie hatte ein kleines Mädchen an der Hand.

»Ach«, sagte sie und legte die Finger an den oberen Rand ihres dunkelbraunen Kleides, das bis zum Hals zugeknöpft war. »Wie ich sehe, hat Nathan sich bereits um dich gekümmert. Das freut mich sehr. Wir waren sehr in Sorge.«

»Ach, wirklich?« meinte Zedd unverbindlich.

Die alte Frau lächelte. »Ja, wirklich.« Sie sah das kleine Mädchen an, strich ihr über das hellbraune Haar. »Das ist Holly. Sie hat dich hierhergebracht. Und dir das Leben gerettet.«

»Ich glaube, ich erinnere mich, sie gesehen zu haben. Danke für die Hilfe, Holly Ich bin dir etwas schuldig.«

»Ich bin nur froh, daß du wieder gesund bist«, erwiderte das Mädchen. »Ich hatte schon Angst, der Gar hätte dich getötet.«

»Der Gar? Hast du ihn gesehen? Geht es ihm gut?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er ist zusammen mit all den anderen Monstern über die Mauer gefallen.«

»Verdammt«, zischte Zedd leise zwischen den Zähnen hindurch. »Dieser Gar war ein Freund von mir.«

Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Ein Gar? Nun, dann tut es mir leid.«

Zedd sah die Frau wütend an. »Was hat dieser Ring an meinem Hals zu suchen?«

Sie breitete die Hände aus. »Tut mir leid, aber im Augenblick ist es erforderlich.«

»Du wirst ihn entfernen.«

Sie lächelte unverändert. »Ich verstehe, daß du besorgt bist, aber im Augenblick muß er bleiben, wo er ist.« Sie faltete die Hände vor ihrem Bauch. »Ich fürchte, man hat uns einander noch nicht vorgestellt. Wie lautet dein Name?«

Zedds Stimme klang düster und gefährlich. »Ich bin der Erste Zauberer Zeddicus Z’ul Zorander.«

»Ich bin Prälatin Annalina Aldurren, Prälatin der Schwestern des Lichts.« Ihr Lächeln wurde wärmer. »Du kannst mich Ann nennen. Das tun alle meine Freunde, Zedd.«

Die Augen fest auf die Frau geheftet, sprang Zedd vom Tisch herunter. »Wir sind nicht befreundet.« Sie wich einen Schritt zurück. »Du wirst mich mit Zauberer Zorander ansprechen.«

»Jetzt mal langsam, Freund«, warnte ihn Nathan.

Zedd warf ihm einen erzürnten Blick zu, woraufhin der andere den Mund schloß und sich in die Brust warf.

Sie zuckte die Achseln. »Wie du willst, Zauberer Zorander.«

Zedd tippte an den Ring an seinem Hals. »Nimm ihn sofort ab.«

Das Lächeln hielt sich hartnäckig auf ihrem Gesicht. »Er muß dort bleiben.«

Zedd ging langsam auf sie zu. Nathan trat einen Schritt nach vorn, offenbar entschlossen, ihn zurückzuhalten. Ohne die Augen von der Prälatin abzuwenden, hob Zedd einen Arm und zielte mit einem dünnen Finger auf Nathan. Als stünde er in einem Sturm auf einer glatten Eisfläche, glitt der große Mann mit rudernden Armen nach hinten, bis er gegen die gegenüberliegende Wand gedrückt wurde.

Zedd hob die andere Hand, und die Decke begann in einem bläulichen Licht zu erstrahlen. Als er die Hand herunternahm, senkte sich eine rasiermesserdünne Schicht aus Licht, gleich der Wasserfläche eines stillen Sees, über sie herab. Ann riß die Augen auf. Die Lichtfläche sank immer tiefer, bis sie auf dem Boden zur Ruhe kam, wo sie sich in eine brodelnde Schicht kochenden Lichts verwandelte. Das Licht schmolz zu Punkten greller Intensität zusammen.

Aus diesen Punkten zuckten Blitze hervor. Knisternde Bänder weißen Feuers kletterten ringsum die Wände hinauf und füllten den Raum mit beißendem Gestank. Zedd machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger, und die Blitze sprangen von der Wand auf seinen Halsring über. Zuckendes Licht schlug in das Metall. Der Raum erzitterte unter dem tanzenden Donner. Gesteinsstaub füllte die Luft.

Der Tisch stieg in die Höhe und explodierte dann in einer Staubwolke, die in die wirbelnden Lichtströme gesogen wurde. Der Raum erbebte und ächzte, als sich gewaltige Steinblöcke lockerten und aus ihrem Platz in der Mauer gerüttelt wurden.

Inmitten seines wütenden Kraftausbruchs erkannte Zedd, daß es nicht funktionieren würde. Der Halsring sog die gewaltigen Kräfte in sich hinein, ohne zu zerspringen. Eine peitschende Bewegung mit dem Arm machte Lärm und Licht ein Ende. Abrupt wurde der Raum still. Gewaltige Steinquader hingen halb aus der Wand heraus. Der gesamte Fußboden war verkohlt und schwarz, trotzdem hatte sich keiner von ihnen verbrannt.

Dank seiner Analyse der Prälatin, des Mädchens und Nathans, die er mit Hilfe der Lichtbande vorgenommen hatte, war er jetzt bei jedem über das genaue Ausmaß seiner Kraft, seiner Stärken und Schwächen im Bilde. Sie konnte den Ring nicht gemacht haben, er war von Zauberern hergestellt worden. Aber sie konnte ihn benutzen.

»Bist du jetzt fertig?« fragte Ann. Endlich hatte sie aufgehört zu lächeln.

»Ich habe noch gar nicht angefangen.«

Zedd hob die Arme. Falls nötig, würde er genügend Energie bündeln, um einen ganzen Berg dem Erdboden gleichzumachen. Nichts geschah.

»Das reicht«, sagte sie. Ihr Lächeln kehrte ein Stück weit zurück. »Jetzt verstehe ich, wo Richard sein aufbrausendes Temperament herhat.«

Zedd stieß einen Finger in ihre Richtung. »Du! Du hast ihm den Halsring umgelegt!«

»Ich hätte ihn holen können, als er noch ein Kind war, anstatt ihn mit deiner Liebe und unter deiner Führung aufwachsen zu lassen.«

Zedd konnte an den Fingern einer Hand die Male in seinem Leben abzählen, als er wirklich die Beherrschung, und schlimmer noch, die Vernunft, verloren hatte. Jetzt näherte er sich rasch dem Punkt, wo es erforderlich werden konnte, an seiner anderen Hand weiterzuzählen. »Versuche nicht, mich mit deinen selbstgerechten Ausreden zu besänftigen. Für Sklaverei gibt es keine Rechtfertigung.«

Ann seufzte. »Manchmal muß eine Prälatin, genau wie ein Zauberer, die Menschen benutzen. Ich bin sicher, das verstehst du. Ich bedauere, daß ich Richard benutzen muß — und daß ich dich benutzen muß —, aber ich habe keine andere Wahl.« Ein versonnenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Richard war mit Halsring eine wahre Nervensäge.«

»Wenn du glaubst, daß Richard schwierig war, dann hast du dich getäuscht. Warte, bis du erfährst, welchen Ärger dir sein Großvater aufs Haupt laden wird.« Zedd knirschte mit den Zähnen. »Du hast ihm einen deiner Ringe um den Hals gelegt. Du hast junge Burschen aus den Midlands entführt. Du hast das Abkommen gebrochen, das Tausende von Jahren Bestand hatte. Du kennst die Konsequenzen einer solchen Übertretung. Die Schwestern des Lichts werden den Preis dafür bezahlen.«

Zedd stand am Rand eines Abgrunds, stand kurz davor, das Dritte Gesetz der Magie zu brechen, und doch gelang es ihm nicht, seinen Verstand unter Kontrolle zu bekommen. Genaugenommen war das die einzige Möglichkeit, das Dritte Gesetz zu verletzen.

»Ich weiß, welche Konsequenzen es hat, wenn die Imperiale Ordnung die Welt übernimmt. Ich weiß, im Augenblick verstehst du das nicht, Zauberer Zorander. Aber ich hoffe, du gelangst noch zu der Erkenntnis, daß wir auf derselben Seite kämpfen.«

»Ich verstehe eine Menge mehr, als du glaubst. Du hilfst der Imperialen Ordnung. Ich hatte es noch nie nötig, meine Verbündeten zu Gefangenen zu machen, um für die gerechte Sache zu kämpfen.«

»Ach, ja? Und als was würdest du das Schwert der Wahrheit bezeichnen?«

Er kochte innerlich und hatte nicht die Absicht, mit der Frau zu diskutieren. »Du wirst diesen Ring abnehmen. Richard ist auf meine Hilfe angewiesen.«

»Richard wird für sich selbst sorgen müssen. Er ist ein kluger Junge. Das ist zum Teil dein Verdienst. Deswegen habe ich ihn auch bei dir aufwachsen lassen.«

»Der Junge braucht meine Hilfe! Er muß wissen, wie er seine Kraft zu benutzen hat. Wenn ich ihn nicht erreiche, kann es passieren, daß er in die Burg geht. Er kennt die Gefahren dort nicht. Er könnte getötet werden. Das darf ich nicht zulassen. Wir brauchen ihn.«

»Richard war bereits in der Burg. Gestern war er fast den ganzen Tag dort und hat sie unverletzt wieder verlassen.«

»›Beim ersten Mal mit Glück‹«, zitierte Zedd, »›beim zweiten voller Zuversicht und beim dritten Male tot.‹«

»Hab Vertrauen in deinen Enkel. Wir müssen ihm auf andere Weise helfen. Außerdem haben wir keine Zeit zu verlieren. Wir müssen aufbrechen.«

»Mit dir zusammen werde ich nirgendwohin aufbrechen.«

»Zauberer Zorander, ich bitte dich, uns zu helfen. Ich bitte dich, mit uns zusammenzuarbeiten und mitzukommen. Es steht sehr viel auf dem Spiel. Bitte tue, was ich sage, oder ich bin gezwungen, den Ring zu benutzen. Das würde dir nicht gefallen.«

»Hör auf sie, Zedd«, meinte Nathan. »Ich kann bezeugen, daß es dir nicht gefallen würde. Du hast keine Wahl. Ich weiß, wie du dich fühlst, aber es wird leichter für dich sein, wenn du tust, was sie sagt.«

»Was bist du eigentlich für ein Zauberer?«

Nathan richtete sich ein wenig auf. »Ich bin ein Prophet.«

Wenigstens war der Mann ehrlich. Er hatte die Lichtbande nicht als das erkannt, was sie waren, und wußte nicht, daß Zedd daraus etwas ablesen konnte. »Und — gefällt es dir, als Sklave gehalten zu werden?«

Ann mußte laut lachen. Nicht so Nathan. In seinen Augen spiegelte sich die ruhige, siedende, tödliche Wildheit eines Rahl. »Eins versichere ich dir, ich tue das nicht aus freien Stücken. Ich hadere bereits den größten Teil meines Lebens damit.«

»Vielleicht weiß sie, wie man einen Zauberer unterjocht, der ein Prophet ist, aber sie wird noch dahinterkommen, weshalb ich den Rang eines Ersten Zauberers bekleide. Den Rang habe ich mir im letzten Krieg verdient. In diesem Krieg nannten mich beide Seiten ›der Wind des Todes‹.«

Das war eines der Male gewesen, die er an den Fingern abzählen konnte.

Er wandte sich von Nathan ab und fixierte die Prälatin mit einem Blick von solch kalter Bedrohlichkeit, daß sie schluckend einen Schritt zurückwich. »Durch den Bruch des Abkommens hast du jede Schwester, die in den Midlands aufgegriffen wird, zum Tode verurteilt. Nach den Bedingungen des Abkommens ist dieses Urteil hiermit über sie gefällt. Ihr alle habt das Recht auf ein Verfahren oder auf Gnade verwirkt. Wer von euch aufgegriffen wird, wird augenblicklich und ohne vorherigen Urteilsspruch hingerichtet.«

Zedd stieß die Faust in die Luft. Blitze stürzten aus klarem Himmel herab und schlugen in die Burg über ihnen. Ein ohrenbetäubendes Geheul erhob sich, und ein Ring aus Licht breitete sich aus, raste am Himmel daher und hinterließ dabei eine Wolkenspur, dem Rauch eines Feuers gleich.

»Das Abkommen ist beendet! Du befindest dich jetzt auf feindlichem Gebiet, und der Tod weht dir ins Gesicht.

Falls du mich mit diesem Halsring verschleppst, dann verspreche ich dir, werde ich in deine Heimat ziehen und den Palast der Propheten in Schutt und Asche legen.«

Prälatin Annalina Aldurren betrachtete ihn einen Augenblick lang stumm, mit versteinerter Miene. »Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst.«

»Stell mich auf die Probe.«

Ein entrücktes Lächeln streifte ihre Lippen. »Wir müssen aufbrechen.«

Zedd nickte grimmig entschlossen. »So sei es.«


Verna wurde sich nur allmählich dessen bewußt, daß sie wach war. Mit geschlossenen Augen war es ebenso dunkel wie mit offenen. Sie blinzelte und versuchte festzustellen, ob sie wirklich bei Bewußtsein war.

Sie entschied, daß sie tatsächlich wach war, und rief ihr Han herbei, um eine Flamme anzuzünden. Es kam nicht. Sie versenkte sich tiefer in ihr Inneres und schöpfte noch mehr Kraft.

Mit äußerster Anstrengung gelang es ihr schließlich, eine kleine Flamme in ihrer Handfläche zu entzünden. Auf dem Boden neben dem Strohlager, auf dem sie saß, stand eine Kerze. Sie schickte die Flamme in den Kerzendocht und sank erleichtert zusammen, denn nun konnte sie auch ohne die ungeheure Anstrengung, die erforderlich war, um eine Flamme mit ihrem Han am Brennen zu halten, sehen.

Die Kammer war leer bis auf das Strohlager und die Kerze sowie, an der gegenüberliegenden Wand, ein kleines Tablett mit Brot und einer Blechtasse mit Wasser und einem Gefäß, das aussah wie ein Nachttopf. Besonders groß war der Raum nicht. Fenster gab es keine, nur eine schwere Holztür.

Verna erkannte die Kammer wieder. Es war eine der Zellen des Krankenreviers. Was suchte sie im Krankenrevier?

Als ihr Blick nach unten fiel, stellte sie fest, daß sie nackt war. Sie drehte sich zur Seite und sah ihre Kleider, zu einem Stapel zusammengelegt. Beim Umdrehen spürte sie etwas an ihrem Hals. Sie langte vorsichtig nach oben und betastete ihren Hals.

Ein Rada’Han.

Ein Kribbeln lief über ihre Haut. Gütiger Schöpfer, sie hatte einen Rada’Han um den Hals. Eine Woge von Panik schlug schwindelerregend über ihr zusammen. Sie griff nach ihrem Hals, versuchte, ihn herunterzureißen. Sie hörte, wie ihrer Kehle ein Schrei entfuhr, während sie entsetzt wimmernd voller Verzweiflung an dem unnachgiebigen Metallring zerrte.

Voller Abscheu wurde ihr bewußt, was die jungen Burschen dabei empfinden mußten, wenn man ihnen dieses Werkzeug der Herrschaft umlegte. Wie viele Male hatte sie persönlich einen Halsring benutzt, um jemandem ihren Willen aufzuzwingen? Aber doch nur, um ihnen zu helfen — nur zu ihrem Besten. Empfanden sie dieselbe ohnmächtige Angst?

Voller Scham erinnerte sie sich daran, wie sie den Ring bei Warren benutzt hatte.

»Gütiger Schöpfer, vergib mir«, weinte sie. »Ich wollte nur dein Werk tun.«

Sie unterdrückte schniefend ihre Tränen und riß sich zusammen. Sie mußte herausfinden, was vorgefallen war. Diesen Ring trug sie jedenfalls nicht zu ihrem Wohl. Er war da, um sie zu beherrschen.

Verna betastete ihre Hand. Der Ring der Prälatin war verschwunden. Ihr Mut sank. Sie hatte in ihrer Position versagt. Sie küßte den bloßen Finger und flehte inständig um Kraft.

Als sich auf Betätigen der Klinke nichts rührte, schlug sie mit der Faust gegen die Tür. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, richtete sie auf den Türgriff und versuchte, ihn mit Gewalt zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. Sie jagte ihre Kraft wütend in die Angeln, die sie auf der anderen Seite wußte. Voller Wut konzentrierte sie sich und versuchte es mit ihrem Han. Zungen aus Licht, grün vor mentaler Gereiztheit, schlugen gegen die Tür, züngelten durch die Ritzen und zuckten unter dem Spalt am Boden hindurch.

Verna kappte den ohnmächtigen Strom ihres Han, als ihr einfiel, wie sie Schwester Simona das gleiche Stunde um Stunde hatte versuchen sehen — mit dem gleichen unbefriedigenden Ergebnis. Der Schild an der Tür war von jemanden, der einen Rada’Han trug, nicht zu durchbrechen. So unvernünftig, ihre Kräfte in einer sinnlosen Anstrengung zu vergeuden, war sie nicht. Vielleicht war Simona verrückt, sie auf jeden Fall nicht.

Verna ließ sich auf das Strohlager zurückfallen. Trommeln gegen die Tür würde sie nicht hier herausbringen. Ihre Gabe würde sie nicht hier herausbringen. Sie saß in der Falle.

Warum war sie hier? Sie betrachtete den Finger, an den der Ring der Prälatin gehörte. Deshalb also.

Sie stieß einen Schrecklaut aus, als ihr die echte Prälatin einfiel. Ann hatte sie mit einer Mission beauftragt und war darauf angewiesen, daß sie, Verna, die Schwestern des Lichts vor Jagangs Eintreffen fortschaffte.

Sie stürzte sich auf ihre Kleider und durchwühlte sie hektisch. Ihr Dacra war verschwunden. Wahrscheinlich hatte man sie deshalb ausgezogen: Sie sollte keine Waffe tragen. Mit Schwester Simona hatte man das gleiche gemacht, um sicherzustellen, daß sie sich nicht selbst etwas antat. Einer Verrückten durfte man keine tödliche Waffe lassen.

Ihre Finger fanden den Gürtel. Sie riß ihn aus dem Kleiderberg hervor, betastete ihn der Länge nach und fand die Schwellung im dicken Leder.

Vor Hoffnung zitternd, hielt Verna den Gürtel in die Nähe der Kerze. Sie riß die falsche Naht auf. Dort, verborgen in der Geheimtasche, steckte das Reisebuch. Sie drückte den Gürtel an ihre Brust und dankte dem Schöpfer, wiegte sich dabei auf dem Strohlager hin und her und preßte den Gürtel fest an ihren Körper. Wenigstens das hatte sie noch.

Schließlich beruhigte sie sich, zog ihre Kleider in die Nähe des schwachen Lichts und kleidete sich an. Jetzt, wo sie nicht mehr nackt war, fühlte sie sich ein wenig besser. Die Demütigung brauchte sie nicht länger zu ertragen.

Verna wußte nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen war, mußte aber feststellen, daß sie völlig ausgehungert war. Sie verschlang den Kanten Brot und stürzte das Wasser hinunter.

Nachdem ihr Magen wenigstens teilweise zufriedengestellt war, konzentrierte sie sich auf die Frage, wieso sie in diesem Raum gelandet war. Schwester Leoma. Schwester Leoma und drei andere hatten in ihrem Büro auf sie gewartet.

Schwester Leoma stand ganz weit oben auf ihrer Liste der vermeintlichen Schwestern der Finsternis. Sie war zwar nicht überprüft worden, trotzdem war sie daran beteiligt, daß man Verna hier eingesperrt hatte. Das war Beweis genug. Es war dunkel gewesen, und sie hatte die anderen drei nicht erkannt, aber sie hatte eine Liste der Verdächtigen im Kopf. Phoebe und Dulcinia hatten sie hereingelassen — gegen ihren ausdrücklichen Befehl. Sosehr es ihr widerstrebte, auch sie mußten auf die Liste gesetzt werden.

Verna begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Allmählich wurde sie wütend. Wie konnten sie nur glauben, damit ungestraft davonzukommen?

Sie waren bereits ungestraft davongekommen.

Ihr Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. Nein, das waren sie nicht. Ann hatte ihr diese Verantwortung übertragen, und sie würde sich dieses Vertrauens würdig erweisen. Sie würde die Schwestern des Lichts aus dem Palast bringen.

Verna berührte den Gürtel mit den Fingern. Sie sollte eine Nachricht abschicken. Konnte sie das wagen, hier drinnen? Das konnte alles ruinieren. Aber sie mußte Ann berichten, was geschehen war.

Ganz plötzlich hielt sie in ihrem Hin- und Hergelaufe inne. Wie sollte sie Ann erklären, daß sie versagt hatte und daß wegen ihr alle Schwestern des Lichts in tödlicher Gefahr schwebten, während sie keine Möglichkeit hatte, etwas dagegen zu unternehmen? Jagang war auf dem Weg hierher. Sie mußte fliehen. Solange sie im Gefängnis saß, wußte keine der Schwestern, daß sie ebenfalls fliehen mußten.

Und Jagang würde sich ihrer aller bemächtigen.


Richard sprang ab, als das Pferd rutschend zum Stehen kam. Er blickte die Straße hinunter und sah, wie die anderen weit unten versuchten, ihn im Galopp einzuholen. Er rieb dem Pferd die Nase und ging daran, die Zügel an einem Eisenhebel des Fallgittermechanismus zu befestigen.

Er ließ den Blick über die Zahnräder und Hebel wandern und befestigte die Zügel statt dessen an einer Welle. Dort, wo er die Zügel zuerst hatte befestigen wollen, befand sich der Auslösehebel für das riesige Tor. Ein fester Ruck, und das Fallgitter hätte auf das Pferd herunterrasseln können.

Ohne auf die anderen zu warten, machte Richard sich auf den Weg in die Burg der Zauberer. Er war stinksauer, weil niemand ihn geweckt hatte. Die halbe Nacht lang brennt in den Fenstern der Burg ein Licht, überlegte er, und niemand hat den Mut, Lord Rahl zu wecken und es ihm mitzuteilen.

Und dann, vor nicht einmal einer Stunde, hatte er die Blitze gesehen, und das Leuchten, das sich ringförmig am klaren Himmel ausgebreitet und Rauchwolken hinterlassen hatte.

Ihm kam eine Idee. Richard zögerte, bevor er die Burg betrat, drehte sich um und blickte hinunter auf die Stadt. Am unteren Ende der Burgstraße zweigten weitere Straßen ab, die von Aydindril fortführten.

Was, wenn jemand in der Burg gewesen war? Was, wenn diese Leute etwas gestohlen hatten? Er sollte den Soldaten befehlen, jeden aufzuhalten, der sich zu entfernen versuchte. Sobald die anderen bei der Burg eintrafen, würde er einen von ihnen wieder nach unten schicken, um seinen Befehl zu überbringen.

Richard beobachtete die Menschen auf der Straße. Die meisten strömten in die Stadt hinein, nicht aus ihr heraus. Einige wenige jedoch verließen sie: offenbar ein paar Familien mit Handkarren, Soldaten, die auf Patrouille gingen, ein paar Wagen mit Handelswaren, und, dicht aufeinanderfolgend, vier Reiter, die die Fußgänger im Trab passierten. Er würde sie alle anhalten und durchsuchen lassen.

Aber nach was? Er konnte einen Blick auf die Leute werfen, sobald die Soldaten sie zurückgeholt hatten. Vielleicht erkannte er, ob sie irgend etwas Magisches bei sich trugen.

Richard drehte sich wieder zur Burg um. Dazu fehlte ihm die Zeit. Er mußte herausfinden, was hier oben vorgefallen war. Woher sollte er außerdem wissen, daß es sich um einen magischen Gegenstand handelte? Es wäre Zeitverschwendung. Er mußte sich zusammen mit Berdine an die Arbeit machen und das Tagebuch übersetzen, und nicht in familiären Habseligkeiten herumwühlen. Noch immer verließen Menschen die Stadt, die nicht unter d’Haranischer Herrschaft leben wollten. Sollten sie doch.

Entschlossenen Schrittes passierte er die Schilde im Innern der Burg. Daß sie die anderen zurückhalten würden, war ihm klar. Sicher waren die fünf verstimmt, weil er nicht gewartet hatte. Nun, vielleicht würden sie ihn beim nächsten Mal wecken, wenn sie Lichter in der Burg sahen.

Gehüllt in sein Mriswithcape, ging er hinauf zu der Stelle, wo er gesehen hatte, wie ein Blitz in der Burg einschlug. Er vermied Durchgänge, in denen er Gefahr witterte, und suchte sich andere Wege, bei denen sich ihm wenigstens nicht die Nackenhaare sträubten. Mehrere Male spürte er Mriswiths, doch sie kamen nicht in seine Nähe.

In einem großen Raum, von dem vier Korridore abgingen, blieb Richard stehen. Hier gab es mehrere verschlossene Türen. Zu einer führte eine Blutspur. Richard ging in die Hocke, untersuchte die verschmierte Blutspur und entschied, daß es in Wirklichkeit zwei Spuren waren: Die eine führte in den Raum hinein, die andere hinaus.

Richard schlug das Mriswithcape auf und zog sein Schwert. Das deutliche Sirren von Stahl hallte durch die Korridore. Er stieß die Tür mit der Schwertspitze auf.

Der Raum war leer, aber alles andere als gewöhnlich. Der Holzfußboden war versengt. Rußige, zackige Linien hatten sich in die Steinwände eingebrannt, so als wäre ein wütendes Unwetter in diesem Raum eingesperrt gewesen. Am verwirrendsten jedoch waren die Gesteinsblöcke in den Wänden. Hie und da hingen gewaltige Quader halb aus der Wand heraus, als wären sie um ein Haar von ihrem Platz gefallen. Der Raum sah aus, als hätte hier ein Erdbeben gewütet.

Überall auf dem Boden gab es Blutspritzer, und ein Stück seitlich eine große Lache. Wegen des Feuers jedoch, das den Fußboden verkohlt hatte, war alles staubtrocken und verriet ihm wenig.

Richard folgte der Blutspur aus dem Raum heraus bis zu einer Tür, die auf die äußere Befestigungsmauer hinausging. Er trat hinaus in die kalte Luft und sah sofort die Blutflecken, die über den Stein gespritzt waren. Das Blut war frisch — höchstens einen Tag alt.

Überall auf der windumtosten Brustwehr lagen tote Mriswiths. Sie stanken, obwohl sie mittlerweile hartgefroren waren. An einer Wand, gut fünf Fuß weit oben, befand sich ein riesiger Blutfleck, und darunter, auf dem Boden, ein toter Mriswith, dessen Schuppenhaut aufgeplatzt war. Hätte sich der Blutfleck auf dem Boden und nicht an der Wand befunden, Richard hätte angenommen, er wäre vom Himmel gestürzt und durch den Aufprall umgekommen.

Richard ließ den Blick über die Sauerei hinwegwandern und fand, daß es aussah wie das, was übrigblieb, wenn Gratch mit Mriswiths kämpfte. Er schüttelte entsetzt den Kopf und fragte sich, was passiert war.

Er folgte der Blutspur zu einer Aussparung der mit Zinnen versehenen Mauer und stellte fest, daß das Mauerwerk auf beiden Seiten blutverschmiert war. Er trat in die Aussparung hinein und blickte über den Rand. Der Anblick war schwindelerregend.

Die Gesteinsblöcke, aus denen die Burg bestand, fielen fast senkrecht in die Tiefe ab, wölbten sich zum Fundament weit unten leicht vor, und darunter schien das Felsgestein des Berges selbst mehrere tausend Fuß weit abzufallen. Von der Aussparung in der Brustwehr zog sich eine Blutspur an der Außenwand hinunter und verlor sich in der Tiefe. In der Blutspur gab es mehrere dicke Flecken. Irgend etwas war über den Rand gestürzt und auf seinem Weg nach unten immer wieder gegen die Außenwand geschlagen. Er würde Soldaten losschicken müssen, um festzustellen, was oder wer über den Rand gestürzt war.

Er fuhr mit den Fingern durch mehrere Blutspuren an der Kante. Die meisten stanken nach Mriswiths. Andere nicht.

Gütige Seelen, was war hier oben geschehen? Richard preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Er hüllte sich wieder in das Mriswithcape und wurde unsichtbar, während er nachdachte. Seltsamerweise kam ihn auch Zedd in den Sinn. Er wünschte, Zedd wäre hier bei ihm.

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