Nur das kleine, zur Straße hin gelegene, mit uraltem Dreck verschmierte Fenster und eine offene Tür im Hintergrund beleuchteten den dunklen, staubigen Raum, doch das genügte, um einen Pfad zwischen den übereinandergeworfenen Haufen schlampig zusammengerollten Leichentuchs, wackeligen Werkbänken und schlichten Särgen zu finden. Ein paar rostige Sägen, Hobel und verschiedenes anderes Werkzeug hingen an einer Wand, und ein unordentlicher Stapel Fichtenbretter lehnte an einer anderen.
Wohlhabende Menschen gingen zu Bestattungsunternehmern, die ihnen bei der Auswahl prächtiger Särge für ihre lieben Verstorbenen mit Rat und Tat zur Seite standen, Leute mit sehr wenig Geld dagegen konnten sich nichts anderes leisten als die Dienste eines Totengräbers, der ihnen eine simple Kiste anbot sowie ein Loch, um den Toten darin zu versenken. Zwar waren die lieben Dahingeschiedenen jener Menschen, die zum Totengräber gingen, diesen nicht weniger teuer, aber die Mäuler der Lebenden wollten gestopft sein. Die Erinnerungen an die Verstorbenen waren bei ihnen allerdings nicht weniger verbrämt.
Verna und Warren blieben in der Tür stehen, die hinaus in einen winzigen Hinterhof führte, dessen Seiten steil und hoch voll Bauholz standen, das man senkrecht hinten an einen Zaun sowie an die verputzten Häuser zu den Seiten gestapelt hatte. In der Mitte, mit dem Rücken zu ihnen, stand ein schlaksiger, barfüßiger Mann in zerlumpter Kleidung, der die Blätter seiner Schaufeln mit einer Feile bearbeitete.
»Mein Beileid für den Verlust Eures lieben Anverwandten«, meinte er mit rauher, aber überraschend ernster Stimme. Dann nahm er die Arbeit mit Feile und Stahl wieder auf. »Kind oder Erwachsener?«
»Weder noch«, sagte Verna.
Der Mann mit den eingefallenen Wangen warf einen Blick über die Schulter. Er trug keinen Bart, sah aber so aus, als würde er sich so selten rasieren, daß er kurz davor stand, die Grenze zu überschreiten. »Dazwischen also? Wenn Ihr mir die Größe des Verstorbenen verratet, kann ich ihm eine passende Kiste zimmern.«
Verna hakte die Hände ineinander. »Wir haben niemanden zu begraben. Wir sind hier, um dir ein paar Fragen zu stellen.«
Er ließ seine Hände zur Ruhe kommen, drehte sich ganz um und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Tja, wie ich sehe, könnt Ihr Euch etwas anderes leisten als mich.«
»Interessierst du dich nicht für Ja’La?« fragte Warren.
Die niedergeschlagenen Augen des Mannes wurden ein wenig aufmerksamer, als er Warrens violettes Gewand ein zweites Mal betrachtete. »Die Leute mögen es nicht, wenn meinesgleichen bei Festlichkeiten in der Nähe ist. Verdirbt ihnen den Spaß, wenn sie mein Gesicht sehen, so als wäre es das Antlitz des Todes höchstpersönlich, der sich unter sie gemischt hat. Scheuen auch nicht davor zurück, mir zu sagen, daß ich nicht willkommen bin. Aber wenn sie mich brauchen, dann kommen sie. Dann kommen sie und tun, als hätten sie nie zuvor die Augen abgewendet. Ich könnte sie für einen reichverzierten Sarg zahlen lassen, den die Toten ohnehin nicht sehen, aber das können sie sich nicht leisten, und ihre Münzen nützen mir nichts, wenn ich ihnen ihre Ängste übelnehme.«
»Welcher von beiden bist du«, fragte Verna, »Meister Benstent oder Meister Sproul?«
Seine schlaffen Lider verzogen sich zu einem Gewirr von Falten, als er sie von unten herauf ansah. »Ich bin Milton Sproul.«
»Und Meister Benstent? Ist er auch hier?«
»Ham ist nicht da. Worum geht es?«
Verna setzte eine unbekümmerte Miene auf. »Wir sind aus dem Palast und wollten uns nach einer Rechnung erkundigen, die man uns geschickt hat. Wir wollen uns lediglich vergewissern, daß sie korrekt ist, dann ist alles in Ordnung.«
Der knochige Mann wandte sich wieder seiner Schaufel zu und strich mit der Feile über deren Kante. »Die Rechnung stimmt. Wir betrügen die Schwestern nicht.«
»Wir wollen selbstverständlich nichts dergleichen unterstellen. Es ist nur so, daß wir keinen Beleg darüber finden können, wer es war, den du begraben hast. Wir wollen lediglich herausfinden, wer verstorben ist, dann können wir die Zahlung veranlassen.«
»Weiß ich nicht. Ham hat das gemacht und auch die Rechnung geschrieben. Er ist ein ehrlicher Mann. Er würde nicht mal einen Dieb betrügen, um zurückzukriegen, was man ihm gestohlen hat. Er hat die Rechnung geschrieben und mir gesagt, ich soll sie Euch schicken. Das ist alles, was ich weiß.«
»Verstehe.« Verna zuckte die Achseln. »Dann, schätze ich, werden wir Meister Benstent sprechen müssen, um die Sache aufzuklären. Wo können wir ihn finden?«
Sproul zog die Feile noch einmal übers Blech. »Weiß ich nicht. Ham wurde langsam alt. Er meinte, das bißchen Zeit, das ihm noch bleibt, wolle er bei seiner Tochter und seinen Enkeln verbringen. Er ist fort, um bei ihnen zu wohnen. Sie leben irgendwo unten im Süden.« Er ließ die Feile in der Luft kreisen. »Hat mir seine Hälfte von dem Laden hier vermacht, so wie er ist. Seine Hälfte der Arbeit auch. Wahrscheinlich muß ich für die Buddelei noch einen Jüngeren einstellen. Ich werde selber langsam alt.«
»Aber du mußt doch wissen, wo er hin ist, und was es mit der Rechnung auf sich hat.«
»Hab’ ich doch schon gesagt, ich weiß es nicht. Hat seinen Kram zusammengepackt, nicht daß es viel gewesen wäre, und sich einen Esel für die Reise gekauft, schätze also, daß es eine stattliche Entfernung ist.« Er zeigte mit der Feile über die Schulter Richtung Süden. »Wie gesagt, irgendwo da unten.
Das letzte, was er zu mir sagte war, ich soll die Rechnung auf jeden Fall an den Palast schicken, denn er hätte die Arbeit gemacht und es wäre nur fair, wenn sie bezahlen für das, was gemacht wurde. Ich hab’ ihn gefragt, wohin ich das Geld schicken soll, schließlich war das seine Arbeit, aber er meinte, ich soll es dafür nehmen, einen Neuen anzuheuern. Sagte, das wär’ nur fair, wo er mich doch so kurzfristig verläßt.«
Verna überlegte. »Verstehe.« Sie sah ihm zu, wie er die Feile ein dutzendmal über die Schaufel zog, dann wandte sie sich an Warren. »Geh nach draußen und warte auf mich.«
»Was!« zischelte er aufgebracht. »Warum wollt Ihr —«
Verna hob einen Finger und brachte ihn zum Schweigen. »Tu, was ich sage. Mach einen kleinen Spaziergang um den Häuserblock und vergewissere dich … daß unsere Freunde nicht nach uns suchen.« Sie beugte sich ein wenig näher und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Sie fragen sich womöglich schon, ob wir keine Hilfe brauchen.«
Warren richtete sich auf und sah zu dem Mann hinüber, der an seiner Schaufel feilte. »Oh. Ja, also gut. Ich gehe nachsehen, wo unsere Freunde geblieben sind.« Er nestelte am Silberbrokat seines Ärmels herum. »Ihr werdet doch nicht lange brauchen, oder?«
»Nein. Ich bin in Kürze draußen. Geh jetzt und sieh nach, ob du sie finden kannst.«
Verna hörte, wie die Vordertür geschlossen wurde, als Sproul einen Blick über die Schulter warf. »Die Antwort ist immer noch dieselbe. Ich sagte Euch doch, was…«
Verna hielt plötzlich ein Goldstück in den Fingern. »So, Meister Sproul, wir beide werden jetzt ganz offen miteinander reden. Mehr noch, du wirst mir meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten.«
Er sah sie mißtrauisch an. »Wozu habt Ihr ihn rausgeschickt?«
Sie machte sich nicht mehr die Mühe, ihn freundlich anzulächeln. »Der Junge hat einen schwachen Magen.«
Er zog unbeeindruckt seine Feile über die Schaufel. »Ich hab’ Euch die Wahrheit gesagt. Wenn Ihr wollt, daß ich Euch anlüge, sagt es nur und ich denke mir etwas aus, ganz wie’s Euch paßt.«
Verna blitzte ihn bedrohlich an. »Wage nicht einmal daran zu denken, mich anzulügen. Du hast vielleicht die Wahrheit gesagt, aber nicht die ganze. Und jetzt wirst du mir den Rest erzählen, entweder im Tausch gegen diesen Beweis meiner Wertschätzung« — Verna benutzte ihr Han, um ihm die Feile zu entreißen und sie in die Luft zu schleudern, bis sie nicht mehr zu sehen war — »oder als Anerkennung dafür, daß ich dir Unannehmlichkeiten erspare.«
Die Feile kam pfeifend aus dem Himmel geschossen, schlug krachend kaum zwei Zentimeter von den Zehen des Totengräbers in den Boden ein. Nur der Griff schaute noch heraus, und der glühte rot. Voller Wut und mit großer geistiger Anstrengung zog sie den heißen Stahl zu einem dünnen Faden geschmolzenen Metalls aus. Dessen weiße Glut beleuchtete das schockierte Gesicht des Mannes, und auch sie spürte die sengende Hitze auf ihrer Haut.
Sie bewegte den Zeigefinger hin und her, und der biegsame Faden aus glühendem Stahl geriet vor seinen Augen ins Schwanken und tanzte zum Rhythmus ihres Fingers. Sie ließ den Finger kreisen, und der Stahl wickelte sich um den Mann, nur wenige Zentimeter von seiner Haut entfernt.
»Ein Zucken meines Fingers, Meister Sproul, und ich wickele dich in deiner Feile ein.« Sie öffnete die Hand, die Handfläche nach oben. Eine Flamme entzündete sich heulend und schwebte folgsam in der Luft. »Und wenn ich dich gefesselt habe, dann werde ich dich Zentimeter auf Zentimeter garen, bis du mir die ganze Wahrheit sagst. Bei deinen Füßen fange ich an.«
Seine schiefen Zähne klapperten. »Bitte…«
Sie nahm die Münze in die andere Hand und lächelte ihn kalt an. »Oder, wie gesagt, du kannst dich entscheiden, mir im Tausch gegen diesen Beweis meiner Wertschätzung die ganze Wahrheit zu erzählen.«
Er schluckte, betrachtete das heiße Metall, das ihn umgab, und die zischende Flamme in ihrer Hand. »Ich glaube, ich erinnere mich doch noch an ein wenig mehr. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mich den Rest der Geschichte, der mir gerade eingefallen ist, auch noch erzählen laßt.«
Verna löschte die Flamme in ihrer Hand und ließ die Hitze ihres Han mit einem heftigen Ruck ins Gegenteil umschlagen, zu bitterer Kälte. Die Glut schwand aus dem Metall, als hätte man die Flamme einer Kerze ausgedrückt. Der Stahl wechselte von rotglühend zu eisigem Schwarz und zersprang, daß die Splitter rings um den erstarrten Totengräber wie Hagel niedergingen.
Verna packte seinen Arm, drückte ihm das Goldstück in die Hand und schloß seine Finger um die Münze. »Tut mir leid. Es scheint, als hätte ich deine Feile zerbrochen. Ich bin sicher, dies wird den Schaden mehr als decken.«
Er nickte. Wahrscheinlich war dies mehr Gold, als der Mann in einem Jahr verdiente. »Ich hab’ noch mehr Feilen. Das macht nichts.«
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Also gut, Meister Sproul, warum erzählst du mir jetzt nicht, was dir sonst noch zu dieser Rechnung einfällt.« Sie packte fester zu. »Und zwar bis in die letzte Einzelheit, egal, für wie unwichtig du sie hältst. Verstanden?«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja. Ich werde Euch jede Einzelheit erzählen. Wie ich schon sagte, Ham hat die Arbeit gemacht. Ich wußte gar nichts davon. Er meinte, er müsse irgendwelche Grabarbeiten für den Palast erledigen, sonst nichts. Ham ist ein mundfauler Bursche, und ich hab’ nicht weiter darauf geachtet.
Gleich danach hat er mir davon erzählt, ganz plötzlich, daß er sich aus dem Geschäft zurückziehen und fortgehen will, um bei seiner Tochter zu wohnen, wie ich Euch gesagt hab’. Er hat immer davon geredet, daß er fortgehen und bei seiner Tochter leben will, bevor er sich sein eigenes Loch schaufeln muß, aber er hatte kein Geld, und sie ist auch nicht besser dran, daher hab’ ich nie darauf gehört. Dann hat er diesen Esel gekauft, sogar ein gutes Tier, daher wußte ich, diesmal ist’s keine Träumerei. Er sagte, er will das Geld für die Arbeit im Palast nicht. Meinte, ich soll einen neuen anheuern, der mir hilft.
Tja, und am nächsten Abend, bevor er loszog, da hat er eine Flasche Schnaps mitgebracht. Ein gutes Tröpfchen, das mehr gekostet hatte als das, was wir sonst immer kaufen. Ham kann nie ein Geheimnis für sich behalten, wenn er mit Trinken anfängt. Das weiß jeder hier! Er erzählt aber nicht überall rum, was er nicht erzählen soll — versteht das nicht falsch, meine Dame —, er ist ein Mann, dem man schon was anvertrauen kann. Aber mir erzählt er alles, wenn er getrunken hat.«
Verna zog ihre Hand zurück. »Verstehe. Ham ist ein guter Kerl und dein Freund. Ich möchte nicht, daß du dir Sorgen machst, weil du etwas verrätst, was man dir anvertraut hat, Milton. Ich bin eine Schwester. Du tust nichts Falsches, wenn du dich mir anvertraust, und du brauchst auch keine Angst zu haben, daß ich dir deswegen Schwierigkeiten mache.«
Er nickte sichtlich erleichtert und brachte ein dünnes Lächeln zuwege. »Also, wie gesagt, wir haben uns diese Flasche vorgenommen und über alte Zeiten geredet. Er wollte weg, und ich wußte, daß ich ihn vermissen würde. Ihr wißt schon. Wir waren lange Zeit zusammen, nicht daß wir keine…«
»Ihr wart Freunde, verstehe. Was hat er gesagt?«
Er lockerte seinen Kragen. »Na ja, wir haben getrunken und ganz feuchte Augen gekriegt, weil wir uns trennen würden. Dieses Zeug war stärker als das, was wir gewohnt waren. Ich hab’ ihn gefragt, wo seine Tochter wohnt, damit ich ihm das Geld von der Rechnung schicken und ihm ein wenig unter die Arme greifen kann. Ich hab’ schließlich diesen Laden und komme zurecht. Ich hab’ Arbeit. Aber Ham hat nein gesagt, er braucht es nicht. Braucht es nicht! Also danach war ich mächtig neugierig. Ich hab’ ihn gefragt, wo er das Geld herhat, und er meint, er hat es gespart. Ham hat nie etwas gespart. Wenn er etwas hatte, dann hatte er es gerade bekommen und noch nicht ausgegeben, das war alles.
Ja, und da hat er zu mir gesagt, ich soll die Rechnung auf jeden Fall an den Palast schicken. Er war richtig hartnäckig. Wahrscheinlich, weil er mich ohne Hilfe zurückgelassen hat. Also frag’ ich ihn: ›Ham, wen hast du für den Palast unter die Erde gebracht?‹«
Milton beugte sich zu ihr hinüber und senkte die Stimme zu einem rauhen Flüstern. »›Hab’ gar keinen unter die Erde gebracht‹, sagt Ham da, ›hab’ einen rausgeholt.‹«
Verna packte den Mann an seinem schmutzigen Kragen. »Was? Er hat jemanden ausgegraben? Hat er das damit gemeint? Er hat jemanden ausgegraben?«
Milton nickte. »So ist es. Habt Ihr so was je gehört? Einen Toten ausgraben? Sie unter die Erde zu bringen macht mir nichts aus, das ist meine Arbeit. Aber die Vorstellung, einen wieder auszubuddeln, da läuft’s mir kalt den Rücken runter. Das ist wie eine Grabschändung. Klar, damals haben wir auf die alten Zeiten getrunken und so und haben uns kaputtgelacht.«
Vernas Gedanken rasten in alle Richtungen gleichzeitig. »Wen hat er exhumiert? Und auf wessen Anordnung?«
»Alles, was er gesagt hat, war, ›für den Palast‹.«
»Wie lange ist das her?«
»Eine ganze Weile. Ich weiß nicht mehr … wartet, das war nach der Wintersonnenwende, aber nicht lange danach, vielleicht bloß ein paar Tage.«
Sie rüttelte ihn am Kragen. »Wer war es? Wen hat er ausgegraben?«
»Ich hab’ ihn gefragt. Ich hab’ ihn gefragt, wer das war, den sie wiederhaben wollten. Er meinte: ›Das war denen egal, ich sollte sie nur einfach bringen, schön ordentlich eingewickelt in ein sauberes Leichentuch.‹«
Verna krallte ihre Finger in seinen Kragen. »Weißt du das ganz genau? Du hattest getrunken — vielleicht hat er dir nur einen Bären aufgebunden?«
Er schüttelte den Kopf, als fürchtete er, sie würde ihn abreißen. »Nein. Ich schwöre es. Ham denkt sich keine Geschichten oder Lügen aus, wenn er trinkt. Wenn er trinkt, erzählt er mir immer nur die Wahrheit. Egal, welche Sünde er begeht, wenn er trinkt, dann beichtet er sie mir. Und ich weiß noch ganz genau, was er mir erzählt hat — es war das letzte Mal, daß ich meinen Freund gesehen hab’. Ich weiß noch ganz genau, was er gesagt hat.
Er hat gesagt, ich soll die Rechnung auf jeden Fall an den Palast schicken, aber ein paar Wochen damit warten, weil sie soviel Arbeit haben, hätte man ihm dort erzählt.«
»Was hat er mit der Leiche gemacht? Wohin hat er sie gebracht? Wem hat er sie übergeben?«
Milton versuchte, ein Stückchen von ihr abzurücken, aber das ließ ihr Griff an seinem Kragen nicht zu. »Weiß ich nicht. Er hat gesagt, er hat sie in den Palast gefahren, auf einem Karren, richtig gut zugedeckt. Sie haben ihm einen Paß gegeben, damit die Wachen seine Ladung nicht durchsuchen. Er hat seine besten Kleider anziehen müssen, damit die Leute nicht merken, wer er ist, und er die feinen Leute im Palast nicht erschreckt und vor allem nicht das feine Empfinden der Schwestern verletzt, die sich mit dem Schöpfer unterhalten. Er hat gesagt, er hat getan, was man ihm aufgetragen hat. Und er war stolz, daß er alles richtig gemacht hat, weil er niemanden gestört hat, als er mit den Leichen da reingefahren ist. Das ist alles, was er mir darüber erzählt hat. Mehr weiß ich nicht, das schwöre ich bei meiner Hoffnung auf das Licht des Schöpfers, wenn mein Leben hier zu Ende ist.«
»Leichen? Du sagtest Leichen. Waren es mehr als eine?« Sie funkelte ihn bedrohlich an und packte noch fester zu. »Wie viele waren es? Wie viele Leichen hat er ausgegraben und dem Palast geliefert?«
»Zwei.«
»Zwei…«, wiederholte sie mit leiser Stimme und aufgerissenen Augen. Er nickte.
Vernas Hand löste den Griff an seinem Kragen.
Zwei.
Zwei Leichen, gehüllt in saubere Leichentücher.
Sie ballte die Fäuste und fing wütend an zu knurren.
Milton schluckte, hob abwehrend die Hand. »Da ist noch was. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist.«
»Was?« preßte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Er hat gesagt, sie wollten, daß sie frisch sind. Eine war klein und war nicht so schlimm, aber die andere hat ihn Zeit gekostet, das war eine große. Ich hab’ ihn dann nicht weiter danach ausgefragt. Verzeiht.«
Unter größten Mühen brachte sie ein Lächeln zustande. »Danke, Milton, du warst dem Schöpfer eine große Hilfe.«
Er raffte sein Hemd am Hals zusammen. »Danke, Schwester. Schwester, ich hab’ nie den Mut gehabt, in den Palast zu gehen, wo ich doch Totengräber bin. Ich weiß, die Leute mögen es nicht, wenn sie mich sehen. Also, ich bin jedenfalls nie dagewesen. Schwester, könnt Ihr mir vielleicht den Segen des Schöpfers erteilen?«
»Natürlich, Milton. Du hast Sein Werk getan.«
Er schloß die Augen und sprach murmelnd ein Gebet.
Verna berührte seine Stirn. »Dem Kind des Schöpfers Seinen Segen«, sprach sie leise und ließ die Wärme ihres Han in seinen Geist eindringen. Ihm stockte der Atem vor Verzückung. Verna überflutete seinen Geist mit ihrem Han. »Du wirst dich an nichts erinnern, was Ham dir beim Trinken über die Rechnung erzählt hat. Du wirst nur noch wissen, daß er erzählt hat, es sei seine Arbeit gewesen, aber welcher Art sie war, das weißt du nicht. Wenn ich gegangen bin, wirst du dich nicht mehr an meinen Besuch erinnern.«
Seine Augen zuckten eine Weile unter seinen Lidern hin und her, bevor er sie schließlich wieder öffnete. »Danke, Schwester.«
Warren lief draußen auf der Straße auf und ab. Ohne anzuhalten oder irgendeine Erklärung abzugeben, stürmte sie an ihm vorbei. Er mußte rennen, um sie einzuholen.
Verna gebärdete sich wie ein drohendes Unwetter. »Ich werde sie erwürgen«, knurrte sie kaum hörbar. »Ich werde sie mit meinen eigenen Händen erwürgen. Es ist mir egal, ob der Hüter mich holt, ich werde ihr die Hände um den Hals legen.«
»Was redet Ihr da? Was habt Ihr herausgefunden? Geht doch langsamer, Verna!«
»Sprich jetzt nicht mit mir, Warren. Sag kein einziges Wort!«
Sie fegte durch die Straßen, holte mit den Fäusten im Rhythmus ihrer zornigen Schritte aus — ein Sturm, der über das Land wütete. Das Kribbeln in ihrem Bauch drohte sich in einem Lichtblitz zu entladen. Sie sah weder Straßen noch Gebäude, noch hörte sie das Schlagen der Trommeln im Hintergrund. Sie vergaß, daß Warren hinter ihr hertrabte. Sie sah nichts weiter als ein Traumbild ihrer Rache.
Sie war blind für ihre Umgebung, verloren in einer Welt aus Zorn. Ohne zu wissen, wie sie dorthingekommen war, fand sie sich plötzlich auf einer der abgelegenen Brücken wieder, die zur Insel Drahle führten. Auf dem Scheitelpunkt, mitten über dem Fluß, blieb sie so unvermittelt stehen, daß Warren fast mit ihr zusammenstieß.
Sie packte den Silberbrokat an seinem Kragen. »Mach, daß du runter in den Gewölbekeller kommst und verkette diese Prophezeiung.«
»Wovon redet Ihr?«
Sie schüttelte ihn an seinem Gewand. »Die, in der es heißt: Wenn die Prälatin und der Prophet im heiligen Ritual dem Licht übergeben werden, werden die Flammen einen Kessel voller Arglist zum Sieden bringen und einer falschen Prälatin zum Aufstieg verhelfen, die den Tod des Palastes der Propheten herbeiführen wird. Suche die Äste. Verkette sie miteinander. Finde alles heraus, was du kannst. Hast du verstanden!«
Warren riß sein Gewand los und zupfte es zurecht. »Was soll das alles? Was hat Euch dieser Totengräber erzählt?«
Sie hob warnend den Zeigefinger. »Jetzt nicht, Warren.«
»Wir sind doch Freunde, Verna. Wir sitzen in dieser Geschichte doch im selben Boot, habt Ihr das vergessen? Ich möchte wissen —«
Ihre Stimme klang wie Donnergrollen am Horizont. »Tu, was ich dir sage. Wenn du mich jetzt, in diesem Augenblick, bedrängst, wirst du Bekanntschaft mit dem Wasser machen. Und jetzt geh und verkette diese Prophezeiung und sage mir sofort Bescheid, sobald du etwas herausgefunden hast.«
Verna kannte sich aus mit den Prophezeiungen im Gewölbekeller. Sie wußte, daß es leicht Jahre dauern konnte, Äste miteinander zu verketten. Jahrhunderte. Aber was sollten sie sonst tun?
Er bürstete sein Gewand ab und hatte so einen Vorwand, woanders hinzusehen. »Ganz wie Ihr wünscht, Prälatin.«
Als er sich umdrehte und gehen wollte, bemerkte sie seine roten und aufgequollenen Augen. Am liebsten hätte sie ihn am Arm gepackt und festgehalten, doch er war bereits zu weit weg. Wie gern hätte sie ihm hinterhergerufen und ihm gesagt, daß sie nicht böse auf ihn sei, daß es nicht sein Fehler sei, daß sie die falsche Prälatin war, aber ihr versagte die Stimme.
Sie fand den runden Felsen unter dem Ast und sprang auf die Mauer. Sie benutzte nur zwei Äste des Birnenbaums, stürzte im Gelände der Prälatin zu Boden und fing an zu rennen, gleich als sie wieder auf den Beinen war. Stöhnend vor Schmerzen schlug sie immer wieder mit der Hand gegen die Tür des Heiligtums der Prälatin, doch die weigerte sich aufzugehen. Dann fiel ihr ein, warum. Sie kramte in ihrer Tasche und fand den Ring. Als sie eingetreten war, preßte sie ihn gegen das Sonnenaufgangssymbol der Tür, um sie zu schließen, dann schleuderte sie ihn mit all ihrer Wut und Seelenqual quer durch den Raum.
Verna riß das Reisebuch aus der Geheimtasche hinten am Gürtel und ließ es auf den dreibeinigen Schemel klatschen. Keuchend, nach Atem ringend, nestelte sie den Stift aus dem Rücken des kleinen schwarzen Buches. Sie schlug es auf, breitete es flach auf dem kleinen Tischchen aus und starrte auf die leere Seite.
Sie versuchte, trotz ihres Zorns und ihrer Verärgerung nachzudenken. Sie mußte die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie sich täuschte. Nein. Sie täuschte sich nicht. Dennoch, sie war eine Schwester des Lichts, was immer das bedeutete, und würde nicht so unvernünftig sein, auf eine bloße Vermutung hin alles aufs Spiel zu setzen. Sie mußte sich überlegen, wie sie feststellen konnte, wer im Besitz des anderen Buches war, und zwar auf eine Weise, die ihre Identität nicht verriet, falls sie sich irrte. Aber sie irrte sich nicht. Sie wußte, wer es hatte.
Verna küßte ihren Ringfinger und sprach leise ein Gebet, in dem sie um die Unterweisung des Schöpfers bat, und auch um Kraft.
Sie wollte ihrem Zorn Luft machen, doch vor allem mußte sie sich vergewissern. Mit zitternden Fingern nahm sie den Stift zur Hand und begann zu schreiben.
Zuerst müßt Ihr mir den Grund verraten, warum Ihr mich beim letzten Mal auserwählt habt. Ich weiß noch jedes Wort. Ein Fehler, und dieses Reisebuch wird zum Fraß der Flammen.
Verna klappte das Buch zu und steckte es wieder in die Geheimtasche an ihrem Gürtel. Zitternd zog sie die Steppdecke von ihrem Platz auf der Truhenbank und trug sie hinüber zu dem mächtigen Sessel. So einsam wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben rollte sie sich im Sessel ein.
Verna dachte an ihr letztes Zusammentreffen mit Prälatin Annalina, als Verna nach all den Jahren mit Richard zurückgekehrt war. Annalina hatte sie nicht sehen wollen, und es hatte Wochen gedauert, bis man ihr endlich eine Audienz gewährte. Solange sie lebte, ganz gleich, wie viele hundert Jahre das werden mochten, nie würde sie diese Begegnung oder das, was die Prälatin zu ihr gesagt hatte, vergessen.
Verna war außer sich gewesen, als sie feststellte, daß die Prälatin ihr wichtige Informationen vorenthielt. Die Prälatin hatte sie benutzt, ihr aber nie die Gründe dafür verraten. Die Prälatin hatte sich erkundigt, ob Verna wußte, weshalb sie auserwählt worden war, um Richard suchen zu gehen. Verna sagte, sie halte es für ein Vertrauensvotum. Die Prälatin meinte, es sei, weil sie vermutete, daß die Schwestern Grace und Elisabeth, die sie auf der Reise begleitet hatten und die als erste auserwählt worden waren, Schwestern der Finsternis waren, und sie im Besitz vertraulicher Informationen aus den Prophezeiungen sei, in denen es hieß, die ersten beiden Schwestern würden sterben. Die Prälatin meinte, sie habe von ihrem Vorrecht Gebrauch gemacht, Verna als dritte Schwester auszuwählen.
Verna fragte: »Ihr habt mich ausgewählt, weil Ihr darauf vertraut habt, daß ich nicht eine von ihnen bin?«
»Ich habe dich ausgewählt, Verna«, sagte die Prälatin, »weil du ganz unten auf der Liste standest, und weil du im großen und ganzen recht unauffällig bist. Du bist ein Mensch, von dem man wenig Notiz nimmt. Sicher haben die Schwestern Grace und Elisabeth es deshalb bis an die Spitze der Liste geschafft, weil, wer immer die Schwestern der Finsternis anführt, sie für verzichtbar hielt. Ich habe Euch aus demselben Grunde ausgesucht.
Es gibt Schwestern, die für unsere Sache wertvoll sind. Ich konnte sie für eine solche Aufgabe nicht aufs Spiel setzen. Möglicherweise erweist sich der junge Bursche für uns als wertvoll, aber er ist nicht so wichtig wie andere Angelegenheiten im Palast. Es war schlicht eine Gelegenheit, die zu ergreifen ich mich entschloß.
Hätte es Schwierigkeiten gegeben, und keine von euch wäre zurückgekehrt, nun, ich bin sicher, du verstehst, daß ein General seine besten Offiziere nicht bei einer Mission von geringer Dringlichkeit verlieren möchte.«
Die Frau, die sie angelächelt und mit Anregungen erfüllt hatte, als sie klein war, hatte ihr das Herz gebrochen.
Verna zog die Steppdecke hoch und blickte durch ihre Tränen blinzelnd auf die Wände des Heiligtums. Sie hatte niemals etwas anderes sein wollen als eine Schwester des Lichts. Sie hatte eine von diesen wunderbaren Frauen sein wollen, die ihre Gabe dazu benutzten, hier in dieser Welt das Werk des Schöpfers zu tun. Sie hatte ihr Leben und ihr Herz dem Palast der Propheten geschenkt.
Verna wußte noch genau den Tag, als sie kamen, um ihr zu sagen, daß ihre Mutter gestorben sei. An hohem Alter, wie es hieß.
Ihre Mutter besaß die Gabe nicht und war daher für den Palast ohne Wert. Ihre Mutter lebte nicht in der Nähe, und Verna sah sie nur selten. Als ihre Mutter in den Palast kam, um Verna zu besuchen, war sie erschrocken, daß ihre Tochter nicht alterte wie ein normaler Mensch. Sie hatte das nie verstehen können, egal, wie oft Verna versuchte, ihr diesen Bann zu erklären. Verna wußte, der Grund lag darin, daß ihre Mutter sich davor fürchtete, wirklich zuzuhören. Magie machte ihr angst.
Auch wenn die Schwestern keinerlei Versuch unternahmen, die Existenz des Banns rings um den Palast zu verheimlichen, der ihren Alterungsprozeß verlangsamte, die Menschen, die die Gabe nicht besaßen, hatten trotzdem Schwierigkeiten, sich einen Reim darauf zu machen. Dies war Magie, die keine Bedeutung für ihr Leben hatte. Die Menschen waren stolz darauf, in der Nähe des Palastes zu leben. Und wenn sie den Palast auch voller Ehrerbietung betrachteten, so grenzte die Ehrerbietung doch an ängstliche Vorsicht. Sie wagten es nicht, ihre Gedanken auf Dinge zu richten, denen soviel Macht innewohnte, etwa so, wie sie die Wärme der Sonne genossen, es aber nicht wagten, direkt hineinzusehen.
Als ihre Mutter starb, war Verna seit siebenundvierzig Jahren im Palast, und doch war sie dem Aussehen nach gerade erst zu einer jungen Frau herangewachsen.
Verna erinnerte sich an den Tag, als man kam und ihr mitteilte, daß Leitis, ihre Tochter, gestorben sei. An Altersschwäche, hieß es.
Vernas Tochter, Jedidiahs Tochter, besaß die Gabe nicht, und war daher ohne Wert für den Palast. Es wäre besser, hieß es, wenn sie von einer Familie aufgezogen würde, die sie liebte und ihr ein ganz normales Leben möglich machte. Ein Leben im Palast sei für jemanden ohne die Gabe kein Leben. Verna hatte das Werk des Schöpfers zu erledigen und fügte sich stillschweigend.
Besaßen sowohl Mann und Frau die Gabe, so erhöhte sich die Chance, wenn auch kaum, daß die Nachkommen ebenfalls mit der Gabe geboren wurden. Daher konnten Schwestern und Zauberer mit Zustimmung, wenn nicht gar offizieller Ermunterung rechnen, wenn sie ein Kind zeugten.
Einer Übereinkunft zufolge, die der Palast stets unter solchen Umständen traf, wußte Leitis nicht, daß die Menschen, die sie aufzogen, nicht ihre leiblichen Eltern waren. Verna vermutete, daß dies zu ihrem Besten war. Was für eine Mutter hätte eine Schwester des Licht schon sein können? Der Palast hatte für ihre Familie gesorgt, so brauchte sich Verna wegen des Wohlergehens ihrer Tochter keine Sorgen zu machen.
Mehrere Male war Verna zu Besuch gekommen — als Schwester, die einer Familie ehrlicher, hart arbeitender Menschen den Segen des Schöpfers brachte —, und Leitis hatte stets glücklich ausgesehen. Bei Vernas letztem Besuch war Leitis grau und gebeugt gewesen und hatte nur noch mit Hilfe eines Stockes laufen können. Für Leitis war Verna nicht mehr dieselbe Schwester, die sie besucht hatte, als sie, sechzig Jahre zuvor, ›Fangt den Fuchs‹ mit ihren jungen Freundinnen gespielt hatte.
Leitis hatte Verna angelächelt, aus Freude über den Segen, und hatte gesagt: »Ich danke Euch, Schwester. So jung und schon so begabt.«
»Wie geht es dir, Leitis? Hattest du ein gutes Leben?«
Vernas Tochter lächelte bescheiden. »Aber ja, Schwester, ich hatte ein langes und glückliches Leben. Mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben, doch davon abgesehen hat der Schöpfer mich gesegnet.« Dann hatte sie stillvergnügt gelacht. »Ich wünschte nur, ich hätte noch mein braunes, lockiges Haar. Es war einmal so wunderschön wie Eures. Ja, das war es — das schwöre ich.«
Beim Schöpfer, wie lange war es her, daß Leitis gestorben war? Es mußte an die fünfzig Jahre her sein. Leitis hatte Kinder gehabt, doch Verna hatte nicht einmal ihre Namen erfahren wollen.
Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr beim Weinen fast die Kehle zu.
Sie hatte soviel dafür gegeben, eine Schwester zu sein. Sie hatte den Menschen einfach nur helfen wollen. Nie hatte sie etwas verlangt.
Und war zum Narren gehalten worden.
Sie hatte nicht Prälatin werden wollen, doch jetzt fing sie gerade an zu glauben, sie könnte die Stellung vielleicht dazu benutzen, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen und das Werk zu tun, für das sie alles andere geopfert hatte. Statt dessen war sie ein weiteres Mal zum Narren gehalten worden.
Verna hielt die Decke fest umklammert und schüttelte sich unter Weinkrämpfen, bis das Licht vor den kleinen Fenstern in den Giebeln längst erloschen war, und ihre Kehle rauh wurde.
Mitten in der Nacht beschloß sie schließlich, ins Bett zu gehen. Sie wollte nicht im Heiligtum der Prälatin bleiben, der Raum schien sie nur zu verhöhnen. Sie war nicht die Prälatin. Endlich hatte sie alle ihre Tränen vergossen und spürte nichts als ein betäubendes Gefühl der Erniedrigung.
Sie bekam die Tür nicht auf und mußte auf dem Fußboden herumkriechen, bis sie den Ring der Prälatin fand. Nachdem sie die Tür verschlossen hatte, steckte sie sich den Ring wieder auf den Finger, als Erinnerung, als weithin sichtbares Zeichen dafür, wie leichtgläubig sie gewesen war.
Mit ausdrucksloser Miene schlich sie zurück ins Büro der Prälatin, unterwegs ins Bett der Prälatin. Die Kerze hatte getropft und war ausgegangen, also zündete sie eine andere auf dem Schreibtisch an, auf dem sich noch immer die Berichte stapelten. Was würde Phoebe denken, wenn sie herausfand, daß sie in Wirklichkeit nicht die Verwalterin der Prälatin war? Daß sie von einer recht unbedeutenden Schwester von nur geringem Ansehen ernannt worden war?
Morgen würde sie Warren um Verzeihung bitten müssen. Es war nicht seine Schuld. Sie durfte es nicht an ihm auslassen.
Gerade wollte sie durch die Tür ins Vorzimmer gehen, als sie mitten im Schritt erstarrte.
Ihr durchsichtiger Schild war zerrissen. Sie drehte sich zum Schreibtisch um. Auf den Stapeln lagen keine neuen Berichte.
Irgend jemand hatte herumgeschnüffelt.