»Das ist der letzte von ihnen, wie ich es versprochen habe.«
Verna starrte in die Augen der Frau, die sie seit einhundertfünfzig Jahren kannte. Doch nicht gut genug. Sie war tief betrübt. Es gab viele, die sie nicht gut genug kannte.
»Was will Jagang im Palast der Propheten?«
»Von seiner Fähigkeit als Traumwandler abgesehen, besitzt er keine andere Macht als die eines gewöhnlichen Menschen.« Leomas Stimme bebte, trotzdem fuhr sie fort. »Er benutzt andere, besonders die mit der Gabe, um seine Ziele zu erreichen. Er wird unser Wissen benutzen, damit die Äste jener Prophezeiungen sichtbar werden, die ihm den Sieg bringen. Dann wird er dafür sorgen, daß die richtigen Maßnahmen getroffen werden, damit die Welt sich entlang dieser Äste bewegt.
Zudem ist er sehr geduldig. Fünfzehn Jahre hat er gebraucht, um die Alte Welt zu erobern, die ganze Zeit über seine Fähigkeiten perfektioniert, die Gedanken anderer erforscht und alles Wissen zusammengetragen, das er benötigt.
Er will nicht nur die Prophezeiungen in den Gewölbekellern benutzen, sondern er hat auch die Absicht, den Palast der Propheten zu seinem Zuhause zu machen. Er weiß um den Bann. Er hat Soldaten hier zur Probe stationiert, um sich zu vergewissern, ob er auch bei jenen ohne die Gabe funktioniert und keine schädlichen Auswirkungen hat. Jagang wird hier leben und von diesem Palast aus mit der Hilfe der Prophezeiungen die Eroberung der restlichen Welt lenken.
Sind erst einmal alle Länder in seiner Hand, wird er Hunderte und Aberhunderte von Jahren die Herrschaft über die Welt innehaben und die Früchte seiner Tyrannei genießen. In seiner Phantasie wurde etwas gleichermaßen Großes nie erträumt geschweige denn erreicht. Kein Herrscher wird je der Unsterblichkeit so nahe kommen.«
»Was kannst du mir sonst noch verraten?«
Leoma rang die Hände. »Nichts. Ich habe Euch alles erzählt. Laßt Ihr mich gehen, Verna?«
»Küsse deinen Ringfinger, und bitte den Schöpfer um Vergebung.«
»Was?«
»Sag dich vom Hüter los. Das ist deine einzige Hoffnung, Leoma.«
Leoma schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Verna. Das tue ich nicht.«
Verna hatte keine Zeit zu verlieren. Ohne ein weiteres Wort und ohne Diskussion ergriff sie ihr Han. Licht schien aus dem Inneren von Leomas Augen zu dringen, als sie tot zu Boden stürzte.
Verna schlich lautlos ans Ende des menschenleeren Korridors, zu Schwester Simonas Zelle. Erfreut darüber, daß sie wieder nach Belieben über ihr Han verfügen konnte, brachte sie den Schild zu Fall. Sie klopfte behutsam, um sie nicht zu erschrecken. Als sie hörte, wie Simona in die entlegene Ecke krabbelte, öffnete sie die Tür.
»Simona, ich bin es, Verna. Hab keine Angst, Liebes.«
Simona stieß einen gräßlichen Schrei aus. »Er kommt! Er kommt!«
Verna entzündete eine sanfte Glut aus Han in ihrer Hand. »Ich weiß. Du bist nicht verrückt, Schwester Simona. Er kommt wirklich.«
»Wir müssen fliehen! Wir müssen fort!« jammerte sie. »Oh, bitte, wir müssen fort von hier, bevor er hierher kommt. Er erscheint mir in meinen Träumen und verdirbt mich. Ich habe solche Angst.« Sie warf sich nieder und küßte ihren Ringfinger.
Verna nahm die zitternde Frau in die Arme. »Simona, hör mir gut zu. Ich weiß einen Weg, dich vor dem Traumwandler zu retten. Ich kann dich in Sicherheit bringen. Wir können fliehen.«
Die Frau beruhigte sich und blickte Verna staunend an. »Ihr glaubt mir?«
»Ja. Ich weiß, daß du die Wahrheit sprichst. Aber du mußt mir auch glauben: Ich kenne eine Magie, die dich vor dem Traumwandler beschützen wird.«
Simona wischte sich die Tränen von der verschmierten Wange. »Ist das wirklich möglich? Wie ist das zu schaffen?«
»Erinnerst du dich an Richard? Den jungen Mann, den ich mitgebracht habe?«
Simona nickte lächelnd und schmiegte sich in Vernas Arme. »Wer könnte Richard je vergessen? Ärgernis und Wunder in einer Person.«
»Jetzt paß auf. Richard besitzt außer der Gabe eine Magie, die ihm von seinen Vorfahren, die gegen die ersten Traumwandler gekämpft haben, vererbt wurde. Es handelt sich um eine Magie, die auch ihn selbst vor den Traumwandlern schützt. Sie beschützt auch jeden anderen, der ihm die Treue schwört und ihm in jeder Hinsicht ergeben ist. Aus diesem Grund wurde der Bann ursprünglich auch ausgesprochen — um die Traumwandler zu bekämpfen.«
Simona riß die Augen auf. »Das kann nicht sein — daß bloße Ergebenheit Magie überträgt.«
»Leoma hat mich in eine Zelle am Ende des Korridors sperren lassen. Sie hat mir einen Ring um den Hals gelegt und die Schmerzensprüfung dazu benutzt, meinen Willen zu brechen und mich von Richard abzubringen. Sie erklärte mir, der Traumwandler habe mich — wie dich — in meinen Träumen heimsuchen wollen, doch meine Treue zu Richard habe ihn daran gehindert. Es funktioniert, Simona. Ich weiß nicht wie, aber es funktioniert. Ich bin vor dem Traumwandler geschützt. Und du kannst diesen Schutz ebenfalls erhalten.«
Schwester Simona strich sich ihre grauen Locken aus dem Gesicht. »Ich bin nicht verrückt, Verna. Ich will diesen Ring um meinen Hals loswerden. Ich will dem Traumwandler entkommen. Wir müssen fliehen. Was soll ich tun?«
Verna packte die zierliche Frau fester. »Willst du uns helfen? Willst du auch den übrigen Schwestern des Lichts bei der Flucht helfen?«
Simona berührte den Ringfinger mit ihren aufgeplatzten Lippen. »Bei meinem Eid auf den Schöpfer.«
»Dann schwöre auch einen Eid auf Richard. Du mußt mit ihm über die Bande verbunden sein.«
Simona löste sich und kniete nieder, mit der Stirn den Boden berührend. »Ich schwöre, Richard treu zu sein. Bei meiner Hoffnung, in der nächsten Welt bei meinem Schöpfer Zuflucht zu finden, gelobe ich ihm mein Leben.«
Verna drängte Simona, sich aufzurichten. Sie legte die Hände seitlich an ihren Rada’Han, ließ ihre Hand hineinfließen, wurde eins mit ihm. Die Zelle begann, unter ihrer Anstrengung zu summen. Der Halsring brach und löste sich.
Simona stieß einen Freudenschrei aus und drückte Verna an sich. Verna nahm sie fest in die Arme. Sie wußte, welche Freude es war, den Rada’Han vom Hals genommen zu bekommen.
»Wir müssen aufbrechen, Simona. Wir haben viel Arbeit vor uns und nur wenig Zeit. Ich brauche deine Hilfe.«
Simona wischte sich die Tränen fort. »Ich bin bereit. Danke, Prälatin.«
An der Tür, dessen Riegel durch ein feingesponnenes Netz gehalten wurde, vereinten Verna und Simona ihr Han.
Das Netz war von drei Schwestern errichtet worden, und obwohl Verna genügend Kraft besaß, wäre es immer noch ein hartes Stück Arbeit gewesen, es aufzulösen. Dank Simonas zusätzlicher Hilfe glitt das Netz mühelos ab.
Die beiden Posten draußen vor der Tür machten ein überraschtes Gesicht, als sie die verdreckten Gefangenen erblickten. Sie senkten die Lanzen.
Verna erkannte einen der Posten wieder. »Walsh, du kennst mich. Jetzt nimm die Lanze hoch.«
»Ich weiß, daß man Euch als Schwester der Finsternis überführt hat.«
»Aber das wirst du doch nicht glauben, oder?«
Die Spitze kam ihrem Gesicht bedrohlich nahe. »Wie kommt Ihr darauf?«
»Wenn es wahr wäre, hätte ich dich einfach getötet, um zu fliehen.«
Er schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Sprecht weiter.«
»Wir befinden uns im Krieg. Der Kaiser möchte die Welt in seine Gewalt bringen. Dazu benutzt er die wahren Schwestern der Finsternis, Leoma zum Beispiel, und die neue Prälatin, Ulicia. Du kennst sie, und du kennst mich. Wem glaubst du?«
»Nun … ich bin nicht sicher.«
»Dann laß es mich so ausdrücken, daß es klar wird. Erinnerst du dich an Richard?«
»Natürlich. Er ist ein Freund.«
»Richard befindet sich im Krieg mit der Imperialen Ordnung. Es ist an der Zeit, und du mußt dich für eine Seite entscheiden und dafür, wem du treu sein willst, hier und jetzt. Richard oder der Imperialen Ordnung.«
Er rang mit sich selbst, die Lippen aufeinandergepreßt. Schließlich senkte sich das untere Ende seiner Lanze mit einem dumpfen Schlag zu Boden. »Richard.«
Die Blicke des anderen Postens wanderten zwischen Walsh und Verna hin und her. Plötzlich stieß er seine Lanze nach vorn und schrie: »Die Imperiale Ordnung!«
Verna hatte ihr Han bereits fest im Griff. Bevor die Klinge sie erreichte, wurde der Mann mit solcher Wucht zurückgeworfen, daß sein Schädel bei dem Aufprall an der Wand zerplatzte. Er stürzte tot zu Boden.
»Ich denke, ich habe mich wohl richtig entschieden«, meinte Walsh.
»Das hast du allerdings. Wir müssen die wahren Schwestern des Lichts und die treuen jungen Zauberer holen und augenblicklich von hier verschwinden. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«
»Gehen wir«, meinte Walsh und wies mit seiner Lanze den Weg.
Draußen in der warmen Nachtluft saß eine dürre Gestalt auf einer nahen Bank. Als sie sie erkannte, sprang sie auf.
»Prälatin!« flüsterte sie unter Freudentränen.
Verna drückte Millie so fest an sich, daß die alte Frau bat, befreit zu werden. »Oh, Prälatin, verzeiht die häßlichen Dinge, die ich gesagt habe. Ich habe kein einziges Wort davon wirklich gemeint, das schwöre ich.«
Verna, den Tränen nahe, drückte die Frau noch einmal, dann küßte sie sie ein dutzendmal auf die Stirn. »Oh, Millie, ich danke dir. Du bist des Schöpfers bestes Werk. Ich werde nie vergessen, was du für mich und für die Schwestern des Lichts getan hast. Wir müssen fliehen, Millie. Der Kaiser wird den Palast übernehmen. Wirst du uns begleiten, bitte, damit du in Sicherheit bist?«
Millie zuckte mit den Achseln. »Ich? Eine alte Frau? Auf der Flucht vor mörderischen Schwestern der Finsternis und Ungeheuern der Magie?«
»Ja. Bitte?«
Millie betrachtete lächelnd den Mond. »Das klingt nach mehr Spaß, als Fußböden zu schrubben und Nachttöpfe auszuleeren.«
»Also gut, hört alle mal her. Wir…«
Ein großer Schatten trat hinter eine Ecke des Gebäudes hervor. Alles versank in Schweigen, als die Gestalt näher kam.
»Tja, Verna, sieht so aus, als hättet Ihr einen Ausweg gefunden. Damit hatte ich gerechnet.« Sie trat nah heran, so daß man sie sehen konnte. Es war Schwester Philippa, Vernas andere Beraterin, und sie küßte ihren Ringfinger. Dann weitete sich ihr schmaler Mund zu einem Lächeln. »Dem Schöpfer sei Dank. Willkommen daheim, Prälatin.«
»Philippa, wir müssen die Schwestern heute nacht fortschaffen, bevor Jagang eintrifft, sonst wird man uns gefangennehmen und mißbrauchen.«
»Was sollen wir tun, Prälatin?« fragte Schwester Philippa.
»Hört jetzt alle mal aufmerksam her. Wir müssen uns beeilen, und wir müssen mehr als vorsichtig sein. Wenn man uns erwischt, werden wir alle Halsringe tragen.«
Richard war von seiner Flucht aus dem Hagenwald außer Puste, daher verlangsamte er sein Tempo zum Trab, um wieder zu Atem zu kommen. Er sah Schwestern, die über das Palastgelände schlenderten, sie jedoch sahen ihn nicht. Obwohl er sich in sein Mriswithcape gehüllt hatte, konnte er nicht den gesamten Palast durchsuchen, das würde Tage dauern. Er mußte herausfinden, wo Kahlan, Zedd und Gratch gefangengehalten wurden, damit er nach Aydindril zurück konnte. Zedd würde wissen, was zu tun war.
Zedd würde ihm wegen seiner Dummheit wahrscheinlich heftige Vorwürfe machen, doch die hatte Richard auch verdient. Sein Magen schnürte sich zusammen, wenn er an den Ärger dachte, den er heraufbeschworen hatte. Nicht einmal, daß er seine törichte Unternehmung überlebt hatte, durfte er seiner Intelligenz zugute halten. Wie viele Leben hatte er durch sein rücksichtsloses Handeln in Gefahr gebracht?
Kahlan war wahrscheinlich mehr als wütend auf ihn. Und wieso auch nicht?
Mit Schaudern überlegte Richard, weshalb die Mriswiths nach Aydindril aufgebrochen waren. Wenn er an seine Freunde dort dachte, war ihm ganz scheußlich zumute. Vielleicht wollten sich die Mriswiths nur ein neues Zuhause schaffen, so wie den Hagenwald hier. Eine Stimme in seinem Innern hatte für dieses Wunschdenken nichts als Spott übrig. Er mußte dorthin zurück.
Hör auf, über das Problem nachzudenken, tadelte er sich. Denk an die Lösung.
Zuerst würde er seine Freunde hier rausholen, dann würde er sich um das übrige Gedanken machen.
Verwirrend war, daß man Kahlan, Zedd und Gratch ausgerechnet im Palast festhielt, trotzdem hegte er keinen Zweifel an dem, was Merissa ihm erzählt hatte. Sie war überzeugt gewesen, ihn in ihrer Gewalt zu haben, hatte also keinen Grund gehabt zu lügen. Er konnte nicht begreifen, wieso die Schwestern der Finsternis ihren Fang an einem so riskanten Ort versteckten.
Richard blieb stehen. Eine kleine Gruppe von Leuten überquerte im Mondschein den Rasen. Er konnte nicht erkennen, wer es war, und wollte es gerade feststellen, entschied dann aber, daß sein erster Gedanke richtig gewesen war: Ann aufzusuchen. Die Prälatin würde ihm weiterhelfen können. Abgesehen von Prälatin Annalina und Schwester Verna wußte er nicht, welchen Schwestern er trauen konnte. Er wartete, bis die Leute sich durch einen überdachten Laubengang entfernt hatten, dann machte er sich auf den Weg.
Als er vor Monaten den Palast verlassen hatte, wußte er, daß sich unter den Magierinnen hier möglicherweise noch Schwestern der Finsternis befanden, und bestimmt waren sie es, die Kahlan versteckt hielten, nur wußte er nicht, wer diese Schwestern waren. Er konnte nach Verna suchen, wußte aber nicht, wo. Aber wo er die Prälatin finden konnte, wußte er. Dort würde er also beginnen.
Wenn nötig, würde er den Palast der Propheten Stein für Stein niederreißen, um Kahlan und seine Freunde zu finden, doch er war es leid, ein weiteres Mal gegen das Dritte Gesetz der Magie zu verstoßen, und beschloß, es diesmal wenigstens mit Vernunft zu versuchen.
Gütige Seelen, wo fing das eine an, wo endete das andere?
Am äußeren Tor, das in das Gelände der Prälatin führte, stand Kevin Andellmere Wache. Richard kannte Kevin; ihm konnte man vermutlich trauen. »Vermutlich trauen« reichte jedoch nicht, also hielt Richard das Mriswithcape fest um seinen Körper gehüllt und schlich an Kevin vorbei ins Innere des Geländes. In der Ferne konnte Richard das derbe Lachen mehrerer Männer hören, die einen Weg heraufkamen, aber sie waren noch ein gutes Stück entfernt.
Richard kannte die ehemaligen Beraterinnen der Prälatin. Eine war umgekommen, als die andere, Schwester Ulicia, die Prälatin überfallen hatte. Nach dem Überfall waren Schwester Ulicia und fünf weitere Schwestern der Finsternis an Bord eines Schiffes, der Lady Sefa, entkommen. Die Schreibtische draußen vor dem Büro der Prälatin waren zur Zeit unbesetzt.
Weder im Korridor noch im Vorzimmer war irgend jemand, und die Tür zum Büro der Prälatin stand offen, also ließ Richard das Mriswithcape auseinanderfallen und lockerte seine Konzentration. Er wollte, daß Ann ihn erkannte.
Das Mondlicht, das durch die Doppeltür an der hinteren Seite des dunklen Raumes fiel, zeichnete ihren Umriß deutlich genug ab, um zu erkennen, daß sie im Sessel am Schreibtisch saß. Im schwachen Licht konnte er sehen, daß sie den Kopf gesenkt hielt. Offensichtlich war sie eingenickt.
»Prälatin«, rief er vorsichtig, um sie nicht aus dem Schlaf zu schrecken. Sie rührte sich nicht. Ihr Kopf kam ein kleines Stück hoch, sie hob die Hand. »Ich muß mit Euch sprechen, Prälatin. Hier ist Richard. Richard Rahl.«
Ein Glühen entzündete sich in ihrer Handfläche.
Schwester Ulicia sah lächelnd zu ihm hoch. »Zum Sprechen bist du gekommen, ja? Wie überaus interessant. Nun, ein Gespräch käme sehr gelegen.«
Als ihr boshaftes Grinsen breiter wurde, machte Richard einen Schritt zurück, während seine Hand zum Schwert griff.
Er hatte kein Schwert.
Er hörte, wie sich die Tür mit einem Knall hinter ihm schloß.
Er wirbelte herum und erblickte vier seiner Ausbilderinnen: die Schwestern Tovi, Cecilia, Armina und Merissa. Als sie näher kamen, sah er, daß sie alle einen Ring durch die Unterlippe trugen. Nur Nicci fehlte. Sie alle grinsten wie hungrige Kinder, die nach drei Fastentagen auf ein Stück Kuchen starren.
Richard spürte, wie das Verlangen in seinem Inneren zu brennen begann.
»Bevor du irgendeine Dummheit machst, Richard, solltest du besser erst einmal zuhören, oder du stirbst auf der Stelle.«
Er hielt inne und sah Merissa an. »Wieso seid Ihr schneller wieder hier als ich?«
Sie zog die Brauen über den finsteren, boshaften Augen hoch. »Ich bin auf meinem Pferd zurückgeritten.«
Richard drehte sich wieder zu Ulicia um. »Das alles war geplant, nicht wahr? Das habt Ihr getan, um mich in die Falle zu locken.«
»Ganz recht, mein Junge, und du hast deine Rolle vorzüglich gespielt.«
Er zeigte nach hinten auf Merissa, während er zu Ulicia sprach. »Woher wußtet Ihr, daß ich nicht getötet werden würde, als sie mich von diesem Turm hinunterwarf?«
Ulicias Lächeln erlosch, als sie Merissa wütend ansah. Der Blick verriet Richard, daß Merissa sich über ihre Anweisungen hinweggesetzt hatte.
Ulicia fixierte Richard wieder. »Entscheidend ist, daß du hier bist. So, und jetzt beruhige dich, sonst kommt noch jemand zu Schaden. Du bist vielleicht mit beiden Seiten der Gabe geboren worden, aber auch uns stehen beide Seiten der Magie zur Verfügung. Selbst wenn es dir gelänge, eine oder zwei von uns zu töten, so kannst du uns unmöglich alle erwischen — und dann wird Kahlan sterben.«
»Kahlan…« Richard funkelte sie wütend an. »Ich höre.«
Ulicia faltete die Hände. »Hör zu, Richard, du hast ein Problem. Zu deinem Glück haben wir auch eins.«
»Was für ein Problem?«
Ihr Blick wurde härter, bekam etwas kalt Drohendes. »Jagang.«
Die anderen gingen um den Tisch herum und stellten sich neben Ulicia. Ihnen allen war das Lächeln vergangen. Der Ekel in ihrem Blick, als der Name des Kaisers fiel, selbst bei den freundlich wirkenden Tovi und Cecilia, schien Stein verbrennen zu können.
»Du mußt verstehen, Richard, es ist fast Zeit, zu Bett zu gehen.«
Richard runzelte die Stirn. »Was?«
»Du bekommst in deinen Träumen keinen Besuch von Kaiser Jagang. Wir schon. Er wird für uns allmählich zum Problem.«
Richard spürte die Beherrschung, mit der sie ihre Stimme zügelte. Diese Frau wollte etwas, das wichtiger war als das Leben selbst.
»Probleme mit dem Traumwandler, Ulicia? Nun, das ist mir fremd. Ich schlafe selig wie ein kleines Kind.«
Normalerweise wußte Richard, wann ein Mensch mit der Gabe sein Han berührte, er fühlte es oder sah es bei der betreffenden Person in den Augen. Die Luft um diese Frauen knisterte heftig. Hinter all diesen Augen schien genügend Energie verborgen, um einen Berg zum Schmelzen zu bringen. Und das war offenbar noch nicht genug. Offenbar war ein Traumwandler ein ernstzunehmender Gegner.
»Also gut, Ulicia, kommen wir zur Sache. Ich will Kahlan, und Ihr wollt auch etwas. Was?«
Ulicia befingerte den Ring an ihrer Lippe und wich seinem Blick aus. »Die Sache muß entschieden werden, bevor wir einschlafen. Ich habe meinen Schwestern soeben von dem Plan erzählt, den ich mir ausgedacht habe. Nicci konnten wir nicht finden, um sie teilhaben zu lassen. Wenn wir schlafen gehen, bevor die Angelegenheit entschieden ist, und eine von uns davon träumt…«
»Entschieden? Ich will Kahlan. Sagt mir einfach, was Ihr wollt.«
Ulicia räusperte sich. »Wir wollen dir die Treue schwören.«
Richard starrte fassungslos, konnte nicht einmal mit den Augen blinzeln. Hatte er tatsächlich gehört, was er meinte, gehört zu haben? »Ihr seid Schwestern der Finsternis. Ihr kennt mich, und Ihr wollt mich töten. Wie könnt Ihr Euren Eid an den Hüter brechen?«
Ulicia hob den eisenharten Blick. »Ich habe nicht gesagt, daß wir dergleichen wollen. Ich sagte, wir wollen dir die Treue schwören, hier, in der Welt des Lebendigen. In Anbetracht der Lage glaube ich nicht, daß beides unvereinbar ist.«
»Nicht unvereinbar! Seid Ihr jetzt auch noch verrückt geworden?«
Ihre Augen bekamen etwas Unheilverkündendes. »Möchtest du sterben? Willst du, daß Kahlan stirbt?«
Richard bemühte sich, Ruhe in seine Gedanken zu bringen. »Nein.«
»Dann sei still und hör zu. Wir haben etwas, das du willst. Du hast etwas, das wir wollen. Jeder von uns hat seine Bedingungen. Du, zum Beispiel, willst Kahlan, aber du willst sie lebend und wohlauf. Ist das korrekt?«
Richard zahlte ihr den unheilvollen Blick mit gleicher Münze heim. »Das wißt Ihr doch. Aber wie kommt Ihr darauf, ich würde einen Pakt mit Euch schließen? Ihr habt versucht, Prälatin Anna umzubringen.«
»Nicht nur versucht, es ist mir auch gelungen.«
Richard schloß die Augen und stöhnte gequält auf. »Ihr gebt zu, sie umgebracht zu haben, und dann erwartet Ihr, ich würde darauf vertrauen…«
»Meine Geduld neigt sich dem Ende zu, junger Mann, und deiner zukünftigen Braut läuft die Zeit davon. Wenn du sie nicht fortschaffst, bevor Jagang hier eintrifft, dann, das versichere ich dir, besteht keine Hoffnung, daß du sie je wiedersiehst. Du hast keine Zeit, nach ihr zu suchen.«
Richard schluckte. »Also gut. Ich höre.«
»Du hast das Schloß am Tor des Hüters in diese Welt wieder angebracht und damit unsere Pläne durchkreuzt. Dadurch hast du zudem die Macht des Hüters in dieser Welt verringert und das Gleichgewicht zwischen ihm und dem Schöpfer wiederhergestellt. In diesem von dir geschaffenen Gleichgewicht macht Jagang nun seinen entscheidenden Zug, um die Welt an sich zu reißen.
Er hat sich auch unserer bemächtigt. Er kann uns jederzeit heimsuchen, wann immer es ihm beliebt. Wir sind seine Gefangenen, ganz gleich, wo wir sind. Er hat uns vor Augen geführt, was für ein unangenehmer Verfolger er sein kann. Für uns gibt es nur eine einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen.«
»Ihr meint die Bande zu mir.«
»Ja. Wenn wir also Jagangs Anweisungen folgen, werden wir auch weiterhin in seiner Gunst stehen — sozusagen. Das ist zwar … unerfreulich, aber wir werden leben. Wir wollen leben.
Wenn wir dir Treue schwören, können wir den Zugriff, den Jagang auf uns hat, brechen und entkommen.«
»Das heißt, Ihr wollt ihn töten«, merkte Richard an.
Ulicia schüttelte den Kopf. »Wir wollen sein Gesicht nie wieder sehen. Was er tut, ist uns egal, wir wollen nur aus seiner Gewalt befreit werden.
Ich will dir reinen Wein einschenken. Wir werden wieder unserem Herrscher, dem Hüter, dienen. Haben wir Erfolg damit, werden wir belohnt werden. Ich weiß nicht, ob wir Erfolg haben werden, das jedoch ist das Risiko, das du eingehen mußt.«
»Was soll das heißen, das ist das Risiko, das ich eingehen muß? Wenn Ihr mir über die Bande verpflichtet seid, dann müßt Ihr auch für meine Ziele arbeiten: gegen den Hüter kämpfen und gegen die Imperiale Ordnung kämpfen.«
Ulicias Lippen verzogen sich zu einem schlauen Lächeln. »Nein, mein Junge. Ich habe mir das sehr sorgfältig überlegt. Hier ist mein Angebot: Wir schwören dir Treue, du fragst uns, wo Kahlan ist, und wir verraten es dir. Im Gegenzug darfst du uns keine weiteren Fragen stellen und mußt uns erlauben, augenblicklich von hier aufzubrechen. Du wirst uns nicht wiedersehen, und wir werden dich nicht wiedersehen.«
»Aber wenn Ihr für den Hüter arbeitet, dann geht es gegen mich und verletzt die Bande. Es wird nicht funktionieren.«
»Du betrachtest es mit deinen Augen. Der Schutz, den deine Bande liefern, entsteht durch die Überzeugung der Person, die in die Pflicht genommen wurde — indem sie tut, was sie ihrer Treue für angemessen hält.
Du willst die Welt erobern. Du glaubst, dies geschähe zum Wohl der Menschen in der Welt. Haben alle Menschen, die du auf deine Seite hast ziehen wollen, dir geglaubt, sind sie dir alle treugeblieben? Oder haben manche deine wohlmeinenden Angebote anders gesehen, als einen Mißbrauch, und sind aus Angst vor dir geflohen?«
Richard mußte an die Menschen denken, die aus Aydindril geflohen waren. »Nun ja, in gewisser Weise kann ich das wohl verstehen, aber…«
»Wir betrachten Treue nicht so moralisch wie du, wir legen sie nach unseren eigenen Begriffen aus. Unserem Empfinden als Schwestern der Finsternis nach brechen wir die Treue zu dir nicht, solange wir nichts tun, was dir unmittelbar schadet — denn was dir nicht schadet, kommt dir ausdrücklich zugute.«
Richard stemmte seine Fäuste auf den Tisch und beugte sich zu ihr. »Ihr wollt den Hüter befreien. Das wird mir schaden.«
»Das ist Ansichtssache, Richard. Was wir wollen, ist Macht, genau wie du, unabhängig von der Moral, in die du deinen Ehrgeiz bettest.
Unsere Bemühungen sind nicht gegen dich gerichtet. Sollten wir im Namen des Hüters erfolgreich sein, dann wäre jeder besiegt, also auch Jagang, und es spielt keine Rolle, ob wir am Ende den Schutz der Bande verlieren. Das entspricht vielleicht nicht deiner Moral, aber es entspricht unserer, daher werden die Bande funktionieren.
Und wer weiß, durch irgendein Wunder könnte es sogar geschehen, daß du deinen Krieg gegen die Imperiale Ordnung gewinnst und Jagang tötest. Dann brauchen wir die Bande ebenfalls nicht mehr. Wir können geduldig abwarten und sehen, was geschieht. Sei nur nicht so töricht, nach Aydindril zurückzugehen. Jagang wird es zurückerobern, und es gibt nichts, was du dagegen machen kannst.«
Richard richtete sich auf und sah sie verblüfft an, versuchte, sich das zurechtzulegen. »Aber … das würde bedeuten, daß ich Euch freilasse, damit Ihr für das Böse arbeiten könnt.«
»Das Böse, entsprechend deiner Moral. Die Wahrheit ist, du gibst uns die Möglichkeit, es zu versuchen, aber das heißt nicht, daß wir es schaffen. Wie auch immer, es verschafft dir Kahlan sowie die Möglichkeit, die Imperiale Ordnung aufzuhalten und unsere Versuche, unseren Kampf zu gewinnen, zum Scheitern zu bringen. Du hast uns in der Vergangenheit schon einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Damit erkauft sich jeder von uns etwas sehr Wichtiges. Wir erkaufen uns unsere Freiheit und Kahlan die ihre. Ein fairer Tausch, wie ich finde.«
Schweigend überlegte sich Richard dieses wahnwitzige Angebot, so verzweifelt war er.
»Wenn Ihr Euch also unterwerft und mir Eure Treue schwört und mir verratet, wo Kahlan ist, und Euch dann wie vorgeschlagen von hier entfernt, welche Sicherheit habe ich dann, daß Ihr mir in bezug auf Kahlans Aufenthaltsort die Wahrheit gesagt habt?«
Ulicia hob herausfordernd den Kopf und lächelte gerissen. »Ganz einfach. Wir schwören, und du fragst. Wenn wir auf deine direkte Frage lügen, sind die Bande gebrochen, und wir wären wieder in der Gewalt Jagangs.«
»Und wenn ich mein Versprechen breche und Euch, nachdem Ihr mir verraten habt, wo Kahlan ist, eine weitere Forderung stelle? Ihr müßtet Eure Versprechen erfüllen, um weiter durch die Bande vor Jagang geschützt zu bleiben.«
»Aus diesem Grund enthält unser Angebot die Bedingung, daß du nur eine einzige Frage stellen darfst: Wo ist Kahlan. Fragst du weiter, werden wir dich töten, desgleichen, wenn du uns abweist. Dann wären wir nicht schlimmer dran als jetzt auch. Du stirbst, und Jagang bekommt Kahlan und kann mit ihr machen, was ihm beliebt — und das wird er, das versichere ich dir. Er hat sehr perverse Vorlieben.« Ihr Blick wanderte zu der jungen Frau neben ihr. »Du brauchst nur Merissa zu fragen.«
Richard blickte Merissa an und sah, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sie zog ihr rotes Kleid weit genug hinunter, um ihm die obere Hälfte ihrer Brust zu zeigen. Richard spürte, wie er selbst bleich wurde. Er wandte die Augen ab.
»Er läßt nur zu, daß mein Gesicht verheilt. Der Rest bleibt auf sein Geheiß, wie es ist — zu seinem … Vergnügen. Das ist noch das geringste, was er mir angetan hat. Das allergeringste«, meinte Merissa mit kalter Stimme. »Und alles wegen dir, Richard Rahl.«
Ein Bild schoß Richard durch den Kopf, Kahlan mit Jagangs Ring durch die Lippe und diesen unheimlichen Flecken auf ihrem Körper. Seine Knie wurden wackelig.
Er biß sich auf die Unterlippe und sah Ulicia wieder an.»Ihr seid nicht die Prälatin. Gebt mir ihren Ring.« Sie streifte ihn ohne zu zögern ab und gab ihn ihm. »Ihr werdet mir Treue schwören, ich darf fragen, wo Kahlan ist, Ihr müßt mir die Wahrheit sagen, und dann verschwindet Ihr von hier?«
»So lautet unser Angebot.«
Richard stieß einen schweren Seufzer aus. »Abgemacht.«
Als Richard die Tür hinter sich geschlossen hatte, schloß Ulicia die Augen und atmete befreit auf. Er hatte es eilig. Das war ihr egal, sie hatte bekommen, was sie wollte. Sie konnte schlafen gehen, ohne befürchten zu müssen, daß Jagang sie in dem Traum, der keiner war, heimsuchte.
Ihre fünf Leben gegen eines. Kein schlechter Tausch.
Und sie hatte ihm nicht einmal alles verraten müssen. Allerdings mehr, als ihr lieb war. Trotzdem, kein schlechter Tausch.
»Schwester Ulicia«, sagte Cecilia mit einem Unterton von Sicherheit in der Stimme, den sie seit Monaten hatte vermissen lassen, »du hast das Unmögliche geschafft. Du hast Jagangs Macht über uns gebrochen. Die Schwestern der Finsternis sind frei, und gekostet hat uns das nichts.«
Ulicia atmete tief durch. »Dessen wäre ich nicht so sicher. Wir haben unseren Fuß auf unbekanntes Terrain gesetzt und wissen nicht, ob uns dieser Weg ans Ziel bringt. Fürs erste jedoch sind wir frei. Wir dürfen unsere Chance nicht verspielen. Wir müssen augenblicklich aufbrechen.«
Sie hob den Kopf, als die Tür mit einem Knall aufgestoßen wurde.
Grinsend kam Kapitän Blake ins Büro gewankt. In seinem Schlepptau folgten zwei feixende Matrosen, von denen einer seine Schritte bremste, um Armina zu betatschen. Sie machte keinerlei Anstalten, seine Hände abzuwehren.
Blake blieb schwankend vor ihr stehen. Er stützte seine Hände auf den Tisch und beugte sich vor. Sie roch den Schnaps in seinem Atem, als er sie lüstern ansah.
»Sieh an, sieh an, Mädchen. So treffen wir uns wieder.«
Ulicia ließ sich keine Regung anmerken. »So ist es, in der Tat.«
Er hatte den gierigen Blick zu tief gesenkt, um ihr in die Augen zu sehen. »Die Lady Sefa ist gerade eingelaufen, und wir Seeleute waren einsam und fanden, wir sollten für die Nacht etwas Gesellschaft haben. Das letzte Mal haben die Jungs mit Euch Damen so großen Spaß gehabt, so daß sie meinten, sie würden das Ganze gerne wiederholen.«
Sie täuschte einen eingeschüchterten Tonfall vor. »Hoffentlich habt ihr euch vorgenommen, behutsamer zu sein als letztes Mal.«
»Genaugenommen, Mädchen, meinten die Jungs, sie seien beim letzten Mal noch nicht so recht auf ihre Kosten gekommen.« Er beugte sich noch weiter vor, langte mit seiner rechten Hand zu, packte ihre Brustwarze und zerrte sie in ihrem Sessel nach vorn. Er feixte, als sie schrie. »Also, bevor ich üble Laune bekomme, schafft ihr Weiber euren Hintern mit uns zusammen auf die Lady Sefa, wo wir ihn einem ›guten Zweck‹ zuführen werden.«
Ulicia riß ihre Faust nach vorn, rammte dem Kapitän ein Messer durch den Rücken seiner linken Hand und nagelte sie auf dem Tisch fest. Mit einem Finger ihrer anderen Hand berührte sie den Ring an ihrer Lippe, und dank eines Stroms Subtraktiver Magie verschwand er blitzschnell, ohne eine Spur zu hinterlassen.
»Genau, Kapitän Blake, gehen wir alle zusammen runter zur Lady Sefa.«
Mit einer Handvoll Han prügelte sie ihn zurück, so daß das im Tisch versenkte Messer seine Hand in zwei Teile schlitzte, als diese zurückgerissen wurde. Die Luft blieb ihm im Halse stecken, als er den Mund aufmachte, um zu schreien.