10

Tobias Brogan strich mit den Knöcheln über seinen Schnäuzer und sah aus den Augenwinkeln nach Lunetta. Als sie mit einem kaum merklichen Nicken antwortete, verzog sich sein Mund zu einer säuerlichen Miene. Seine selten gute Laune war verflogen. Der Mann sagte die Wahrheit, bei so etwas unterliefen Lunetta keine Fehler, und doch wußte Brogan, daß es nicht die Wahrheit war. Er wußte es besser.

Er richtete seinen Blick wieder auf den vor ihm stehenden Mann auf der anderen Seite eines Tisches, der lang genug für ein Bankett von siebzig Personen gewesen wäre, und zwang ein höfliches Lächeln auf seine Lippen.

»Danke. Ihr wart eine große Hilfe.«

Der Mann betrachtete die Soldaten in den blankpolierten Uniformen rechts und links von ihm argwöhnisch. »Das ist alles, was Ihr wissen wollt? Ihr habt mich den weiten Weg hierherbringen lassen, nur um mich zu fragen, was jeder weiß? Ich hätte es Euren Leuten sagen können, hätten sie mich gefragt.«

Brogan zwang sich, weiter zu lächeln. »Nehmt meine Entschuldigung für diese Unannehmlichkeit. Ihr habt dem Schöpfer einen guten Dienst erwiesen, und mir auch.« Das Lächeln entglitt seiner Kontrolle. »Ihr könnt gehen.«

Der Mann hatte Brogans Blick wohl bemerkt. Eilig verbeugte er sich und eilte zur Tür.

Brogan tippte mit der Seite seines Daumens auf das Kästchen an seinem Gürtel und sah ungeduldig zu Lunetta hinüber. »Bist du sicher?«

Lunetta, ganz in ihrem Element, erwiderte den Blick gelassen. »Er spricht die Wahrheit, Lord General, genau wie zuvor die anderen.« Sie kannte sich aus in ihrem Gewerbe, so schmutzig es auch war, und wenn sie es ausübte, umgab sie eine Aura der Selbstsicherheit. Das ging ihm auf die Nerven.

Er schlug mit der Faust krachend auf den Tisch. »Es ist nicht die Wahrheit!«

Fast konnte er den Hüter in ihren sanften Augen sehen, wenn sie ihn anschaute. »Ich sage nicht, es wäre die Wahrheit, Lord General, nur, daß er das erzählt hat, was er für die Wahrheit hält.«

Tobias räusperte sich gewichtig. Er wußte nur zu gut, wie sehr dies stimmte. Er hatte nicht sein ganzes Leben damit verbracht, das Böse zu verfolgen, ohne dabei ein paar von dessen Tricks zu lernen. Er kannte sich aus mit Magie. Das Opfer war so nah, er konnte es fast wittern.

Die Sonne des späten Nachmittags fiel durch einen Spalt in den schweren goldenen Vorhängen, warf einen leuchtenden Lichtbalken auf ein vergoldetes Sesselbein, auf den reich verzierten, königsblau geblümten Teppich und auf die Ecke der langen, glänzenden Tischplatte. Man hatte das Mittagsmahl schon längst auf einen ungewissen, späteren Zeitpunkt verschoben, und doch war Tobias immer noch nicht weiter als am Anfang. Die Enttäuschung darüber zehrte an ihm.

Gewöhnlich brachte Galtero mit großem Geschick Zeugen heran, die wirklich etwas wußten, doch bislang hatten sich seine Leute als nutzlos erwiesen. Er fragte sich, was Galtero herausgefunden hatte. Irgend etwas löste große Unruhe in der Stadt aus, und Tobias Brogan mochte es nicht, wenn die Menschen in Aufruhr waren, es sei denn, er und seine Leute waren der Grund dafür. Unruhe konnte eine mächtige Waffe sein, doch er mochte keine Unbekannten. Gewiß war Galtero längst zurück.

Tobias lehnte sich in seinem mit diamantbesetzten Quasten versehenen Ledersessel zurück und richtete das Wort an einen der Soldaten im scharlachroten Cape, die die Tür bewachten. »Ettore, ist Galtero schon zurück?«

»Nein, Lord General.«

Ettore war jung und konnte es kaum erwarten, sich einen Namen im Kampf gegen das Böse zu machen, und er war ein tüchtiger Mann: gescheit, ergeben und ohne Angst vor Unbarmherzigkeit, wenn er es mit den Günstlingen des Hüters zu tun bekam. Irgendwann würde er zu den besten Jägern der Verderbten gehören. Tobias strich sich mit den Knöcheln über seinen schmerzenden Rücken. »Wie viele Zeugen haben wir noch?«

»Zwei, Lord General.«

Er machte eine ungeduldige Geste. »Also, schafft den nächsten rein.«

Während Ettore durch die Tür hinausschlüpfte, blinzelte Tobias an dem Balken aus Sonnenlicht vorbei zu seiner Schwester, die an der Wand lehnte. »Du warst dir doch sicher, Lunetta, oder?«

Sie starrte ihn an und raffte ihre zerfetzten Lumpen um sich. »Ja, Lord General.«

Er seufzte, als die Tür aufging und der Posten eine dürre Frau hereinführte, die keinen besonders glücklichen Eindruck machte. Tobias setzte sein höflichstes Lächeln auf. Ein weiser Jäger gewährte seinem Opfer keinen flüchtigen Blick auf seine Reißzähne.

Die Frau befreite ihren Ellenbogen mit einem Ruck aus Ettores Griff. »Was soll das alles? Man hat mich gegen meinen Willen mitgenommen und den ganzen Tag in ein Zimmer gesperrt. Welches Recht habt Ihr, jemanden gegen seinen Willen mitzunehmen!«

Tobias setzte ein reumütiges Lächeln auf. »Da muß wohl ein Mißverständnis vorliegen. Tut mir leid. Seht Ihr, wir wollen nur gewissen Leuten, die wir für verläßlich halten, einige Fragen stellen. Tja, die meisten Menschen auf der Straße kennen nicht mal den Unterschied zwischen oben und unten. Ihr scheint eine intelligente Frau zu sein, das ist alles, und —«

Sie beugte sich über den Tisch zu ihm. »Und deshalb habt Ihr mich eingesperrt? Das ist es, was der Lebensborn mit Menschen macht, die er für verläßlich hält? Nach dem, was ich gehört habe, macht sich der Lebensborn nicht die Mühe, Fragen zu stellen, ihm genügt ein bloßes Gerücht — Hauptsache, das Ergebnis ist ein frisches Grab.«

Brogan spürte ein Zucken in seiner Wange, lächelte jedoch unbeirrt. »Da habt Ihr etwas Falsches gehört, meine Dame. Der Lebensborn ist ausschließlich an der Wahrheit interessiert. Wir dienen dem Schöpfer und seinem Willen nicht weniger als eine Frau von Eurem Charakter. Hättet Ihr nun etwas dagegen einzuwenden, ein paar Fragen zu beantworten? Anschließend werden wir Euch sicher nach Hause bringen.«

»Bringt mich jetzt sofort nach Hause. Dies ist eine freie Stadt. Kein Palast hat das Recht, harmlose Bürger zu verschleppen, um sie zu verhören. Nicht in Aydindril. Ich bin nicht verpflichtet, Eure Fragen zu beantworten.«

Brogan setzte ein noch breiteres Lächeln auf und zwang sich zu einem kleinen Achselzucken. »Ganz recht, Madame. Wir haben nicht das geringste Recht dazu, und ich hatte auch nicht die Absicht, diesen Eindruck zu erwecken. Wir bemühen uns nur um die Hilfe ehrlicher, bescheidener Menschen. Wenn Ihr uns nur helfen wolltet, einigen einfachen Dingen auf den Grund zu gehen, dann könntet ihr Eures Weges gehen, und wir wären euch von ganzem Herzen dankbar.«

Einen Augenblick lang zog sie eine finstere Miene, dann rückte sie das Wolltuch über ihrer Schulter zurecht. »Also schön, fangt an, wenn ich dadurch wieder nach Hause komme. Was wollt Ihr wissen?«

Tobias setzte sich in seinem Sessel um, tarnte damit einen knappen Blick hinüber zu Lunetta, um sich zu vergewissern, ob sie achtgab. »Seht Ihr, meine Dame, seit dem vergangenen Frühjahr leiden die Midlands unter dem Krieg, und nun wollen wir herausfinden, ob die Günstlinge des Hüters bei dem Zwist, der seine Schatten auf die Länder wirft, ihre Hände im Spiel haben. Haben irgendwelche Ratsmitglieder Reden gegen den Schöpfer geführt?«

»Sie sind tot.«

»Ja, das habe ich gehört. Der Lebensborn hält jedoch nicht viel von Gerüchten. Wir brauchen handfeste Beweise, wie zum Beispiel die Aussage eines Zeugen.«

»Ich habe ihre Leichen gestern abend in den Ratssälen gesehen.«

»Tatsächlich? Nun, das ist allerdings ein Beweis. Endlich erfahren wir die Wahrheit von einer ehrenhaften Person, die Zeuge war. Seht Ihr, bereits jetzt seid Ihr uns eine Hilfe. Wer hat sie getötet?«

»Ich habe nicht gesehen, wie sie getötet wurden.«

»Habt Ihr je gehört, daß ein Ratsmitglied gegen den Frieden des Schöpfers gepredigt hat?«

»Sie sind über den Frieden des Midlandbundes hergezogen, und soweit es mich betrifft, ist das dasselbe, auch wenn sie es nicht ausdrücklich gesagt haben. Sie wollten den Eindruck erwecken, als sei Schwarz Weiß und Weiß Schwarz.«

Tobias zog die Augenbrauen hoch und versuchte, interessiert zu wirken. »Die, die dem Hüter dienen, bedienen sich solcher Taktiken: indem sie einen glauben machen, daß es recht sei, Böses zu tun.« Er hob die Hand zu einer unbestimmten Geste. »Wollte ein bestimmtes Land den Frieden des Bundes brechen?«

Die Frau stand da, den Rücken gerade und steif, und sah ihn von oben herab an. »Sie alle, Eures eingeschlossen, schienen gleichermaßen bereit, die Welt unter der Imperialen Ordnung der Sklaverei preiszugeben.«

»Sklaverei? Ich habe gehört, die Imperiale Ordnung hat es sich lediglich zum Ziel gesetzt, die Länder zu vereinen und den Menschen unter der Führung durch den Schöpfer rechtmäßigen Frieden zu bringen.«

»Dann habt Ihr etwas Falsches gehört. Sie trachten nur danach, genau jene Lügen zu hören, die ihrem Ziel dienen, und ihr Ziel ist Eroberung und Herrschaft.«

»Davon habe ich noch nichts gehört. Das sind wertvolle Neuigkeiten.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug ein Bein übers andere und faltete die Hände in seinem Schoß. »Und während all dies Ränkeschmieden und der ganze Aufruhr stattfand, wo war da die Mutter Konfessor?«

Die Frau zögerte einen Augenblick. »Unterwegs in Amtsgeschäften.«

»Verstehe. Aber kehrte sie zurück?«

»Ja.«

»Und als sie zurückkehrte, hat sie da versucht, dem Aufruhr ein Ende zu machen? Hat sie versucht, die Midlands zusammenzuhalten?«

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Natürlich hat sie das, und Ihr wißt, was man ihr dafür angetan hat. Tut doch nicht so!«

Ein beiläufiger Blick in Richtung Fenster ergab, daß Lunetta die Augen auf die Frau gerichtet hielt. »Nun, ich habe alle möglichen Gerüchte gehört. Wenn Ihr die Ereignisse mit eigenen Augen gesehen habt, dann wäre dies ein gewichtiger Beweis. Wart Ihr Zeugin dieser Geschehnisse, meine Dame?«

»Ich habe die Hinrichtung der Mutter Konfessor gesehen, ja, falls Ihr das meint.«

Tobias beugte sich, auf die Ellenbogen gestützt, vor und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ja, das hatte ich befürchtet. Dann ist sie also tot?«

Ihre Nasenflügel bebten. »Weshalb seid Ihr so an Einzelheiten interessiert?«

Tobias riß die Augen auf. »Seit dreitausend Jahren sind die Midlands unter den Konfessoren und einer Mutter Konfessor vereinigt. Unter der Herrschaft Aydindrils sind wir alle zu Wohlstand gelangt, und wir hatten Frieden. Als nach dem Fall der Grenze der Krieg mit D’Hara begann, hatte ich Angst um die Midlands —«

»Warum seid Ihr uns dann nicht zur Hilfe gekommen?«

»Ich hätte gerne meine Hilfe gewährt, doch der König verbot dem Lebensborn, sich einzumischen. Ich habe selbstverständlich protestiert, doch er war schließlich unser König. Nicobarese litt unter seiner Herrschaft. Wie sich herausstellte, hatte er finsterere Absichten mit unserem Volk, und offenbar waren seine Räte, wie Ihr sagtet, bereit, uns der Sklaverei preiszugeben. Als man dann den König als das bloßgestellt hatte, was er wirklich war, nämlich ein Verderbter, und nachdem er den Preis dafür bezahlt hatte, brachte ich unsere Soldaten sofort über die Berge nach Aydindril, um sie den Midlands und der Mutter Konfessor zur Verfügung zu stellen.

Und was finde ich bei meinem Eintreffen vor? Nichts als d’Haranische Truppen, doch angeblich befinden sie sich nicht mehr im Krieg mit uns. Ich höre, die Imperiale Ordnung ist den Midlands zur Hilfe gekommen. Auf meinem Weg hierher, und seit meinem Eintreffen, habe ich alle möglichen Gerüchte gehört — daß die Midlands gefallen sind, daß die Midlands neue Kräfte sammeln, daß die Räte tot sind, daß die Keltonier die Herrschaft über die Midlands übernommen haben, oder die D’Haraner, oder die Imperiale Ordnung, daß sämtliche Konfessoren tot sind, sämtliche Zauberer, die Mutter Konfessor, oder daß alle leben. Was soll ich nun glauben?

Wenn die Mutter Konfessor noch lebte, könnten wir sie beschützen. Wir sind ein armes Land, aber wir möchten den Midlands behilflich sein, soweit wir können.«

Die Schultern der Frau entspannten sich ein wenig. »Von dem, was Ihr gehört habt, ist manches richtig. Im Krieg mit D’Hara wurden alle Konfessoren, bis auf die Mutter Konfessor, getötet. Die Zauberer starben ebenfalls. Dann starb Darken Rahl, und die D’Haraner schlossen sich auf Gedeih und Verderb der Imperialen Ordnung an, unter anderem auch Kelton. Die Mutter Konfessor kam zurück und versuchte, die Midlands zusammenzuhalten. Für diese Mühe ließen die aufrührerischen Heuchler sie hinrichten.«

Er schüttelte den Kopf. »Das sind traurige Neuigkeiten. Ich hatte gehofft, die Gerüchte würden sich als falsch erweisen. Wir brauchen die Mutter Konfessor.« Brogan benetzte seine Lippen. »Seid Ihr ganz sicher, daß sie bei der Hinrichtung getötet wurde? Vielleicht habt Ihr Euch getäuscht? Schließlich ist sie ein Geschöpf der Magie. Sie könnte in einem Durcheinander aus Rauch oder dergleichen entkommen sein. Vielleicht lebt sie noch.«

Die Frau fixierte ihn mit einem wütenden Blick. »Die Mutter Konfessor ist tot.«

»Aber ich habe Gerüchte gehört, daß sie noch lebt … jenseits des Kern.«

»Falsche Gerüchte von Narren. Sie ist tot. Ich habe selbst gesehen, wie sie enthauptet wurde.«

Brogan strich mit dem Finger über die glatte Narbe neben seinem Mund und betrachtete die Frau. »Ich habe auch einen Bericht gehört, daß sie in die andere Richtung geflohen sei: nach Südwesten. Es besteht doch sicherlich noch Hoffnung?«

»Das kann nicht stimmen. Ich sage es jetzt zum letzten Mal, ich habe gesehen, wie sie enthauptet wurde. Sie ist nicht geflohen. Die Mutter Konfessor ist tot. Wenn Ihr den Midlands behilflich sein wollt, dann müßt Ihr alles tun, was Ihr könnt, um die Midlands wieder zu vereinen.«

Tobias musterte einen Augenblick lang ihr grimmig entschlossenes Gesicht. »Ja. Ja, Ihr habt ganz recht. Das alles sind sehr betrübliche Nachrichten, aber es ist gut, wenigstens einen verläßlichen Zeugen zu haben, der Licht auf die Wahrheit wirft. Ich danke Euch, Ihr seid uns eine größere Hilfe gewesen, als Ihr ahnt. Ich werde sehen, was ich tun kann, um meine Truppen zum größten Nutzen einzusetzen.«

»Der größte Nutzen wäre es, die Imperiale Ordnung aus Aydindril und dann aus den Midlands zu vertreiben und sie zu vernichten.«

»Haltet Ihr sie für so ruchlos?«

Sie zeigte ihm ihre bandagierten Hände. »Sie haben mir die Fingernägel ausgerissen, um mich zu zwingen, Lügen auszusprechen.«

»Wie gräßlich. Und welche Lügen habt Ihr ihnen erzählen sollen?«

»Daß Schwarz Weiß sei und Weiß Schwarz. Genau wie der Lebensborn.«

Brogan lächelte und tat, als amüsierte ihn ihr Witz.

»Ihr wart eine große Hilfe, meine Dame. Ihr seid den Midlands treu ergeben, und dafür habt Ihr meinen Dank. Daß Ihr so über den Lebensborn denkt, tut mir leid. Vielleicht solltet Ihr ebenfalls nicht auf Gerüchte hören.«

»Ich möchte Euch nicht länger zur Last fallen. Guten Tag.«

Sie sah ihn tadelnd mit einem leidenschaftlich finsteren Blick an, bevor sie davonstürmte. Unter anderen Umständen hätte sie die Weigerung, offen zu sprechen, sehr viel mehr gekostet als nur die Fingernägel, Brogan hatte jedoch schon früher gefährlichen Opfern nachgejagt und wußte, daß Besonnenheit sich später auszahlen würde. Die Beute war es wert, ihren spöttischen Ton zu ertragen. Auch ohne ihr Mitwirken hatte er von ihr an diesem Tag etwas sehr Wertvolles bekommen, etwas, von dem sie nicht wußte, daß sie es ihm gegeben hatte, und genau das war sein Plan: der Gejagte sollte nicht wissen, daß der Jäger die Witterung aufgenommen hatte.

Endlich erlaubte Tobias sich, in Lunettas funkelnde Augen zu schauen.

»Sie lügt, mein Lord General. Größtenteils spricht sie die Wahrheit, um ihre Lügen zu tarnen, aber sie lügt.«

Galtero hatte ihm wahrlich einen Schatz angeschleppt.

Tobias beugte sich vor. Er wollte hören, wie Lunetta es sagte, wollte hören, wie sie seinen Verdacht laut aussprach — um ihn mit ihrer Begabung zu bekräftigen. »Was war denn gelogen?«

»Zweierlei — und das hütet sie wie den Staatsschatz.«

Er machte ein schmatzendes Geräusch mit seinen Lippen. »Und das wäre?«

Lunetta lächelte verschlagen. »Erstens hat sie gelogen, als sie behauptete, die Mutter Konfessor sei tot.«

Tobias schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wußte ich’s doch! Als sie es sagte, wußte ich, daß es gelogen war!« Er schloß die Augen und schluckte, während er dem Schöpfer ein kurzes Dankgebet schickte. »Und das andere?«

»Sie hat gelogen, als sie sagte, die Mutter Konfessor sei nicht geflohen. Sie weiß, daß die Mutter Konfessor lebt, und daß sie nach Südwesten gegangen ist. Alles, was sie sonst erzählt hat, war wahr.«

Tobias gute Laune war zurückgekehrt. Er rieb sich die Hände und spürte die Wärme, die das hervorrief. Das Glück des Jägers war ihm abermals hold. Er hatte die Witterung aufgenommen.

»Habt Ihr gehört, was ich gesagt habe, Lord General?«

»Was? Ja, ich habe es gehört. Sie lebt und ist nach Südwesten. Das hast du gut gemacht, Lunetta. Der Schöpfer wird dich segnen, wenn ich ihm von deiner Hilfe berichte.«

»Ich meine, daß alles sonst die Wahrheit war.«

Er runzelte die Stirn. »Wovon redest du?«

Lunetta raffte ihre Stoffetzen fest um ihren Körper. »Sie sagte, daß der Rat aus toten Männern und aufrührerischen Heuchlern besteht. Wahr. Daß die Imperiale Ordnung nur jene Lügen hören will, die ihrem Ziel dienlich sind, und daß ihr Ziel Eroberung und Herrschaft ist. Wahr. Daß man ihr die Fingernägel ausgerissen hat, um sie zu zwingen, Lügen zu erzählen. Daß der Lebensborn auf Gerüchte hin handelt, solange nur als Ergebnis ein frisches Grab dabei herauskommt. Wahr.«

Brogan sprang auf. »Der Lebensborn bekämpft das Böse! Wie kannst du es wagen, etwas anderes zu behaupten, du dreckige streganicha

Sie zuckte zusammen und biß sich auf die Unterlippe. »Ich behaupte diese Dinge nicht, ich behaupte nur, Lord General, daß es die Wahrheit ist, so wie diese Frau sie sieht.«

Er zog seine Schärpe zurecht. Er wollte sich seinen Triumph nicht durch Lunettas Gerede verderben lassen. »Das beurteilt sie falsch, und das weißt du.« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich habe mehr Zeit, als dir zustünde, mehr Zeit, als du wert bist, damit verschwendet, dir den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen.«

Lunetta starrte den Boden an. »Ja, mein Lord General, Ihr habt mehr Zeit damit verbracht, als ich wert bin. Vergebt mir. Es waren ihre Worte, nicht meine.«

Schließlich löste Brogan seinen wütenden Blick von ihr und nahm das Kästchen von seinem Gürtel. Er legte es hin, stieß es mit dem Daumen zurecht, bis es parallel zur Tischkante lag und setzte sich wieder hin. Er verbannte Lunettas Unverschämtheit aus seinen Gedanken und überlegte sich seinen nächsten Zug.

Gerade wollte er nach seinem Abendessen rufen, als ihm einfiel, daß noch ein weiterer Zeuge wartete. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte, weitere Befragungen waren nicht erforderlich … aber es war immer klug, gründlich zu sein.

»Ettore, bring den nächsten Zeugen rein.« Brogan warf Lunetta einen wütenden Blick zu, während sie wieder mit der Wand zu verschmelzen schien. Sie hatte ihre Sache gut gemacht, es dann jedoch verdorben, indem sie ihn provoziert hatte. Er wußte zwar, daß das Böse in ihr war, trotzdem verärgerte es ihn, daß sie sich nicht mehr Mühe gab, es zu unterdrücken. Vielleicht war er in letzter Zeit zu freundlich mit ihr umgegangen — in einem schwachen Augenblick hatte er ihr ein hübsches Stückchen Stoff geschenkt, weil er wollte, daß sie an seiner Freude teilhatte. Vielleicht schloß sie daraus, er würde ihr Unverschämtheiten durchgehen lassen. Aber das würde er ganz bestimmt nicht.

Tobias setzte sich in seinem Sessel zurecht, faltete die Hände auf dem Tisch, dachte noch einmal über seinen Triumph nach, über den Fang der Fänge. Diesmal mußte er sich nicht zum Lächeln zwingen.

Er war ein wenig überrascht, als er aufblickte und ein kleines Mädchen vor zwei der Wachen den Saal betreten sah. Der alte Mantel, den sie trug, schleifte auf dem Boden. Hinter dem Mädchen, zwischen den Wachen, humpelte schlingernden Schritts eine untersetzte alte Frau in einem zerlumpten Umhang aus einer braunen Decke.

Als die Gruppe vor dem Tisch anhielt, lächelte das Mädchen ihn an. »Ihr habt ein schönes, warmes Zuhause, Mylord. Wir haben unseren Tag hier genossen. Dürfen wir Eure Gastfreundschaft erwidern?«

Die Alte steuerte ebenfalls ein Lächeln bei.

»Es freut mich, daß ihr Gelegenheit hattet, euch aufzuwärmen, und ich wäre dankbar, wenn du und deine…« Er zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Großmutter«, sagte das Mädchen.

»Ja. Großmutter. Ich wäre dankbar, wenn du und deine Großmutter ein paar Fragen beantworten würdet, das ist alles.«

»Aha«, sagte die Alte. »Fragen, darum geht es, ja? Fragen können gefährlich sein, Mylord.«

»Gefährlich?« Tobias rieb sich mit zwei Fingern die Furchen auf seiner Stirn. »Ich suche nur nach der Wahrheit, meine Dame. Wenn Ihr ehrlich antwortet, wird Euch nichts geschehen. Ihr habt mein Wort darauf.«

Sie grinste, daß man die Lücken zwischen ihren Zähnen sah. »Ich meinte, für Euch, Mylord.« Sie lachte keckernd leise vor sich hin, dann beugte sie sich mit harter Miene zu ihm vor. »Vielleicht gefallen Euch die Antworten nicht, oder Ihr schlagt sie in den Wind.«

Tobias tat ihre Bedenken mit einer Handbewegung ab. »Die Sorge überlaßt mir.«

Sie richtete sich, wieder lächelnd, auf. »Wie Ihr wollt, Mylord.« Sie kratzte sich die Nase. »Wie lauten also Eure Fragen?«

Tobias lehnte sich zurück und musterte die Augen der wartenden Frau. »In letzter Zeit befanden sich die Midlands in Aufruhr, und wir wollen herausfinden, ob die Günstlinge des Hüters bei dem Zwist, der jetzt die Länder überschattet, ihre Hände im Spiel haben. Habt ihr gehört, ob Ratsmitglieder Reden gegen den Schöpfer geführt haben?«

»Räte lassen sich selten auf dem Markt blicken, um theologische Diskussionen mit alten Damen zu führen, Mylord. Ich nehme auch nicht an, daß sie so töricht wären, öffentlich Verbindungen zur Unterwelt bekanntzugeben, wenn sie welche hätten.«

»Und was habt Ihr sonst über sie gehört?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ihr wünscht Gerüchte aus der Stentorstraße zu hören, Mylord? Sagt nur, an welcher Art Gerücht Ihr interessiert seid, und ich erzähle Euch eines, das Eurem Wunsch entspricht.«

Tobias trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Gerüchte interessieren mich nicht, meine Dame. Nur die Wahrheit.«

Sie nickte. »Natürlich, Mylord, und die sollt Ihr auch erfahren. Manchmal interessieren sich die Menschen für die törichtesten Dinge.«

Er räusperte sich geplagt. »Ich habe bereits jede Menge Gerüchte gehört und an weiteren keinen Bedarf. Ich muß die Wahrheit über das erfahren, was in Aydindril geschehen ist. Wie ich hörte, hat man sogar den Rat hingerichtet und die Mutter Konfessor auch.«

Ihr verschlagenes Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. »Wieso macht ein Mann von Eurem hohen Rang bei seiner Ankunft nicht am Palast halt und bittet darum, den Rat zu sprechen? Wäre das nicht sinnvoller, als alle möglichen Leute heranzuschleppen, die selbst nichts gesehen haben, und diese auszufragen? Die Wahrheit läßt sich mit eigenen Augen besser beurteilen. Mylord.«

Brogan preßte die Lippen aufeinander. »Ich war nicht hier, als die Mutter Konfessor den Gerüchten zufolge hingerichtet wurde.«

»Ah, die Mutter Konfessor ist es also, um die es Euch geht. Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Ich hörte, sie sei hingerichtet worden, aber gesehen habe ich es nicht. Aber meine Enkelin hat es gesehen, nicht wahr, mein Liebling?«

Das kleine Mädchen nickte. »Ja, Mylord, ich habe es selbst gesehen. Sie haben ihr den Kopf abgeschlagen, jawohl.«

Brogan seufzte übertrieben. »Das hatte ich befürchtet. Sie ist also tot?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das hab’ ich nicht gesagt, Mylord. Ich sagte, ich hätte gesehen, wie man ihr den Kopf abgeschlagen hat.« Sie sah ihm offen in die Augen und lächelte.

»Was willst du damit sagen?« Brogan funkelte die Alte wütend an. »Was will sie damit sagen?«

»Genau das, was sie sagt, Mylord. In Aydindril gab es immer schon viel Magie, in letzter Zeit jedoch sprüht es hier geradezu davon. Wo Magie im Spiel ist, kann man nicht immer nur den Augen trauen. Dieses Mädchen ist zwar jung, dennoch klug genug, um das zu wissen. Ein Mann Eures Standes weiß das sicher auch.«

»Es sprüht von Magie? Das bedeutet Unheil. Was wißt Ihr über die Günstlinge des Hüters?«

»Schrecklich sind sie, Mylord. Doch Magie an sich ist selbst nichts Unheilvolles, sie existiert, ganz ohne Falsch.«

Brogan ballte die Fäuste. »Magie ist der Einfluß des Hüters.«

Sie lachte erneut keckernd. »Das ist, als wollte man sagen, das glänzende Silbermesser an Eurem Gürtel sei der Einfluß des Hüters. Benutzt man es, um einen Harmlosen oder Unschuldigen zu bedrohen, dann ist der Besitzer des Messers böse. Benutzt man es jedoch zum Beispiel, um sein Leben gegen einen fanatischen Wahnsinnigen zu verteidigen, egal wie hoch sein Rang, dann ist der Besitzer des Messers gut. Das Messer ist keins von beiden, weil beide es benutzen können.«

Ihr Blick schien zu brechen, und ihre Stimme senkte sich zu einem Zischen. »Benutzt man sie jedoch zur Vergeltung, dann ist Magie die Verkörperung der Rache.«

»Nun denn, wird die Magie, die in der Stadt umgeht, nun Eurer Ansicht nach für gute oder für böse Zwecke eingesetzt?«

»Für beides, Mylord. Schließlich steht hier die Burg der Zauberer, und die Stadt ist somit ein Sitz der Macht. Über Tausende von Jahren haben hier Konfessoren und auch Zauberer geherrscht. Macht zieht Macht nach sich. Konflikte brechen aus. Auf einmal erscheinen schuppige Wesen, genannt Mriswiths, mitten aus der Luft und reißen jedem Unschuldigen die Gedärme aus dem Leib, der ihnen im Weg ist. Das unheilvollste Omen, das es jemals gab. Andere Magie schlummert im Verborgenen, um sich derer zu bemächtigen, die vorschnell oder unvorsichtig sind. Die Nacht selbst wimmelt nur so von Magie, getragen von den hauchzarten Schwingen der Träume.«

Sie linste ihn aus einem trüben blauen Auge an und fuhr fort. »Ein Kind, das vom Feuer fasziniert ist, kann leicht darin verbrennen. Ein solches Kind wäre gut beraten, sehr vorsichtig zu sein und bei der ersten Gelegenheit fortzulaufen, bevor es, ohne es zu wollen, die Hand in die Flamme hält. Es werden sogar Menschen auf den Straßen aufgegriffen, um ihre Worte durch ein Sieb aus Magie zu filtern.«

Brogan beugte sich mit einem gluterfüllten Blick vor. »Und was wißt Ihr über Magie, meine Dame?«

»Eine zwiespältige Frage, Mylord. Könntet Ihr Euch etwas deutlicher ausdrücken?«

Tobias hielt einen Augenblick inne, um das Wesentliche aus ihrem weitschweifigen Gerede herauszupicken. Er hatte schon oft mit Leuten wie ihr zu tun gehabt und spürte, daß sie versuchte, ihn mit List vom Thema und von seiner Fährte abzubringen.

Wieder setzte er sein höfliches Lächeln auf. »Nun, zum Beispiel sagt Eure Enkelin, sie habe gesehen, wie die Mutter Konfessor enthauptet wurde, das heiße aber nicht, sie sei tot. Ihr sagt, Magie könne so etwas bewirken. Eine solche Behauptung macht mich neugierig. Natürlich weiß ich, wie Magie die Menschen gelegentlich zum Narren halten kann, doch bislang habe ich nur gehört, daß sie kleine Täuschungen bewirkt. Könnt Ihr erklären, wie man den Tod rückgängig machen kann?«

»Den Tod rückgängig machen? Der Hüter allein hat dazu die Macht.«

Brogan preßte seinen Leib nach vorne gegen den Tisch. »Wollt Ihr behaupten, der Hüter selbst hätte sie wieder zum Leben erweckt?«

Sie lachte keckernd. »Nein, Mylord. Ihr verfolgt das, worauf Ihr aus seid, mit solcher Hartnäckigkeit, daß Ihr nur das hört, was Ihr hören wollt. Ihr habt gefragt, wie man den Tod rückgängig machen kann. Der Hüter kann den Tod rückgängig machen. Zumindest nehme ich das an, denn er ist der Herrscher der Toten, er hat Macht über das Leben und den Tod, daher ist es nur natürlich, wenn man annimmt, daß —«

»Lebt sie oder lebt sie nicht!«

Die Alte blickte ihn erstaunt an. »Woher soll ich das wissen, Mylord?«

Brogan knirschte mit den Zähnen. »Ihr habt selbst gesagt, nur weil Leute gesehen haben, wie sie enthauptet wurde, heißt das nicht, daß sie tot ist.«

»Oh, sind wir jetzt wieder da angelangt, ja? Nun, mit Magie könnte man so etwas vollbringen, aber deshalb muß es ja nicht auch so gewesen sein. Ich sagte lediglich, daß Magie das kann. Dann habt Ihr die Witterung verloren und Euch danach erkundigt, ob man den Tod rückgängig machen kann. Das ist ganz etwas anderes, Mylord.«

»Wie, Weibstück! Wie kann Magie eine solche Täuschung bewirken!«

Sie zog die zerlumpte Decke hoch und wickelte sie sich gemütlich um die Schultern.

»Durch einen Todeszauber, Mylord.«

Brogan sah zu Lunetta hinüber. Ihre kleinen runden Augen waren starr auf die alte Frau gerichtet, dabei kratzte sie sich die Arme.

»Ein Todeszauber. Und was genau ist ein Todeszauber?«

»Nun, ich habe genaugenommen nie gesehen, wie einer ausgeübt wurde«, — sie lachte stillvergnügt, als hätte sie einen Scherz gemacht — »daher kann ich Euch nicht recht davon berichten, aber ich kann Euch sagen, was man mir erzählt hat, wenn Euch Kenntnisse aus zweiter Hand genügen.«

Brogan preßte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Fangt endlich an.«

»Jemandes Tod zu sehen, ihn zu begreifen, ist etwas, daß wir alle auf einer spirituellen Ebene verstehen. Der Anblick eines Körpers, der von einer Seele, seinem Geist, getrennt wird, das ist es, was wir als Tod begreifen. Ein Todeszauber kann einen echten Tod vortäuschen, indem er die Menschen glauben macht, sie hätten einen Toten, einen Körper ohne seine Seele gesehen, so daß sie das Ereignis instinktiv als wahr hinnehmen.«

Sie schüttelte den Kopf, so als fände sie dies gleichermaßen erstaunlich als auch empörend. »Das ist sehr gefährlich. Man muß dazu die Hilfe der Seelen erflehen, damit sie die Seele der betreffenden Person festhalten, während das Netz ausgeworfen wird. Geht irgend etwas schief, wird die Seele des Opfers hilflos in die Unterwelt verbannt — eine sehr unangenehme Weise zu sterben. Geht alles gut und geben die Seelen wieder her, was sie behütet haben, so wird es, wie man mir erzählt hat, gelingen, und der Betreffende lebt weiter. Wer Zeuge war, wird jedoch denken, er sei tot. Das ist allerdings sehr riskant. Ich habe zwar davon gehört, aber nie gesehen, daß es tatsächlich versucht wurde. Möglicherweise handelt es sich also nur um Gerede.«

Brogan saß still da und sortierte in Gedanken alles, was er heute erfahren hatte, kombinierte es mit jenem, was er vorher schon gewußt hatte. Wie mochte das alles zusammenpassen? Bestimmt hatte sie einen Trick benutzt, um der Gerechtigkeit zu entgehen, allerdings einen, den sie nicht ohne Mittäter hätte durchführen können.

Die Alte legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter und wollte sich schlurfend entfernen. »Vielen Dank, daß wir uns bei Euch aufwärmen durften, Mylord, aber langsam werde ich Eurer wirren Fragen müde, außerdem habe ich Besseres zu tun.«

»Wer könnte einen solchen Todeszauber durchführen?«

Die alte Frau blieb stehen. Ihre verwaschenen blauen Augen begannen gefährlich zu leuchten. »Nur ein Zauberer, Mylord. Nur ein Zauberer mit ungeheurer Macht und großem Wissen.«

Brogans Blick hatte jetzt etwas Bedrohliches. »Und — gibt es hier in Aydindril Zauberer?«

Ihr bedächtiges Lächeln ließ ihre trüben Augen funkeln. Sie griff in eine Tasche unter ihrer Decke und warf eine Münze auf den Tisch, wo sie sich träge drehte, bis sie schließlich vor ihm liegenblieb. Brogan nahm die Silbermünze in die Hand und betrachtete argwöhnisch die Prägung.

»Ich habe etwas gefragt, alte Frau. Ich erwarte eine Antwort.«

»Ihr haltet sie in der Hand, Mylord.«

»So eine Münze habe ich noch nie gesehen. Was ist das hier für eine Abbildung? Sieht aus wie irgendein großes Gebäude.«

»Oh, das ist es auch, Mylord«, zischelte sie. »Es ist die Brutstätte von Rettung und Verdammnis, von Zauberern und Magie: der Palast der Propheten.«

»Nie davon gehört. Was ist das, dieser Palast der Propheten?«

Die alte Frau setzte ein stilles Lächeln auf. »Fragt Eure Magierin, Mylord.« Sie drehte sich erneut um und wollte den Raum verlassen.

Brogan sprang auf. »Niemand hat Euch erlaubt zu gehen, zahnloses altes Weib!«

Sie warf einen Blick zurück über ihre Schulter. »Es ist die Leber, Mylord.«

Brogan beugte sich, auf die Fingerknöchel gestemmt, vor. »Was?«

»Ich mag rohe Leber, Mylord. Ich glaube, das war es, weshalb mir im Laufe der Zeit alle meine Zähne ausgefallen sind.«

Genau in diesem Augenblick erschien Galtero, drückte sich an der Frau und dem Mädchen vorbei, während diese durch die Tür gingen. Er salutierte, die Fingerspitzen an die nach vorn geneigte Stirn gelegt. »Lord General, ich habe etwas zu berichten.«

»Ja, ja. Einen Augenblick.«

»Aber —«

Brogan gebot Galtero mit erhobenem Finger zu schweigen und wandte sich Lunetta zu. »Nun?«

»Es stimmt jedes Wort, Lord General. Sie ist wie eine Wasserwanze, die über die Wasseroberfläche huscht und sie dabei nur mit den Spitzen ihrer Füße berührt, aber alles, was sie gesagt hat, ist wahr. Sie weiß viel mehr, als sie preisgibt, doch was sie sagt, ist wahr.«

Brogan winkte Ettore mit einer ungeduldigen Handbewegung zu sich. Der Mann nahm vor dem Tisch Haltung an, während sich sein scharlachrotes Cape um seine Beine aufbauschte. »Lord General?«

Brogan kniff die Augen zusammen. »Ich denke, wir haben es möglicherweise mit einer Verderbten zu tun. Möchtest du dich des scharlachroten Capes, das du trägst, würdig erweisen?«

»Ja. Lord General, sehr gern.«

»Nimm sie in Gewahrsam, ehe sie das Gebäude verläßt. Sie steht unter dem Verdacht, eine Verderbte zu sein.«

»Was ist mit dem Mädchen, Lord General?«

»Hast du nicht zugehört, Ettore? Zweifellos wird sich herausstellen, daß es die Vertraute der Verderbten ist. Außerdem wollen wir nicht, daß sie draußen auf der Straße herumposaunt, ihre Großmutter werde vom Lebensborn festgehalten. Die andere, die Köchin, würde man vermissen, und das könnte uns Unruhestifter auf den Plan bringen, aber die beiden nicht. Sie gehören jetzt uns.«

»Ja, Lord General. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Ich will sie so schnell wie möglich verhören. Das Mädchen ebenfalls.« Brogan hob warnend einen Finger. »Sie sollten besser darauf vorbereitet sein, alle meine Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.«

Ettores jugendliches Gesicht verzog sich zu einem schauerlichen Grinsen. »Sie werden gestehen, wenn Ihr sie aufsucht, Lord General. Beim Schöpfer, sie werden bereit sein, zu gestehen.«

»Sehr gut, mein Junge, und nun geh, bevor sie auf der Straße sind.«

Als Ettore durch die Tür hinauseilte, trat Galtero ungeduldig vor, wartete jedoch schweigend vor dem Tisch.

Brogan ließ sich in den Sessel zurücksinken, seine Stimme klang entrückt. »Galtero, Ihr habt wie üblich sorgfältige und gute Arbeit geleistet. Die Zeugen, die Ihr brachtet, haben sich als überaus brauchbar erwiesen.«

Tobias Brogan schob die Silbermünze zur Seite, schnallte die Lederriemen seines Kästchens los und kippte seine Trophäen in einem Haufen auf den Tisch. Er bereitete sie mit zärtlicher Sorgfalt aus, berührte das einst lebendige Fleisch. Es handelte sich um getrocknete Brustwarzen — jeweils die linke, die dem bösen Herz eines Verderbten am nächsten war — mit genügend Haut, damit der Namen eintätowiert werden konnte. Sie stellten nur einen Bruchteil der Verderbten dar, die er enthüllt hatte. Die Wichtigsten der Wichtigen, die abscheulichsten Unholde des Hüters.

Während er die Beutestücke einzeln wieder zurücklegte, las er den Namen eines jeden Verderbten, den er auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Er erinnerte sich an jeden Fall, jede Gefangennahme, jede Untersuchung. Flammen der Wut loderten auf, sobald er an die ruchlosen Verbrechen dachte, die ein jeder schließlich gestanden hatte. Jedes einzelne Mal war der Gerechtigkeit Genüge getan worden.

Doch der Fang der Fänge stand noch aus: die Mutter Konfessor.

»Galtero«, sagte er mit leiser, eisiger Stimme. »Ich habe ihre Spur aufgenommen. Holt die Männer zusammen. Wir werden augenblicklich aufbrechen.«

»Ich denke, Ihr solltet Euch lieber erst anhören, was ich zu berichten habe, Lord General.«

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