Die Günstlinge der Unterwelt Terry Goodkind

1

Die sechs Frauen wachten plötzlich auf, alle im selben Augenblick, während ihre Schreie noch durch die enge Offizierskabine nachhallten. In der Dunkelheit hörte Schwester Ulicia, wie die anderen japsend nach Luft schnappten. Sie schluckte, um ihr eigenes Keuchen zu beruhigen, und zuckte zusammen, als sie den Schmerz in ihrer wunden Kehle spürte. Sie fühlte die Feuchtigkeit auf ihren Lidern, ihre Lippen aber waren so trocken, daß sie, aus Angst, sie könnten reißen und zu bluten anfangen, mit der Zunge darüberfuhr.

Jemand hämmerte gegen die Tür. Die Rufe drangen nur als dumpfes Dröhnen bewußt in ihren Kopf. Sie versuchte erst gar nicht, sich auf die Worte oder ihre Bedeutung zu konzentrieren. Der Mann war nicht wichtig.

Sie richtete die zitternde Hand auf den Mittelpunkt der Kabinendecke, setzte einen Strom ihres Han frei, der Essenz des Lebens und des Geistes, und lenkte einen Hitzepunkt in die Öllampe, die, wie sie wußte, an dem niedrigen Balken hing. Der Docht fing folgsam Feuer und gab eine wellenförmige Rußfahne von sich, die das langsame Hin- und Herschaukeln des in der See rollenden Schiffes nachzeichnete.

Die anderen Frauen, alle nackt wie sie selbst, setzten sich ebenfalls auf, die Augen auf den matten, gelben Schein gerichtet, so als suchten sie dort ihr Heil oder vielleicht nur die Bestätigung dafür, daß sie noch lebten und es ein Licht gab, das man sehen konnte. Selbst Ulicia lief beim Anblick der Flamme eine Träne über die Wange. Die völlige Finsternis war erdrückend gewesen, wie eine schwere Schicht feuchter, schwarzer Erde, die man über sie geschaufelt hatte.

Ihr Bettzeug war schweißdurchnäßt und kalt, doch auch sonst war immer alles feucht von der salzigen Luft, ganz zu schweigen von der Gischt, die gelegentlich das Deck überspülte und alles durchtränkte, was darunter lag. Wie es war, trockene Kleider oder trockenes Bettzeug auf der Haut zu spüren, hatte sie inzwischen vergessen. Sie haßte dieses Schiff, die ewige Feuchtigkeit, den fauligen Gestank, das unablässige Rollen und Stampfen, bei dem sich ihr der Magen umdrehte. Wenigstens lebte sie und konnte das Schiff hassen. Vorsichtig schluckte sie den galligen Geschmack herunter.

Ulicia wischte sich durch die warme Feuchtigkeit über ihren Augen und betrachtete die Hand — ihre Fingerspitzen glänzten von Blut. Als hätte ihr Beispiel sie ermutigt, taten einige der anderen das gleiche. Jede einzelne von ihnen hatte blutige Kratzer auf den Lidern vom verzweifelten, aber erfolglosen Versuch, sich die Augen aufzukratzen, sich aus der Falle des Schlafes zu befreien, von dem fruchtlosen Bemühen, dem Traum zu entfliehen, der keiner war.

Ulicia kämpfte, um den Schleier um ihren Verstand zu lüften. Es mußte schlicht ein Alptraum gewesen sein.

Sie riß den Blick von der Flamme los und zwang sich, die anderen Frauen zu betrachten. Schwester Tovi kauerte gegenüber in einer der unteren Kojen. Die dicken Fettwülste ihrer Taille hingen schlaff herab, wie aus Mitgefühl für den verdrießlichen Ausdruck ihres faltigen Gesichts, mit dem sie die Lampe anstarrte. Schwester Cecilias sonst wohlgeordnetes, lockig graues Haar stand zerzaust ab, ihr unerschütterliches Lächeln war einer aschfahlen Miene der Angst gewichen, als sie aus der Koje, unten neben Tovi, starr heraufschaute. Ulicia beugte sich ein wenig vor und warf einen Blick in die Koje über ihr. Schwester Armina, die längst nicht so alt wie Tovi oder Cecilia, sondern eher in Ulicias Alter und noch immer sehr attraktiv war, wirkte ausgezehrt. Mit zitternden Fingern wischte sich die sonst so ruhige Armina das Blut von den Lidern.

Auf der anderen Seite des schmalen Ganges, in den Kojen über Tovi und Cecilia, saßen die beiden jüngsten und gefaßtesten Schwestern. Kratzer verunzierten Schwester Niccis zuvor makellose Wangen. Tränen, Schweiß und Blut klebten ihr Strähnen ihrer blonden Haare ins Gesicht. Schwester Merissa, ebenso schön, drückte sich ein Laken vor die nackte Brust, nicht aus Schamgefühl, sondern weil sie scheußliche Angst hatte. Ihr langes, dunkles Haar war ein einziges verfilztes Durcheinander.

Die anderen waren älter und wußten ihre in der Schmiede der Erfahrung gehärtete Macht geschickt zu nutzen, Nicci und Merissa dagegen waren im Besitz von seltenen, angeborenen dunklen Gaben — ein Anflug von Geschicktheit, den selbst noch soviel Erfahrung nicht ersetzen konnte. Die beiden waren gerissener, als es sich für ihre Jahre geziemte, und beide ließen sich nicht von Cecilias oder Tovis freundlichem Lächeln oder dem vorgetäuschten Mitleid täuschen. Trotz ihrer Jugend und Beherrschtheit wußten beide, daß Cecilia, Tovi, Armina und vor allem Ulicia selbst imstande waren, sie auseinanderzunehmen, Stück für Stück, wenn ihnen danach war. Doch das tat ihrer Meisterschaft keinen Abbruch. Für sich betrachtet, waren sie zwei der beeindruckendsten Frauen, die je einen Atemzug getan hatten. Erwählt hatte sie der Hüter jedoch wegen ihres einzigartigen Durchsetzungswillens.

Es war entmutigend, die Frauen, die sie so gut kannte, in diesem Zustand zu sehen, doch Merissas unverhohlenes Entsetzen war es, das Ulicia wirklich schockierte. Sie kannte keine Schwester, die so ruhig, leidenschaftslos, unnachgiebig und gnadenlos war wie Merissa. Schwester Merissa hatte ein Herz aus schwarzem Eis.

Ulicia kannte Merissa seit nahezu einhundertsiebzig Jahren und konnte sich nicht erinnern, sie in all der Zeit je weinen gesehen zu haben. Jetzt schluchzte sie.

Es vermittelte Schwester Ulicia ein Gefühl von Macht, die anderen in einem solchen Zustand jämmerlicher Schwäche zu sehen, und eigentlich gefiel es ihr. Sie war die Anführerin und stärker als sie.

Der Mann hämmerte noch immer gegen die Tür und wollte wissen, was los sei, was all das Geschrei zu bedeuten habe. Ulicia entlud ihren Ärger in Richtung Tür. »Laß uns in Ruhe! Du wirst gerufen, wenn man dich braucht!«

Die gedämpften Flüche des Matrosen verklangen im Gang, als er sich entfernte. Vom Knarren der Balken abgesehen, wenn das Schiff, querab von einer schweren See getroffen, gierte, war das Schluchzen das einzige Geräusch.

»Hör auf mit dem Gegreine, Merissa«, fauchte Ulicia. Merissa sah sie aus ihren vor Angst noch immer glasigen Augen an. »So wie jetzt war es noch nie.« Tovi und Cecilia pflichteten ihr nickend bei. »Ich habe getan, was er von mir verlangte. Warum hat er das getan? Ich habe ihn nicht enttäuscht.«

»Hätten wir ihn enttäuscht«, sagte Ulicia, »wären wir dort, bei Schwester Liliana.«

Armina schreckte hoch. »Du hast sie auch gesehen? Sie war —«

»Ich habe sie gesehen«, fiel ihr Ulicia ins Wort, verbarg ihr Entsetzen jedoch hinter dem beiläufigen Tonfall.

Schwester Nicci strich sich eine verdrehte Strähne blutgetränkten Haars aus dem Gesicht. Wachsende Gelassenheit machte ihre Stimme aalglatt. »Schwester Liliana hat den Meister enttäuscht.«

Schwester Merissa, aus deren Augen alles Glasige wich, warf ihr einen kalten, geringschätzigen Blick zu. »Sie zahlt den Preis für ihr Versagen.« Die schneidende Schärfe ihres Tonfalls wuchs zu wie winterliche Eisblumen auf einer Fensterscheibe. »Und zwar bis in alle Ewigkeit.« Merissa ließ ihre glatten Züge so gut wie niemals von irgendeiner Regung verunstalten, doch diesmal zogen sich ihre Brauen zu einem mörderisch finsteren Blick zusammen. »Sie hat deine Befehle widerrufen und die des Hüters. Sie hat unsere Pläne durchkreuzt. Das war ihr Fehler.«

Liliana hatte den Hüter in der Tat enttäuscht. Ohne Schwester Liliana würden sie alle sich nicht an Bord dieses Schiffes befinden. Der Gedanke an die Überheblichkeit dieser Frau trieb Ulicia die Hitze ins Gesicht. Liliana hatte den ganzen Ruhm für sich einstreichen wollen. Sie hatte bekommen, was sie verdiente. Und doch mußte Ulicia schlucken, wenn sie daran dachte, daß sie Lilianas Qualen gesehen hatte, nur diesmal spürte sie den Schmerz in ihrer wunden Kehle nicht.

»Aber was wird aus uns?« fragte Cecilia. Ihr Lächeln kehrte zurück, eher kleinlaut als vergnügt. »Müssen wir tun, was dieser … Mann verlangt?«

Ulicia wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Wenn dies wirklich war, wenn das, was sie gesehen hatte, tatsächlich geschehen war, dann hatten sie keine Zeit zu verlieren. Es durfte nicht sein, daß es mehr war als ein schlichter Alptraum. Niemand außer dem Hüter war ihr jemals in jenem Traum erschienen, der keiner war. Ja, es mußte einfach ein Alptraum gewesen sein. Ulicia sah zu, wie eine Kakerlake in den Nachttopf krabbelte. Plötzlich hob sie den Kopf.

»Dieser Mann? Du hast nicht den Hüter gesehen? Sondern einen Mann?«

Cecilia verlor den Mut. »Jagang.«

Tovi hob die Hand an die Lippen und küßte den Ringfinger — eine uralte Geste, mit der man den Schutz des Schöpfers erbat. Es war eine alte Gewohnheit, die ihr seit dem ersten Morgen ihrer Ausbildung zur Novizin selbstverständlich geworden war. Sie alle hatten gelernt, dies jeden Morgen zu tun, ohne Unterlaß, gleich nach dem Aufstehen sowie ebenfalls in schwierigen Zeiten. Wahrscheinlich hatte Tovi es, wie sie alle, unzählige tausend Male mechanisch wiederholt. Eine Schwester des Lichts war symbolisch dem Schöpfer versprochen — und Seinem Willen. Das Küssen des Ringfingers war eine rituelle Erneuerung dieses Versprechens.

Unmöglich zu sagen, was das Küssen des Fingers jetzt, angesichts ihres Verrats, bewirken würde. Dem Aberglauben nach bedeutete es den Tod, wenn jemand, der seine Seele dem Hüter verpfändet hatte — eine Schwester der Finsternis also — diesen Finger küßte. Zwar war nicht klar, ob es den Zorn des Schöpfers heraufbeschwören würde, doch bestand kein Zweifel, daß der Hüter so reagieren würde. Ihr Ringfinger war schon auf halbem Weg zum Mund, als Tovi merkte, was sie tat, und die Hand zurückriß.

»Ihr habt alle Jagang gesehen?« Ulicia sah eine nach der anderen an, und alle nickten. Wie ein kleines Flämmchen flackerte noch immer Hoffnung in ihr. »Dann habt ihr also den Herrscher gesehen. Das bedeutet gar nichts.« Sie beugte sich zu Tovi. »Hast du ihn sprechen hören?«

Tovi zog ihre Decke bis unters Kinn hoch. »Wir waren alle dort, wie immer, wenn der Hüter uns besucht. Wir saßen im Halbkreis, nackt wie immer. Aber es war Jagang, der kam, nicht der Meister.«

Armina, in der Koje über ihr, schluchzte. »Ruhe!« Ulicia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die zitternde Tovi. »Aber was hat er gesagt? Wie lauteten seine Worte?«

Tovis Blick schweifte über den Boden. »Er meinte, unsere Seelen gehörten nun ihm. Er sagte, wir gehörten jetzt ihm, und wir lebten nur, weil es ihm gefiele. Er sagte, wir müßten sofort zu ihm kommen, oder wir würden Schwester Liliana um ihr Schicksal beneiden.« Sie sah auf und blickte Ulicia in die Augen. »Er sagte, wir würden es bedauern, wenn wir ihn warten ließen.« Ihr kamen die Tränen. »Und dann gab er mir einen Vorgeschmack darauf, was es heißt, ihn zu verstimmen.«

Ulicias Haut war kalt geworden, und sie merkte, daß sie ebenfalls die Decke hochgezogen hatte. Widerstrebend schob sie sie wieder zurück in ihren Schoß. »Armina?« Von oben kam leise eine Antwort. »Cecilia?« Cecilia nickte. Ulicia sah hinüber zu den beiden in der oberen Koje auf der anderen Seite. Offenbar hatten sie die Fassung, um die sie so hart gerungen hatten, endlich wiedergefunden. »Nun? Habt ihr zwei die gleichen Worte gehört?«

»Ja«, bestätigte Nicci.

»Genau dieselben«, meinte Merissa ohne Regung. »Liliana hat uns das eingebrockt.«

»Vielleicht ist der Hüter wegen uns verstimmt«, schlug Cecilia vor, »und hat uns dem Kaiser übergeben, damit wir ihm dienen und so unsere Sonderstellung zurückgewinnen können.«

Merissa drückte den Rücken durch. Ihre Augen glichen einem Fenster in ihr gefrorenes Herz. »Ich habe dem Hüter meinen Seeleneid geschworen. Wenn wir dieser vulgären Bestie dienen müssen, um die Gnade unseres Meisters zurückzugewinnen, dann werde ich ihm eben dienen. Ich werde dem Mann die Füße küssen, wenn ich muß.«

Ulicia erinnerte sich, daß Jagang Merissa befohlen hatte, aufzustehen, kurz bevor er den Halbkreis in dem Traum, der keiner war, verließ. Dann hatte er beiläufig die Hand ausgestreckt, ihre rechte Brust mit seinen kräftigen Fingern gepackt und zugedrückt, bis die Knie unter ihr nachgaben. Ulicia warf einen Blick auf Merissas Brust und sah dort schauerliche, blutunterlaufene Flecken.

Merissa machte keine Anstalten, sich zu bedecken, während sich ein Anflug von Heiterkeit in Ulicias Augen zeigte. »Der Kaiser meinte, wir würden es bedauern, wenn wir ihn warten ließen.«

Ulicia hatte diese Anweisungen ebenfalls gehört. Jagang hatte fast so etwas wie Verachtung für den Hüter an den Tag gelegt. Wie hatte er den Hüter in dem Traum, der keiner war, ausstechen können? Jedenfalls hatte er es geschafft — das war alles, was zählte. Es war ihnen allen so ergangen. Es war nicht einfach ein Traum gewesen.

Wachsende Angst machte sich kribbelnd in ihrer Magengrube breit, als die kleine Flamme der Hoffnung erlosch. Auch sie hatte einen Vorgeschmack davon bekommen, was Ungehorsam nach sich zog. Das Blut, das über ihren Augen verkrustete, erinnerte sie daran, wie sehr sie diese Lektion hatte vermeiden wollen. Es war Wirklichkeit gewesen, und sie alle wußten das. Sie hatten keine Wahl. Sie hatten keine Minute zu verlieren. Eine Perle kalten Schweißes rann zwischen ihren Brüsten herab. Wenn sie zu spät kamen…

Ulicia sprang aus der Koje.

»Das Schiff muß wenden!« kreischte sie und warf die Tür auf. »Wenden, und zwar sofort!«

Im Korridor war niemand. Sie sprang schreiend die Kajütstreppe hinauf. Die anderen rannten ihr hinterher, trommelten gegen Kabinentüren. Mit den Türen gab Ulicia sich gar nicht erst ab. Der Steuermann war es, der das Schiff lenkte und die Matrosen in die Takelage schickte.

Ulicia wuchtete den Lukendeckel hoch, und trübes Licht schlug ihr entgegen. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen. Bleierne Wolken rasten über dem dunkel brodelnden Kessel des Meeres dahin. Leuchtende Gischt schäumte jenseits der Reling, als das Schiff eine gewaltige Woge hinabglitt, so daß es schien, als stürzten sie in einen tintenschwarzen Abgrund. Die anderen Schwestern kletterten hinter ihr aus der Luke auf das gischtumtoste Deck.

»Wendet das Schiff!« schrie sie den barfüßigen Matrosen zu, die sich in stummer Überraschung zu ihr umdrehten.

Ulicia stieß knurrend einen Fluch aus und rannte nach achtern, zum Ruder. Die fünf Schwestern folgten ihr auf den Fersen. Mit den Händen nach dem Kragen seiner Jacke greifend, reckte der Steuermann seinen Hals und wollte sehen, was los war. Der Schein einer Laterne drang durch die Öffnung zu seinen Füßen, und man sah die Gesichter der vier Männer, die das Ruder bemannten. Matrosen scharten sich um den Steuermann, standen da und glotzten die sechs Frauen an.

Ulicia keuchte, rang nach Luft. »Was ist, haltet keine Maulaffen feil, ihr Idioten! Habt ihr nicht gehört? Ich sagte, wendet das Schiff!«

Plötzlich konnte sie sich den Grund für die starren Blicke erklären: die sechs waren nackt. Merissa trat neben sie, aufrecht und entzückt, als trüge sie ein Kleid, das sie vom Hals bis zu den Planken verhüllte.

Einer der lüstern dreinblickenden Matrosen meinte, während sein Blick die jüngere der beiden Frauen von oben bis unten taxierte: »Schau an, schau an. Sieht aus, als wären die feinen Damen zum Spielen rausgekommen.«

Merissa, kühl und unnahbar, betrachtete sein lüsternes Feixen mit unerschütterlicher Autorität. »Was mein ist, gehört mir und niemandem sonst, nicht mal zum Anschauen, es sei denn, ich will es so. Nimm sofort deine Augen von meinem Körper, oder man wird sie dir nehmen.«

Hätte der Mann die Gabe besessen und meisterhaft beherrscht wie Merissa, er hätte spüren können, wie die Luft um Merissa vor Kraft unheilverkündend knisterte. Diese Männer kannten sie nur als reiche Adelige, die eine Überfahrt zu fremden und fernen Orten bezahlten. Sie wußten nicht, wer oder was diese sechs Frauen wirklich waren. Captain Blake kannte sie als Schwestern des Lichts, Ulicia hatte ihm jedoch befohlen, dieses Wissen seinen Männern vorzuenthalten.

Der Mann verhöhnte Merissa mit einem lüsternen Ausdruck im Gesicht und obszönen Stößen seines Beckens. »Nicht so hochmütig, Weib. Du wärst nicht in diesem Zustand nach draußen gekommen, hättest du nicht dasselbe im Sinn wie wir.«

Die Luft um Merissa knisterte. Im Schritt der Hose des Mannes breitete sich ein Blutfleck aus. Brüllend hob er den Kopf, sein Blick war wild. Licht blitzte über die Klinge, als er das lange Messer aus dem Gürtel riß. Einen Racheschwur schreiend, taumelte er in mörderischer Absicht vor.

Ein grausames Lächeln spielte um Merissas volle Lippen. »Du dreckiger Abschaum«, sagte sie leise bei sich. »Ich schicke dich in die kalten Arme meines Meisters.«

Sein Fleisch zerplatzte wie eine faulige Melone, der man mit einem Stock einen Schlag versetzt. Eine Erschütterung der Luft, hervorgerufen von der Kraft der Gabe, warf ihn über die Reling. Eine Blutspur zeichnete den Flug seiner Leiche quer über die Planken nach. Die anderen Männer, nahezu ein Dutzend, standen mit aufgerissenen Augen da, zu Statuen erstarrt.

»Ihr werdet uns nur in die Gesichter sehen«, stieß Merissa hervor, »und nirgendwohin sonst.«

Die Männer nickten, zu entsetzt, um ihr Einverständnis in Worten auszudrücken. Der Blick eines Mannes zuckte gegen seinen Willen an ihrem Körper herab, als hätte ihr Aussprechen des Tabus das Verlangen, sie anzusehen, übermächtig gemacht. Vor Entsetzen zusammenhanglos stammelnd, begann er sich zu entschuldigen, doch eine konzentrierte Linie aus Kraft, scharf wie eine Streitaxt, schnitt ihm durch beide Augen. Taumelnd ging er wie der erste über die Reling.

»Merissa«, sagte Ulicia leise, »das reicht. Ich denke, sie haben ihre Lektion gelernt.«

Augen aus Eis, entrückt hinter dem Schleier ihres Han, richteten sich auf sie. »Ich werde nicht zulassen, daß sie von Kopf bis Fuß betrachten, was ihnen nicht gehört.«

Ulicia zog die Augenbrauen hoch. »Wir brauchen sie. Du hast doch sicher nicht vergessen, unter welchem Druck wir stehen.«

Merissa sah zu den Männern hinüber, als betrachtete sie Ungeziefer unter ihren Stiefeln. »Natürlich nicht, Schwester. Wir müssen sofort umkehren.«

Ulicia drehte sich um und sah, daß Captain Blake soeben eingetroffen war und hinter ihnen stand, den Mund weit aufgerissen.

»Wendet das Schiff, Captain«, sagte Ulicia. »Sofort.«

Seine Zunge schoß hervor und fuhr über seine Lippen, während sein Blick von einem Augenpaar der Frauen zum anderen sprang. »Jetzt wollt Ihr umkehren? Warum?«

Ulicia hob einen Finger und zeigte auf ihn. »Man hat Euch gut bezahlt, Captain, um uns dorthin zu bringen, wohin wir wollen, und wann wir wollen. Ich habe Euch vorher schon erklärt, Fragen wären nicht Teil dieser Abmachung, außerdem habe ich Euch versprochen, Euch das Fell über die Ohren zu ziehen, solltet Ihr einen Teil der Abmachung nicht einhalten. Stellt mich auf die Probe, und Ihr werdet erkennen, daß ich bei weitem nicht so nachsichtig bin wie Merissa hier — ich gewähre keinen schnellen Tod. Und jetzt wendet das Schiff!«

Captain Blake ging sofort ans Werk. Er strich seine Jacke glatt und funkelte seine Männer zornig an. »Zurück auf die Posten, faules Pack!« Er machte dem Steuermann ein Zeichen. »Mister Dempsey, wendet das Schiff.« Der Mann war offenbar noch immer starr vor Schreck. »Sofort, verdammt noch mal, Mister Dempsey!«

Sich den speckigen Hut vom Kopf reißend, verneigte sich Captain Blake, sorgfältig darauf bedacht, daß sein Blick auf keine verbotene Stelle fiel. »Wie Ihr wünscht, Schwester, zurück um die Große Barriere, in die Alte Welt.«

»Nehmt direkten Kurs, Captain. Jede Minute zählt!«

Er zerdrückte den Hut in seiner Faust. »Einen direkten Kurs? Wir können unmöglich durch die Große Barriere segeln!« Er mäßigte augenblicklich seinen Ton. »Es ist nicht möglich, wir würden alle getötet werden.«

Ulicia preßte eine Hand auf den Bauch, der brennend schmerzte. »Die Große Barriere ist gefallen, Captain. Sie stellt kein Hindernis mehr für uns dar. Schlagt einen direkten Kurs ein.«

Er wrang seinen Hut. »Die Große Barriere ist gefallen? Das ist nicht möglich. Wie kommt Ihr auf die Idee…«

Sie beugte sich zu ihm vor. »Ihr wagt schon wieder, meine Worte in Zweifel zu ziehen?«

»Nein, Schwester. Nein, natürlich nicht. Wenn Ihr sagt, die Große Barriere sei gefallen, dann ist sie es. Auch wenn ich nicht begreife, wie geschehen sein soll, was nicht sein kann, so weiß ich doch, daß es mir nicht ansteht, Zweifel zu äußern. Einen direkten Kurs also.« Er wischte sich mit dem Hut über den Mund. »Gnädiger Schöpfer, beschütze uns«, murmelte er und wandte sich zum Steuermann. Er hatte es eilig, ihrem zornigen Blick zu entkommen. »Hart Steuerbord, Mister Dempsey!«

Der Mann sah zu den Matrosen am Ruder hinab. »Wir liegen bereits hart Steuerbord, Captain.«

»Keine Widerrede, sonst lasse ich Euch zurückschwimmen!«

»Aye, Captain. An die Leinen!« brüllte er den Männern zu, die bereits einige Leinen lösten und andere anzogen. »Bereitmachen zum Wenden!«

Ulicia musterte die Männer, die nervös über ihre Schultern sahen. »Schwestern des Lichts haben hinten Augen im Kopf, Gentlemen. Sorgt dafür, daß ihr nirgendwo anders hinblickt, sonst wird dies das letzte sein, was ihr in eurem Leben seht.« Die Männer nickten und machten sich an die Arbeit.

Wieder in der engen Kabine, hüllte Tovi ihren zitternden, massigen Körper in ihr Bettzeug. »Ist schon eine ganze Weile her, daß stramme junge Männer mich lüstern angesehen haben.« Sie sah zu Nicci und Merissa hinüber. »Genießt die Bewunderung, solange ihr noch ihrer für würdig befunden werdet.«

Merissa zog ihr Hemd aus der Kiste am Ende der Kabine. »Du warst es nicht, die sie lüstern angesehen haben.«

Cecilias Gesicht verzog sich zu einem mütterlichen Schmunzeln. »Das wissen wir, Schwester. Ich glaube, was Schwester Tovi sagen wollte, ist, daß wir jetzt, wo wir nicht mehr unter dem Bann des Palastes der Propheten stehen, altern werden wie alle anderen auch. Ihr habt jetzt nicht mehr all die Jahre Zeit, eure Schönheit zu genießen, so wie wir dies konnten.«

Merissa straffte sich. »Wenn wir erst den Ehrenplatz bei unserem Meister zurückgewonnen haben, werde ich behalten, was ich jetzt habe.«

Tovi starrte mit einem selten gefährlichen Blick ins Leere. »Und ich will zurück, was ich einst hatte.«

Armina ließ sich auf eine Koje plumpsen. »Liliana ist schuld daran. Wäre sie nicht gewesen, hätten wir den Palast und seinen Bann nicht zu verlassen brauchen. Wäre sie nicht gewesen, hätte der Hüter Jagang nicht die Macht über uns gegeben. Wir wären bei unserem Meister nicht in Ungnade gefallen.«

Einen Augenblick lang schwiegen alle. Sie gingen sich gegenseitig aus dem Weg, drückten sich aneinander vorbei und machten sich daran, ihre Unterwäsche anzulegen, sorgsam darauf bedacht, nicht mit den Ellenbogen aneinanderzugeraten.

Merissa zog ihr Hemd über den Kopf. »Ich will alles Nötige tun, um zu dienen und die Gunst des Meisters zurückzugewinnen. Ich will den Lohn für meinen Eid.« Sie sah zu Tovi hinüber. »Ich will jung bleiben.«

»Das wollen wir alle, Schwester«, meinte Cecilia, und steckte ihren Arm durch den Ärmel ihres schlichten, braunen Wamses. »Aber im Augenblick will der Hüter, daß wir diesem Mann, diesem Jagang, dienen.«

»Tatsächlich?« fragte Ulicia.

Merissa hockte sich hin und durchwühlte ihre Truhe, dann zog sie ihr karminrotes Kleid heraus. »Warum sonst hätte man uns diesem Mann übergeben sollen?«

Ulicia runzelte die Stirn. »Übergeben? Glaubst du das? Ich denke, es steckt mehr dahinter. Ich denke, Kaiser Jagang handelt aus eigenem Entschluß.«

Die anderen hielten beim Ankleiden inne und hoben den Kopf. »Du meinst, er könnte sich dem Hüter widersetzen?« fragte Nicci. »Um seiner eigenen Ziele willen?«

Ulicia tippte Nicci mit dem Finger seitlich an den Kopf. »Denk nach. Nicht der Hüter ist uns im Traum, der keiner war, erschienen. Das ist noch nie zuvor passiert. Noch nie. Statt dessen kommt Jagang. Selbst wenn der Hüter unzufrieden mit uns wäre und wollte, daß wir unter Jagang Buße tun, meinst du nicht, er hätte sich selbst gezeigt und dies verfügt, um uns so seine Unzufriedenheit zu offenbaren? Ich glaube nicht, daß dies das Werk des Hüters ist. Ich glaube, es ist das Werk Jagangs.«

Armina schnappte sich ihr blaues Kleid. Es war eine Spur heller als Ulicias, doch nicht weniger kunstvoll gearbeitet. »Dennoch ist es immer noch Liliana, die uns dies eingebrockt hat.«

Ein feines Lächeln spielte über Ulicias Lippen. »Hat sie das? Liliana war habgierig. Ich glaube, der Hüter wollte sich diese Habgier zunutze machen, doch sie hat ihn verraten.« Das Lächeln verschwand. »Es war nicht Schwester Liliana, die uns dies eingebrockt hat.«

Nicci zögerte, als sie die Kordel am Mieder ihres schwarzen Kleides festzog. »Natürlich. Der Junge.«

»Der Junge?« Ulicia schüttelte langsam den Kopf. »Kein ›Junge‹ hätte die Barriere zu Fall bringen können. Kein einfacher Junge hätte das durchkreuzen können, an dem wir all die Jahre so hart gearbeitet haben. Wir alle wissen, was er ist, aus den Prophezeiungen.«

Ulicia sah alle Schwestern nacheinander an. »Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Lage. Wir müssen darum kämpfen, die Macht des Hüters in dieser Welt zurückzugewinnen, oder Jagang wird uns töten, wenn er fertig mit uns ist, und wir werden uns in der Unterwelt wiederfinden, wo wir dem Meister nicht mehr von Nutzen sind. Wenn das geschieht, dann wird der Hüter gewiß unzufrieden sein und dafür sorgen, daß das, womit Jagang uns gedroht hat, uns erscheint wie die Umarmung eines Geliebten.«

Das Schiff ächzte und stöhnte, während sie über die Worte nachdachten. Sie eilten zurück, um einem Mann zu dienen, der sie benutzen und dann, ohne einen Gedanken, noch viel weniger einen Lohn, fallenlassen würde. Und doch war keine von ihnen bereit, auch nur zu erwägen, sich ihm zu widersetzen.

»Ob er ein Junge ist oder nicht, er hat dies alles verursacht.« Merissas Kinn spannte sich. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich ihn in meinen Fingern hatte, wir alle. Wir hätten uns seiner bemächtigen sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.«

»Liliana hat sich auch seiner bemächtigen wollen, um seine Kraft für sich selbst zu nutzen«, sagte Ulicia, »aber sie war leichtsinnig und endete mit seinem verfluchten Schwert in ihrem Herzen. Wir müssen klüger sein als sie, dann werden wir seine Macht bekommen, und der Hüter seine Seele.«

Armina wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Aber bis dahin muß es doch eine Möglichkeit geben, wie wir unsere Umkehr verhindern können — «

»Und wie lange, glaubst du, können wir wach bleiben?« brauste Ulicia auf. »Früher oder später werden wir einschlafen. Was dann? Jagang hat uns bereits gezeigt, daß er die Macht besitzt, die Hand nach uns auszustrecken, ganz gleich, wo wir sind.«

Merissa knöpfte weiter das Mieder ihres Kleides zu. »Im Augenblick werden wir erst einmal tun, was wir tun müssen. Aber das heißt nicht, daß wir nicht unseren Kopf gebrauchen können.«

Ulicia runzelte nachdenklich die Stirn. Dann hob sie den Kopf und lächelte gequält. »Kaiser Jagang glaubt vielleicht, er hat uns dort, wo er uns haben will, doch wir leben schon sehr lange. Wenn wir unseren Kopf gebrauchen und unsere Erfahrung nutzen, werden wir vielleicht gar nicht so eingeschüchtert sein, wie er denkt.«

Ein boshaftes Funkeln leuchtete in Tovis Augen. »Ja«, zischte sie, »wir leben in der Tat schon lange und haben gelernt, manchen wilden Eber zu Fall zu bringen und ihn auszuweiden, während er noch quiekt.«

Nicci strich die Bäusche ihres schwarzen Kleides glatt. »Schweine auszunehmen ist ja gut und schön, aber Kaiser Jagang ist unser Elend und nicht der Grund dafür. Es ist auch nicht sinnvoll, unseren Zorn auf Liliana zu richten. Sie war nur eine habgierige Närrin. Der, der uns diesen Ärger eingebrockt hat, ist es, den man leiden lassen muß.«

»Weise gesprochen, Schwester«, stimmte Ulicia zu.

Merissa griff sich gedankenverloren an die Brust, an die blutunterlaufene Stelle. »Ich werde im Blut dieses jungen Burschen baden.« Ihr Blick öffnete erneut das Fenster in ihr schwarzes Herz. »Während er dabei zusieht.«

Ulicia ballte die Fäuste und pflichtete ihr mit einem Nicken bei. »Er, der Sucher, hat uns das eingebrockt. Ich schwöre, er wird dafür bezahlen: mit seiner Gabe, seinem Leben und seiner Seele.«

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