39

Kahlan packte im Laufen mit der einen Hand Adies Arm, mit der anderen ein Schwert. Die beiden stolperten in der Dunkelheit über Orsk und schlugen hart hin. Kahlan riß ihre Hand zurück aus dem warmen Gemenge seiner Eingeweide im Schnee.

»Wie … wie ist es möglich, daß er hier liegt?«

Adie rang keuchend nach Atem. »Es ist nicht möglich.«

»Der Mond ist hell genug, um alles zu erkennen. Ich weiß, daß wir nicht im Kreis herumlaufen.« Sie faßte in den Schnee, um sich das blutige Geschmiere von der Hand zu wischen. Dann rappelte sie sich auf und zog Adie mit hoch. Überall ringsum lagen in rote Capes gekleidete Leichen verstreut. Sie waren nur in einen einzigen Kampf verwickelt gewesen. Weitere Leichen konnte es nicht geben. Und Orsk…

Kahlan ließ ihren Blick am Waldrand entlangwandern, suchte nach Soldaten auf Pferden. »Erinnerst du dich noch an Jebras Vision, Adie? Sie sah, daß ich im Kreis herumlief.«

Adie wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. »Aber wie ist das möglich?«

Adie würde nicht mehr weit laufen können. Sie hatte ihre Energie im Kampf verbraucht und war fast zu Tode erschöpft. Die Kraft ihrer entfesselten Magie hatte unter den Angreifern verheerend gewütet, aber es waren zu viele gewesen. Allein Orsk hatte sicher zwanzig oder dreißig von ihnen getötet. Kahlan hatte nicht gesehen, wie Orsk getötet worden war, war aber jetzt schon zum dritten Mal auf seine Leiche gestoßen. Man hatte ihn fast in zwei Hälften zerteilt.

»Was meinst du? Welche Richtung müssen wir einschlagen, wenn wir entkommen wollen?« fragte sie die Magierin.

»Sie sind hinter uns.« Adie zeigte dorthin. »Wir müssen diesen Weg nehmen.«

»Das denke ich auch.« Sie zog Adie in die entgegengesetzte Richtung fort. »Wir haben getan, was wir für richtig hielten, aber es hat nicht funktioniert. Wir müssen etwas anderes ausprobieren. Komm. Wir müssen tun, was wir für falsch halten.«

»Es könnte ein Bann sein«, meinte Adie. »Wenn, dann hast du recht. Ich bin so müde, daß ich nicht mehr fühle, ob es einer ist.«

Sie stürzten durch das Dornengestrüpp und einen steilen Hang hinunter, halb rennend, halb im Schnee rutschend. Vor dem Sprung über den Rand sah sie die Reiter, die hinter der Deckung aus Bäumen hervorpreschten. Unten hatte sich der Schnee zu hohen Verwehungen aufgehäuft. Die beiden kämpften sich hindurch zu den Bäumen. Es war, als versuchte man, in einem Sumpf zu rennen.

Plötzlich tauchte ein Mann aus der Nacht auf und rannte hinter ihnen den Abhang hinunter. Kahlan wartete nicht, ob Adie versuchen würde, von ihrer Magie Gebrauch zu machen. Wenn sie es nicht schaffte, blieb keine Zeit mehr.

Kahlan wirbelte mitsamt Schwert herum. Der Soldat im roten Cape riß sein Schwert hoch, um sich zu verteidigen, und stürzte weiter vor. Er trug einen gepanzerten Brustharnisch. Von seiner Rüstung wäre ihr Schlag abgeprallt. Er schützte sein Gesicht — eine instinktive Reaktion. Gegen jemanden, der von ihrem Vater, König Wyborn, trainiert worden war, jedoch ein tödlicher Zug. Männer in Rüstungen kämpften mit falschem Selbstvertrauen.

Statt dessen schmetterte Kahlan ihr Schwert mit voller Wucht nach unten. Es blieb mit einem Ruck stecken, als es gegen seinen Oberschenkelknochen prallte. Den Oberschenkelmuskel durchtrennt, stürzte der Mann mit einem hilflosen Schrei auf den festgetretenen Boden.

Ein weiterer Soldat kam über ihn hinweg auf sie zugesprungen. Sein rotes Cape flatterte offen in der Nachtluft. Kahlan riß ihr Schwert hoch, schlitzte die Innenseite seines Schenkels auf und durchtrennte die Arterie. Als er an ihr vorüberstolperte, hackte sie ihm in die Achillesferse.

Der erste schrie schmerzgequält auf. Der zweite fluchte aus vollem Hals und beschimpfte sie, während er, das Schwert schwenkend, weiter vorankroch, die unflätigsten Ausdrücke, die sie je gehört hatte, auf den Lippen, und versuchte sie zu einem Kampf zu provozieren.

Kahlan mußte an den Rat ihres Vaters denken: Worte können dich nicht verletzen. Hüte dich nur vor der Klinge. Kämpfe nur gegen die Klinge.

Sie vergeudete ihre Zeit nicht damit, ihnen den Todesstoß zu verpassen. Vermutlich würden sie im Schnee verbluten. Und selbst wenn nicht, konnten sie verstümmelt, wie sie waren, ihnen nicht folgen. Sich gegenseitig an den Armen haltend, flüchteten sie und Adie weiter in die Bäume hinein.

Keuchend schlängelten sie sich in der Dunkelheit zwischen den schneeverkrusteten Föhren hindurch. Kahlan spürte, wie Adie zitterte. Gleich zu Beginn hatte sie ihren schweren Mantel verloren. Kahlan riß sich ihren Wolfspelzumhang vom Leib und warf ihn Adie über die Schultern.

»Nein, Kind«, protestierte Adie.

»Zieh ihn an«, befahl Kahlan. »Ich schwitze, außerdem behindert er mich nur mit dem Schwert.« Tatsächlich war ihr Schwertarm so erschöpft, daß sie die Waffe kaum noch heben konnte, vom Schwingen ganz zu schweigen. Nur die Angst verlieh ihren Muskeln noch Kraft. Im Augenblick genügte das.

Kahlan wußte längst nicht mehr, in welche Richtung sie lief. Die beiden rannten einfach um ihr Leben. Wenn sie nach rechts wollte, lief sie statt dessen nach links. Die Bäume, zwischen denen sie hindurchrannten, waren zu dicht, um die Sterne zu sehen — oder den Mond.

Sie mußte entkommen. Richard war in Gefahr. Richard brauchte sie. Sie mußte zu ihm. Zedd müßte mittlerweile dort eingetroffen sein, trotzdem konnte alles schiefgehen. Möglicherweise schaffte es Zedd nicht. Sie mußte.

Kahlan schlug den Ast einer Balsamtanne zur Seite und kämpfte sich zu einer kleinen, offenen, vom Schnee freigewehten Stelle an einem Felshang vor. Sie blieb erschrocken stehen. Vor ihr standen zwei Pferde.

Tobias Brogan, Lord General des Lebensborns aus dem Schoß der Kirche, blickte lächelnd auf sie herab. Eine Frau in zerrissenen Fetzen bunten Stoffes hockte neben ihm auf einem Pferd.

Brogan strich sich mit den Knöcheln über seinen Schnäuzer. »Wen haben wir denn hier?«

»Zwei Reisende«, sagte Kahlan mit einer Stimme kalt wie die Winterluft. »Seit wann befaßt sich der Lebensborn mit dem Ausrauben und Niedermetzeln hilfloser Reisender?«

»Hilflose Reisende? Das wohl kaum. Ihr beide habt sicher über einhundert meiner Männer getötet.«

»Wir haben unser Leben gegen den Lebensborn verteidigt, der, solange er glaubt, damit durchkommen zu können, Menschen überfällt, die er nicht einmal kennt.«

»Oh, aber ich kenne Euch, Kahlan Amnell, Königin von Galea. Ich weiß mehr, als Ihr denkt. Ich weiß, wer Ihr seid.«

Kahlans Faust ballte sich um das Heft ihres Schwertes.

Brogan lenkte seinen Grauschimmel näher heran, dabei machte sich ein häßliches Grinsen auf seinem Gesicht breit. Sich mit einem Arm auf den Sattelknauf abstützend, beugte er sich vor und fixierte sie mit seinen boshaften, dunklen Augen.

»Ihr, Kahlan Amnell, seid die Mutter Konfessor. Ich sehe Euch als die, die Ihr seid. Und Ihr seid die Mutter Konfessor.«

Kahlans Muskeln verkrampften, ihr Atem blieb in ihren Lungen gefangen. Wie konnte er das nur wissen? Hatte Zedd den Bann aufgehoben? War Zedd etwas zugestoßen? Gütige Seelen, wenn Zedd irgend etwas passiert war…

Mit einem wütenden Aufschrei riß sie das Schwert in einem mächtigen Schwung nach vorn. Im selben Augenblick streckte die Frau in den zerfetzten Lumpen eine Hand aus. Ächzend vor Anstrengung baute Adie einen Schild auf. Der Schlag aus der Luft von der Frau auf dem Pferd streifte an Kahlans Gesicht vorbei und warf ihr das Haar nach hinten. Adies Schild hatte sie gerettet.

Kahlans Schwert blitzte im Mondlicht auf. Ein Krachen erfüllte die Nachtluft, als ihre Klinge das Bein des Pferdes unter Brogan wegschlug.

Schreiend stürzte das Pferd zu Boden, und Brogan fiel zwischen die Bäume. Zur selben Zeit hüllte ein Feuerstoß von Adie den Kopf des anderen Pferdes ein. Es bäumte sich wild auf und warf die Frau ab, von der Kahlan mittlerweile wußte, daß sie ebenfalls eine Magierin war.

Kahlan packte Adie an der Hand und zerrte sie fort. Verzweifelt stürzten sie ins Unterholz. Überall ringsum hörten sie, wie Soldaten und Pferde durch die Bäume brachen. Kahlan versuchte erst gar nicht zu überlegen, wohin sie rannten, sie rannte einfach drauflos.

Es gab etwas, auf das sie noch nicht zurückgegriffen hatte — noch nicht. Ihre Kraft sparte sie sich als letzte Zuflucht auf. Sie konnte nur ein einziges Mal von ihr Gebrauch machen, und dann dauerte es Stunden, bis sie wiederhergestellt war. Die meisten Konfessoren brauchten ein, zwei Tage, um ihre Magie wiederzuerlangen. Daß Kahlan ihre Kraft in wenigen Stunden wiedererlangen konnte, machte sie zu einer der mächtigsten Konfessoren, die je geboren worden waren. Jetzt schien diese Kraft nicht viel zu bedeuten — nur eine allerletzte Chance.

»Adie.« Kahlan keuchte, versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Wenn du kannst, halte eine der beiden Frauen auf, sobald sie uns eingeholt haben.«

Adie brauchte keine weiteren Erklärungen. Sie hatte verstanden. Die beiden Frauen, die ihnen hinterher jagten, waren Magierinnen. Wenn Kahlan von ihrer Kraft Gebrauch machen mußte, war dies sicher die beste Verwendung dafür.

Kahlan duckte sich, als es blitzte. Neben ihnen stürzte ein Baum mit ohrenbetäubendem Krachen zu Boden. Als sich die Wolken aufgewühlten Schnees legten, kam die andere Frau, die zu Fuß war, auf sie zumarschiert.

Neben der Frau ging ein dunkles, schuppiges Wesen, halb Mensch, halb Echse. Kahlan hörte, wie ihrer Kehle ein Schrei entfuhr. Es war, als wollten ihr die Knochen aus dem erstarrten Leib springen.

»So ganz allmählich habe ich genug von diesem Unfug«, meinte die Frau, die sich, das Schuppenwesen an ihrer Seite, mit energischen Schritten näherte.

Mriswith. Es mußte ein Mriswith sein. Richard hatte sie ihr beschrieben. Dieses Alptraumgeschöpf konnte nur ein Mriswith sein.

Adie schoß herbei und schleuderte der Frau glitzerndes Licht entgegen. Die Frau machte eine ruckartige Bewegung mit der Hand, fast beiläufig, und Adie ging zu Boden, während das Glitzern wirkungslos auf dem Schnee niederging.

Die Frau bückte sich, packte Adies Handgelenk und schleuderte sie fort — wie ein Huhn, das später gerupft werden sollte. Kahlan explodierte und warf sich mit ihrem Schwert nach vorn.

Das Etwas, der Mriswith, segelte wie ein Windstoß vor ihr her. Sie sah, wie sich im Vorüberwirbeln sein dunkles Cape blähte. Sie hörte das Klirren von Stahl.

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie auf den Knien lag. Ihre leere Schwerthand prickelte und brannte. Wie konnte er sich so schnell bewegen? Als sie den Kopf hob, war die Frau näher gekommen. Sie hob die Hand, und die Luft schimmerte. Kahlan spürte einen Schlag gegen ihr Gesicht.

Sie blinzelte das Blut aus ihren Augen und sah, wie die Frau erneut die Hand erhob, die Finger gekrümmt.

Plötzlich riß die Frau die Arme hoch, als sie von einem mächtigen Schlag von hinten getroffen wurde. Adie mußte alles hineingelegt haben, was sie noch an Kraft besaß. Der unsichtbare magische Stoß von Adie, hart wie ein Hammer, warf die Frau nach vorn. Kahlan bekam ihre Hand zu fassen, während sie verzweifelt versuchte, sie zurückzureißen.

Es war zu spät. In Kahlans Bewußtsein verlangsamte sich alles. Die Magierin schien mitten in der Luft zu stehen, während Kahlan ihre Hand umklammert hielt. Die Zeit gehörte jetzt ganz Kahlan. Sie hatte alle Zeit der Welt.

Die Magierin begann zu keuchen. Sie wollte den Kopf heben. Sie zuckte zurück. Kahlan hatte das ruhige Zentrum ihrer Kraft, ihrer Magie gefunden und war Herr der Lage. Die Frau hatte keine Chance.

Kahlan konnte zusehen, wie die Magie aus ihrem Innern, die Magie des Konfessors, jede einzelne Faser ihres Seins durchdrang und schreiend vorwärtsdrängte.

An diesem zeitlosen Ort ihres Bewußtseins setzte Kahlan ihre Kraft frei.

Donner ohne Hall erschütterte die Nacht.

Die Erschütterung peitschte durch die Luft, selbst die Sterne schienen zu wanken, als hätte eine himmlische Faust auf die Glocke des Nachthimmels geschlagen.

Der Schock erschütterte die Bäume. Eine Welle aus Schnee hob sich und setzte sich kreisförmig nach außen fort.

Der Aufprall der Magie hatte den Mriswith von den Beinen geworfen.

Die Frau hob den Kopf, die Augen aufgerissen, die Muskeln erschlafft.

»Herrin«, hauchte sie, »befehligt mich.«

Soldaten brachen durch die Bäume. Der Mriswith rappelte sich taumelnd auf.

»Beschütze mich!«

Die Magierin sprang auf, streckte eine Hand aus und drehte sich. Die Nacht fing Feuer.

Blitze fetzten im Bogen durch die Bäume. Baumstämme zerbarsten, sobald das gewundene Lichtband sie durchschnitt. Zersplittertes Holz wirbelte durch die Luft, Rauch nach sich ziehend. Männer waren der zerreißenden Gewalt nicht weniger schutzlos ausgeliefert als die Bäume. Kein Schrei entwich ihren Lungen, doch hätte ein solcher im Höllenlärm nie Gehör gefunden.

Der Mriswith sprang auf sie zu. Schuppen, den Federn eines Vogels gleich, der vom Stein aus einer Schleuder getroffen wurde, füllten die Luft.

Brüllendes Feuer erfüllte die Nacht. Die Luft war voller Flammen, Fleisch und Knochen.

Kahlan wischte sich Blut aus den Augen und versuchte etwas zu erkennen, als sie rückwärts durch den Schnee taumelte. Sie mußte entkommen, mußte Adie finden.

Sie stieß gegen etwas. Sie dachte, es müsse ein Baum sein. Eine Faust packte sie bei den Haaren. Sie griff auf ihre Kraft zu, merkte zu spät, daß sie verbraucht war.

Kahlan spuckte Blut. Ihr klangen die Ohren. Und dann war da ein Schmerz. Sie konnte sich nicht hochstemmen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre ein Baum darauf gestürzt. Über sich hörte sie eine Stimme.

»Lunetta, hör sofort damit auf.«

Kahlan verdrehte den Kopf im Schnee und sah, wie die Magierin, die sie mit ihrer Kraft berührt hatte, immer größer zu werden und auseinanderzufallen schien. Ihre Arme flogen in zwei verschiedene Richtungen. Das war alles, was Kahlan sah. Dann füllte — dort, wo die Frau gestanden hatte — eine Wolke roten Nebels die Luft.

Kahlan sackte in den Schnee. Nein. Sie durfte nicht aufgeben. Mit einer Drehung kam sie auf die Knie und zog ihr Messer. Brogans Stiefel traf sie mitten in den Leib.

Sie blickte hinauf in die Sterne und versuchte, Luft zu holen. Unmöglich. Eine Woge kalter Panik überkam sie, als sie versuchte zu atmen. Die Luft wollte nicht in die Lungen. Ihre Bauchmuskeln zogen sich krampfartig zusammen, aber sie bekam keine Luft.

Brogan kniete neben ihr, riß sie an ihrem Hemd in die Höhe. Schließlich kam ihr Atem als krampfhaftes Husten in halberstickten Zügen zurück.

»Endlich«, sagte er leise. »Endlich gehört der Fang der Fänge mir — das kostbarste Spielzeug des Hüters, die Mutter Konfessor höchstpersönlich. Ihr habt ja keine Vorstellung, wie ich von diesem Tag geträumt habe.« Er schlug ihr mit dem Handrücken gegen das Kinn. »Überhaupt keine Vorstellung.«

Kahlan mühte sich ab, um Luft zu bekommen, während Brogan ihr das Messer aus der Hand wand. Sie kämpfte, um zu verhindern, daß ihr schwarz vor Augen wurde. Sie mußte bei Bewußtsein bleiben, wenn sie denken, wenn sie sich wehren wollte.

»Lunetta!«

»Ja, mein Lord General, hier bin ich.«

Kahlan spürte, wie die Knöpfe an ihrem Hemd absprangen, als er es aufriß. Schwach hob sie einen Arm, um seine Hände daran zu hindern. Er schlug ihren Arm fort. Ihre Arme fühlten sich zu schwer an, um sie zu heben.

»Als erstes müssen wir uns ihrer bemächtigen, bevor ihre Kraft zurücckehrt. Danach haben wir alle Zeit, die wir wollen, sie zu verhören, bevor sie für ihre Verbrechen bezahlen wird.«

Er beugte sich im Mondlicht näher heran, stemmte ein Knie in ihren Unterleib und drückte sie auf den Boden. Sie kämpfte, um wieder Luft in ihre Lungen zu bekommen, dann plötzlich entwich sie mit einem Schrei, als er ihr mit seinen brutalen Fingern die linke Brustwarze verdrehte.

Sie sah, wie das Messer in seiner anderen Hand erschien.

Mit aufgerissenen Augen sah sie das weiße Schimmern vor Brogans Grinsen. Drei Klingen verharrten im Mondschein vor seinem blutleeren Gesicht. Kahlan fuhr zusammen mit Brogan herum, und sie sahen über sich zwei Mriswiths.

»Laßßßß sssie losss«, zischelte der eine, »oder du stirbssst.«

Kahlan legte die Hand auf den durchdringenden Schmerz in ihrer Brust, nachdem er getan hatte, wie ihm befohlen worden war. Der Schmerz war so ungeheuer, daß ihr die Tränen in die Augen schossen. Wenigstens half es, sie vom Blut zu reinigen.

»Was hat das zu bedeuten«, knurrte Brogan. »Sie gehört mir. Der Schöpfer will, daß sie bestraft wird.«

»Du wirst tun, wassss der Traumwandler befiehlt, oder du wirsssst sterben.«

Brogan hob herausfordernd den Kopf. »Das ist sein Wunsch?« Der Mriswith bestätigte es mit einem Zischen. »Das begreife ich nicht.«

»Du bezweifelst es?«

»Nein. Nein, natürlich nicht. Es wird geschehen, was du empfiehlst, Geheiligter.«

Kahlan hatte Angst, sich aufzusetzen, und hoffte, als nächstes würden sie Brogan befehlen, er solle sie gehen lassen. Brogan stand auf und trat zurück.

Ein weiterer Mriswith erschien mit Adie, stieß sie neben Kahlan auf den Boden. Die Berührung der Magierin auf Kahlans Arm verriet ohne Worte, daß es ihr gut ging, wenn sie auch zerschunden und zerkratzt war. Adie legte Kahlan einen Arm um die Schultern und half ihr, sich aufzusetzen.

Kahlan hatte am ganzen Körper Schmerzen. Ihr Kiefer pochte, wo Brogan sie geschlagen hatte, und ihre Stirn brannte. Noch immer lief ihr Blut in die Augen.

Einer der Mriswiths wählte zwei Ringe aus mehreren, die an seinem Handgelenk hingen, aus und hielt sie der Magierin in den zerfetzten Lumpen hin — Lunetta, wie Brogan sie genannt hatte. »Die andere ist tot. Du mußt es an ihrer Stelle tun.«

Lunetta nahm die Ringe mit einem verwirrten Gesicht entgegen. »Tun? Was denn?«

»Benutze deine Gabe, um sie ihnen um den Hals zu legen, damit man sie kontrollieren kann.«

Lunetta zog an einem der Ringe, dieser öffnete sich mit einem Schnappen. Sie schien überrascht, sogar erfreut. Sie hielt ihn vor sich hin und beugte sich über Adie.

»Bitte, Schwester«, sagte Adie leise in ihrer Landessprache, »ich bin aus deiner Heimat. Hilf uns

Lunetta zögerte, hob den Kopf und blickte Adie in die Augen.

»Lunetta!« Brogan trat ihr in den Leib. »Beeil dich. Tu, was der Schöpfer wünscht.«

Lunetta ließ den Metallring um Adies Hals zuschnappen, dann watschelte sie hinüber zu Kahlan und wiederholte das Ganze. Kahlan blickte fassungslos in das kindliche Lächeln, mit dem Lunetta sie ansah.

Als Lunetta sich aufgerichtet hatte, untersuchte Kahlan den Halsring. Im Schein des Mondes hatte sie geglaubt, ihn wiederzuerkennen. Als sie jedoch das glatte Metall befühlte und die Naht nicht mehr ertasten konnte, war sie sicher. Es war ein Rada’Han, so wie ihn die Schwestern des Lichts Richard um den Hals gelegt hatten. Sie wußte, daß die Magierinnen Richard damit kontrolliert hatten. Diese Leute hier hatten offenbar dasselbe im Sinn: Sie wollten ihre Kraft unter Kontrolle halten. Plötzlich überkam Kahlan die Befürchtung, ihre Kraft könnte in einigen Stunden nicht wiederkehren.

Als sie die Kutsche erreichten, stand dort Ahern, dem man das Schwert eines Mriswiths vor die Brust hielt. Er hatte Kahlan, Adie und Orsk gesagt, sie sollten in einer Kurve aus der Kutsche springen, er wolle ihre Verfolger fortlocken. Ein gewagter, mutiger Schachzug, der jedoch gescheitert war.

Plötzlich war Kahlan erleichtert, daß sie die anderen aufgefordert hatte, nach Ebinissia zu gehen. Kahlan hatte Jebra gesagt, sie solle sich um Cyrilla kümmern, und den übrigen Männern aufgetragen, wie geplant vorzugehen, um Ebinissia aus der Asche wiederauferstehen zu lassen. Ihre Schwester war zu Hause. Wenn Kahlan den Tod fand, hatte Galea noch immer eine Königin.

Hätte sie einige dieser tapferen jungen Männer mitgenommen, diese Mriswiths, die Alptraumgeschöpfe des Windes, hätten sie alle ausgeweidet, wie sie es mit Orsk gemacht hatten.

Der Kummer über Orsk versetzte ihr einen Stich, dann stieß eine Klaue sie in die Kutsche. Adie wurde gleich hinter ihr hineingeschoben. Kahlan bekam eine kurze Unterredung mit, dann kletterte Lunetta in die Kutsche und nahm gegenüber von Kahlan und Adie Platz. Ein Mriswith stieg ein, setzte sich neben Lunetta und musterte sie aus seinen kleinen, runden Augen. Kahlan raffte ihr Hemd zusammen und versuchte, sich das Blut aus den Augen zu wischen.

Sie hörte, wie draußen noch gesprochen wurde. Es ging darum, die Kufen an der Kutsche gegen Räder auszutauschen. Durchs Fenster sah sie, wie Ahern, hinter vorgehaltenem Schwert, auf den Fahrerbock hinaufkletterte. Der Mann im roten Cape folgte ihm nach oben, dann ein weiterer Mriswith.

Kahlan spürte, wie ihre Beine zitterten. Wo brachte man sie hin? Dabei war sie Richard so nahe. Sie biß die Zähne zusammen und unterdrückte ein Wimmern. Es war ungerecht. Sie fühlte, wie ihr eine Träne die Wange hinunterlief.

Adies Hand glitt auf ihr Bein, und an dem leichten Druck an ihrem Schenkel erkannte sie, daß diese Berührung als Trost gemeint war.

Der Mriswith beugte sich zu ihnen vor, während sein Schlitz von einem Mund sich zu einem bitteren Grinsen zu weiten schien. Er hielt das dreiklingige Messer in die Höhe und schwenkte es ein paarmal vor ihren Augen hin und her.

»Versssucht zu entkommen, und ich schlitzzzze euch die Sohlen eurer Füßßße auf.« Er hob herausfordernd seinen glatten Schädel. »Verstanden?«

Kahlan und Adie nickten.

»Sprecht«, fügte er hinzu, »und ich schlitzzze euch die Zungen auf.«

Sie nickten abermals.

Er wandte sich an Lunetta. »Versiegele ihre Kraft mit deiner Gabe über den Halsring. So wie ich es dir zeige.« Er legte Lunetta eine Kralle auf die Stirn. »Verstanden?«

Lunetta lächelte, sie hatte begriffen. »Ja. Verstehe.«

Kahlan hörte Adie stöhnen, gleichzeitig spürte sie, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Es war die Stelle, an der sie stets ihre Kraft fühlte. Bestürzt fragte sie sich, ob sie sie jemals wieder fühlen würde. Sie erinnerte sich an die hoffnungslose Leere, als der keltonische Zauberer seine Magie dazu benutzt hatte, ihr die Verbindung zu ihrer Kraft zu rauben. Sie wußte, was sie erwartete.

»Sie blutet«, meinte der Mriswith zu Lunetta. »Du mußt sie heilen. Hautbruder wird nicht erfreut sein, wenn sie verletzt ist.«

Sie hörte die Peitsche knallen und einen Pfiff von Ahern. Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Lunetta beugte sich vor und heilte ihre Wunde.

Gütige Seelen, wohin brachte man sie nur?

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