28

Sie setzte eine verwunderte Miene auf und blickte an der Klinge des rostigen Schwertes entlang, das man ihr vors Gesicht hielt. Die Spitze war nicht mehr als Zentimeter entfernt.

»Muß das wirklich sein? Ich habe euch doch gesagt, nehmt euch, was ihr wollt. Wir werden euch nicht daran hindern. Aber ich muß euch sagen, ihr seid die dritte Bande Banditen, die uns in den letzten zwei Wochen überfallen hat, und wir besitzen nichts Wertvolles mehr.«

Nach dem Zittern der Hand des Jungen zu urteilen, schien er in seinem Handwerk nicht sehr erfahren zu sein. Und so wie ihm die Haut um die Knochen schlotterte, hatte er bisher auch nicht sehr viel Erfolg gehabt.

»Halt den Mund!« Er sah seinen Kumpel verstohlen an. »Hast du was gefunden?«

Der zweite junge Bandit, der zwischen dem Gepäck auf dem Boden hockte und ebenso dürr war wie der erste, warf immer wieder hektische Blicke in den dunkler werdenden Wald zu beiden Seiten der vielbenutzten Straße. Er blickte zurück zu der nicht weit entfernten Biegung, wo die Straße hinter einer Wand aus schneeverkrusteten Tannen verschwand. In der Mitte der Kurve, kurz bevor die Straße nicht mehr zu sehen war, führte eine Brücke über einen rauschenden Bach. »Nein. Nur Kleider und Plunder. Keinen Schinken, nicht einmal Brot.«

Der erste wippte auf den Fußballen vor und zurück, bereit, beim ersten Anzeichen von Gefahr davonzurennen. Er griff mit der zweiten Hand ans Heft, um das Gewicht des schlecht geschmiedeten Schwertes besser halten zu können. »Ihr seht gut genährt aus. Was eßt ihr zwei, Alte! Schnee?«

Sie faltete die Hände über ihrem Gürtel und seufzte. Die Sache langweilte sie allmählich. »Wir arbeiten unterwegs für unser Essen. Solltest du auch mal versuchen. Arbeiten, meine ich.«

»Ach ja? Wir haben Winter, Alte, falls du das noch nicht mitbekommen hast. Es gibt keine Arbeit. Letzten Herbst hat sich die Armee unsere Vorräte unter den Nagel gerissen. Meine Eltern haben nichts, um über den Winter zu kommen.«

»Das tut mir leid, mein Sohn. Vielleicht…«

»He! Was ist denn das, alter Mann?« Er hakte seinen Finger in den mattsilbernen Halsring und zerrte daran. »Wie kriegt man das ab? Los, antworte!«

»Ich sagte es dir bereits«, meinte sie, der stummen Wut in den blauen Augen des Zauberers ausweichend, »mein Bruder ist taubstumm. Er versteht nicht, was wir reden, und kann auch nicht antworten.«

»Taubstumm? Dann sag du mir, wie man dieses Ding abkriegt.«

»Das ist bloß ein Erinnerungsstück aus Eisen, das vor langer Zeit geschmiedet wurde. Es ist nichts wert.«

Eine Hand löste sich vom Schwert, als der Räuber sich vorsichtig zu ihr hinüberbeugte und das Cape mit einem Finger zur Seite schob. »Was ist das? Ein Geldbeutel! Ich hab ihren Geldbeutel gefunden!« Er riß ihr den schweren Beutel mit Goldmünzen vom Gürtel. »Er ist bestimmt voller Gold!«

Sie lachte vergnügt in sich hinein. »Ich fürchte, es ist bloß ein Beutel voller harter Kekse. Du kannst dir von mir aus einen nehmen, wenn du willst, aber versuche nicht, sie zu zerbeißen, sonst brichst du dir die Zähne aus. Lutsche sie erst ein Weilchen.«

Er fischte eine Goldmünze heraus und steckte sie sich zwischen die Zähne. Er zuckte zusammen und machte ein säuerliches Gesicht. »Wie könnt ihr diese Dinger essen? Ich hab schon schlechte Kekse gegessen, aber die hier sind nicht mal gut genug, um schlecht genannt zu werden.«

So einfach ist das bei einem jungen Verstand, dachte sie. Nur schade, daß es bei einem Erwachsenen nicht so simpel funktionierte.

Er spie zur Seite hin aus und schleuderte den Beutel mit dem Gold in den Schnee, dann tastete er ihr Cape nach anderen Dingen ab, die sie vielleicht noch versteckt hielt.

Sie seufzte ungeduldig. »Würdet ihr Jungs jetzt endlich voranmachen mit dem Überfall? Wir würden gern noch vor Einbruch der Dunkelheit die nächste Ortschaft erreichen.«

»Nichts«, meinte der zweite. »Sie haben nichts, was sich lohnt.«

»Sie haben Pferde«, meinte der erste, während er mit den Händen in ihr schweres Cape griff und darin herumtastete. »Wenigstens die Pferde könnten wir mitnehmen. Sie werden etwas einbringen.«

»Bitte«, meinte sie. »Ich bin es leid, diese alten Mähren herumführen zu müssen. Sie halten einen bloß auf. Ihr würdet mir einen Gefallen tun. Alle vier lahmen, und ich bringe es nicht übers Herz, sie von ihrem Elend zu erlösen.«

»Die Alte hat recht«, meinte der zweite, als er eines der hinkenden Pferde probeweise ein Stück am Zügel führte. »Alle vier. Zu Fuß sind wir schneller. Wenn wir diese ausgemergelten Tiere mitnehmen, werden wir bestimmt geschnappt.«

Der erste strich immer noch mit der Hand über ihr Cape. Auf ihrer Tasche hielt er inne. »Was ist das?«

Ihre Stimme bekam einen scharfen Unterton. »Nichts, was für dich irgendwie von Interesse wäre.«

»Ach, nein?« Er fischte das Reisebuch aus ihrer Tasche.

Als er die leeren Seiten durchblätterte, fiel ihr eine Nachricht ins Auge. Endlich.

»Was ist das?«

»Nur ein Reisebuch. Kannst du lesen, mein Sohn?«

»Nein. Gibt doch eh kaum was, das sich zu lesen lohnt.«

»Nimm’s trotzdem mit«, meinte der zweite. »Vielleicht ist es etwas wert, wenn noch nichts drinsteht.«

Sie sah wieder den jungen Mann an, der sie mit dem Schwert bedrohte. »Jetzt reicht es mir allmählich. Betrachtet den Überfall als beendet.«

»Der ist vorbei, wenn ich sage, daß er vorbei ist.«

»Gib es zurück«, sagte Ann in gleichgültigem Ton und streckte die Hand aus. »Und dann verschwindet, bevor ich euch an den Ohren in den Ort schleife und eure Eltern kommen lasse, damit sie euch abholen.«

Er sprang einen Schritt zurück und fuchtelte mit dem Schwert herum. »Hör zu, werd nicht frech, sonst bekommst du meinen Stahl zu spüren. Ich weiß, wie man mit diesem Ding umgeht!«

Plötzlich war die stille Abendluft erfüllt vom Schlag donnernder Hufe. Sie hatte beobachtet, wie sich die Soldaten hinter der Kurve auf der anderen Seite der kleinen Brücke und wegen des rauschenden Wassers von den beiden jungen Männern unbemerkt — angeschlichen hatten, bis sie schließlich im letzten Augenblick losgaloppierten. Als sich ihr Angreifer erschrocken umdrehte, riß Ann ihm das Schwert aus der Hand. Nathan entriß dem anderen sein Messer.

Berittene d’Haranische Soldaten ragten plötzlich turmhoch über ihnen auf. »Was ist hier los?« fragte der Sergeant mit einer ruhigen, tiefen Stimme.

Die beiden jungen Männer waren starr vor Schreck. »Nun«, meinte Ann, »wir haben diese beiden hier zufällig getroffen, und sie haben uns erzählt, daß wir uns vor Banditen in acht nehmen sollen. Sie stammen hier aus der Gegend. Sie wollten uns gerade zeigen, wie wir uns schützen können, und haben uns ihre Schwertkünste vorgeführt.«

Der Sergeant faltete die Hände über dem Sattelknauf. »Stimmt das, Junge?«

»Ich … wir…« Er sah sie flehend an. »Stimmt. Wir wohnen ganz in der Nähe und haben diesen beiden Reisenden gesagt, sie sollen vorsichtig sein. Wir haben nämlich gehört, daß es Banditen in der Gegend gibt.«

»Und das war eine beachtliche Vorführung der Schwertkampfkunst. Wie versprochen, junger Mann, bekommst du einen Keks für die Demonstration. Reich mir den Beutel mit den Keksen, dort drüben.«

Er bückte sich, hob den schweren Beutel mit dem Gold auf und gab ihn ihr. Ann nahm zwei Münzen heraus und drückte jedem der jungen Männer eine in die Hand.

»Wie versprochen, einen Keks für jeden. Und jetzt macht ihr euch besser nach Hause auf, Jungs, sonst sorgen sich eure Eltern. Gebt ihnen meinen Keks als Dank dafür, daß sie euch hergeschickt haben, um uns zu warnen.«

Er nickte sprachlos. »Also gut. Gute Nacht. Paßt auf euch auf.«

Ann streckte die Hand aus. Sie fixierte den jungen Mann mit einem gefährlichen Seitenblick. »Wenn du dir mein Reisebuch lange genug angesehen hast, hätte ich es jetzt gerne zurück.«

Als er ihren Blick bemerkte, riß er die Augen auf. Dann drückte er ihr das Reisebuch in die Hand, als würde es ihm die Finger verbrennen. Was es auch tat.

Ann lächelte. »Danke, mein Sohn.«

Er wischte sich die Hand an seiner zerlumpten Jacke ab. »Also dann, auf Wiedersehen. Und seid vorsichtig.«

Er machte kehrt und wollte gehen. »Vergiß das nicht.« Er drehte sich vorsichtig wieder um. »Dein Vater wäre fürchterlich böse, wenn du sein Schwert vergessen würdest.«

Er hob es vorsichtig auf. Nathan, der nicht bereit war, ganz auf ein wenig Theatralik zu verzichten, ließ das Messer um seine Finger kreisend über seinen Handrücken wandern. Er schleuderte das Messer in die Luft, fing es hinter seinem Rücken wieder auf, dann wirbelte es unter seinem Arm hindurch in seine andere Hand. Ann verdrehte die Augen, als er gegen die Klinge schlug und die Drehrichtung wechselte. Er fing das Messer an der Klinge auf und reichte es, mit dem Griff voran, dem anderen jungen Mann.

»Wo hast du denn das gelernt, alter Mann?« wollte der Sergeant wissen.

Nathan zog ein finsteres Gesicht. Wenn es irgend etwas gab, was Nathan nicht mochte, dann war dies, ›alter Mann‹ genannt zu werden. Er war ein Zauberer, ein Prophet von beispiellosen Fähigkeiten, und fand, man müsse ihm Bewunderung, wenn nicht gar großen Respekt zollen. Ann hielt seine Gabe mit Hilfe des Rada’Han im Zaum, sonst hätte der Sattel des Sergeanten mittlerweile zweifellos in Flammen gestanden. Sie hinderte ihn auch daran, etwas zu sagen. Nathans Zunge war mindestens ebenso gefährlich wie seine Kraft.

»Mein Bruder ist leider taubstumm.« Sie scheuchte die beiden Banditen mit einer Handbewegung fort. Sie winkten und verschwanden, den Schnee mit den Füßen hochschleudernd, fluchtartig im Wald. »Mein Bruder hat sich schon immer mit kleinen Taschenspielereien die Zeit vertrieben.«

»Meine Dame, haben die beiden Euch auch ganz bestimmt keinen Ärger gemacht?«

»Ach was«, meinte sie spöttisch.

Der Sergeant nahm seine Zügel auf. Die zwanzig Mann hinter ihm taten es ihm nach, bereit, ihm zu folgen. »Ich denke, wir werden uns trotzdem ein wenig mit ihnen unterhalten. Und zwar über das Stehlen.«

»Wenn Ihr das tut, dann laßt Euch auch von ihnen erzählen, wie die d’Haranischen Truppen ihren Eltern die Vorräte gestohlen haben und wie sie deswegen hungern müssen.«

Der Soldat mit dem kantigen Kinn ließ die Zügel sinken. »Was früher geschah, davon weiß ich nichts. Aber der neue Lord Rahl hat ausdrücklich jegliche Plünderungen seitens der Armee verboten.«

»Der neue Lord Rahl?«

Er nickte. »Richard Rahl, der Herrscher von D’Hara.«

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein Lächeln in Nathans Mundwinkeln zuckte. Ein Lächeln für die richtig gewählte Gabelung in einer Prophezeiung. Obwohl es nicht anders hätte sein dürfen, wenn sie Erfolg haben wollten, rief es bei ihr kein Lächeln hervor. Statt dessen versetzte es ihr innerlich einen schmerzhaften Stich, als sich bestätigte, welcher Weg vor ihnen lag. Nur die Alternative dazu war schlimmer. »Ja, ich glaube, den Namen habe ich schon gehört, jetzt, wo Ihr ihn erwähnt.«

Der Sergeant stand in den Steigbügeln und drehte sich zu seinen Männern um. »Ogden, Spaulding!« Den Schnee hochschleudernd, sprangen ihre Pferde nach vorn. »Reitet diesen Jungen hinterher, und bringt sie zu ihren Eltern. Findet heraus, ob es stimmt, was sie erzählen, daß Truppen ihnen ihre Vorräte gestohlen haben. Wenn ja, stellt fest, aus wieviel Personen ihre Familien bestehen und ob es noch andere in der Gegend gibt, die in derselben Lage sind. Bringt einen Bericht zurück nach Aydindril, und sorgt dafür, daß sie bekommen, was sie an Lebensmitteln brauchen, um den Winter zu überstehen.«

Die beiden Soldaten salutierten mit einem Faustschlag auf das dunkle Leder und den Kettenpanzer über ihrem Herzen, dann ließen sie ihre Pferde die Spuren entlang galoppieren, die in den Wald hineinführten. Der Sergeant drehte sich wieder zu ihr um. »Befehl von Lord Rahl«, erklärte er. »Seid Ihr auf dem Weg nach Aydindril?«

»Ja. Wir hoffen, dort Schutz zu finden. Wie all die anderen, die nach Norden reisen.«

»Ihr werdet ihn finden, aber das kostet seinen Preis. Ich erzähle Euch, was ich auch all den anderen sage. Was immer früher Eure Heimat war, jetzt seid Ihr Untertanen D’Haras. Wenn Ihr in ein Gebiet wollt, das unter dem Einfluß D’Haras steht, wird man Eure Ergebenheit verlangen, zusammen mit einem kleinen Teil dessen, was Ihr durch Eure Arbeit verdient.«

Sie zog eine Braue hoch. »Wie es scheint, raubt die Armee das Volk noch immer aus?«

»Das mag Euch so erscheinen, nicht aber Lord Rahl, und sein Wort ist Gesetz. Alle zahlen das gleiche, um die Truppen zu finanzieren, die unsere Freiheit beschützen sollen. Wenn Ihr nicht zahlen wollt, steht es Euch frei, auf Schutz und Freiheit zu verzichten.«

»Wie es scheint, hat Lord Rahl die Dinge fest in der Hand.«

Der Sergeant nickte. »Er ist ein mächtiger Zauberer.«

Nathans Schultern zuckten in stummer Amüsiertheit.

Der Sergeant kniff die Augen zusammen. »Worüber lacht er, wenn er doch angeblich taubstumm ist?«

»Oh, das ist er. Aber er ist auch ein Schwachkopf.« Ann schlenderte hinüber zu den Pferden. Als sie vor dem breitschultrigen Zauberer herging, rammte sie ihm einen spitzen Ellenbogen in den Leib. »Manchmal lacht er bei den seltsamsten Gelegenheiten so.« Sie hob finster dreinblickend den Kopf, und Nathan hüstelte. »Wenn er so weitermacht, fängt er womöglich jeden Augenblick noch an zu sabbern.«

Mit sanfter Hand streichelte Ann über Bellas geschmeidige, kräftige, goldene Flanken. Bella tänzelte vor Freude über die Liebkosung. Die große Stute streckte erwartungsvoll die Zunge raus. Nichts mochte sie lieber, als wenn ihr jemand daran zog. Ann tat ihr den Gefallen, dann kraulte sie die Stute hinterm Ohr. Bella wieherte vor Freude und streckte die Zunge erneut aus, in der Hoffnung, das Spiel würde weitergehen.

»Ihr spracht gerade davon, Sergeant, der neue Lord Rahl sei ein mächtiger Zauberer?«

»Ganz recht. Er hat die Wesen erschlagen, die Ihr vor dem Palast auf Lanzen aufgespießt sehen werdet.«

»Wesen?«

»Er nennt sie Mriswiths. Häßliche, schuppige, echsenartige Bestien. Sie haben mehrere Menschen getötet, aber Lord Rahl hat sie eigenhändig in Stücke geschlagen.«

Mriswiths. Das waren wahrlich keine guten Neuigkeiten.

»Gibt es eine Ortschaft in der Nähe, wo wir etwas zu essen und eine Unterkunft für die Nacht finden können?«

»Ten Oaks liegt gleich hinter der nächsten Anhöhe, vielleicht zwei Meilen entfernt. Dort gibt es einen kleinen Gasthof.«

»Und wie weit ist es bis nach Aydindril?«

Er betrachtete abschätzend ihre vier Pferde, während sie Bellas Ohr kraulte. »Bei so prächtigen Tieren glaube ich kaum, daß Ihr mehr als sieben oder acht Tage brauchen werdet.«

»Vielen Dank, Sergeant. Es ist gut, Soldaten in der Nähe zu wissen, für den Fall, daß sich Banditen in der Gegend herumtreiben.«

Er sah zu Nathan hinüber, betrachtete genau seine hoch aufragende Gestalt, sein langes, weißes Haar, das bis auf seine Schultern reichte, sein kräftiges, sauber rasiertes Kinn und seine durchdringenden dunkelblauen, zusammengekniffenen Augen. Nathan war ein auf derbe Weise gutaussehender Mann voller Lebensenergie, trotz seiner fast eintausend Jahre.

Der Sergeant wandte sich ihr zu. Es war ihm sichtlich lieber, Blicke mit einer zierlichen alten Frau zu wechseln als mit Nathan. Obwohl er seiner Kraft beraubt war, hatte Nathan etwas Furchteinflößendes an sich. »Wir suchen jemanden vom Lebensborn aus dem Schoß der Kirche.«

»Lebensborn aus dem Schoß der Kirche? Ihr meint diese überheblichen Narren aus Nicobarese in den roten Capes?«

Der Sergeant faßte die Zügel seines Pferdes knapper, als es zur Seite trippeln wollte. Andere aus der Gruppe der zwanzig Pferde scharrten im Schnee und suchten nach Gras oder knabberten hoffnungsvoll an den trockenen Ästen neben der Straße, während sie die Schwänze träge in der kühlen Abendluft schwirren ließen. »Genau die. Zwei Männer, einer von ihnen der Lord General des Lebensborns, dazu ein Offizier und eine Frau. Sie sind aus Aydindril geflohen, und Lord Rahl hat angeordnet, sie zurückzubringen. Überall durchkämmen unsere Leute das Land nach ihnen.«

»Tut mir leid, aber wir haben keine Spur von ihnen gesehen. Wohnt Lord Rahl in der Burg der Zauberer?«

»Nein, im Palast der Konfessoren.«

Ann seufzte. »Wenigstens etwas Gutes.«

Er runzelte die Stirn. »Warum ist das gut?«

Sie hatte gar nicht mitbekommen, daß sie ihrer Erleichterung laut Ausdruck verliehen hatte. »Oh. Na ja. Es ist nur so, ich hoffe, diesen großen Mann zu sehen, und wenn er in der Burg wohnt, wäre das nicht möglich. Sie ist durch Magie abgeschirmt, wie ich gehört habe. Wenn er im Palast auf den Balkon hinaustritt, um den Menschen zuzuwinken, bekomme ich ihn vielleicht zu sehen.

Nun, vielen Dank für Eure Hilfe, Sergeant. Ich denke, es wäre das beste, wenn wir in Ten Oaks eintreffen, bevor es stockfinster ist. Ich möchte nicht, daß eines meiner Pferde in ein Loch tritt und sich ein Bein bricht.«

Der Sergeant wünschte ihr eine gute Nacht und führte seinen Trupp Soldaten die Straße hoch, fort von Aydindril. Erst als sie ein gutes Stück außer Hörweite waren, nahm sie die Sperre von Nathans Stimme zurück. Es war schwierig, eine solche Kontrolle über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Ann machte sich gedanklich auf den unvermeidlichen Wutausbruch gefaßt und ging daran, ihr Gepäck aus dem Schnee aufzusammeln.

»Wir sollten jetzt am besten aufbrechen«, meinte sie zu ihm.

Nathan richtete sich auf und setzte eine herrisch finstere Miene auf. »Du verschenkst Gold an Räuber? Du hättest —«

»Es waren doch nur junge Burschen, Nathan. Sie hatten Hunger.«

»Und haben versucht, uns auszurauben.«

Lächelnd warf Ann ein Bündel über Bellas Rücken. »Du weißt ebensogut wie ich, daß es dazu nicht gekommen wäre. Aber ich habe ihnen mehr als Gold gegeben. Ich glaube, sie werden das nicht noch einmal versuchen.«

Er brummte etwas. »Hoffentlich verbrennt ihnen der Bann, mit dem du das Gold belegt hast, die Finger bis auf die Knochen.«

»Hilf mir mit unserem Gepäck. Ich will zum Gasthaus. Im Reisebuch stand eine Nachricht.«

Nathan verschlug es nur für einen Augenblick die Sprache. »Lange genug gebraucht hat sie ja. Wir haben ihr so viele Hinweise hinterlassen, daß ein Kind längst dahintergekommen wäre. Hätte bloß noch gefehlt, daß wir ihr einen Zettel ans Kleid heften, auf dem steht: ›Übrigens, die Prälatin und der Prophet sind gar nicht wirklich tot, du Tölpel.‹«

Ann zog Bellas Bauchgurt fest. »Für sie war es bestimmt nicht so einfach, wie du es jetzt hinstellst. Uns kommt es nur deshalb so offensichtlich vor, weil wir davon wußten. Sie hatte keinen Grund, Verdacht zu schöpfen. Verna hat es bemerkt, das allein zählt.«

Nathans Antwort war hochmütiges Schnauben, dann ging er schließlich daran, ihr beim Einsammeln der restlichen Bündel zu helfen. »Und, was schreibt sie?«

»Das weiß ich noch nicht. Wir werden uns darum kümmern, sobald wir eine Bleibe für die Nacht gefunden haben.«

Nathan hob drohend einen Finger. »Wenn du mir noch einmal mit diesem Taubstummentrick kommst, wirst du das dein Leben lang bedauern.«

Sie sah ihn böse und verärgert an. »Und wenn wir noch einmal Leuten begegnen und du anfängst herumzukrakelen, du seist von einer verrückten Hexe entführt worden und würdest mit einem magischen Halsring gefangengehalten, werde ich dich wirklich taubstumm machen!«

Als sie das Gasthaus gefunden und ihre Pferde bei einem Burschen im dahinterliegenden Stall gelassen hatten, waren die Sterne herausgekommen, und über einem fernen Gebirgshang war der kleine winterliche Mond zu sehen. Der Rauch des Holzfeuers, der dicht über dem Boden stand, trug auch den Geruch von Eintopf heran. Sie gab dem Stalljungen einen Penny, damit er ihre Sachen ins Haus trug.

Ten Oaks war eine kleine Gemeinde, und im Gasthaus saßen nur ein Dutzend Einheimische an ein paar Tischen. Die meisten tranken und rauchten Pfeifen zu den Geschichten, die sie von Soldaten gehört hatten, zu den Gerüchten über die von Lord Rahl erzwungenen Bündnisse, von dessen angeblicher Herrschaft über Aydindril nicht alle überzeugt waren. Andere wollten wissen, wie sie sich dann erklärten, daß die d’Haranischen Truppen plötzlich so diszipliniert waren, wenn sie nicht endlich jemand ins Gebet genommen hatte.

Nathan, der hohe Stiefel trug, braune Hosen, ein weißes Rüschenhemd, das über seinen Rada’Han geknöpft war, eine offene, dunkle Weste und ein schweres braunes Cape, das bis fast auf den Boden reichte, schlenderte zu der kurzen Theke, die man vor ein paar Flaschen und Krügen errichtet hatte. Mit noblem Gehabe warf er sein Cape über die Schulter nach hinten und stellte einen Stiefel auf die Fußstütze. Nathan genoß es, andere Kleider anzuhaben als die schwarze Robe, die er immer im Palast getragen hatte. Er bezeichnete dies als ›Bescheidenheit‹.

Der humorlose Gastwirt lächelte erst, als Nathan ihm eine Silbermünze zugeschoben und ihm drohend klargemacht hatte, angesichts des hohen Preises für die Übernachtung sollte darin besser auch eine Mahlzeit enthalten sein. Der Wirt willigte achselzuckend ein.

Fast augenblicklich begann Nathan ein Garn zu spinnen, er sei ein Kaufmann, der mit seiner Mätresse reise, während seine Ehefrau zu Hause seine zwölf strammen Söhne großzog. Der Mann wollte wissen, mit welcher Art Waren Nathan Handel treibe. Nathan beugte sich zu ihm hinüber, mäßigte seinen herrischen Ton und erklärte dem Mann augenzwinkernd, es sei besser, wenn er dies nicht wisse.

Der Wirt war beeindruckt, richtete sich auf und reichte Nathan einen Krug auf Kosten des Hauses. Nathan brachte einen Trinkspruch auf das Gasthaus, den Wirt und alle Gäste aus, bevor er sich auf den Weg zur Treppe machte und dem Wirt befahl, seinem ›Weib‹ mit dem Eintopf ebenfalls einen Krug zu servieren. Sämtliche Augen im Gasthaus waren voller Bewunderung auf den eindrucksvollen Fremden gerichtet.

Ann schwor sich mit zusammengepreßten Lippen, sich nicht noch einmal ablenken zu lassen, und ließ Nathan genügend Zeit, sich eine Ausrede für ihre Anwesenheit hier zurechtzulegen. Ihre Gedanken kreisten um das Reisebuch. Sie wollte wissen, was darin stand, aber sie war auch besorgt. Leicht konnte etwas schiefgegangen sein. Womöglich war eine der Schwestern der Finsternis in den Besitz des Buches gelangt und hatte herausgefunden, daß die beiden noch lebten. Das konnten sie sich nicht leisten. Sie legte die Hand auf den schmerzenden Magen. Soweit sie wußte, befand sich der Palast bereits in Feindeshand.

Das Zimmer war klein, jedoch sauber, mit zwei schmalen Pritschen, einem weißen Gestell, auf dem eine Waschschüssel aus Blech und ein zerbeulter Wasserkrug standen, sowie einem quadratischen Tisch, auf den Nathan eine Öllampe stellte, die er von der Halterung gleich neben der Tür mit hereingebracht hatte. Dicht hinter ihnen kam der Wirt mit Schüsseln voller Eintopf und braunem Brot, gefolgt von dem Stallburschen mit ihrem Gepäck. Nachdem die beiden gegangen waren und die Tür geschlossen hatten, setzte Ann sich hin und rückte ihren Stuhl an den Tisch heran.

»Und«, meinte Nathan, »willst du mir keine Vorhaltungen machen?«

»Nein, Nathan. Ich bin müde.«

Er wedelte mit der Hand. »Ich hielt das nur für fair, in Anbetracht dieser Taubstummengeschichte.« Seine Miene verfinsterte sich. »Mein ganzes Leben, von den ersten vier Jahren abgesehen, trage ich diesen Halsring. Wie würdest du dich fühlen, wenn du dein ganzes Leben lang eine Gefangene gewesen wärst?«

Ann überlegte bei sich, daß sie, als seine Bewacherin, fast ebenso gefangen war wie er. Sie sah ihm in die wütend funkelnden Augen. »Auch wenn du es mir nicht abnimmst, wenn ich das sage, Nathan, so erkläre ich dir dennoch, ich wünschte, es wäre nicht so. Es bereitet mit keine Freude, ein Kind des Schöpfers in Gefangenschaft zu halten, und das aus keinem anderen Grund als dem, daß es geboren wurde.«

Er sagte eine ganze Weile nichts, dann wandte er seinen funkelnden Blick ab. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wanderte Nathan durch das Zimmer und unterzog es einer gründlichen Begutachtung. Seine Stiefel stapften über den Dielenboden. »Das bin ich nicht gewöhnt«, meinte er, an niemanden besonderes gerichtet.

Ann schob die Schale mit Eintopf zur Seite und legte das Reisebuch auf den Tisch und starrte eine Weile auf den schwarzen Ledereinband, bevor sie es schließlich aufschlug und sich der Schrift zuwandte.

Zuerst müßt Ihr mir den Grund nennen, weshalb Ihr mich beim letzten Mal auserwählt habt. Ich weiß noch jedes Wort. Ein Fehler, und dieses Reisebuch wird zum Opfer der Flammen.

»Oh, oh, oh«, murmelte sie. »Sie ist sehr vorsichtig. Gut.« Nathan sah Ann über die Schulter, als sie auf das Buch zeigte. »Sieh dir die Linienführung an, wie fest sie aufgedrückt hat. Verna scheint sehr verärgert zu sein.«

Ann starrte auf die Worte. Sie wußte, was Verna meinte.

»Sie muß mich wirklich hassen«, sagte Ann leise, als die Worte unter ihrem verschwimmenden Blick zu schwanken begann.

Nathan richtete sich auf. »Na und? Ich hasse dich auch, trotzdem macht es dir offenbar niemals etwas aus.«

»Wirklich, Nathan? Haßt du mich wirklich?«

Ein abfälliges Brummen war seine einzige Antwort. »Habe ich dir schon gesagt, daß dein Plan völliger Irrsinn ist?«

»Schon seit dem Frühstück nicht mehr.«

»Nun, das ist er aber.«

Ann starrte auf die Worte im Reisebuch. »Du hast schon einmal dafür gekämpft, darauf Einfluß zu nehmen, welche Gabelung in einer Prophezeiung genommen wird, Nathan. Denn du weißt, was entlang des falschen Pfades geschehen kann, und du weißt auch, wie anfällig Prophezeiungen für verderbliche Einflüsse sind.«

»Welchen Nutzen hätte jemand davon, wenn du mit diesem tollkühnen Plan dein Leben aufs Spiel setztest und getötet würdest. Und meines obendrein! Ich würde gerne die tausend Jahre noch vollmachen, weißt du. Du wirst uns beide umbringen.«

Ann erhob sich von ihrem Stuhl. Sie legte ihm sanft die Hand auf seinen muskulösen Arm. »Dann verrate mir, Nathan, was du tun würdest. Du kennst die Prophezeiungen, du kennst die Gefahr. Du selbst hast mich gewarnt. Sag mir, was du tun würdest, wenn die Entscheidung bei dir läge.«

Die beiden sahen sich eine ganze Weile an. Als er seine große Hand auf ihre legte, wich das Feuer aus seinen Augen. »Dasselbe wie du, Ann. Es ist unsere einzige Chance. Aber ich fühle mich nicht besser, nur weil ich die Gefahr für dich kenne.«

»Ich weiß, Nathan. Sind sie dort? Sind sie in Aydindril?«

»Einer von ihnen«, sagte er leise und drückte ihre Hand, »und die andere wird etwa um dieselbe Zeit dort sein, wenn wir eintreffen. Das habe ich in einer Prophezeiung gesehen.

Ann, das Zeitalter, das uns bevorsteht, ist verstrickt in ein Labyrinth aus Prophezeiungen. Krieg zieht die Prophezeiungen an wie Mist die Fliegen. Die Äste verzweigen sich in alle Richtungen. Jeder einzelne von ihnen muß sorgfältig in Betracht gezogen werden. Wenn wir bei einer von ihnen den falschen Pfad wählen, geraten wir in Vergessenheit. Schlimmer noch, es gibt Lücken, an denen ich nicht weiß, was getan werden muß. Noch schlimmer, es sind andere daran beteiligt, die ebenfalls die richtige Gabelung nehmen müssen. Und über die haben wir keinerlei Kontrolle.«

Ann fand keine Worte, daher nickte sie. Sie setzte sich wieder an den Tisch und schob ihren Stuhl ganz dicht heran. Nathan setzte sich rittlings auf den anderen Stuhl, brach sich ein Stück Brot ab und kaute, während er zusah, wie sie den Stift aus dem Rücken des Reisebuches zog.

Ann schrieb: Gehe morgen Abend, wenn der Mond aufgegangen ist, zu der Stelle, wo du dies gefunden hast. Sie schloß das Buch und steckte es in eine Tasche ihres grauen Kleides zurück.

Nathan sprach, den Mund voll Brot. »Hoffentlich ist sie klug genug und rechtfertigt dein Vertrauen.«

»Wir haben sie ausgebildet, so gut wir konnten, Nathan. Wir haben sie für zwanzig Jahre vom Palast fortgeschickt, damit sie lernt, ihren Verstand zu gebrauchen. Wir haben getan, was wir konnten. Jetzt müssen wir ihr vertrauen.« Ann küßte den Finger, an dem all die Jahre der Ring der Prälatin gesteckt hatte. »Geliebter Schöpfer, gib auch Du mir die Kraft.«

Nathan blies auf einen Löffel mit Eintopf. »Ich will ein Schwert«, verkündete er.

Ihre Stirn legte sich in Falten. »Du bist ein Zauberer, der seine Gabe vollkommen beherrscht. Warum, im Namen der Schöpfung, willst du ein Schwert?«

Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Weil ich glaube, daß ich mit einem Schwert an meiner Seite fesch aussehen würde.«

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