»Irgend etwas geht dort draußen vor«, flüsterte Adie. »Das sind sie bestimmt.« Sie fixierte Kahlan mit ihren weißen Augen. »Willst du das wirklich? Ich bin bereit, aber…«
»Wir haben keine andere Wahl«, meinte Kahlan und blickte kurz ins Feuer, um sich zu vergewissern, daß es noch richtig brannte. »Wir müssen entkommen. Wenn es uns nicht gelingt zu entkommen und wir getötet werden, nun, dann wird Richard wenigstens nicht herkommen und ihnen in die Falle gehen. Dann kann er mit Zedds Hilfe die Menschen in den Midlands beschützen.«
Adie nickte. »Versuchen wir’s also.« Sie seufzte. »Ich weiß, es ist wichtig, daß sie das tut, aber ich weiß nicht, warum.«
Adie hatte Kahlan erzählt, daß Lunetta etwas sehr Seltsames tat: Sie hüllte sich ständig in ihre Kraft. So etwas sei dermaßen außergewöhnlich, hatte Adie gemeint, daß dafür ein mit Magie ausgestatteter Talisman vonnöten war. In Lunettas Fall kam für diesen Talisman nur eins in Frage.
»Wie du gesagt hast, auch wenn du den Grund nicht kennst, sie würde es niemals tun, wenn es nicht wichtig wäre.«
Kahlan legte einen Finger an die Lippen, als sie den Fußboden auf dem Korridor knarren hörte. Adies grau-schwarzes, kinnlanges Haar wehte hin und her, während sie rasch die Kerze ausblies und hinter die Tür trat. Das Feuer gab noch immer Licht, doch das Flackern der Flammen ließ die Schatten tanzen und würde das allgemeine Durcheinander noch vergrößern.
Die Tür ging auf. Kahlan, die Adie gegenüber auf der anderen Seite der Tür stand, atmete tief durch und nahm ihren Mut zusammen. Sie hoffte, daß sie den Schild entfernt hatten, sonst würden sie völlig umsonst in große Schwierigkeiten geraten.
Zwei Gestalten traten ins Zimmer. Sie waren es.
»Was willst du hier, du schmieriger, kleiner Teufel!« brüllte Kahlan.
Brogan, gefolgt von Lunetta, fiel mit Beschimpfungen über Kahlan her. Sie spie ihm in die Augen.
Das Gesicht gerötet, versuchte er, sie zu packen. Kahlan riß ihren Stiefel zwischen seinen Beinen hoch. Lunetta langte nach ihm, als er einen Schrei ausstieß. Von hinten zog Adie der Magierin einen Scheit über den vierschrötigen Kopf.
Brogan warf sich auf Kahlan, rang mit ihr, boxte sie in die Rippen. Adie bekam Lunettas bunt zusammengeflicktes Kleid zu fassen, als diese stürzte. Das Ganze riß entzwei, als Adie, mit gewaltiger Anstrengung und von Verzweiflung getrieben, die fast besinnungslose Frau aus ihren Flickenkleidern rollte.
Benommen und schwerfällig schrie Lunetta auf, als Adie mit ihrer Beute herumwirbelte und das Ganze in die brüllenden Flammen warf.
Kahlan sah, wie die bunten Stoffflicken im Kamin Feuer fingen, als sie und Brogan zu Boden gingen. Sie wuchtete ihn über sich hinweg, als sie krachend auf dem Boden landete, rollte ab und kam auf die Füße. Als Brogan sich umdrehte, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen, trat sie ihm ins Gesicht.
Lunetta kreischte gequält. Kahlan ließ Brogan nicht aus den Augen, als dieser mit blutiger Nase aufsprang. Bevor er sie erneut angreifen konnte, erblickte er hinter Kahlan seine Schwester und erstarrte.
Kahlan warf rasch einen Blick nach hinten. Eine Frau grabschte mit den Händen wild im Feuer herum, versuchte erfolglos, die lichterloh brennenden Flicken bunten Stoffes zu retten.
Die Frau war Lunetta.
Es war eine attraktive, ältere Frau in einem weißen Unterkleid.
Kahlan bekam große Augen, als sie das sah. Was war aus Lunetta geworden?
Brogan brüllte, als hätte er den Verstand verloren. »Lunetta! Wie kannst du einen Betörungsbann vor anderen aussprechen! Wie kannst du es wagen, Magie zu benutzen, damit sie glauben, du seist schön! Hör sofort damit auf! Dein Makel ist die Häßlichkeit!«
»Lord General«, jammerte sie, »meine hübschen Sachen. Meine hübschen Sachen verbrennen. Bitte, mein Bruder, helft mir.«
»Du dreckige streganicha! Hör auf, sage ich!«
»Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Ohne meine hübschen Sachen kann ich das nicht.«
Mit einem wütenden Grunzen stieß Brogan Kahlan zur Seite und stürzte zum Feuer. Er riß Lunetta an den Haaren hoch und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Sie kippte nach hinten um und riß Adie mit zu Boden.
Er trat seine Schwester, als sie versuchte aufzustehen. »Ich habe genug von deinem Ungehorsam und deinem heidnischen Makel!«
Kahlan keuchte und versuchte, Luft zu kriegen. »Du dreckiges Schwein! Laß deine wunderschöne Schwester in Ruhe!«
»Sie ist verrückt! Die verrückte Lunetta!«
»Hör nicht auf ihn, Lunetta! Dein Name bedeutet ›Kleiner Mond‹. Hör nicht auf ihn.«
Kreischend vor Wut streckte Brogan die Hände nach Kahlan aus. Mit lautem Krachen erfüllte ein Blitz das Zimmer. Brogan verfehlte sie nur, weil er vor Wut die Beherrschung verloren hatte und wild um sich schlug. Putz und andere Trümmer flogen durch die Luft.
Kahlan war fast gelähmt vor Verblüffung. Tobias Brogan, der Lord General des Lebensborns aus dem Schoß der Kirche, jener Mann, der sich der Vernichtung der Magie verschrieben hatte, besaß die Gabe.
Mit einem erneuten Aufschrei schleuderte Brogan eine Faust voll Luft, die Kahlan mitten auf die Brust traf und sie krachend gegen die Wand schleuderte. Sie sank benommen und wie betäubt auf dem Boden in sich zusammen.
Lunettas Schreie wurden lauter, als sie sah, was Brogan getan hatte. »Nein, Tobias, Ihr dürft Euren Makel nicht benutzen!«
Er fiel über seine Schwester her, würgte sie, hämmerte ihren Kopf auf den Boden. »Du bist es, die das getan hat! Du hast den Makel benutzt! Du hast einen Betörungsbann benutzt. Du hast den Blitz erzeugt!«
»Nein, Tobias, Ihr wart es, der das getan hat. Ihr dürft von Eurer Gabe keinen Gebrauch machen. Mama hat mir gesagt, daß Ihr sie auf keinen Fall benutzen dürft.«
Er packte ihr weißes Unterkleid mit einer Faust und riß sie hoch. »Wovon redest du? Was hat Mama dir gesagt, du widerwärtige streganicha?«
Die attraktive Frau keuchte und schnappte nach Luft. »Daß Ihr derjenige seid, mein Bruder. Der zur Größe bestimmt ist. Sie sagte, ich muß verhindern, daß die Menschen auf mich aufmerksam werden — damit sie nur Euch beachten. Sie sagte, Ihr seid es, der wichtig ist. Aber sie meinte auch, Ihr dürftet Eure Gabe auf keinen Fall benutzen.«
»Du lügst! Mama hat nie dergleichen gesagt! Mama wußte nichts davon!«
»Doch, Tobias, das hat sie. Auch sie war ein wenig von der Gabe beeinflußt. Die Schwestern kamen, um Euch mitzunehmen. Wir haben Euch geliebt und wollten nicht, daß sie den kleinen Tobias abholen.«
»Ich bin nicht mit dem Makel behaftet.«
»Doch, es ist wahr, mein Bruder. Sie meinten, Ihr habet die Gabe, und wollten Euch zum Palast der Propheten bringen. Mama meinte zu mir, wenn sie ohne Euch zurückgingen, würden sie andere schicken. Wir haben sie getötet. Mama und ich. Daher stammt auch die Narbe an Eurem Mund — von dem Kampf mit ihnen. Sie meinte, wir müßten sie töten, damit sie keine anderen schicken. Sie meinte, ich müsse verhindern, daß Ihr je Gebrauch von Eurer Gabe macht, sonst würden sie Euch holen.«
Brogans Brust hob und senkte sich vor Zorn. »Alles Lügen! Du hast den Blitz erzeugt, und du benutzt wegen der anderen den Betörungsbann.«
»Nein«, weinte sie. »Sie haben meine hübschen Sachen verbrannt. Mama meinte, die Größe sei dein Schicksal, es könne aber auch alles verdorben werden. Sie brachte mir bei, wie ich die hübschen Sachen benutzen kann, um mein Äußeres zu verbergen und dich daran zu hindern, deine Gabe zu benutzen. Wir wollten, daß du ein großer Mann wirst.
Jetzt sind meine hübschen Sachen dahin. Ihr habt den Blitz erzeugt.«
Brogan starrte mit wildem Blick ins Leere, so als sähe er Dinge, die keiner der anderen sah. »Das ist nicht der Makel«, sagte er leise. »Das bin ich allein. Der Makel ist böse. Das ist nicht böse. Das bin ich allein.«
Brogans Augen fanden ein neues Ziel, als er sah, wie Kahlan sich bemühte aufzustehen. Im Zimmer blitzte es grell auf, als er einen weiteren Blitz durchs Zimmer schleuderte. Er scharrte unter der Decke über ihrem Kopf entlang, während sie zur Tür stürzte. Brogan sprang auf, um sich auf sie zu werfen.
»Tobias! Halt! Ihr dürft Eure Gabe nicht benutzen!«
Tobias Brogan starrte sie mit einer unheimlichen Ruhe an. »Das ist ein Zeichen. Die Zeit ist gekommen. Ich habe es immer gewußt.« Blaue Lichtblitze zuckten zwischen seinen Fingerspitzen, als er eine Hand vor sein Gesicht hielt. »Das ist nicht der Makel, Lunetta, sondern göttliche Kraft. Der Makel wäre häßlich. Dies ist wunderschön.
Der Schöpfer hat sein Recht verwirkt, mir zu befehlen. Der Schöpfer ist ein Verderbter. Nun habe ich die Macht. Die Zeit, sie zu gebrauchen, ist gekommen. Jetzt muß ich über die Menschheit zu Gericht sitzen.« Er drehte sich zu Kahlan um. »Jetzt bin ich der Schöpfer.«
Lunetta hob flehend einen Arm. »Tobias, bitte —«
Er wirbelte zu ihr zurück. Tödliche Schlangen aus Licht wanden sich um seine Hände. »Was ich habe, ist voller Schönheit. Ich will nichts mehr hören von deinem Schmutz und deinen Lügen. Du und Mama, ihr seid Verderbte.« Er zog sein Schwert, dessen Klinge vom Licht umwunden wurde, und schwenkte es in der Luft.
Sie runzelte vor Konzentration die Stirn »Ihr dürft Eure Gabe nicht benutzen, Tobias. Auf keinen Fall.« Das flackernde Licht an seinen Händen erlosch.
»Was mein ist, werde ich auch benutzen!« Das Licht an seinen Fingern leuchtete erneut auf und tanzte an der Klinge entlang. »Ich bin jetzt der Schöpfer. Ich habe die Macht, und ich sage, du mußt sterben!«
In seinen Augen leuchtete der Wahnsinn, als er wie versteinert auf das Licht starrte, das an seinen Fingerspitzen knisterte.
»Dann«, flüsterte Lunetta, »seid Ihr der wahre Verderbte, und ich muß Euch vernichten, wie Ihr es mir beigebracht habt.«
Eine glühende Linie hellroten Lichts flackerte in Lunettas Hand auf und durchbohrte Tobias Brogans Herz.
In der rauchgeschwängerten Stille tat er einen letzten Atemzug und brach zusammen.
Da sie nicht wußte, wie Lunetta reagieren würde, bewegte Kahlan sich nicht und verhielt sich so mucksmäuschenstill wie ein Kitz im Gras. Adie streckte sachte eine Hand aus und redete mit tröstlichen Worten in ihrer Muttersprache auf sie ein.
Lunetta schien sie nicht zu hören. Ausdruckslos kroch sie zur Leiche ihres Bruders und nahm seinen Kopf in den Schoß. Kahlan glaubte, sich übergeben zu müssen.
Plötzlich trat Galtero ins Zimmer.
Er packte Lunetta an den Haaren und riß ihren Kopf nach hinten. Kahlan inmitten der Trümmer an der Wand hinter ihm bemerkte er nicht.
»Streganicha«, stieß er wüst hervor.
Lunetta machte keinerlei Anstalten, Widerstand zu leisen. Offenbar war sie völlig weggetreten. Ganz in der Nähe lag Brogans Schwert. Kahlan stürzte sich darauf. Verzweifelt packte sie die Waffe und hob sie auf. Sie war nicht schnell genug.
Galtero schlitzte Lunetta mit dem Messer die Kehle auf. Noch bevor Lunetta auf dem Boden lag, durchbohrte ihn Kahlan mit dem Schwert.
Als er wankte, riß sie das Schwert heraus. »Adie, bist du verletzt?«
»Äußerlich nicht, mein Kind.«
Kahlan packte Adies Hand, und als sie nach einer sorgfältigen Untersuchung zu der Gewißheit gelangt war, daß Lunetta den Schild tatsächlich entfernt hatte, bevor sie das Zimmer betreten hatten, traten die beiden nach draußen auf den Korridor.
Auf jeder Seite lag die Leiche einer Schwester: ihrer beiden Wachen. Lunetta hatte die zwei umgebracht.
Kahlan hörte Stiefel, die die Treppe heraufgepoltert kamen. Adie und sie sprangen über das blutige Chaos am anderen Ende des Korridors hinweg und rannten den Dienstbotenaufgang hinunter durch den Hintereingang nach draußen. Sie sahen sich im Dunkeln um, sahen niemand, hörten aber in der Ferne einen Tumult — das Klirren von Stahl. Zusammen, Hand in Hand, rannten sie um ihr Leben.
Kahlan spürte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
Mit gesenktem Kopf, damit die Schwester sie nicht erkannte, durchquerte Ann den schwachbeleuchteten Gewölbekeller. Zedd folgte ihr auf dem Fuße. Die Frau hinter dem Tisch erhob sich mit einem mißtrauischen Stirnrunzeln und trat ihr entschlossen entgegen.
»Wer ist da?« fuhr Schwester Becky sie schroff an. »Hier unten darf niemand mehr hinein. Alle sind dahingehend unterrichtet worden.«
Ann spürte, wie Schwester Becky ihr mit ihrem Han einen Stoß versetzte und sie zum Stehen brachte, als sie auf sie zugelaufen kam. Als Ann den Kopf hob, riß die andere Schwester die Augen auf.
Ann durchbohrte sie mit dem Dacra, und ihre Augen schienen von innen her aufzublitzen, bevor die Frau zusammenbrach.
Zedd sprang zur Seite. »Du hast sie getötet! Du hast gerade eine schwangere Frau getötet!«
»Du warst es«, erwiderte Ann leise, »der das Todesurteil über sie gesprochen hat. Ich bete darum, daß du die Hinrichtung einer Schwester der Finsternis und nicht einer Schwester des Lichts angeordnet hast.«
Zedd riß sie am Arm herum. »Hast du den Verstand verloren, Frau?«
»Ich habe den Schwestern des Lichts befohlen, den Palast zu verlassen. Ich habe ihnen erklärt, daß sie fliehen müssen. Zahllose Male habe ich dich gebeten, mich das Reisebuch benutzen zu lassen. Ich brauchte eine Bestätigung, daß sie getan haben, wie ihnen befohlen worden war. Du hast dich geweigert, mir die Benutzung des Reisebuches zu erlauben, daher muß ich annehmen, daß meine Anweisungen befolgt worden sind.«
»Das ist keine Entschuldigung dafür, sie umzubringen! Du hättest sie einfach außer Gefecht setzen können!«
»Wenn meine Befehle befolgt worden sind, dann ist sie eine Schwester der Finsternis. In einem fairen Kampf gegen eine von ihnen habe ich keine Chance. Du auch nicht. Das Risiko durften wir nicht eingehen.«
»Und wenn sie nicht eine der Schwestern des Hüters ist?«
»Ich konnte nicht das Leben aller anderen dem Zufall überlassen.«
In Zedds Augen blitzte kalte Wut. »Du bist verrückt.«
Ann zog eine Braue hoch. »Ach, ja? Du würdest also das Leben Hunderttausender wegen eines einzigen Menschen aufs Spiel setzen, von dem du einigermaßen sicher bist, daß er dein Feind ist und zudem entschlossen, dich aufzuhalten? Sind das die Entscheidungen, durch die du zum Zauberer Erster Ordnung aufgestiegen bist?«
Er ließ ihren Arm los. »Also schön, da ist etwas dran. Was willst du?«
»Sieh erst im Gewölbekeller nach und überzeuge dich, daß dort nicht noch andere sind.«
Die beiden stahlen sich an jeweils einer Wand entlang. Ann blickte immer wieder zwischen die Reihen mit Bücherregalen hindurch, um zu beobachten, ob der alte Zauberer das tat, was sie ihm gesagt hatte. Sollte er zu fliehen versuchen, konnte sie ihn mittels des Rada’Han zurückholen, und das wußte er.
Sie mochte Richards Großvater, doch die Notlage machte es erforderlich, daß sie seinen Haß anstachelte. Sie mußte einen Wutanfall bei ihm provozieren, damit er bereitwillig die Chance ergriff, die sie ihm bot.
Sie erreichten den hinteren Bereich des düsteren Gewölbekellers und waren niemandem sonst begegnet. Ann küßte ihren nackten Ringfinger und dankte dem Schöpfer. Sie verdrängte die Gefühle nach ihrem Mord an Schwester Becky und sagte sich, daß diese nicht die Gewölbekeller bewacht hätte, wäre sie nicht dem Hüter verschworen und eine Schachfigur des Kaisers. Sie versuchte, nicht an das unschuldige Ungeborene zu denken, das sie mit der Schwester getötet hatte.
»Und jetzt?« fauchte Zedd sie an, als sie sich hinten in der Nähe einer der kleinen, geheimen Kammern trafen.
»Nathan wird seinen Teil tun. Ich habe dich hierhergebracht, damit du deinen Teil tust, die andere Hälfte dessen, was notwendig ist. Der Palast steht unter einem Bann, der vor dreitausend Jahren eingerichtet wurde. Es ist mir gelungen herauszufinden, daß es sich dabei um ein sich gabelndes Netz handelt.«
Zedds Brauen schossen in die Höhe. Seine Neugier war stärker als seine Empörung. »Das ist eine gewagte Behauptung. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der in der Lage gewesen wäre, ein sich gabelndes Netz zu spinnen. Bist du sicher?«
»Heutzutage kann niemand mehr ein solches Netz spinnen, doch die Zauberer von damals hatten noch die Kraft dazu.«
Zedd fuhr sich mit dem Daumen über das glatte Kinn und starrte Löcher in die Luft. »Ja, ich kann mir vorstellen, daß sie die Kraft dazu hatten.« Sein Blick kehrte zu ihren Augen zurück. »Zu welchem Zweck?«
»Der Bann verändert den Ort, an dem der Palast steht. Der äußere Schild, wo wir Nathan zurückgelassen haben, ist die Hülle, die alles umschließt. Sie erzeugt jene Umgebung, in der die eine Hälfte in dieser Welt bestehen kann. Der Bann hier, auf der Insel, steht mit anderen Welten in Verbindung. Unter anderem verändert er die Zeit. Deswegen altern wir langsamer als die Menschen, die außerhalb des Banns leben.«
Der alte Zauberer dachte nach. »Ja, das wäre eine Erklärung.«
Ann löste den Blick von seinen Augen. »Nathan und ich, wir sind beide fast eintausend Jahre alt. Ich war fast acht Jahrhunderte lang Prälatin der Schwestern des Lichts.«
Zedd strich sich das Gewand an seinen knochigen Hüften glatt. »Ich habe gehört, daß der Bann die Lebensdauer verlängert, um euch die Zeit zu geben, euer widerliches Werk zu tun.«
»Zedd, als die Zauberer damals dazu übergingen, eifersüchtig über ihre Kraft zu wachen und sich zu weigern, junge Burschen mit der Gabe auszubilden, weil sie dadurch verhindern wollten, daß jemand ihre Vormachtstellung bedroht, wurde der Orden der Schwestern des Lichts gegründet. Sie sollten diesen jungen Burschen helfen, weil sie sonst gestorben wären. Nicht jedem gefällt diese Vorstellung, aber so ist es nun einmal.
Ist kein Zauberer da, der ihnen hilft, fällt diese Aufgabe uns zu. Wir haben nicht das gleiche Han wie Männer, deswegen dauert es sehr lange, die Aufgabe auszuführen. Der Halsring hält sie am Leben. Er verhindert, daß die Gabe ihnen Schaden zufügt, sie in den Wahnsinn treibt, bevor wir ihnen beibringen können, was sie wissen müssen.
Der Bann rings um den Palast gibt uns die nötige Zeit dazu. Er wurde für uns vor dreitausend Jahren errichtet, als uns ein paar Zauberer bei unserer Sache halfen. Sie hatten die Kraft, ein sich gabelndes Netz auszuwerfen.«
Zedds Neugier war geweckt. »Ja. Ja, ich verstehe, was du meinst. Durch eine Gabelung würde die Kraft umgekehrt werden, in etwa so, wie man ein Stück Darm verdreht. Und dadurch würde ein Bereich geschaffen, in dessen Zentrum außergewöhnliche Dinge möglich wären. Die Zauberer aus alter Zeit waren zu Dingen fähig, von denen ich nur träumen kann.«
Ann war stets auf der Hut und versicherte sich ständig, daß sie alleine waren. »Durch eine Gabelung wird ein Netz in sich verdreht, so daß ein äußerer und ein innerer Bereich entstehen. Es gibt zwei Knotenpunkte, wie bei dem verdrehten Darm, von dem du sprachst, dort, wo die eigentliche Verdrehung stattfinden müßte: einer am äußeren Schild und der andere am inneren.«
Zedd sah sie aus einem Auge an. »Der Knotenpunkt in der inneren Hälfte aber, wo das eigentliche Ereignis stattfindet, ist anfällig für einen Durchbruch. Obschon aus der Notwendigkeit heraus entstanden, ist das eine gefährliche Schwachstelle. Weißt du, wo der innere Knotenpunkt liegt?«
»Wir stehen mitten drin.«
Zedd richtete sich auf. Er sah sich um. »Ja, ich sehe, welche Überlegungen hier eingeflossen sind — man hat ihn in den Mutterfels gelegt, unter alles andere, wo er am besten geschützt ist.«
»Das ist auch der Grund, weshalb wir auf der gesamten Insel Drahle grundsätzlich Zaubererfeuer verbieten, wegen der entfernten Möglichkeit, daß es Verwüstungen anrichten könnte.«
Zedd winkte gedankenverloren ab. »Nein, nein. Zaubererfeuer könnte einem solchen Knotenpunkt nichts anhaben.« Er drehte sich mit einem mißtrauischen Blick zu ihr um. »Was tun wir eigentlich hier?«
»Ich habe dich hierhergebracht, um dir Gelegenheit zu geben, was du tun willst — den Bann zu zerstören.«
Er sah sie erstaunt an. Schließlich sprach er. »Nein. Das wäre nicht richtig.«
»Zauberer Zorander, das ist ein höchst ungeeigneter Augenblick für moralische Bedenken.«
Er verschränkte die dürren Arme. »Dieser Bann wurde von Zauberern eingerichtet, die größer sind, als ich je sein werde, größer, als ich es mir überhaupt vorstellen kann. Es ist ein Wunder, ein Werk vollkommenen Könnens. Ein solches Werk werde ich nicht zerstören.«
»Ich habe das Abkommen gebrochen!«
Zedd hob sein Kinn. »Der Bruch des Abkommens verurteilt jede Schwester, die die Neue Welt betritt, zum Tode. Wir sind nicht in der Neuen Welt. Ein Bruch des Abkommens besagt nicht, daß ich in die Alte Welt gehen und Schaden anrichten soll. Nach den Regeln des Abkommens habe ich dazu kein Recht.«
Sie beugte sich mit finsterer Miene näher. »Du hast mir versprochen, wenn ich dich mit dem Halsring fortschaffe und deine Freunde in Gefahr bringe, würdest du in meine Heimat kommen und den Palast der Propheten verwüsten. Jetzt gebe ich dir Gelegenheit dazu.«
»Das war ein spontaner, leidenschaftlicher Ausbruch. Inzwischen ist wieder Vernunft in meinen Kopf eingekehrt.« Er fixierte sie mit finster tadelndem Blick. »Du hast mich mit krummen Tricks und hinterhältigen Täuschungsmanövern davon überzeugen wollen, daß du eine gemeine, verabscheuungswürdige, unmoralische Missetäterin bist, aber es ist dir nicht gelungen, mich zu täuschen. Du bist kein übler Kerl.«
»Ich habe dich in Fesseln gelegt. Ich habe dich gewaltsam entführt!«
»Ich werde dein Zuhause und dein Leben nicht zerstören. Wenn ich es täte und den Bann zerstörte, würde das den Alltag der Schwestern des Lichts verändern und im Grunde ihr Leben vorzeitig beenden. Die Schwestern und ihre Schutzbefohlenen leben nach einem Zeitmaßstab, der mir seltsam erscheinen mag, für sie jedoch ist er normal.
Die Lebensdauer hängt von der Wahrnehmung ab. Wenn eine Maus mit einer Lebensdauer von nur wenigen Jahren die Magie besäße, mein Leben ebenso kurz zu machen wie ihres, käme dies in meiner Wahrnehmung meiner Ermordung gleich, auch wenn die Maus den Eindruck hätte, sie ließe mir nicht weniger als die sonst übliche Lebensdauer. Das war es, was Nathan meinte, als er sagte, du würdest ihn umbringen.
Es würde bedeuten, das Leben der Schwestern auf dieselbe Dauer wie das der anderen Menschen zu verkürzen. In Anbetracht ihrer Erwartungen und des Eides, den sie geleistet haben, wäre dies das gleiche, als würde man sie töten, bevor sie Gelegenheit hatten zu leben. Ich werde es nicht tun.«
»Wenn ich muß, Zauberer Zorander, werde ich den Halsring benutzen, um dir Schmerzen zuzufügen, bis du einwilligst.«
Er grinste geziert. »Du hast keine Vorstellung von den Schmerzensprüfungen, die ich bestanden habe, um Zauberer Erster Ordnung zu werden. Bitte, versuch dich nur an mir.«
Ann preßte verzweifelt die Lippen zusammen. »Aber du mußt! Ich habe dir einen Ring um den Hals gelegt! Ich habe schreckliche Dinge getan, nur um dich so wütend zu machen, daß du es tust! In der Prophezeiung heißt es, der Zorn eines Zauberers sei nötig, um unser Zuhause zu zerstören!«
»Du behandelst mich wie einen Tanzfrosch.« Er brachte sein Gesicht dichter an ihres heran. »Ich tanze nur, wenn ich die Melodie kenne.«
Ann sackte verzweifelt in sich zusammen. »Die Wahrheit ist, daß Kaiser Jagang den Palast der Propheten für seine eigenen Zwecke übernehmen will. Er ist ein Traumwandler und hat die Macht über die Gedanken der Schwestern der Finsternis. Er will die Prophezeiungen dazu benutzen, die Gabelungen zu finden, die er braucht, um den Krieg zu gewinnen. Dann wird er Hunderte von Jahren unter dem Schutz des Banns leben und die Welt und alle darin beherrschen, als wären sie sein Eigentum.«
Zedd musterte sie mit finsterer Miene. »Also, das bringt mein Blut zum Kochen. Das ist nun wirklich ein Grund, für den es sich lohnt, den Palast zu zerstören. Verdammt, Frau, warum hast du mir nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt?«
»Nathan und ich haben Hunderte von Jahren an dieser Gabelung in den Prophezeiungen gearbeitet. Die Prophezeiung besagt, daß ein Zauberer den Palast in einem Wutanfall dem Erdboden gleichmachen wird. Ein Scheitern wäre eine zu düstere Aussicht. Daher tat ich das, was meiner Vermutung nach funktionieren würde. Ich versuchte, dich so wütend zu machen, daß du den Palast der Propheten zerstörst.« Ann rieb sich die müden Augen. »Es war eine Verzweiflungstat, die aus einer verzweifelten Notlage heraus erfolgte.«
Zedd grinste. »Eine Verzweiflungstat. Das gefällt mir. Ich mag Frauen, die das gelegentliche Bedürfnis nach einer Verzweiflungstat zu würdigen wissen. Das beweist Charakter.«
Ann riß an seinem Ärmel. »Dann wirst du es also tun? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Trommeln haben aufgehört. Jagang kann jeden Augenblick hier sein.«
»Ich werde es tun. Wir sollten aber besser zurück in die Nähe des Eingangs gehen.«
Als sie wieder in der Nähe der riesigen runden Tür zu den Gewölbekellern waren, griff Zedd in eine Tasche und zog etwas hervor, das wie ein Stein aussah. Er warf ihn auf den Boden.
»Was ist das?«
Zedd sah über seine Schulter. »Nun, ich vermute, du hast Nathan gesagt, er soll ein Lichtnetz auswerfen.«
»Ja. Außer Nathan, einigen Schwestern und mir selbst weiß niemand, wie man ein Lichtnetz spinnt. Ich glaube, Nathan verfügt über genügend Kraft, den äußeren Knotenpunkt zu durchbrechen, sobald der innere angegriffen wurde, aber ich weiß, daß keiner von uns die Kraft hat, die hier erforderlich ist. Deswegen mußte ich dich an diesen Ort bringen. Ich fürchte, nur ein Zauberer der Ersten Ordnung besitzt die Kraft, die dazu nötig ist.«
»Tja, ich werde mein Bestes geben«, brummte Zedd, »aber ich muß dir sagen, Ann, so anfällig ein Knotenpunkt sein mag, es handelt sich immer noch um einen Bann, den Zauberer eingerichtet haben, deren unermeßliche Kraft ich nur ahnen kann.«
Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger, und der Stein vor ihm auf dem Boden wuchs knackend und knisternd zu einem breiten, flachen Fels heran. Auf diesen stieg er.
»Verschwinde. Geh und warte draußen. Sieh nach, ob Holly in Sicherheit ist, während ich hier beschäftigt bin. Wenn irgend etwas schiefgeht und ich die Lichtkaskade nicht kontrollieren kann, hast du keine Zeit mehr, von hier zu verschwinden.«
»Eine Verzweiflungstat, Zedd?«
Er antwortete mit einem Brummen, drehte sich wieder zum Raum um und hob seine Arme. Schon stiegen funkelnde Farben aus dem Fels empor und hüllten ihn in kreisende Balken summenden Lichts.
Ann hatte von Zaubererfelsen gehört, nie jedoch einen gesehen und wußte nicht, wie sie funktionierten. Sie konnte die Kraft spüren, die von dem alten Zauberer auszuströmen begann, nachdem er auf das Ding geklettert war.
Eilig verließ sie den Gewölbekeller, wie er es gewünscht hatte. Sie wußte nicht genau, ob sie den Raum zu ihrer eigenen Sicherheit verlassen sollte oder nur, damit sie nicht sah, wie er so etwas machte. Zauberer neigten gelegentlich dazu, ihre Geheimnisse zu hüten.
Holly schlang Ann ihre dünnen Arme um den Hals, als sich diese vor der dunklen Nische hinhockte.
»Ist jemand vorbeigekommen?«
»Nein, Ann«, flüsterte Holly
»Gut. Mach mir ein bißchen Platz, und dann warten wir, bis Zauberer Zorander mit seiner Arbeit fertig wird.«
»Er brüllt ziemlich viel und sagt viele schlimme Wörter, und er fuchtelt mit den Armen herum, als wollte er ein Unwetter heraufbeschwören, aber ich glaube, er ist nett.«
»Ich glaube, dich stechen immer noch die Schneeflöhe.« Ann mußte in der Dunkelheit des winzigen Verstecks im Fels schmunzeln. »Aber wahrscheinlich hast du sogar recht.«
»Meine Großmutter wurde manchmal böse, zum Beispiel, wenn Leute uns etwas antun wollten. Aber dann sah man sofort, daß es ihr wirklich ernst war. Zauberer Zorander hat es nicht wirklich ernst gemeint. Er tut nur so.«
»Du bist scharfsinniger, als ich es war, Kind. Du wirst eine prächtige Schwester des Lichts abgeben.«
Ann drückte Hollys Kopf an ihre Schulter, während sie in der Stille warteten. Hoffentlich beeilte sich der Zauberer. Wenn man sie in den Gewölbekellern erwischte, gab es kein Entrinnen, und ein Kampf mit den Schwestern der Finsternis würde trotz seiner Kraft sehr gefährlich werden.
Die Zeit zog sich quälend zäh dahin. An ihrem langsamen, gleichmäßigen Atem merkte Ann, daß Holly an ihrer Schulter eingeschlafen war. Das arme Ding hatte lange Zeit nicht genug Schlaf bekommen — wie keiner von ihnen, während sie sich tagsüber und auch den größten Teil der Nacht abgehetzt hatten, um rechtzeitig Tanimura zu erreichen und vor Jagang im Palast zu sein. Sie waren alle erschöpft.
Ann schreckte hoch, als jemand an der Schulter ihres Kleides zupfte. »Verschwinden wir von hier«, flüsterte Zedd.
Holly hinter sich herziehend, zwängte sie sich wieder aus ihrem Versteck hervor. »Hat es geklappt?«
Zedd, der mehr als gereizt wirkte, warf einen Blick nach hinten durch die riesige runde Tür, die in die Gewölbekeller führte.
»Ich bekomme das verdammte Ding nicht in Gang. Es ist, als wollte man unter Wasser ein Feuer anzünden.«
Sie packte sein Gewand mit einer Faust. »Zedd, wir müssen es tun.«
Er blickte sie beunruhigt an. »Ich weiß. Aber die, die dieses Netz gesponnen haben, hatten Subtraktive Magie. Ich habe nur Additive. Ich habe alles versucht, was ich kann. Das Netz rings um diesen Palast ist so fest, daß es mir nicht gelingt, eine Bresche hineinzuschlagen. Es ist unmöglich. Tut mir leid.«
»Ich habe ein Lichtnetz im Palast gewoben. Es ist möglich.«
»Ich habe nicht gesagt, ich hätte keines gewebt, ich kann es nicht entzünden. Jedenfalls nicht hier unten am Knotenpunkt.«
»Du hast versucht, es zu entzünden? Bist du verrückt?«
Er zuckte mit den Achseln. »Eine Verzweiflungstat, erinnerst du dich? Ich hatte den Verdacht, daß es nicht funktionieren würde, also mußte ich es ausprobieren. Das war auch gut so, sonst hätten wir geglaubt, es werde funktionieren. Das ist nicht der Fall. Es läßt sich nur mit einem Leben entzünden. Es will sich nicht entfalten und den Bann zerstören.«
Ann sackte in sich zusammen. »Zumindest wird es jeden töten, der diesen Raum betritt — was hoffentlich Jagang sein wird. Wenigstens solange, bis sie es entdecken. Dann werden sie den Schild seiner Energie berauben und die Gewölbe zur freien Verfügung haben.«
»Das werden sie teuer bezahlen müssen. Ich habe ein paar von meinen ›Tricks‹ dort zurückgelassen. Der Palast ist eine Todesfalle.«
»Können wir sonst nichts tun?«
»Es ist groß genug, um den gesamten Palast niederzureißen, aber ich kann es nicht auslösen. Wenn die Schwestern der Finsternis tatsächlich, wie du sagst, mit Subtraktiver Magie umgehen können, könnten wir doch eine von ihnen bitten, das Netz für uns zu entzünden.«
Ann nickte. »Mehr können wir also offenbar nicht tun. Müssen wir also darauf hoffen, daß die Dinge, die du dort zurückgelassen hast, sie töten. Vielleicht genügt das, auch wenn wir den Palast nicht zerstören können.« Sie ergriff Hollys Hand. »Wir sollten von hier verschwinden. Nathan wartet bestimmt schon. Wenn wir vor Jagangs Eintreffen nicht geflohen sind, entdecken die Schwestern uns.«