18

Wie sie befürchtet hatte, war sie eine Gefangene. Sie blätterte eine weitere Seite um, nachdem sie die entsprechende Eintragung im Hauptbuch vorgenommen hatte. Eine Gefangene in allerhöchster Stellung, eine Gefangene hinter einem Schloß aus Papier, nichtsdestotrotz eine Gefangene.

Verna überflog gähnend die nächste Seite und überprüfte die Belege für die Ausgaben des Palastes. Jeder Beleg mußte von ihr gebilligt und als Beweis dafür, daß die Prälatin die Ausgaben persönlich bestätigt hatte, abgezeichnet werden. Warum dies nötig war, blieb ihr ein Rätsel. Aber sie war erst ein paar Tage im Amt, und es widerstrebte ihr, dies als Verschwendung ihrer Zeit zu bezeichnen, nur damit Schwester Leoma oder Dulcinia wieder die Augen abwendeten und ihr, um die Prälatin nicht in Verlegenheit zu bringen, im Flüsterton erklärten, warum dies sehr wohl erforderlich sei, um dann fortzufahren und ihr in allen Einzelheiten die entsetzlichen Folgen darzulegen, die es nach sich zog, wenn man eine solch einfache Sache unterließ, die sie kaum Mühe kostete, die für andere dagegen von solchem Nutzen war.

Sie ahnte schon, was passieren würde, wenn sie erklärte, sie werde sich nicht die Mühe machen, die Rechnungslisten zu überprüfen: Aber Prälatin, wenn die Menschen nicht befürchten müßten, daß die Prälatin ihre Aufträge persönlich überprüft, würden sie ermutigt werden, den Palast zu übervorteilen. Man würde die Schwestern für verschwenderische Närrinnen ohne einen Funken Verstand halten. Würden die Aufträge andererseits nicht gemäß der Anweisungen der Prälatin bezahlt, müßten die Familien der armen Arbeiter hungern. Ihr wollt doch sicher nicht, daß diese Kinder hungern, oder? Nur weil Ihr diesen Leuten nicht die Höflichkeit erweisen wollt, sie für eine Arbeit zu bezahlen, die sie bereits geleistet haben. Und das bloß, weil Ihr keinen Blick in die Belege werfen und Euch nicht die Mühe machen wollt, sie abzuzeichnen? Wollt Ihr wirklich, daß sie die Prälatin für so hartherzig halten?

Seufzend überflog Verna die Ausgabenbelege für die Stallungen: Heu und Getreide, der Schmied, Pflege des Zaumzeugs, Ersatz für verlorengegangenes Zaumzeug, die Stallreparatur, nachdem ein Hengst eine Stallwand eingetreten hatte, die Reparatur, die erforderlich geworden war, nachdem mehrere Pferde offenbar des Nachts in Panik geraten waren, einen Zaun niedergerissen hatten und hinaus aufs Land geflohen waren. Sie mußte mit dem Stallpersonal ein ernstes Wort reden und darauf bestehen, daß sie unter ihrem Dach bessere Ordnung hielten. Sie tauchte die Feder in das Tintenfaß, seufzte abermals, und setzte ihr Zeichen an den unteren Rand der Seite.

Während sie die Stallrechnungen auf dem Stapel der anderen, bereits durchgesehenen Rechnungen ablegte und ins Hauptbuch eintrug, klopfte jemand leise an die Tür. Sie zog ein weiteres Blatt von dem Stapel mit Belegen, die noch bearbeitet werden mußten — eine längere Abrechnung des Metzgers —, und machte sich daran, die Zahlenkolonnen zu überfliegen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie kostspielig es war, den Palast der Propheten zu unterhalten.

Wieder klopfte es leise. Wahrscheinlich Schwester Dulcinia oder Schwester Phoebe, die ihr einen weiteren Stapel mit Belegen brachten. Sie schafften sie schneller heran, als sie sie abzeichnen konnte. Wie hatte Prälatin Annalina das alles nur bewältigt? Verna hoffte, daß es nicht wieder Schwester Leoma war, die ihr Augenmerk auf irgendeine Katastrophe lenken wollte, welche die Prälatin durch eine unbedachte Handlung oder einen unbedachten Kommentar verursacht hatte. Vielleicht hielten sie sie für zu beschäftigt und gingen wieder, wenn sie nicht antwortete.

Verna hatte Schwester Dulcinia zusammen mit ihrer alten Freundin Phoebe zu ihren Verwalterinnen ernannt. Es war nur sinnvoll, auf Schwester Dulcinias Erfahrung zurückgreifen zu können.

Außerdem bot sich Schwester Verna dadurch die Möglichkeit, ein Auge auf die Frauen zu halten. Schwester Dulcinia hatte selbst um den Posten gebeten und sich auf ihr ›Wissen um die Geschäfte des Palastes‹ berufen.

Die Schwestern Leoma und Philippa als ›vertraute Beraterinnen‹ zu haben, war zumindest insofern nützlich, als sie dadurch auch sie im Auge behalten konnte. Sie traute ihnen nicht. Was das anbetraf, traute sie keiner von ihnen, das durfte sie sich nicht erlauben. Verna mußte allerdings zugeben, daß sie sich als gute Beraterinnen erwiesen hatten, die gewissenhaft darauf achteten, ihren Rat zum Wohl der Prälatin und des Palastes einzubringen. Es verwirrte Verna, daß an ihren Ratschlägen nichts zu bemängeln war.

Wieder klopfte es, höflich aber hartnäckig.

»Ja! Was gibt’s?«

Die mächtige Tür ging weit genug auf, damit Warren seinen blonden Lockenkopf hereinschieben konnte. Er schmunzelte, als er ihre finstere Miene bemerkte. Verna sah hinter ihm Dulcinia, die sich den Hals verrenkte, um an ihm vorbeizuschauen und festzustellen, wie die Prälatin mit ihren Papierstapeln vorankam. Warren trat endlich ein.

Er sah sich in dem nüchternen Zimmer um und betrachtete prüfend die Arbeit, die man darauf verwendet hatte. Nach dem verlorenen Kampf ihrer Vorgängerin mit den Schwestern der Finsternis war das Zimmer ein Trümmerhaufen gewesen. Ein Handwerkertrupp hatte es eilig renoviert und es so schnell wie möglich wieder in Ordnung gebracht, damit die neue Prälatin nicht lange in ihrer Arbeit behindert wurde. Verna kannte die Kosten, sie hatte die Rechnung gesehen.

Warren schlenderte an den schweren Schreibtisch aus Walnußholz heran. »Guten Abend, Verna. Ihr scheint hart zu arbeiten. Wichtige Palastgeschäfte, nehme ich an, wenn Ihr so spät noch auf seid.«

Sie preßte ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ehe sie dazu kam, eine Schimpfkanonade loszulassen, ergriff Dulcinia die Gelegenheit, den Kopf zur Tür hereinzustecken, bevor sie sich hinter dem Besucher wieder schloß.

»Ich bin gerade mit den Belegen des heutigen Tages fertig geworden, Prälatin. Wollt Ihr sie jetzt haben? Mit den anderen müßtet Ihr fast durch sein.«

Verna ließ kurz ein schurkisches Grinsen sehen, dann winkte sie ihre Gehilfin mit gekrümmtem Finger zu sich. Schwester Dulcinia zuckte zusammen, als sie das spöttische Grinsen sah. Ihre durchdringenden blauen Augen wanderten durchs Zimmer, verweilten kurz auf Warren, dann kam sie herein und strich sich ihr graues Haar in einer unterwürfigen Geste zurück.

»Kann ich Euch vielleicht behilflich sein, Prälatin?«

Verna faltete die Hände auf dem Tisch. »Aber ja, Schwester, das kannst du. Deine Erfahrung wäre in dieser Angelegenheit wertvoll.« Verna nahm einen Ausgabenbeleg vom Stapel. »Ich möchte, daß du sofort mit einem Auftrag in die Stallungen gehst. Offenbar gibt es dort Probleme und einen rätselhaften Vorfall.«

Schwester Dulcinias Miene hellte auf. »Probleme, Prälatin?«

»Ganz recht. Es sieht ganz so aus, als fehlten ein paar Pferde.«

Schwester Dulcinia beugte sich vor und senkte ihre Stimme in der für sie typischen duldsamen Art. »Wenn ich mich recht an den Beleg erinnerte, von dem Ihr sprecht, Prälatin, dann hat irgendwas die Pferde nachts erschreckt, und sie sind ausgerissen. Sie sind einfach noch nicht wieder aufgetaucht, das ist alles.«

»Das weiß ich, Schwester. Aber Meister Finch möchte doch bitte erklären, wie es kommt, daß man Pferde, die einen Zaun niedergerissen haben und davonlaufen konnten, nicht wiederfindet.«

»Prälatin?«

Verna zog die Brauen in gespielter Verwunderung hoch. »Wir leben auf einer Insel, oder täusche ich mich da? Wie kommt es, daß die Pferde nicht mehr auf der Insel sind? Kein Posten hat sie über eine Brücke galoppieren sehen. Wenigstens habe ich darüber keinen Bericht zu Gesicht bekommen. Zu dieser Jahreszeit sind die Fischer Tag und Nacht draußen auf dem Fluß und fangen Aale, trotzdem hat niemand Pferde zum Festland schwimmen sehen. Wo sind sie also?«

»Nun, ich bin sicher, sie sind einfach fortgelaufen, Prälatin. Vielleicht…«

Verna lächelte nachsichtig. »Vielleicht hat Meister Finch sie verkauft und nur behauptet, sie seien fortgelaufen.«

Schwester Dulcinia richtete sich auf. »Aber Prälatin, Ihr wollt doch gewiß niemand beschuldigen —«

Verna schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. »Zaumzeug ist ebenfalls verschwunden. Ist das Zaumzeug auch des Nachts davongelaufen? Oder haben die Pferde vielleicht beschlossen, es sich selbst anzulegen und einen kleinen Ausflug zu machen?«

Schwester Dulcinia wurde blaß. »Ich … also, ich … Ich werde…«

»Du wirst jetzt augenblicklich zu den Ställen hinübergehen und Meister Finch mitteilen, daß er, wenn er die Pferde nicht gefunden hat, bis ich beschließe, die Angelegenheit erneut zu prüfen, ihren Preis von seinem Lohn und das Zaumzeug mit seiner Haut bezahlen wird.«

Schwester Dulcinia verbeugte sich rasch und eilte aus dem Zimmer. Als die Tür sich mit einem Knall schloß, lachte Warren stillvergnügt in sich hinein.

»Sieht so aus, als hättet Ihr Euch sehr schnell eingewöhnt, Verna.«

»Fang du nicht auch noch an, Warren!«

Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. »Beruhigt Euch, Verna. Es sind doch nur ein paar Pferde. Der Mann wird sie wiederfinden. Es lohnt nicht, daß Ihr deswegen Tränen vergießt.«

Verna blinzelte ihn an. Sie berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen und fühlte, daß sie tatsächlich feucht waren. Mit einem müden Stöhnen ließ sie sich nach hinten in den Sessel sinken.

»Tut mir leid, Warren. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Wahrscheinlich bin ich einfach müde und niedergeschlagen.«

»Verna, so habe ich Euch noch nie gesehen. Ein paar dumme Fetzen Papier versetzen Euch so in Aufregung?«

»Sieh dir das an, Warren!« Sie schnappte sich den Beleg. »Ich sitze hier fest und bin dazu verdammt, die Kosten für den Abtransport von Pferdemist abzuzeichnen! Hast du eine Vorstellung, wieviel Mist diese Pferde erzeugen? Oder wieviel Futter sie fressen, nur um diesen Mist zu produzieren?«

»Na ja, nein. Ich denke, ich muß wohl zugeben, daß…«

Sie zog den nächsten Ausgabebeleg vom Stapel. »Butter —«

»Butter?«

»Ja, Butter.« Verna überflog den Beleg. »Offenbar wurde sie ranzig, und wir mußten zehn Viertelscheffel kaufen, um sie zu ersetzen. Ich soll das prüfen und entscheiden, ob der Milchmann einen angemessenen Preis verlangt und auch in Zukunft in unseren Diensten gehalten werden soll.«

»Es ist bestimmt sinnvoll, diese Angelegenheiten zu überprüfen.«

Verna nahm das nächste Stück Papier zur Hand. »Maurer. Maurer, die das Dach über dem Speisesaal reparieren sollen, dort, wo es leckt. Und Schiefer. Ein Blitz sei in das Schieferdach eingeschlagen, behaupten sie, und nahezu ein ganzes Geviert habe heruntergerissen und ausgetauscht werden müssen. Hat zehn Mann zwei Wochen Arbeit gekostet, heißt es hier. Ich soll entscheiden, ob das angemessen war, und die Zahlung bewilligen.«

»Nun ja, wenn Menschen arbeiten, haben sie doch auch ein Recht, bezahlt zu werden, oder?«

Sie rieb mit dem Finger über den goldenen Ring mit dem Sonnenaufgangssymbol. »Ich dachte, wenn es je in meiner Macht stünde, dann würde sich einiges daran ändern, wie die Schwestern das Werk des Schöpfers verrichten. Aber das ist alles, was ich tue, Warren: ich sehe Belege durch. Ich sitze hier drinnen, Tag und Nacht, und lese die allerweltlichsten Dinge, bis meine Augen glasig werden.«

»Es ist sicherlich sehr wichtig, Verna.«

»Wichtig?« Übertrieben ehrerbietig wählte sie einen weiteren Beleg aus. »Mal sehen … offenbar haben sich zwei unserer ›jungen Männer‹ betrunken und ein Gasthaus in Brand gesteckt … das Feuer wurde gelöscht … das Gasthaus trug beträchtlichen Schaden davon … und man verlangt, daß der Palast den Schaden ersetzt.« Sie legte den Beleg zur Seite … »Ich werde mir die beiden einmal sehr lange und ausführlich vornehmen müssen.«

»Ich glaube, da habt Ihr die richtige Entscheidung getroffen, Verna.«

Sie wählte einen weiteren Beleg aus. »Und was haben wir hier? Die Rechnung einer Näherin. Kleider für die Novizinnen.« Verna nahm den nächsten zur Hand. »Salz. Drei Sorten.«

»Aber Verna —«

Sie zog noch einen heraus. »Und dieser hier?« Sie schwenkte den Zettel mit übertriebener Förmlichkeit. »Das Ausheben von Gräbern.«

»Was?«

»Zwei Totengräber. Sie wollen für ihre Arbeit bezahlt werden.« Sie überflog die Aufstellung. »Und ich möchte hinzufügen, daß sie eine sehr hohe Meinung von ihrem Handwerk haben, nach dem Preis zu urteilen, den sie verlangen.«

»Hört zu Verna, ich glaube, Ihr wart zu lange hier drinnen eingesperrt und braucht ein wenig frische Luft. Warum machen wir nicht einen kleinen Spaziergang?«

»Einen Spaziergang? Warren, ich habe keine Zeit —«

»Prälatin, Ihr habt zu lange hier drinnen gehockt. Ihr braucht ein wenig Bewegung.« Er legte den Kopf schräg und verdrehte die Augen übertrieben in Richtung Tür. »Wie wär’s?«

Verna warf einen Blick auf die Tür. Wenn Schwester Dulcinia tat, was man ihr aufgetragen hatte, dann wäre nur Schwester Phoebe im Vorzimmer. Phoebe war ihre Freundin. Sie ermahnte sich, daß sie niemandem trauen durfte.

»Nun … ich glaube, ein kleiner Spaziergang würde mir ganz gut gefallen.«

Warren kam entschlossenen Schritts um den Schreibtisch herum, ergriff ihren Arm und zog sie hoch. »Oh, gut, also dann. Gehen wir.«

Verna zog ihren Arm aus seinem Griff und warf ihm einen mörderischen Blick zu. Sie biß die Zähne aufeinander und meinte mit einem monotonen Singsang in der Stimme, »Aber ja, warum denn nicht.«

Als die Tür aufging, erhob sich Schwester Phoebe hastig, um sich zu verbeugen. »Prälatin … habt Ihr einen Wunsch? Vielleicht ein wenig Suppe? Etwas Tee?«

»Phoebe, ich habe dir ein dutzendmal erklärt, daß du dich nicht jedesmal verbeugen mußt, wenn du mich siehst.«

Phoebe verbeugte sich erneut. »Jawohl, Prälatin.« Ihr rundliches Gesicht errötete. »Ich wollte sagen … es tut mir leid, Prälatin. Vergebt mir.«

Verna rief sich seufzend zur Geduld. »Schwester Phoebe, wir kennen uns, seit wir Novizinnen waren. Wie oft wurden wir zusammen in die Küche geschickt, um Töpfe zu schrubben, weil wir …?« Verna sah zu Warren. »Also, ich weiß nicht mehr, weshalb, aber ich meine, wir sind doch alte Freundinnen. Bitte, versuche, daran zu denken.«

Phoebe bekam rote Pausbacken und strahlte. »Natürlich … Verna.« Sie erschrak, als sie die Prälatin ›Verna‹ nannte, auch wenn es auf ihren Wunsch geschah.

Draußen auf dem Korridor wollte Warren wissen, warum man sie zum Töpfeschrubben geschickt hatte.

»Ich sagte doch, ich weiß es nicht mehr«, fuhr sie ihn an und warf einen Blick nach hinten in den menschenleeren Flur. »Was soll das eigentlich?«

Warren zuckte die Achseln. »Ich wollte nur ein wenig Spazierengehen.« Er überprüfte den Flur selbst, dann warf er ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich dachte, vielleicht möchte die Prälatin Schwester Simona einen Besuch abstatten.«

Verna zögerte. Schwester Simona befand sich seit Wochen in einem Zustand geistiger Verwirrung — es hatte etwas mit Träumen zu tun — und war in einem abgeschirmten Zimmer untergebracht worden, damit sie sich selbst oder einem Unschuldigen nichts antun konnte.

Warren beugte sich zu ihr und flüsterte: »Ich habe ihr vorhin bereits einen Besuch abgestattet.«

»Warum?«

Warren deutete mit dem gestreckten Finger mehrmals auf den Fußboden. Die Gewölbe. Er meinte die Gewölbe. Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

»Und wie ging es der armen Simona?«

Warren sah nach rechts und links in den Gang, als sie an eine Kreuzung kamen, schaute er sich noch einmal um. »Man wollte mich nicht zu ihr lassen«, raunte er.

Draußen prasselte der Regen in Strömen nieder. Verna zog das Tuch über ihren Kopf und lief geduckt hinaus in den Wolkenbruch, sprang über Pfützen hinweg, versuchte auf Zehenspitzen über die Trittsteine im durchnäßten Gras zu balancieren. Gelbes Licht aus den Fenstern flackerte in den Pfützen. Die Wachen am Tor zum Hof der Prälatin verbeugten sich, als sie und Warren vorübertrabten und auf einen überdachten Laubengang zuhielten.

Unter dem niedrigen Dach schüttelte sie das Wasser von ihrem Tuch und drapierte dieses sodann um ihre Schultern, während die beiden wieder zu Atem kamen. Warren schüttelte ebenfalls den Regen von seinem Gewand. Die mit Bögen überspannten Seiten des Laubenganges waren nur durch ein offenes, dicht mit Efeu überwuchertes Gitterwerk geschützt, doch der Regen wurde nicht vom Wind getrieben, daher war es hier durchaus trocken. Sie spähte hinaus in die Dunkelheit, sah aber niemanden. Bis zum nächsten Gebäude, dem gedrungenen Krankenrevier, war es noch ziemlich weit.

Verna ließ sich auf eine Steinbank fallen. Warren hatte schon loslaufen wollen, setzte sich aber zu ihr. Es war kalt, und es tat gut, seine Wärme neben sich zu spüren. Der Geruch von Regen und feuchter Erde war nach dem langen Stubenhocken erfrischend.


Verna war es nicht gewohnt, kaum nach draußen zu kommen. Sie war gerne an der frischen Luft, fand, daß der Erdboden ein gutes Bett, die Bäume und Felder ein feines Büro abgäben, aber dieser Abschnitt ihres Lebens war jetzt vorbei. Gleich vor dem Arbeitszimmer der Prälatin gab es einen Garten, doch sie hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, ihren Kopf aus der Tür zu stecken und ihn sich anzusehen.

In der Ferne war das unablässige Donnergrollen der Trommeln zu hören — wie der Herzschlag der Verdammnis.

»Ich habe gerade mein Han benutzt«, meinte er schließlich. »Ich habe nicht gespürt, daß jemand in der Nähe ist.«

»Aber die Anwesenheit einer Person mit Subtraktiver Magie kannst du spüren, ja?« flüsterte sie.

Er hob im Dunkeln den Kopf. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«

»Was hat das zu bedeuten, Warren?«

»Glaubt Ihr, wir sind nicht allein?«

»Woher soll ich das wissen?« fauchte sie ihn an.

Er sah sich erneut um und schluckte. »Also, ich habe in der letzten Zeit eine Menge gelesen.« Er deutete auf die Gewölbekeller. »Ich dachte nur, wir sollten Schwester Simona einen Besuch abstatten.«

»Das hast du schon einmal gesagt. Aber noch immer nicht, warum.«

»Einige der Dinge, die ich gelesen habe, hatten mit Träumen zu tun«, sagte er dunkel.

Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen, konnte aber nur seinen dunklen Schatten erkennen. »Simona hat schon seit geraumer Zeit Träume.«

Er hatte seinen Oberschenkel an ihren gedrückt. Er zitterte vor Kälte. Wenigstens glaubte sie, daß es die Kälte war. Bevor sie merkte, was sie tat, hatte sie den Arm um ihn gelegt und seinen Kopf an ihre Schulter gezogen.

»Verna«, stammelte er, »ich fühle mich so allein. Ich habe Angst, mit jemandem zu sprechen. Ich habe das Gefühl, jeder beobachtet mich. Ich habe Angst, jemand könnte mich fragen, was ich studiere, und warum, auf wessen Anordnung. Ich habe Euch in drei Tagen nur ein einziges Mal gesehen, und sonst gibt es niemanden, mit dem ich reden könnte.«

Sie tätschelte ihm den Rücken. »Ich weiß, Warren. Ich wollte auch mit dir sprechen, nur hatte ich soviel zu tun. Es gibt soviel Arbeit.«

»Vielleicht haben sie Euch die Arbeit gegeben, um Euch zu beschäftigen und sich Euch vom Leib zu halten, während sie ihren … Geschäften nachgehen.«

Verna schüttelte in der trüben Dunkelheit den Kopf. »Kann sein. Ich habe genauso Angst wie du, Warren. Ich weiß nicht, wie man sich als Prälatin verhält. Ich habe Angst, den Palast der Propheten in den Ruin zu treiben, wenn ich nicht tue, was nötig ist. Ich habe Angst, Leoma, Philippa, Dulcinia und Maren etwas abzuschlagen. Sie versuchen mich in meiner Rolle als Prälatin zu beraten, und wenn sie wirklich auf unserer Seite stehen, dann ist ihr Rat ehrlich gemeint. Es könnte ein großer Fehler sein, ihn nicht anzunehmen. Wenn die Prälatin einen Fehler macht, müssen alle dafür zahlen. Wenn sie nicht auf unserer Seite stehen, nun, die Dinge, die sie von mir verlangen, scheinen niemandem zum Schaden gereichen zu können. Wieviel Schaden kann man schon anrichten, wenn man Belege liest?«

»Es sei denn, man will Euch damit von etwas Wichtigem ablenken.«

Sie strich ihm noch einmal über den Rücken, löste sich dann von ihm. »Ich weiß. Ich werde versuchen, häufiger mit dir ›spazierenzugehen‹. Ich glaube, die frische Luft tut mir gut.«

Warren drückte ihre Hand. »Das freut mich, Verna.« Er stand auf und zupfte sein dunkles Gewand zurecht. »Sehen wir doch nach, wie es Simona geht.«

Das Krankenrevier war eines der kleineren Gebäude auf der Insel Drahle. Viele der gewöhnlichen Verletzungen konnten die Schwestern mit Hilfe ihres Han heilen, und Krankheiten, die die Kraft ihrer Gabe überstiegen, endeten nur allzu rasch mit dem Tod, so daß das Krankenrevier meist nur ein paar ältere und gebrechliche Leute vom Personal beherbergte, die ihr Leben lang im Palast der Propheten gearbeitet hatten und jetzt niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Auch die Verrückten sperrte man hier ein. Für Krankheiten des Geistes war die Gabe von nur begrenztem Nutzen.

Nahe der Tür schickte Verna ihr Han in eine Lampe und nahm sie mit auf dem Weg durch die einfachen, gekalkten Korridore zu der Stelle, wo Simona, Warrens Worten nach, eingesperrt war. Nur wenige Zellen waren belegt. Das Schnarchen, Keuchen und Gehuste ihrer Bewohner hallte durch die schwach beleuchteten Flure.

Als sie das Ende des Korridors erreichten, in dem die Alten und Gebrechlichen untergebracht waren, mußten sie drei Türen passieren, die jeweils mit mächtigen Netzen verschiedener Zusammensetzung abgeschirmt waren. Schilde konnten allerdings von jemandem, der die Gabe besaß, durchbrochen werden, selbst wenn er verrückt war. Die vierte Tür war deshalb aus Eisen — mit einem massiven, von einem fein gesponnenen Schild geschützten Bolzen, der jeden Öffnungsversuch mit Magie von der anderen Seite verhindern sollte. Je mehr Kraft man anwendete, desto fester hielt er. Drei Schwestern hatten ihn gemeinsam angebracht, daher konnte er nicht von einer alleine auf der anderen Seite aufgebrochen werden.

Zwei Wachen nahmen Haltung an, als sie und Warren um die Ecke bogen. Sie verneigten die Köpfe, gaben die Tür aber nicht frei. Warren grüßte sie gutgelaunt und bedeutete ihnen mit einer flüchtigen Handbewegung, den Riegel zu öffnen.

»Tut uns leid, mein Sohn, aber hier darf niemand rein.«

Mit Feuer in den Augen schob Verna Warren zur Seite. »Ach, wirklich, mein ›Sohn‹?« Er nickte, seiner Sache sicher. »Und wer hat dir diese Anweisung gegeben?«

»Mein Kommandant, Schwester. Wer ihm die Anweisung erteilt hat, weiß ich nicht, aber es muß eine Schwester von beträchtlicher Machtbefugnis sein.«

Mit finsterer Miene hielt sie ihm den Ring mit dem Symbol der aufgehenden Sonne vors Gesicht. »Mit mehr Machtbefugnis als die Trägerin dieses Rings?«

Er riß die Augen auf. »Nein, Prälatin. Natürlich nicht. Vergebt mir, ich habe Euch nicht erkannt.«

»Wie viele Personen befinden sich hinter dieser Tür?«

Das laute metallische Klicken des Bolzens hallte durch den Flur. »Nur die eine Schwester, Prälatin.«

»Und sie wird von Schwestern überwacht?«

»Nein, die haben für heute abend Schluß gemacht.«

Als sie auf der anderen Seite der Tür und damit außer Hörweite waren, lachte Warren stillvergnügt in sich hinein. »Ich denke, endlich habt Ihr eine Verwendung für diesen Ring gefunden.«

Verna wurde langsamer und blieb verwirrt stehen. »Warren, was glaubst du, wie der Ring nach dem Begräbnis auf das Postament gelangt ist?«

Warren schmunzelte noch, wenn auch verhaltener. »Nun, mal sehen…« Schließlich verschwand das Grinsen ganz. »Ich weiß es nicht. Was meint Ihr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er war von einem Lichtschild umgeben. Es gibt nicht viele, die ein solches Netz weben können. Falls, wie du sagst, Prälatin Annalina niemandem außer mir traute, wem hat sie dann vertraut, den Ring dorthin zu legen und ein solches Netz um ihn zu spinnen?«

»Keine Ahnung.« Warren warf sein feuchtes Gewand über die Schulter. »Kann es sein, daß sie das Netz selbst gesponnen hat?«

Verna runzelte die Stirn. »Vom Scheiterhaufen aus?«

»Nein. Ich meinte, könnte sie es gesponnen haben, um es dann von jemand anderem dorthin bringen zu lassen? Ihr wißt schon, so wie man einen Stock mit einem Bann belegt, damit ein anderer damit eine Lampe anzünden kann. Ich habe gesehen, wie Schwestern das machen, damit das Personal die Lampen anzünden kann, ohne eine Kerze mit sich herumtragen zu müssen, von der ihnen heißes Wachs auf die Finger oder auf den Fußboden tropft.«

Verna hob die Lampe an, um ihm in die Augen zu sehen. »Warren, das ist brillant.«

Er lächelte. Dann wurde sein Lachen dünner. »Bleibt die Frage: wer?«

Sie senkte die Lampe. »Vielleicht jemand vom Personal, dem sie vertraute. Jemand, der die Gabe nicht besitzt, damit sie nicht befürchten mußte, daß man ihn…« Sie blickte über die Schulter, den dunklen, menschenleeren Gang hinunter. »Du weißt schon, was ich meine.« Er nickte, als sie sich wieder in Bewegung setzte. »Ich muß der Sache nachgehen.«

Licht flackerte unter der Tür zu Schwester Simonas Zimmer: ein lautloses, zartes Flackern wie von Blitzen, das durch den Spalt unter ihrer Tür hindurchzüngelte. Der Schild sprühte Funken, sobald die Lichtimpulse auf ihn trafen, die Kraft mit Gegenkräften auflöste und die Magie mit einem Gegenstück erdete. Schwester Simona versuchte, den Schild zu durchbrechen.

Schwester Simona war verwirrt, daher war das zu erwarten gewesen. Die Frage war, warum funktionierte es nicht? Verna sah, daß der Schild rings um die Tür von der einfachen Art war, mit der man junge Zauberer einsperrte, wenn sie sich starrköpfig benahmen.

Verna öffnete sich ihrem Han und trat durch den Schild hindurch. Warren folgte ihr, als sie anklopfte. Das Flackern unter der Tür endete abrupt.

»Simona? Hier ist Schwester Verna Sauventreen. Du erinnerst dich doch noch an mich, nicht wahr, meine Liebe? Darf ich reinkommen?«

Es kam keine Antwort, also drehte Verna den Türknauf und drückte die Tür vorsichtig auf. Sie hielt die Lampe vor sich, so daß ihr gelblicher, schwacher Schein nach vorne fiel und die Dunkelheit im Innern zerriß. Die Zelle war leer bis auf ein Tablett mit einem Krug, Brot und Obst, einem Strohsack, einem Nachttopf und eine schmutzige, kleine Frau, die in der Ecke kauerte.

»Laß mich in Frieden, Dämon!« kreischte sie.

»Schon gut, Simona. Ich bin’s nur, Verna, und mein Freund Warren. Hab keine Angst.«

Simona blinzelte ins Licht, so als wäre gerade die Sonne aufgegangen. Verna stellte die Lampe nach hinten, um die Frau nicht zu blenden.

Simona kniff die Augen zusammen und sah hoch. »Verna?«

»Ganz recht.«

Simona küßte ihren Ringfinger ein dutzendmal, sprudelte über vor Dankesbezeugungen und Lobpreisungen für den Schöpfer. Sie rutschte auf Händen und Knien über die Erde, griff nach Vernas Saum und küßte ihn wieder und wieder.

»Oh, danke, daß Ihr gekommen seid.« Sie rappelte sich mühsam hoch. »Beeilt Euch! Wir müssen fliehen!«

Verna packte die zierliche Frau bei den Schultern und setzte sie auf ihre Bettstatt. Mit zarter Hand strich sie ihr eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ihre Hand erstarrte.

Simona hatte einen Ring um den Hals. Deswegen hatte sie den Schild nicht durchbrechen können. Verna hatte noch nie gesehen, daß eine Schwester einen Rada’Han trug. Sie hatte Hunderte Burschen und junger Männer gesehen, die einen trugen, nie jedoch eine Schwester. Der Anblick drehte ihr den Magen um. Man hatte ihr beigebracht, in dunkler Vergangenheit habe man den Rada’Han Schwestern um den Hals gelegt hat, die den Verstand verloren hatten. Geschah es, daß jemand mit der Gabe vom Wahn befallen wurde, dann war das, als schleuderte man auf einem belebten Marktplatz mit Blitzen um sich. Diese Menschen mußten kontrolliert werden. Trotzdem…

»Simona, du bist in Sicherheit. Du befindest dich im Palast, unter dem wachsamen Auge des Schöpfers. Dir wird kein Leid geschehen.«

Simona brach in Tränen aus. »Ich muß fliehen. Bitte, laßt mich gehen. Ich muß fliehen.«

»Warum mußt du fliehen, meine Liebe?«

Die Frau wischte sich die Tränen aus ihrem schmutzigen Gesicht. »Weil er kommt.«

»Wer?«

»Der aus meinen Träumen. Der Traumwandler.«

»Wer ist dieser Traumwandler?«

Simona wich erschrocken zurück. »Der Hüter.«

Verna zögerte. »Dieser Traumwandler ist der Hüter?«

Sie nickte so heftig, daß Verna dachte, sie würde sich den Hals ausrenken. »Manchmal. Manchmal ist er auch der Schöpfer.«

Warren beugte sich vor. »Was?«

Simona erschrak. »Bist du es? Bist du derjenige, welcher?«

»Ich bin Warren, Schwester. Nur ein Schüler, sonst nichts.«

Simona legte einen Finger an ihre aufgeplatzten Lippen. »Dann solltest du ebenfalls fliehen. Er kommt. Er hat es auf die mit der Gabe abgesehen.«

»Dieser Kerl aus deinen Träumen?« fragte Verna. Simona nickte wild. »Was tut er in deinen Träumen?«

»Er quält mich. Tut mir weh. Er…« Sie küßte wie besessen den Ringfinger, flehte um den Schutz des Schöpfers. »Er sagt, ich müsse meinem Eid entsagen. Er trägt mir Dinge auf. Er ist ein Dämon. Manchmal, um mich zu täuschen, gibt er vor, er sei der Schöpfer. Aber ich weiß, daß er es ist. Ich weiß es. Er ist ein Dämon.«

Verna nahm die verängstigte Frau in den Arm. »Das ist nur ein Alptraum, Simona. Es ist nicht wirklich. Versuche, das zu erkennen.«

Simona schüttelte wild den Kopf. »Nein! Das ist kein Traum, sondern Wirklichkeit. Er kommt! Wir müssen fliehen!«

Verna lächelte voller Mitgefühl. »Woher willst du das wissen?«

»Hat er mir selbst gesagt. Er kommt.«

»Siehst du denn nicht, meine Liebe? Das ist doch nur im Traum passiert, nicht im Wachzustand. Es ist nicht wirklich.«

»Die Träume sind wirklich. Wenn ich wach bin, weiß ich es ebenso.«

»Jetzt bist du wach. Weißt du es jetzt auch, meine Liebe?« Simona nickte. »Und woher weißt du es, wenn du wach bist, und er nicht in deinem Kopf sitzt, um es dir einzureden wie im Traum?«

»Ich kann sein Signal hören.« Ihr Blick wanderte von Vernas Gesicht zu Warren und wieder zurück. »Ich bin nicht verrückt. Bin ich nicht. Hört Ihr die Trommeln nicht?«

»Doch, Schwester, wir hören die Trommeln.« Warren lächelte. »Aber das ist nicht Euer Traum. Das sind nur die Trommeln, die die bevorstehende Ankunft des Kaisers ankündigen.«

Simona legte wieder einen Finger an die Lippen. »Des Kaisers?«

»Ja«, tröstete Warren sie, »des Kaisers der Alten Welt. Er besucht die Stadt. Das ist alles. Deswegen die Trommeln.«

Auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten. »Der Kaiser?«

»Ja«, sagte Warren. »Kaiser Jagang.«

Mit einem wilden Schrei sprang Simona in die Ecke. Sie brüllte wie am Spieß und schlug mit den Händen um sich. Verna war sofort bei ihr, versuchte, ihre Arme festzuhalten und sie zu beruhigen.

»Simona, bei uns bist du in Sicherheit. Was ist?«

»Das ist er!« kreischte sie. »Jagang! So lautet der Name des Traumwandlers! Laßt mich gehen! Bitte, laßt mich gehen, bevor er kommt!«

Simona riß sich los, taumelte wild durch die Zelle und jagte ihre Lichtblitze nach allen Seiten. Glühenden Krallen gleich kratzten sie die Farbe von der Wand. Verna und Warren versuchten, Simona zu beruhigen, versuchten sie einzufangen, sie aufzuhalten. Als Simona keinen Weg aus der Zelle fand, ging sie dazu über, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Sie war eine zierliche Frau, aber sie schien die Kraft von zehn Männern zu besitzen.

Am Ende war Verna gezwungen, mit größtem Widerwillen den Rada’Han zu benutzen, um die Oberhand zu gewinnen.

Warren heilte Simonas blutende Stirn, nachdem sie sich beruhigt hatte. Verna erinnerte sich an einen Bann, den man ihr beigebracht hatte, um ihn bei frisch im Palast eingetroffenen Burschen einzusetzen, wenn ihnen die Trennung von ihren Eltern Alpträume bereitete, einen Bann zur Besänftigung von Ängsten, der dem verängstigten Kind einen traumlosen Schlaf ermöglichte. Verna umfaßte den Rada’Han mit beiden Händen und ließ einen Strom ihres Han in Simona hineinfließen. Schließlich beruhigte sich ihr Atem, sie erschlaffte und schlief ein. Verna hoffte, daß ihr Schlaf traumlos war.

Mitgenommen lehnte sich Verna an die Tür, nachdem sie diese hinter sich zugemacht hatte. »Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?«

Warren schluckte. »Ich fürchte, ja.«

Das war nicht die Antwort, die Verna erwartet hatte. Mehr brachte er nicht hervor. »Nun?«

»Nun, ich bin nicht so sicher, ob die Schwester wirklich verrückt ist. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne.« Er zupfte verlegen an der Litze des Ärmels seines Gewandes. »Ich werde noch mehr lesen müssen. Kann sein, daß es nichts ist. Die Bücher sind kompliziert. Ich werde Euch wissen lassen, was ich finde.«

Verna küßte ihren Finger, spürte den noch immer ungewohnten Ring der Prälatin an den Lippen. »Geliebter Schöpfer«, betete sie laut, »beschütze diesen törichten jungen Mann, denn ich könnte ihm den Kopf abreißen und ihn mit meinen bloßen Händen erwürgen.«

Warren verdrehte die Augen. »Seht doch, Verna —«

»Prälatin«, verbesserte sie ihn.

Warren seufzte, schließlich nickte er. »Wahrscheinlich sollte ich es Euch sagen, aber so, wie ich es verstehe, handelt es sich um eine sehr alte und unklare Verzweigung. Die Prophezeiungen sind voll von unechten Verzweigungen. Diese hier ist mit einem zweifachen Makel behaftet — wegen ihres Alters und ihrer Seltenheit. Das macht sie verdächtig, auch ohne all das andere. In derart alten Büchern gibt es Überkreuzungen und Fehlleitungen im Überfluß, und die kann ich ohne monatelange Arbeit nicht nachprüfen. Einige der Verbindungen sind durch Dreifachverzweigungen verschlossen. Das Zurückverfolgen einer Dreifachverzweigung gleicht unechte Verzweigungen an den Ästen aus, und falls davon welche dreigeteilt sind, nun, dann müßte das Rätsel, das durch die geometrische Progression erzeugt wird auf die man stößt, weil die —«

Verna legte ihm die Hand auf den Unterarm, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Warren, das weiß ich doch alles. Ich kenne die Progression und Regression in ihrem Verhältnis zu beliebigen Variablen bei der Gabelung einer Dreifachverzweigung.«

Warren machte eine fahrige Handbewegung. »Ja, natürlich. Ich hatte vergessen, welch eine gute Schülerin Ihr wart. Ich habe wohl nur so dahergeredet.«

»Raus damit, Warren. Was an Simonas Worten macht dich glauben, sie sei vielleicht nicht ›im üblichen Sinne‹ verrückt?«

»Dieser Traumwandler, von dem sie sprach. In zwei der ältesten Büchern gibt es ein paar Hinweise auf einen ›Traumwandler‹. Diese Bücher sind in schlechtem Zustand, nicht viel mehr als Staub. Was mir aber Sorgen bereitet: vielleicht erscheint nur uns die Erwähnung des Traumwandlers wegen des hohen Alters der Bücher selten, denn wir besitzen nur diese beiden Texte, während sie in Wirklichkeit für die damalige Zeit alles andere als selten war. Die meisten Bücher aus jener Zeit sind verlorengegangen.«

»Wie alt sind die Bücher?«

»Über dreitausend Jahre.«

Verna zog eine Augenbraue hoch. »Aus der Zeit des Großen Krieges?« Warren bestätigte dies. »Was ist mit diesem Traumwandler?«

»Nun, das ist nicht leicht zu verstehen. Wenn davon die Rede ist, geht es weniger um eine Person, vielmehr um eine Waffe.«

»Eine Waffe? Was für eine Art Waffe?«

»Das weiß ich nicht. Der Zusammenhang spricht auch nicht unbedingt für einen Gegenstand, sondern mehr für ein Wesen, ein Gebilde. Es könnte allerdings auch eine Person sein.«

»Vielleicht ist es so gemeint, daß eine Person, die in irgend etwas besonders gut ist, wie zum Beispiel ein Meister der Klinge, oft voller Respekt oder Ehrfurcht als Waffe bezeichnet wird?«

Warren hob einen Finger. »Das ist es. Eine sehr gute Umschreibung, Verna.«

»Was sagen die Bücher darüber, was diese Waffe mit ihrem Können bewirkt?«

Warren seufzte. »Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, daß dieser Traumwandler irgend etwas mit den Türmen der Vergessenheit zu tun hatte, die die Alte und die Neue Welt voneinander getrennt und diese Trennung die vergangenen dreitausend Jahre über aufrechterhalten haben.«

»Willst du damit sagen, die Traumwandler haben die Türme erbaut?«

Warren beugte sich näher. »Nein, ich glaube, die Türme wurden errichtet, um sie aufzuhalten.«

Verna versteifte sich. »Richard hat die Türme zerstört«, sagte sie laut, ohne es zu wollen. »Was noch?«

»Das ist alles, was ich bis jetzt weiß. Selbst das, was ich Euch erzählt habe, sind größtenteils nur Mutmaßungen. Wir wissen nicht viel über die Bücher aus der Zeit des Krieges. Nach allem, was ich weiß, könnten es Legenden sein und keine Tatsachenberichte.«

Verna verdrehte die Augen zur Tür hinter ihr. »Was ich da drinnen gesehen haben, kam mir durchaus wirklich vor.«

Warren verzog das Gesicht. »Mir auch.«

»Was hast du gemeint, als du sagtest, sie sei nicht ›im üblichen Sinne‹ verrückt?«

»Ich glaube nicht, daß Schwester Simona wirre Träume hat und sich etwas einbildet. Ich glaube vielmehr, es ist etwas ganz Reales passiert, und dadurch ist sie so geworden, wie wir sie sehen. Die Bücher verweisen auf Fälle, in denen diesem ›Meister der Klinge‹ gewissermaßen ein Schnitzer unterlaufen ist, wodurch der Betreffende nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann — so als könnte sein Verstand nicht völlig aus einem Alptraum aufwachen, beziehungsweise die Welt verlassen, die ihn im Schlaf umgibt.«

»Für mich klingt das nach Wahnsinn — wenn man nicht mehr unterscheiden kann, was wirklich ist und was nicht.«

Warren drehte die Handflächen nach oben. Eine Flamme entzündete sich dicht über der Haut. »Was ist schon Wirklichkeit? Ich habe mir eine Flamme vorgestellt, und schon wird mein ›Traum‹ Wirklichkeit. Mein Geist im Wachzustand bestimmt mein Tun.«

Sie zupfte an einer ihrer braunen Locken und dachte laut nach. »Genau wie der Schleier die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt, gibt es auch in unserem Verstand eine Barriere, die die Wirklichkeit von der Vorstellung und von den Träumen trennt. Mit Disziplin und Willenskraft kontrollieren wir das, was für uns Wirklichkeit ist.«

Sie sah plötzlich auf. »Beim Schöpfer, es ist diese Barriere in unserem Verstand, die uns daran hindert, unser Han im Schlaf zu gebrauchen. Ohne diese Barriere hätten wir im Schlaf keine geistige Kontrolle über unser Han.«

Warren nickte. »Wir haben aber Kontrolle über unser Han. Wenn wir uns etwas vorstellen, kann es Wirklichkeit werden. Doch das bewußte Vorstellungsvermögen ist den Einschränkungen des Intellekts unterworfen.« Er beugte sich zu ihr, seine blauen Augen bekamen etwas Stechendes. »Im Schlaf ist die Vorstellungskraft praktisch keiner dieser Einschränkungen unterworfen. Ein Traumwandler kann die Wirklichkeit verzerren. Und wer die Gabe besitzt, kann diese Verzerrung Wirklichkeit werden lassen.«

»Eine Waffe, allerdings«, sagte sie kaum hörbar.

Sie packte Warren am Arm und ging los, den Flur hinunter. So beängstigend das Unbekannte auch war, es war ein Trost, wenigstens einen Freund zu haben, der ihr half. Ihr drehte sich der Kopf vor lauter Zweifeln und Fragen. Sie war jetzt die Prälatin, es war ihre Aufgabe, Antworten zu finden, bevor der Palast von Unannehmlichkeiten heimgesucht wurde.

»Wer ist eigentlich gestorben?« erkundigte sich Warren schließlich.

»Die Prälatin und Nathan«, sagte Verna abwesend, denn dort war sie mit ihren Gedanken.

»Nein, für sie gab es das Begräbnisritual. Ich meine, außer den beiden.«

Verna wurde aus ihren Gedanken gerissen. »Außer der Prälatin und Nathan? Niemand. Seit einer ganzen Weile ist niemand mehr gestorben.«

Der Widerschein der Lampe tanzte in seinen blauen Augen. »Aus welchem Grund hat der Palast dann die Dienste von Totengräbern in Anspruch genommen?«

Загрузка...