51

Richard drückte Kahlan in dem modrigen, dunklen Steinkorridor an eine Wand und wartete, bis der Trupp Soldaten in karminroten Capes die Kreuzung passiert hatte. Als das Echo ihrer Stiefel in der Ferne verhallte, stellte Kahlan sich auf die Zehenspitzen und flüsterte: »Hier unten gefällt es mir nicht. Werden wir hier jemals wieder lebend rauskommen?«

Er drückte ihr rasch einen Kuß auf die Sorgenfalten auf ihrer Stirn. »Natürlich werden wir hier lebend wieder rauskommen. Versprochen.« Er ergriff ihre Hand und duckte sich unter einem niedrigen Balken hinweg. »Komm weiter, die Gewölbekeller sind gleich vor uns.«

Das Mauerwerk des zugigen Durchgangs war übersät von blaßgelben Flecken, wo das Wasser aus den Fugen über die Steinquader sickerte. An verschiedenen Stellen hingen Wassertropfen von eidotterfarbenen Stalaktiten unter der Decke herab, um gelegentlich auf geriffelte, steinerne Erhebungen auf dem Boden hinunterzufallen. Hinter zwei Fackeln wurde der Durchgang breiter, und die Decke wurde höher, um die gewaltige runde Tür zu den Gewölbekellern aufzunehmen. Als sie in Sichtweite der sechs Fuß dicken Steintür kamen, wußte Richard, daß etwas nicht stimmte. Nicht nur, daß er hinter der Tür ein unheimliches Licht erkennen konnte, sondern die Härchen in seinem Nacken sträubten sich, und er spürte die leise Berührung der Magie auf seinen Armen, wie Spinnenweben, die die Haare streiften.

Er rieb sich die kribbelnden Arme und beugte sich näher. »Spürst du etwas Eigenartiges?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber mit dem Licht stimmt etwas nicht.«

Kahlan zögerte. Richard erblickte die Leiche im selben Augenblick, als sie sich der runden Öffnung näherten, die in die Gewölbekeller führte. Weiter vorne lag eine Frau zusammengerollt auf dem Boden, als schliefe sie. Aber Richard wußte, daß sie nicht schlief. Sie war so regungslos wie Stein.

Als sie näher herangingen, konnten sie hinter der Mauer zur Rechten nahezu ein Dutzend Soldaten des Lebensborns verstreut auf dem Boden liegen sehen. Richard zuckte zusammen, als er das sah, und Übelkeit erfaßte ihn. Jeder einzelne war säuberlich mitsamt Rüstung, Cape und allem anderen in der Mitte der Brust durchtrennt worden. Der Fußboden war ein See aus Blut.

Seine Anspannung wuchs mit jedem zögerlichen Schritt, mit dem er auf die runde Öffnung im Felsgestein zutrat.

»Hör zu, ich muß zuerst etwas besorgen. Es dauert nur ein paar Minuten.«

Kahlan zerrte ihn am Ärmel zurück. »Du kennst doch die Regel.«

»Welche Regel?«

»Du darfst dich für den Rest deines Lebens nicht weiter als zehn Fuß von mir entfernen, sonst werde ich böse.«

Richard sah ihr in ihre grünen Augen. »Böse bist du mir lieber als tot.«

Sie zog die Brauen herab und setzte eine finstere Miene auf. »Das denkst du jetzt nur. Ich habe zu lange darauf gewartet, bei dir zu sein, um dich jetzt alleine losziehen zu lassen. Was ist so wichtig, daß du dort hineingehen willst? Wir können versuchen, etwas von hier draußen zu machen — Fackeln hineinwerfen, das Ganze in Brand stecken, irgendwas. All das Papier müßte brennen wie Zunder. Wir müssen dort nicht hinein.«

Richard lächelte. »Habe ich dir je gesagt, wie sehr ich dich liebe?«

Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Red schon. Wozu riskieren wir unser Leben?«

Richard gab seufzend nach. »Ganz hinten gibt es ein Buch der Prophezeiungen, das über dreitausend Jahre alt ist. Darin stehen Prophezeiungen, die mich betreffen. Es hat mir schon einmal geholfen. Wenn wir all diese Bücher zerstören, möchte ich wenigstens dieses eine mitnehmen. Vielleicht hilft es uns noch einmal.«

»Was steht dort über dich?«

»Ich werde dort fuer grissa ost drauka genannt.«

»Was bedeutet das?«

Richard drehte sich zum Gewölbekeller um. »Der Bringer des Todes.«

Sie schwieg einen Augenblick lang. »Und wie kommen wir bis nach hinten?«

Richard ließ den Blick über die toten Soldaten wandern. »Aufrecht gehen dürfen wir ganz sicher nicht.« Er hielt seine Hand in Brusthöhe. »Irgend etwas hat sie etwa in dieser Höhe durchtrennt. Was immer wir tun, wir dürfen uns nicht aufrichten.«

Ungefähr in der angegebenen Höhe hing eine hauchdünne Schicht wie ein zarter Rauchschleier im Raum mit den Gewölben. Er schien zu glühen, so als würde er hell angestrahlt. Richard konnte aber nicht erkennen, was das war.

Auf Händen und Knien krochen sie in den Gewölbekeller hinein, unter den eigenartigen, feinen Hauch aus Licht. Bis sie die Regale erreichten, hielten sie sich in der Nähe der Wand, damit sie nicht durch die Blutlachen hindurchkriechen mußten. Von unten wirkte der leuchtende Nebel noch eigenartiger. Ganz offensichtlich war er anders als jeder Nebel oder Rauch, den Richard bislang gesehen hatte. Er schien aus Licht zu bestehen.

Ein knirschendes Geräusch ließ sie erstarren. Richard blickte über die Schulter und sah, wie die sechs Fuß dicke Tür langsam nach innen schwang. Seiner Einschätzung nach konnten sie sich so sehr beeilen, wie sie wollten, sie würden es nicht mehr zurückschaffen, bevor die Tür ganz geschlossen war.

Kahlan wandte sich von der Tür ab. »Sind wir hier drinnen eingesperrt? Wie sollen wir wieder hinauskommen? Gibt es noch einen anderen Ausgang?«

»Es ist der einzige Ausgang, aber ich kann ihn öffnen«, meinte Richard. »Die Tür funktioniert in Verbindung mit einem Schild. Wenn ich meine Hand auf die Metallplatte an der Wand lege, wird sie sich öffnen.«

Sie betrachtete sein Gesicht aus ihren grünen Augen. »Bist du sicher, Richard?«

»So ziemlich. Bis jetzt hat es immer funktioniert.«

»Nach allem, was wir durchgemacht haben, möchte ich, daß wir jetzt, wo wir wieder zusammen sind, beide lebend hier rauskommen, Richard.«

»Das werden wir. Wir müssen. Es gibt Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind.«

»In Aydindril?«

Er nickte und versuchte, Worte für das zu finden, was er ihr hatte sagen wollen, Worte, mit denen er die Distanz überbrücken konnte, die zwischen ihnen, wie er befürchtete, entstanden war. Die er, wie er fürchtete, selbst erzeugt hatte.

»Kahlan, was ich getan habe, habe ich nicht deshalb getan, weil ich etwas für mich wollte — das schwöre ich. Ich weiß, wie sehr ich dir weh getan habe. Aber das war das einzige, was mir einfiel, bevor alles zu spät gewesen wäre. Ich habe das nur getan, weil ich ganz aufrichtig glaube, es ist unsere einzige Chance, zu verhindern, daß die Midlands an die Imperiale Ordnung fallen. Ich weiß, das Ziel der Konfessoren ist es, Menschen zu beschützen, nicht bloß, über sie zu herrschen. Ich war in dem Glauben, du würdest erkennen, daß dies auch mein Ziel ist, auch wenn ich nicht so handele, wie du es dir wünschst. Ich wollte die Menschen beschützen und sie nicht beherrschen. Aber was ich dir angetan habe, hat mich tief betrübt.«

Eine ganze Weile blieb es in dem Raum aus Stein totenstill. »Richard, als ich deinen Brief zum ersten Mal las, war ich am Boden zerstört. Eine heilige Pflicht war mir anvertraut worden, und ich wollte nicht als diejenige Mutter Konfessor in Erinnerung bleiben, die die Midlands aufgegeben hat. Auf dem Weg hierher, mit dem Ring um meinen Hals, hatte ich eine Menge Zeit nachzudenken.

Die Schwestern haben heute abend etwas sehr Nobles getan. Sie haben ein dreitausend Jahre altes Vermächtnis einem höheren Zweck geopfert: den Menschen zu helfen. Vielleicht bin ich nicht glücklich über das, was du getan hast, und du wirst noch einiges erklären müssen, aber ich werde dir mit Liebe im Herzen zuhören, nicht nur deinetwegen, sondern auch wegen der Menschen der Midlands, die auf uns angewiesen sind.

Während jener Wochen, in denen wir hierher gereist sind, habe ich mir überlegt, daß wir in der Zukunft leben müssen, nicht in der Vergangenheit. Und die Zukunft soll ein Ort sein, wo Frieden und Sicherheit herrschen. Das ist wichtiger als alles andere. Ich kenne dich, und ich weiß, daß du nicht aus eigennützigen Motiven gehandelt hast.«

Richard strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Ich bin stolz auf dich, Mutter Konfessor.«

Sie küßte seine Finger. »Später, wenn niemand mehr versucht, uns zu töten, und wir die nötige Zeit haben, werde ich meine Arme verschränken und mit dem Fuß wippen, wie es von der Mutter Konfessor erwartet wird, und dann kannst du stotternd und stammelnd versuchen, dich zu rechtfertigen. Aber können wir jetzt erst einmal fort von hier?«

Jetzt, da ihm ein wenig von seiner Sorge genommen war, machte sich Richard lächelnd wieder auf den Weg und kroch vorbei an den Reihen mit Bücherregalen. Die dünne Schicht des leuchtenden Dunstes über ihren Köpfen schien sich über den gesamten Raum zu erstrecken. Richard hätte zu gern gewußt, was das war.

Kahlan rutschte hastig näher an ihn heran. In jedem Zwischengang, den sie passierten, hielt Richard nach Schwierigkeiten Ausschau und machte einen Umweg, sobald er ein unerklärliches Gefühl der Gefahr verspürte. Er wußte nicht, ob dieses Gefühl der Gefahr auf eine tatsächliche Wahrnehmung zurückging oder nicht, wagte jedoch nicht, es zu ignorieren. Er lernte, seinen Instinkten zu trauen und sich weniger Gedanken um handfeste Beweise zu machen.

Als sie die kleine Kammer hinten betraten, ließ er den Blick suchend über die Bücher im Regal wandern und entdeckte das gesuchte Buch. Das Problem war, daß es sich oberhalb der Dunstschicht befand. So unvernünftig, hindurchzugreifen, war er nicht. Er wußte nicht genau, was dieser Dunst aus Licht war, aber es handelte sich um irgendeine Art von Magie. Und er hatte gesehen, was sie mit den Soldaten angestellt hatte.

Mit Kahlans Hilfe versetzte er das Regal in Schwingungen, bis es umstürzte. Als es gegen den Tisch kippte, fielen die Bücher heraus, das gesuchte landete jedoch oben auf dem Tisch. Die Schicht aus leuchtendem Dunst schwebte nur Zentimeter über dem Buch. Richard tastete mit der Hand vorsichtig über die Tischplatte und spürte das Kribbeln der Magie, die gleich oberhalb seines Arms dahinzog. Schließlich bekam er das Buch mit den Fingern zu fassen und zog es über den Rand.

»Richard, irgend etwas stimmt nicht.«

Er nahm das Buch in die Hand und blätterte es rasch durch, um sich zu vergewissern, daß es das richtige war. Er konnte zwar mittlerweile die Worte auf Hoch-D’Haran lesen, und einige von ihnen erkannte er auch wieder, hatte aber keine Zeit, sich dem Inhalt des Buches zu widmen.

»Was? Was stimmt nicht?«

»Sieh den Nebel über uns. Als wir hereinkamen, war er brusthoch. Bestimmt war er es, der die Männer niedergestreckt hat. Sieh ihn dir jetzt an.«

Der Dunst hatte sich bis dicht über den Tisch gesenkt. Er klemmte das Buch in seinen Gürtel. »Mir nach, und beeil dich.«

Hastig krabbelte Richard aus dem Raum hinaus, dicht gefolgt von Kahlan. Er wußte nicht, was passieren würde, falls die leuchtende Magie sie erreichte, es bereitete ihm jedoch keine große Mühe, sich das vorzustellen.

Kahlan stieß einen Schrei aus. Richard drehte sich um und sah, daß sie ausgestreckt auf dem Boden lag.

»Was ist?«

Sie versuchte, sich mit den Ellenbogen weiterzuziehen, kam aber nicht voran. »Irgend etwas hält mich am Knöchel fest.«

Richard krabbelte zu ihr zurück und packte sie am Handgelenk.

»Halte dich an meinem Knöchel fest, dann laß uns machen, daß wir hier rauskommen.«

Ihr stockte der Atem. »Sieh doch, Richard!«

Als er sie berührte, hatte das Leuchten sich weiter über ihren Köpfen gesenkt, so als hätte die Magie die Berührung gespürt, ihr Opfer registriert und senkte sich nun herab, um diesem nachzusetzen. Ihnen blieb kaum noch Platz zum Kriechen. Richard eilte mit Kahlan, die sich an seinen Knöchel klammerte, zur Tür.

Bevor sie die Tür erreichten, senkte sich der Lichtpegel über ihren Köpfen so weit herab, daß Richard die Hitze auf seinem Rücken spüren konnte.

»Runter!«

Sie ließ sich auf sein Kommando flach auf den Bauch fallen, dann wanden sie sich auf dem Bauch kriechend weiter. Als sie endlich an der Tür waren, wälzte Richard sich auf den Rücken. Der Dunst schwebte Zentimeter über ihnen.

Kahlan krallte sich in sein Hemd und zog sich näher an ihn heran. »Was sollen wir jetzt tun, Richard?«

Richard starrte hinauf zu der Metallplatte. Sie befand sich oberhalb der leuchtenden Schicht, die sich von einer Wand zur anderen erstreckte.

»Wir müssen hier raus, oder dieses Etwas bringt uns um, genau wie die Soldaten. Ich muß aufstehen.«

»Bist du verrückt? Das kannst du nicht machen!«

»Ich habe das Mriswithcape. Wenn ich es benutze, findet mich das Licht vielleicht nicht.«

Kahlan warf ihren Arm über seine Brust. »Nein!«

»Ich bin in jedem Fall tot, wenn ich es nicht versuche.«

»Richard, nein!«

»Hast du eine bessere Idee? Die Zeit läuft uns davon.«

Wütend knurrend streckte sie den Arm in Richtung Tür. Blaue Blitze schossen explosionsartig aus ihrer Faust. Strahlen blauen Lichts durchzuckten knisternd die Umgebung der Tür.

Die dünne Schicht dunstartigen Lichts schreckte zurück, als sei sie lebendig und die Berührung durch Kahlans Magie schmerzhaft. Die Tür jedoch bewegte sich nicht.

Während sich das Licht zurückzog und in der Mitte des Raumes sammelte, sprang Richard auf und klatschte mit der Hand auf die Platte. Ächzend setzte sich die Tür in Bewegung. Kahlans knisternde blaue Lichtblitze erloschen, als die Tür sich Zentimeter für Zentimeter öffnete. Das Leuchten glättete sich und begann, sich wieder auszubreiten.

Richard packte Kahlans Hand. Er stand auf und zwängte sich, sie hinter sich herziehend, durch die Öffnung hindurch. Draußen ließen sie sich keuchend und aneinander geklammert zu Boden fallen.

»Es hat funktioniert«, sagte sie. Nach dem Schrecken kam sie langsam wieder zu Atem. »Ich wußte, daß du in Gefahr warst, deshalb hat meine Magie funktioniert.«

Als die Tür sich das letzte Stück öffnete, sickerte die glatte Fläche aus Licht hinaus auf den Korridor und schwebte auf sie zu.

»Wir müssen von hier verschwinden«, sagte er, als sie sich aufrappelten.

Rückwärts trabend hielten sie ein Auge auf den schleichenden Nebel, der sie verfolgte. Die beiden stöhnten auf, als sie gegen eine unsichtbare Barriere stießen. Richard tappte hilflos auf der Oberfläche herum, konnte aber keinerlei Öffnung finden. Er drehte sich um und sah, daß das Licht sie fast eingeholt hatte.

Voller Wut und ohne sonstigen Ausweg streckte Richard die Hände aus.

Stränge schwarzer Blitze, wellenförmige Leeren im Sein aus Licht und Leben, dem ewigen Tod selbst gleich, schossen vor und entfernten sich drehend und kreisend von seinen ausgestreckten Händen. Das Krachen der Blitze war ohrenbetäubend, als die Subtraktive Magie sich in die Welt hineinfraß. Kahlan zuckte zusammen. Sie schlug sich die Hände auf die Ohren und wich zurück, als sie das sah.

Der leuchtende Dunst schien mitten im Gewölbekeller Feuer zu fangen. Richard spürte einen kräftigen, dumpfen Stoß in seiner Brust und im Felsen unter seinen Füßen.

Die Bücherregale wurden nach hinten geworfen und schleuderten einen Schneesturm loser Blätter in die Luft, die kurz wie tausend Funken eines Freudenfeuers aufflammten. Das Feuer heulte, als sei es lebendig. Er spürte, wie die schwarzen Blitze aus seinem Inneren heraus mit einer Wucht und Wildheit explodierten, die jede Vorstellungskraft sprengte, wie sie in seinem Körper brannten und sich in die Gewölbe schlängelten.

Kahlan zerrte an seinen Armen. »Richard! Richard! Wir müssen fliehen! Hör auf mich! Lauf!«

Kahlans Stimme schien aus großer Ferne zu ihm zu kommen. Urplötzlich erloschen die schwarzen Stränge Subtraktiver Magie. Die Welt stürzte zurück, füllte im Nu die Leere seines Bewußtseins, und er fühlte sich wieder lebendig. Und war entsetzt.

Die unsichtbare Barriere, die sie am Entkommen gehindert hatte, war verschwunden. Richard packte Kahlans Hand und rannte los. Hinter ihnen überschlug sich jaulend der Kern aus Licht und erstrahlte mit schriller werdendem Geräusch immer heller.

Gütige Seelen, dachte er, was habe ich bloß angerichtet?

Sie rannten durch die steinernen Korridore, sprangen Stufen hinauf und liefen durch lange Säle, die von Stockwerk zu Stockwerk reicher geschmückt waren — getäfelt, mit Teppichen ausgelegt, mit Lampen, die ihnen anstelle von Fackeln den Weg leuchteten. Die Schatten vor ihnen wurden immer länger, doch das waren nicht die Lampen — es war das lebendige Licht, das sie verfolgte.

Sie platzten durch eine Tür und hinaus in eine Nacht voller Kampfgetümmel. Soldaten in karminroten Capes kämpften gegen Männer mit nackten Armen, die Richard nie zuvor gesehen hatte. Einige trugen Bärte, und manch ein Kopf war glattrasiert, aber alle hatten einen Ring im linken Nasenflügel. In ihren fremdartigen Ledergürteln und -gurten, die teils mit Dornen besetzt waren, in ihren Schichten aus Fell und Leder, wirkten sie wie primitive Wilde, ein Eindruck, den ihre Art zu kämpfen noch unterstrich: Hinter einem schauerlichen Grinsen sah man fest zusammengebissene Zähne, während sie, Schwerter, Äxte und Morgensterne schwenkend, mitten unter ihre Widersacher droschen, Schläge abwehrten und unter Einsatz kleiner runder Schilde, aus deren Mitte lange Lanzen ragten, vorandrängten.

Richard hatte diese Männer zwar noch nie zuvor gesehen, aber er wußte: Dies mußte die Imperiale Ordnung sein.

Ohne den Schritt zu verlangsamen, fädelte Richard sich, Kahlan hinter sich herziehend, durch die Lücken der Schlacht hindurch und rannte auf eine der Brücken zu. Als einer der Soldaten der Imperialen Ordnung einen Ausfallschritt machte und ihn mit einem Stiefeltritt aufzuhalten versuchte, hakte Richard einen Arm unter das Bein des Mannes und schleuderte ihn zur Seite, ohne seinen ungestümen Vorwärtsdrang merklich zu bremsen. Als einer der Soldaten der Imperialen Ordnung sich auf ihn stürzte, rammte Richard einen Ellenbogen in das Gesicht des Mannes und stieß ihn zur Seite.

Mitten auf der Ostbrücke, die hinaus in jene Gegend führte, in der der Hagenwald lag, war ein halbes Dutzend Soldaten des Lebensborns mit einer ähnlich großen Zahl aus der Imperialen Ordnung in ein Handgemenge verwickelt. Als ihm ein Schwert entgegenkam, duckte Richard sich darunter hinweg und stieß den Mann mit der Schulter über das Geländer in den Fluß, dann warf er sich durch die dadurch entstandene Lücke.

Von hinten, durch den Lärm der Schlacht, durch das Klirren der Schwerter und das Gebrüll der Soldaten, hörte er das Heulen des Lichts. Er rannte. Scheinbar hatten seine Beine sich selbst zur Flucht entschlossen und liefen von alleine. Und das, wovor sie flohen, war schlimmer als Schwerter oder Messer. Kahlan brauchte keine Hilfe, um mit ihm Schritt zu halten. Sie war dicht an seiner Seite.

Sie hatten knapp das andere Flußufer erreicht und waren noch nicht weit in die Stadt vorgedrungen, als die Nacht plötzlich einem grellen Gleißen wich, das tintenschwarze, vom Palast fortzeigende Schatten warf. Die beiden gingen hinter der verputzten Mauer einer verrammelten Werkstatt in Deckung, hockten sich nieder und rangen keuchend nach Atem. Richard riskierte einen Blick um die Häuserecke und sah blendend grelles Licht, das aus allen Fenstern des Palastes erstrahlte, selbst aus denen hoch droben in den Türmen. Licht schien aus allen Fugen des Gesteins hervorzuquellen.

»Kannst du noch ein Stückchen weiterrennen?« fragte er japsend.

»Ich wollte gar nicht stehenbleiben«, meinte sie.

Richard kannte sich in der Stadt aus. Er führte Kahlan zwischen verwirrten, verängstigten, jammernden Menschenmengen hindurch, durch enge Straßen und weite Alleen, bis sie den Stadtrand von Tanimura erreichten.

Sie hatten den Hang des Tales, in dem die Stadt lag, zur Hälfte hinter sich, als er einen mächtigen Schlag im Boden spürte, der ihm fast die Füße unter dem Körper weggerissen hätte. Ohne sich umzusehen, schlang Richard einen Arm um Kahlan und warf sich zusammen mit ihr in eine flache Vertiefung im Granit. Schwitzend und erschöpft hielten sie sich aneinander fest, während die Erde bebte.

Sie steckten gerade noch rechtzeitig die Köpfe hinaus, um zu sehen, wie das Licht die mächtigen Türme und Steinmauern des Palastes der Propheten zerfetzte wie ein Wirbelsturm Papier. Die gesamte Insel Drahle schien auseinanderzubrechen. Baumteile und riesige Rasensoden stiegen zusammen mit Gesteinsbrocken jeder Größe in die Luft. Ein blendend heller Blitz trieb eine Kuppel dunkler Trümmer vor sich her. Der Fluß wurde seines Wassers und seiner Brücken beraubt.

Die Wand aus Licht weitete sich mit krachendem Getöse aus. Irgendwie hielt die Stadt jenseits der Insel dieser Raserei stand.

Oben leuchtete der Himmel, als loderte sein Gewölbe aus Anteilnahme mit dem blendenden Kern darunter auf. Der äußere Rand der glänzenden Glocke aus Licht stürzte kaskadenartig Meilen von der Stadt entfernt zu Boden. Richard kannte diese Grenze noch, es war der äußere Schild, der ihn gefangenhielt, als er den Rada’Han getragen hatte.

»Der Bringer des Todes, fürwahr«, sagte Kahlan leise, während sie das Geschehen, von Ehrfurcht ergriffen, verfolgte. »Ich hatte keine Ahnung, daß du zu so etwas imstande bist.«

»Ich auch nicht«, antwortete Richard kaum vernehmbar.

Ein Windstoß fegte tosend den Hang hinauf und zerrte am Gras. Sie zogen die Köpfe ein, als eine Wand aus aufgewirbeltem Sand und Erde über sie hinwegraste.

Als sich alles beruhigt hatte, richteten sie sich zögernd wieder auf. Die Nacht war zurückgekehrt. Richard konnte in der plötzlichen Dunkelheit unten nicht viel erkennen, doch eins wußte er — der Palast der Propheten existierte nicht mehr.

»Du hast es geschafft, Richard«, meinte Kahlan schließlich.

»Wir haben es geschafft«, antwortete er, während er auf das leblose, schwarze Loch inmitten der Lichter aus der Stadt hinabstarrte.

»Glücklicherweise hast du dieses Buch mitgenommen. Ich will wissen, was sonst noch über dich drinsteht.« Ein Lächeln spielte über ihre Lippen. »Ich denke, Jagang wird jetzt wohl nicht mehr dort wohnen.«

»Das denke ich auch. Hast du alles heil überstanden?«

»Mir geht es gut«, sagte sie. »Aber ich bin froh, daß es vorüber ist.«

»Ich fürchte, es hat gerade erst begonnen. Komm, die Sliph wird uns nach Aydindril zurückbringen.«

»Du hast mir immer noch nicht erzählt, was diese Sliph ist.«

»Du würdest mir sowieso nicht glauben. Also wirst du sie dir einfach selber ansehen müssen.«


»Ziemlich beeindruckend, Zauberer Zorander«, meinte Ann und wandte sich ab.

Zedd tat es mit einem Brummen ab. »Das war nicht mein Werk.«

Ann wischte sich die Tränen von den Wangen, froh über die Dunkelheit, weil er sie dadurch nicht sehen konnte, hatte aber zu kämpfen, damit ihre Stimme ihre Gefühle nicht verriet. »Du hast vielleicht nicht die Fackel draufgeworfen, aber du hast dafür gesorgt, daß der Scheiterhaufen errichtet wurde. Ziemlich beeindruckend. Ich habe schon einmal gesehen, wie ein Lichtnetz einen Raum in Stücke reißt, aber das hier…«

Er legte ihr sacht die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Ann.«

»Nun, was sein muß, muß sein.«

Zedd drückte ihre Schulter, als wollte er sagen, er verstehe. »Ich frage mich, wer die Fackel draufgeworfen hat.«

»Die Schwestern der Finsternis können Subtraktive Magie benutzen. Eine von ihnen muß das Lichtnetz versehentlich entzündet haben.«

Zedd spähte im Dunkeln hinüber zu ihr. »Versehentlich?« Er zog seine Hand zurück, gab aber nur ein zweifelndes Schnauben von sich.

»Das muß es gewesen sein«, meinte sie seufzend.

»Das war ein wenig mehr als ein Versehen, würde ich sagen.« Sie glaubte eine Spur von Stolz in seinem versonnenen Gemurmel zu erkennen.

»Und was?«

Er überging ihre Frage. »Wir sollten zusehen, daß wir Nathan finden.«

»Ja«, sagte Ann. Sie drückte Hollys Hand. »Hier haben wir uns von ihm getrennt. Er muß hier irgendwo sein.«

Ann blickte zu den fernen mondbeschienenen Hügeln hinüber. Sie sah, wie eine Schar von Menschen die Nordstraße entlangzog: eine Kutsche und eine Gruppe von Leuten, größtenteils zu Pferd. Es waren zu viele, um sie nicht zu spüren. Es waren ihre Schwestern des Lichts. Dem Schöpfer sei Dank, die Flucht war ihnen schließlich doch gelungen.

»Ich dachte, du könntest ihn über diesen infernalischen Halsring finden.«

Ann sah sich im Gebüsch um. »Das kann ich, und er verrät mir, daß er hier ganz in der Nähe sein muß. Vielleicht wurde er durch den Sturm verletzt. Da der Bann zerstört wurde, muß er hier gewesen und seinen Teil bei der Zerstörung des äußeren Schildes übernommen haben. Es kann also sein, daß er verletzt wurde. Hilf mir suchen.«

Holly suchte ebenfalls mit, blieb aber in der Nähe. Zedd schlenderte zu einer offenen, flachen Stelle. Geleitet von der Art und Weise, wie Äste und Gestrüpp abgeknickt waren, suchte er in der Nähe des Knotenpunktes, dort, wo die Kraft sich verdichtet haben mußte. Zedd bückte sich, um zwischen den flachen Stellen im Gestein nachzusehen, und rief ihr etwas zu.

Ann ergriff Hollys Hand und lief hinüber zu dem alten Zauberer. »Was ist?«

Er zeigte auf etwas. Aufrecht, so daß sie es nicht übersehen konnten, eingeklemmt in die Spalte eines runden Granitbrockens, steckte ein runder Gegenstand. Ann zerrte ihn heraus.

Sie starrte ungläubig. »Das ist Nathans Rada’Han.«

Holly stockte der Atem. »Oh, Ann, vielleicht wurde er getötet. Vielleicht wurde Nathan durch die Magie getötet.«

Ann betrachtete ihn von allen Seiten. Er war fest verschlossen. »Nein, Holly.« Sie strich dem Mädchen tröstend durchs Haar. »Er wurde nicht getötet, sonst wären hier irgendwelche Spuren von ihm. Aber gütiger Schöpfer, was bedeutet das?«

»Was das bedeutet?« seufzte Zedd. »Nun, er ist weg. So, und jetzt nimm meinen Ring ab.«

Anns Hand, die den Rada’Han hielt, senkte sich, und sie blickte hinaus in die Nacht. »Wir müssen ihn finden.«

»Nimm mir den Halsring ab, wie du es versprochen hast, und dann kannst du ihm hinterherrennen. Ohne mich, wie ich hinzufügen möchte.«

Ann spürte, wie ihr Zorn wuchs. »Du wirst mich begleiten.«

»Dich begleiten? Verdammt, ich werde nichts dergleichen tun.«

»Du wirst mich begleiten.«

»Du hast die Absicht, dein Wort zu brechen!«

»Nein, ich habe die Absicht, es zu halten, sobald wir diesen lästigen Propheten gefunden haben. Du hast ja keine Ahnung, welche Komplikationen dieser Mann anrichten kann.«

»Wozu brauchst du dann mich?«

Sie drohte ihm mit dem Finger. »Du wirst mich begleiten, ob es dir gefällt oder nicht, und damit Schluß. Wenn wir ihn finden, nehme ich dir den Halsring ab. Vorher nicht.«

Er warf die Fäuste, vor Wut stammelnd, in die Höhe, während Ann loszog, um die Pferde zu holen. Ihr Blick wanderte zu den mondbeschienenen Hügeln in der Ferne. Sie sah die Schar von Schwestern, die nach Norden zog. Bei den Pferden angekommen, ging Ann vor Holly in die Hocke.

»Holly, ich habe als ersten Auftrag an dich als Novizin bei den Schwestern des Lichts eine sehr wichtige, dringende Aufgabe.«

Holly nickte ernst. »Was denn, Ann?«

»Es ist unbedingt erforderlich, daß Zedd und ich Nathan suchen gehen. Ich hoffe, daß es nicht lange dauert, aber wir müssen uns beeilen, bevor es ihm gelingt zu entkommen.«

»Bevor es ihm gelingt zu entkommen!« brüllte Zedd hinter ihr. »Er hatte Stunden Zeit dazu. Er hat einen Riesenvorsprung. Kein Mensch weiß, wo der Mann hingegangen ist. Er ist bereits ›entkommen‹.«

Ann warf einen Blick über ihre Schulter. »Wir müssen ihn finden.« Sie drehte sich wieder zu Holly um. »Wir müssen uns beeilen, und ich habe keine Zeit, mich mit den Schwestern des Lichts dort drüben auf dem Hügel zu treffen. Du mußt für mich zu ihnen gehen und Schwester Verna alles das erzählen, was hier vorgefallen ist.«

»Was soll ich ihr denn erzählen?«

»Was immer du gesehen und gehört hast, solange du bei uns warst. Sag ihr die Wahrheit und erfinde nichts dazu. Es ist wichtig, daß sie Bescheid weiß. Erzähle ihr, daß Zedd und ich Nathan verfolgen und uns ihnen, sobald wir können, anschließen werden. Unsere dringlichste Aufgabe jedoch ist es, den Propheten zu finden. Sag ihr, daß sie nach Norden ziehen soll, wie sie es bereits tut, damit sie der Imperialen Ordnung nicht in die Hände fallen.«

»Das kann ich tun.«

»Es ist nicht weit, und der Weg dort drüben wird dich zu der Straße führen, die sie entlang reiten, du wirst sie also nicht verfehlen. Dein Pferd kennt und mag dich, es wird gut auf dich aufpassen. In knapp ein oder zwei Stunden wirst du dort sein, dann werden sich alle Schwestern um dich kümmern und dich lieben. Schwester Verna wird wissen, was zu tun ist.«

»Ich werde dich vermissen, bis ihr uns eingeholt habt«, sagte Holly mit tränenerstickter Stimme.

Ann umarmte das kleine Mädchen. »Oh, Kind, ich werde dich ebenfalls sehr vermissen. Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen, du warst so eine große Hilfe, aber wir müssen uns beeilen, damit wir Nathan einholen. Die Schwestern, vor allem Prälatin Verna, müssen wissen, was geschehen ist. Das ist wichtig, deshalb muß ich dich schicken.«

Holly unterdrückte ihre Tränen tapfer schniefend. »Ich verstehe. Du kannst auf mich zählen, Prälatin.«

Ann half dem Mädchen in den Sattel hinauf und küßte die Hand, in die sie die Zügel drückte. Ann winkte ihr zum Abschied nach, als Holly lostrabte, den Schwestern des Lichts hinterher.

Dann drehte sie sich zu dem wutschnaubenden Zauberer um. »Wir sollten besser aufbrechen, wenn wir Nathan erwischen wollen.« Sie gab ihm einen Klaps auf die knochige Schulter. »Es wird nicht lange dauern. Sobald wir ihn eingeholt haben, nehme ich dir den Halsring ab, das verspreche ich dir.«

Загрузка...