5

Die Abenddämmerung war schon hereingebrochen, als Andor Elessedil die Tür des Hauses hinter sich schloß, in dem die Erwählten gelebt hatten. Mit fester Hand sperrte er zum letzten Mal ab. Schweigen hüllte ihn ein, als er innehielt, um in die dichter werdende Dunkelheit zu blicken. Das Haus stand jetzt verlassen; die Leichen der sechs ermordeten jungen Männer waren fortgebracht worden, und Andor hatte dafür gesorgt, daß die persönliche Habe der Toten den Angehörigen zurückgegeben worden war. Still stand er in der Dunkelheit, mit seinen Gedanken allein. Doch die Gedanken waren nicht von der Art, daß er gern bei ihnen verweilt hätte. Er hatte den Abtransport der schrecklich verstümmelten Leichen überwacht und anschließend die Verbringung der Geschichtsbücher des Ordens in die Gewölbe unter dem Herrenhaus der Elessedils geleitet. Auf Ersuchen seines Vaters hatte er die Aufzeichnungen Seite um Seite durchgesehen und nach jenem erlösenden Wort der Offenbarung geforscht, das sie vielleicht übersehen hatten. Doch er hatte nichts gefunden. Er schüttelte den Kopf. Es spielte ja auch keine Rolle mehr, dachte er hoffnungslos. Was konnte ihnen jetzt noch helfen, wenn sie wirklich entdeckten, wo Sichermal zu finden war? Was half es ihnen, das Blutfeuer zu finden, wenn es keinen Erwählten mehr gab, der das Samenkorn des Ellcrys dort hintragen konnte? Dennoch war er froh gewesen, mit etwas beschäftigt zu sein, was ihn von der Erinnerung an den grauenvollen Anblick im Haus der Erwählten ablenkte.

Er ließ das Haus hinter sich, durchquerte den Hof und schlug den Weg ein, der zu den Gärten des Lebens führte. Überall auf dem breiten Rücken des Carolan loderten rotgoldene Fackeln, die dichter werdende Dunkelheit zu durchdringen. Und überall warteten Soldaten; Schwarze Wachen riegelten die Gärten des Lebens ab, und die Leibgarde des Königs patrouillierte in den Straßen und Gassen der Stadt. Die Elfen lebten in Angst, eingedenk der entsetzlichen Ereignisse. Als sich die Nachricht vom Massaker im Haus der Erwählten wie ein Lauffeuer ausgebreitet hatte, hatte Eventine rasch die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um seinem Volk die beruhigende Gewißheit zu geben, daß es vor einem ähnlichen Schicksal geschützt sei; in Wahrheit allerdings glaubte er nicht daran, daß den Bürgern unmittelbare Gefahr drohte. Das Ungeheuer, das die Erwählten getötet hatte, richtete gegen niemanden sonst seinen Haß. Dennoch konnte es nicht schaden, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, die nicht nur die Stadt schützten, sondern auch die Panik eindämmen würden, die, das spürte der König, unter seinem Volk auszubrechen drohte.

Das unheilvolle Unglück war bereits eingetreten. Der Baum war siech und würde bald sterben, und eine Wiedergeburt würde es nun nicht geben. Mit dem Tode des Ellcrys würde die Bannmauer einstürzen, und die bösen Mächte, die hinter ihr gefangen waren, würden hervorbrechen. Und wenn sie erst einmal frei waren, würden sie an dem Volk der Elfen Rache üben. Es sei denn, es geschah ein Wunder, und es fand sich ein Zauberer, der das verhindern konnte.

Draußen, vor der Mauer zu den Gärten des Lebens, blieb Andor stehen. Langsam und tief holte er Atem, um wenigstens eine gewisse innere Ruhe zu finden und das Gefühl der Hilflosigkeit zu ersticken, das sich im Laufe des Tages wie eine bösartige Krankheit wuchernd in ihm ausgebreitet hatte. Was im Namen der Vernunft sollten sie tun? Selbst als die Erwählten noch am Leben gewesen waren, hatten sie wenig Hoffnung gehabt, das Blutfeuer rechtzeitig zu finden. Jetzt aber, da die Erwählten tot waren…

Amberle. Flüsternd wob ihr Name durch seinen Geist. Amberle. Die letzten Worte, die Lauren mit ihm gesprochen hatte, hatten ihr gegolten. Vielleicht, so hatte der junge Elf gemeint, könnte sie helfen. Zu diesem Zeitpunkt war Andor das unmöglich erschienen. Jetzt aber schien auch die geringste Möglichkeit besser als Untätigkeit. Andors Gedanken rasten. Wie konnte er seinen Vater davon überzeugen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß Amberle ihnen helfen konnte? Wie konnte er seinen Vater auch nur dazu bewegen, mit ihm über das Madchen zu sprechen? Er erinnerte sich, wie bitter und enttäuscht der alte König an dem Tag gewesen war, als er von Amberles Verrat an ihrer hohen Aufgabe gehört hatte. Dagegen stand die Verzweiflung, die Andor an diesem Morgen im Gesicht seines Vaters gelesen hatte, als er ihm die Nachricht von der Ermordung der Erwählten überbracht hatte. Sein Entschluß war leicht gefaßt. Der König brauchte dringend Hilfe, ganz gleich, woher sie kam. Und da Arion ins Sarandanon gereist war, mußte Andor, das war ihm klar, ihm diese Hilfe geben. Wie sonst aber konnte er ihm helfen als damit, daß er ihm vorschlug, Amberle ausfindig zu machen?

»Elfenprinz?«

Die Stimme drang aus dem Nichts. Andor erschrak und fuhr mit einem unterdrückten Aufschrei zurück. Ein Schatten glitt aus dem Schutz der Fichten, die dicht an der Mauer zu den Garten des Lebens wuchsen. Ein Schatten, der dunkler war als die Nacht, die ihn umhüllte. Einen Moment lang stockte Andor der Atem, und er war wie erstarrt in Unschlüssigkeit. Als er dann hastig nach dem kurzen Schwert griff, das er in seinem Gürtel trug, war der Schatten schon bei ihm, und eine Hand legte sich auf die seine, während eiserne Finger seinen Arm zurückhielten.

»Friede, Andor Elessedil.« Die Stimme klang leise, aber gebieterisch. »Ich bin kein Feind von Euch.«

Die schemenhafte Gestalt war, wie Andor jetzt sah, die eines hochgewachsenen Menschen, der gut über sieben Fuß maß. Der magere, sehnige Körper war dicht in schwarze Gewänder vermummt, und die Kapuze des Reisemantels umschloß den Kopf des Mannes so eng, daß von seinem Gesicht nichts zu erkennen war außer den schmalen Augenschlitzen, die wie die einer Katze glühten.

»Wer seid Ihr?« stieß der Elfenprinz schließlich hervor.

Der Fremde hob die Hände und schlug die Kapuze zurück, um die Züge des Antlitzes zu offenbaren, die sich darunter verbargen. Es war ein zerfurchtes und verwittertes Gesicht, beschattet von einem kurzen schwarzen Bart, der einen breiten, ernsten Mund umrahmte. Das Haar trug der Mann schulterlang. Die durchdringenden, blitzenden Katzenaugen lagen tief unter dichten, buschigen Brauen, die über einer langen, flachen Nase grimmig gerunzelt waren. Diese Augen blickten Andor ins Gesicht, und der Elfenprinz gewahrte, daß er unfähig war, den eigenen Blick von ihnen zu wenden.

»Euer Vater würde mich kennen«, flüsterte der Fremde. »Ich bin Allanon.«

Andor erstarrte. Ungläubigkeit breitete sich auf seinen Zügen aus.

»Allanon?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Aber — aber Allanon ist tot!«

Sarkasmus lag in der tiefen Stimme, und die Augen glühten wieder auf.

»Habt Ihr den Eindruck, daß ich tot bin, Elfenprinz?«

»Nein — nein, ich kann ja sehen …« Andor stockte. »Aber es ist mehr als fünfzig Jahre her…«

Er brach ab, als die Erinnerungen an die Erzählungen seines Vaters erwachten: die Suche nach dem Schwert von Shannara; die Rettung Eventines aus dem Lager der feindlichen Heere; die Schlacht bei Tyrsis; die Besiegung des Dämonen-Lords durch den kleinen Talbewohner Shea Ohmsford. Während all dieser Ereignisse war Allanon zur Stelle gewesen, um den belagerten Völkern der vier Länder mit seiner Kraft und seiner Weisheit Beistand zu leisten. Als alles vorüber war, der Dämonen-Lord geschlagen, war Allanon verschwunden. Shea Ohmsford, so hieß es, war der letzte gewesen, der ihn noch einmal gesehen halte. Später waren Gerüchte kursiert, daß Allanon zu anderen Zeiten und an anderen Orten in einem der vier Länder erschienen war. Doch nach Westland, zu den Elfen, war er nicht gekommen. Keiner von ihnen hatte erwartet, ihn je wieder zu sehen. Doch, wie sein Vater ihm häufig bedeutet hatte, bei den Druiden lernte man rasch, das Unerwartete erwarten. Ewiger Wanderer, Historiker, Philosoph und Zauberer, Hüter der Rassen, letzter Vertreter der uralten Druiden, der Weisen der neuen Welt — all dies, hieß es, sei Allanon gewesen.

Doch war dieser Fremde wirklich Allanon?

»Seht mich an, Elfenprinz«, befahl der hochgewachsene dunkle Mann und trat einen Schritt näher. »Ihr werdet erkennen, daß ich die Wahrheit spreche.«

Andor blickte in das geheimnisvolle Antlitz, tief in die glitzernden schwarzen Augen, und plötzlich waren alle Zweifel verschwunden. Der Mann, der vor ihm stand, war Allanon.

»Bringt mich zu Eurem Vater. Ich möchte mit ihm sprechen.« Allanons Stimme klang leise und verschwörerisch. »Wählt einen Weg, der selten benutzt wird. Ich wünsche mein Kommen geheimzuhalten. Schnell jetzt, bevor die Wachen auftauchen.«

Andor verschwendete keine Zeit mit Widerspruch. Der Druide folgte ihm so dicht wie sein eigener Schatten, als er in Richtung zur Stadt eilte.

Bald danach kauerten sie im Schatten einer Gruppe immergrüner Büsche. Hier, an einem Ende des Schloßparks, befand sich ein kleines Seitentor.

Andor zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und schob einen der Schlüssel ins Schloß, Er drehte sich mit einem kurzen, durchdringenden Knirschen, und das Schloß sprang auf.

Unter normalen Umständen wäre der Park lediglich von den Torhütern bewacht worden. In der Frühe des Tages jedoch, kurz nachdem Andor die niedergemetzelten Erwählten in ihrem Haus gefunden hatte, war auch Went mit gebrochenem Genick unter einem Busch am Rande des Südgartens entdeckt worden. Da er auf andere Weise umgekommen zu sein schien als die Erwählten, sah man zunächst keinen Anlaß, hier einen Zusammenhang zu vermuten. Dennoch war die Leibgarde des Königs beunruhigt, und man hatte zusätzliche Wachposten im Park verteilt. Dardan und Rhoe, die persönlichen Leibwächter des Königs, hatten vor der Tür zu den Gemächern des Königs Posten bezogen.

Andor hätte es nicht für möglich gehalten, daß jemand sich durch den Park zum Herrenhaus schleichen könnte, ohne von den Wächtern gesehen zu werden. Irgendwie jedoch gelang es ihnen unter der Führung des Druiden, unbemerkt das Haus zu erreichen. Allanon schien so wesenlos zu sein wie die nächtlichen Schatten, die lautlos in der Dunkelheit woben. Er sorgte dafür, daß Andor sich stets dicht an seiner Seite hielt, und so gelangten sie schließlich zu den hohen Fenstertüren des Studierzimmers des Königs. Dort hielten sie einen Augenblick inne, während der Druide an einem der durch Vorhänge verhüllten Fenster lauschte. Dann umfaßte Allanon den eisernen Riegel und drehte ihn in seiner Angel. Geräuschlos schwang die Fenstertür auf, und der Druide und der Elfenprinz traten ins Zimmer.

Eventine Elessedil, der über alte Bücher gebeugt an seinem Lesetisch gesessen hatte, sprang auf und starrte ungläubig zunächst auf seinen Sohn, dann auf den Mann, der ihm folgte.

»Allanon!« stieß er flüsternd hervor.

Der Druide schloß die Fenstertür, zog den Vorhang wieder zu und wandte sich dann um, so daß das Kerzenlicht voll sein Gesicht traf.

»Nach so langer Zeit!« Eventine schüttelte verwundert ungläubig den Kopf und trat hinter dem Tisch hervor. Erst jetzt erkannte er die Züge des hochgewachsenen Mannes klar und deutlich, und Ungläubigkeit wurde zu staunender Verwunderung. »Allanon! Ihr seid nicht gealtert! Ihr — Ihr habt Euch nicht verändert, seit —« Die Worte versagten ihm. »Wie …«

»Ich bin der, der ich immer war«, erklärte der Druide kurz. »Es muß Euch genügen, das zu wissen, Elfenkönig.«

Eventine nickte wortlos, noch immer benommen von dem so unerwarteten Erscheinen des anderen. Langsamen Schrittes kehrte er an seinen Lesetisch zurück, und die beiden Männer nahmen einander gegenüber Platz. Andor blieb stehen, unschlüssig, ob er bleiben oder sich entfernen sollte.

»Setzt Euch zu uns, Elfenprinz.« Allanon deutete auf einen dritten Sessel.

Andor setzte sich rasch, erfreut, einbezogen zu sein, gespannt, was beraten werden würde.

»Ihr wißt, was geschehen ist?« wandte sich der König an Allanon.

Der Druide nickte. »Das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin. Ich spürte eine Bresche in der Bannmauer. Ein Wesen, das hinter dieser Mauer gefangen war, ist in diese Welt eingedrungen.

Es ist ein Wesen von sehr großer Macht. Das Auftauchen dieses Wesens —«

Aus dem Korridor hinter der Tür des Arbeitszimmers drang der schwache Klang von Schritten herüber. Augenblicklich sprang der Druide auf die Beine. Dann jedoch hielt er inne. Sein Gesicht war ruhig, als er den König anblickte.

»Niemand darf erfahren, daß ich hier bin.«

Eventine versicherte Verschwiegenheit. Er nickte nur, erhob sich aus seinem Sessel, ging rasch zur Tür und öffnete sie. Auf der Schwelle hockte Manx und wedelte zaghaft mit dem Schwanz, während er aus dunklen Augen zu seinem Herrn aufblickte. Eventine trat in den Flur hinaus und stieß auf Gael, der mit einem Teetablett herankam. Lächelnd nahm der König es ihm ab.

»Geh nach Hause und schlaf dich aus«, befahl er. Als Gael Einwände erheben wollte, schüttelte der König mit Entschiedenheit den Kopf. »Keine Widerreden! Wir haben morgen wichtige Dinge zu erledigen. Geh nach Hause. Mir kann nichts geschehen. Sage Dardan und Rhoe, daß sie Wache halten sollen, bis ich mich zurückziehe. Ich möchte niemanden sehen.«

Mit einer hastigen Bewegung wandte er sich ab und betrat wieder sein Arbeitszimmer, wobei er die Tür mit fester Hand hinter sich schloß. Manx hatte sich hereingeschlichen und beschnupperte forschend den Fremden, der am Lesetisch seines Herrn saß. Dann legte er sich, offenbar beruhigt, zufrieden am offenen Kamin nieder, senkte den grauen, zottigen Kopf auf seine Pfoten und schloß träge seine braunen Augen.

Eventine nahm wieder seinen Platz ein.

»Dann war es dieses Wesen, das die Erwählten tötete?« fragte er, den Faden des Gesprächs erneut aufnehmend.

Der Druide nickte. »Ja, ich glaube es zumindest. Ich spürte die Gefahr, die den Erwählten drohte, und eilte so rasch ich konnte herbei.

Leider nicht schnell genug, um sie zu retten.«

Eventine lächelte traurig. »Ich fürchte, die Schuld liegt bei mir. Ich ließ sie schutzlos, selbst nachdem mir berichtet worden war, daß der Bannspruch seine Wirkung zu verlieren drohte. Doch selbst wenn die Erwählten am Leben geblieben wären, bin ich nicht sicher, daß sie den Ellcrys hätten retten können. Die Bilder, die der Baum ihnen von dem Standort des Blutfeuers mitteilte, vermochten wir nicht zu deuten. Nicht einmal der Name, den der Ellcrys nannte, ist bekannt. Sichermal — kennt Ihr ihn?«

Allanon schüttelte verneinend den Kopf.

»Unsere Aufzeichnungen berichten nichts über Sichermal — weder die meiner Vorgänger, noch jene, die von den Erwählten gemacht wurden«, fuhr der König fort. »Ich stehe vor einer unmöglich zu lösenden Aufgabe. Der Ellcrys stirbt. Um ihn zu retten, muß einer der Erwählten, denen in diesem Jahr die Hege des Baumes obliegt, sein Samenkorn zum Blutfeuer bringen und es in seine Flammen eintauchen, um es dann der Erde zurückzugeben. Nur so ist die Wiedergeburt möglich.«

»Ich bin mit der Geschichte vertraut«, warf der Druide ungeduldig ein.

Der König errötete. Der Zorn und das Gefühl hilfloser Ohnmacht, die er bis jetzt mühsam beherrscht hatte, brachen sich gewaltsam Bahn.

»Dann haltet Euch folgendes vor Augen: Wir wissen nicht, wo das Blutfeuer zu finden ist. Nicht in einer unserer Aufzeichnungen wird der Name Sichermal je erwähnt. Die Erwählten leben alle nicht mehr. Wir haben niemanden, der das Samenkorn des Ellcrys zum Blutfeuer bringen kann. So bitter es ist, es scheint offenbar, wie diese Katastrophe enden wird. Der Ellcrys wird sterben. Die Mauern des Bannspruchs werden nicht länger standhalten. Die Mächte des Bösen werden wieder in Freiheit sein. Den Elfen und allen Rassen, die in den vier Ländern leben, droht ein Kampf, der unser aller Untergang sein wird.«

Mit einer heftigen Bewegung beugte er sich vor.

»Ich bin nur König; ein König und weiter nichts. Doch Ihr seid Druide, ein Zauberer. Wenn Ihr helfen könnt, dann tut es. Ich bin mit meiner Macht am Ende.«

Der Druide neigte den Kopf leicht zur Seite, so als überdenke er ein Problem.

»Bevor ich Euch aufsuchte, Eventine, betrat ich die Gärten des Lebens, um mit dem Ellcrys zu sprechen.«

Der König starrte ihn ungläubig an.

»Ihr habt mit dem Ellcrys gesprochen?«

»Genauer wäre es vielleicht zu sagen, daß der Baum zu mir gesprochen hat. Hätte er sich dazu nicht herbeigelassen, so hätte zwischen uns kein Gespräch stattfinden können.«

»Aber er spricht nur zu den Erwählten«, warf Andor ein und schloß hastig wieder seinen Mund, als er bemerkte, wie sein Vater unwillig die Stirn runzelte.

»Mein Sohn hat recht, Allanon.« Eventine wandte sich wieder an den Druiden. »Der Ellcrys spricht nur zu den Erwählten —und auch zu ihnen nur selten.«

»Er spricht zu denen, die ihm dienen«, entgegnete Allanon. »Unter den Elfen tun dies nur die Erwählten. Aber auch die Druiden haben dem Ellcrys gedient, wenn auch auf andere Weise. Wie dem auch sei, ich bot mich zum Gespräch an, und der Baum beliebte zu mir zu sprechen. Was er mir sagte, läßt den Schluß zu, daß Ihr die Lage zumindest in einer Hinsicht falsch beurteilt.«

Eventine wartete voller Ungeduld, daß der Druide fortfahren würde. Doch er saß schweigend da und blickte den Elfenkönig abwartend an.

»Gut, dann werde ich die Frage stellen.« Der König zwang sich zur Ruhe. »In welcher Hinsicht beurteile ich die Lage falsch?«

»Bevor ich Euch das sage«, antwortete Allanon, sich vorneigend, »sollt Ihr eines verstehen: Ich bin gekommen, meine Hilfe anzubieten, soweit dies in meiner Macht steht, denn das Böse, das in den Bannmauern der Verfemung gefangen ist, bedroht alles Leben in den vier Ländern. Was ich an Hilfe zu bieten habe, stelle ich anheim, doch unter einer Bedingung: Mir muß die Freiheit gewährt sein, so zu handeln, wie ich es für richtig halte. Auch wenn es Euer Mißtrauen herausfordern sollte, Eventine Elessedil. Selbst und gerade dann. Billigt Ihr dieses Verlangen?«

Der König zögerte. Seine blauen Augen musterten das dunkle Gesicht des anderen, suchten dort nach Antworten. Endlich nickte er.

»Ja, ich billige es. Ihr sollt in dieser Sache handeln, wie Ihr es für richtig haltet.«

Der Druide lehnte sich zurück, jede Gefühlsregung sorgfältig verbergend, während er Andor und den König betrachtete.

»Zum einen glaube ich, daß ich bei der Suche nach dem Ort Sichermal hilfreich sein kann. Die Bilder, die mir der Ellcrys von diesem Ort zeigte, als wir miteinander sprachen, waren auch mir, wie ich schon erwähnte, nicht vertraut. Sie waren mir deshalb unbekannt, weil sie die Welt so zeigten, wie sie war, als der Ellcrys geschaffen wurde. Die Großen Kriege jedoch haben die Geographie der alten Welt so grundlegend verändert, daß die Erinnerungsbilder des Ellcrys nicht mehr zutreffen. Immerhin haben wir den Namen Sichermal. Ihr habt mir berichtet, daß in den Geschichtsbüchern der Elfenkönige und des Ordens der Erwählten dieser Name nicht genannt wird. Aber es gibt noch einen anderen Ort, wo man suchen kann. In Paranor, in der Druidenburg, werden Geschichtsbücher aufbewahrt, die sich einzig mit den Wissenschaften und mystischen Phänomenen der alten Welt beschäftigen. Es ist möglich, daß diese Bücher einen Hinweis auf die Erschaffung des Ellcrys und den Heimatort des Blutfeuers enthalten. Das ist vielmehr eine naheliegende Möglichkeit, da ein großer Teil des Wissens, das in diesen alten Geschichtsbüchern gesammelt ist, zur Zeit des Ersten Druidenrats zusammengetragen wurde — von den einzelnen Mitgliedern gemäß der mündlichen Überlieferung seit der Großen Katastrophe. Erinnert Euch, daß der führende Kopf dieses Rats Galaphile war, und Galaphile war ein Elf. Er wird dafür Sorge getragen haben, daß etwas über die Erschaffung des Ellcrys und den Heimatort des Blutfeuer-Brunnens niedergelegt wurde.«

Allanon machte eine Pause.

»Heute nacht, wenn wir zum Ende gekommen sind, reise ich weiter nach Paranor. Die alten Bücher befinden sich an einem geheimen Ort und nur ein Druide vermag sie zu finden; deshalb muß ich mich selbst dorthin begeben. Ich glaube aber, daß in den alten Schriften etwas über den Ort namens Sichermal niedergeschrieben steht. Und daraus, so hege ich die Hoffnung, werden wir ersehen können, wo das Blutfeuer zu finden ist.«

Er faltete die Hände auf dem Tisch, und sein Blick hielt den des Königs wie bannend fest.

»Was die Erwählten angeht, Eventine, so irrt Ihr Euch! Sie sind nicht alle umgebracht worden.«

Einen Augenblick legte sich Totenstille über den Raum. Amberle, dachte Andor überrascht. Er meint Amberle!

»Alle sechs wurden getötet!« begann Eventine und brach unvermittelt ab.

»Es waren sieben Erwählte«, versetzte der Druide ruhig. »Sieben.«

Der König erstarrte. Seine Hände krampften sich so fest um die Tischkante, daß die Knöchel weiß hervortraten. In seinen Augen spiegelten sich Zorn und Ungläubigkeit.

»Amberle«, stieß er hervor und es klang, als stoße er einen Fluch aus.

Der Druide nickte. »Sie ist eine der Erwählten.«

»Nein!« Der König war aufgesprungen. »Nein, Druide!« rief er laut.

Aus dem Korridor hallte das Geräusch eilender Schritte, dann trommelten Fäuste an die Tür des Studierzimmers. Die laute, erregte Stimme des Königs hatte Dardan und Rhoe aufgeschreckt. Eilig liefAndor zur Tür und öffnete sie. Mit Überraschung sah er, daß nicht nur die Leibwächter draußen standen, sondern auch Gael. Alle drei spähten neugierig in das Studierzimmer, doch Andor versperrte ihnen die Sicht. Dann tauchte sein Vater neben ihm auf.

»Ich habe dir gesagt, du sollst nach Hause gehen, Gael«, tadelte Eventine den jungen Elf in strengem Ton. »Geh jetzt.«

Gael verneigte sich automatisch, und sein Gesicht zeigte deutlich, wie sehr ihn die Worte des Königs kränkten. Ohne ein Wort ging er durch den Korridor davon und verschwand. Der König nickte den Leibwachen zu, versicherte ihnen, daß alles in Ordnung war, und sie kehrten auf ihre Posten zurück.

Eine Weile verharrte der König schweigend auf der Schwelle, dann schloß er die Tür. Der durchdringende Blick seiner blauen Augen streifte von seinem Sohn hinüber zu Allanon.

»Woher habt Ihr Kenntnis von Amberle?«

»Als der Ellcrys zu mir sprach, teilte er mir mit, daß sieben erwählt worden waren, darunter ein junges Mädchen. Er sagte mir auch, daß ihr Name Amberle Elessedil lautet.«

Der Druide schwieg, während er aufmerksam das Antlitz des Elfenkönigs musterte. Es war von Bitterkeit gezeichnet. Alle Farbe war aus ihm gewichen.

»Es ist ungewöhnlich, daß der Ellcrys eine junge Frau erwählt«, fuhr Allanon fort. »Soviel ich weiß, waren es insgesamt nicht mehr als fünf oder sechs — und in den letzten fünfhundert Jahren war kein Mädchen mehr unter ihnen.«

Der König schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Amberles Erwählung war eine Ehre, die ihr jedoch nichts bedeutete. Sie trat diese Ehre mit Füßen. Sie brachte Schande über ihr Volk und ihre Familie. Sie gilt nicht mehr als Erwählte. Sie ist keine Bürgerin dieses Landes mehr. Sie ist eine Ausgestoßene. Sie selbst hat es nicht anders gewollt.«

Mit einer raschen Bewegung sprang Allanon auf. Sein Gesicht war plötzlich von Härte gezeichnet.

»Sie ist Eure Enkelin, und Ihr sprecht wie ein alter törichter Narr.«

Eventine fuhr zornig hoch bei dieser Zurechtweisung, doch er hüllte sich beherrscht in Schweigen. Der Druide trat auf ihn zu.

»Hört mir zu. Amberle ist eine Erwählte. Es ist wahr, daß sie dem Ellcrys nicht so diente wie die anderen. Es ist wahr, daß sie ihre Pflichten als Erwählte vernachlässigt hat. Es ist wahr, daß sie aus Gründen, die nur ihr selbst bekannt waren, Arborlon und Westland, ihre Heimat, verlassen hat, obwohl sie damit Schande über ihre Familie und besonders über Euch, den König, brachte. Es ist wahr, daß sie selbst glaubt, nicht mehr zu den Erwählten zu gehören. Aber wisse dies: Weder dir noch ihrem Volk steht es zu, ihr das zu nehmen, was der Ellcrys ihr verliehen hat. Auch sie selbst kann es nicht einfach abschütteln. Nur der Ellcrys allein kann nehmen, was er gegeben hat. Und solange der Ellcrys nichts Gegenteiliges sagt, bleibt Amberle eine Erwählte in seinem Dienst eine Erwählte, die das Samenkorn des Ellcrys zum Blutfeuer bringen kann, eine Erwählte, die dem Baum neues Leben und die Wiedergeburt schenken kann.«

Allanon machte eine Pause.

» Auch ein König versteht nicht immer alles, Eventine Elessedil. Es gibt Dinge, die man akzeptieren muß.«

Ohne ein Wort starrte Eventine den Druiden an. Der Zorn in seinen Augen war erloschen, statt dessen spiegelte sein Blick Gekränktheit und Verwirrung.

»Einst stand ich ihr sehr nahe«, sagte er schließlich. »Nach dem Tod ihres Vaters — meines Sohnes Aine — wurde ich ihr wie ein Vater. Sie war damals noch ein Kind, knapp sieben Jahre alt. An den Abenden haben wir zusammen gespielt…« Er brach ab, unfähig weiterzusprechen, und holte tief Atem, um wieder ruhig zu werden. »Sie hatte etwas an sich, was ich seither nie wieder gefunden habe; eine Reinheit, eine Unschuld, eine Güte des Herzens. Ich bin ein alter Mann, der diese Worte über seine Enkelin spricht, aber ich spreche nicht wie ein Blinder vom Licht. Denn ich kannte sie.«

Allanon erwiderte nichts. Der König kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ sich langsam darin nieder.

»Aus den Geschichtsbüchern geht hervor, daß seit der Zeit von Jerle Shannara keine Frau mehr erwählt wurde, dem Ellcrys zu dienen. Amberle war die erste—die erste seit mehr als fünfhundert Jahren. Es war eine Ehre, für die andere alles gegeben hätten.« Er schüttelte in ungläubiger Verwirrung den Kopf. »Doch Amberle machte sich nichts daraus. Sie ging einfach fort. Sie gab keine Erklärung — mir nicht, ihrer Mutter nicht, niemandem. Nicht ein einziges Wort. Sie ging einfach fort.«

Hilflos verstummte er. Allanon nahm wieder ihm gegenüber Platz. Die dunklen Augen blickten den König eindringlich an.

»Sie muß zurückgeholt werden. Sie ist die einzige Hoffnung, die das Elfenvolk noch hat.«

»Vater!« Andor sprach, ehe er Zeit hatte, es sich anders zu überlegen. Impulsiv kniete er neben dem alten Mann nieder. »Vater, an dem Abend vor seinem Tod hat Lauren noch einmal mit mir gesprochen. Er erzählte mir, daß der Ellcrys viele Male zu Amberle gesprochen hatte, nachdem er sie erwählt hatte. So etwas war noch nie vorgekommen. Vielleicht ist Amberle unsere größte Hoffnung.«

Der König blickte ihn verständnislos an, so als hätten die Worte, die er soeben geäußert hatte, keine Bedeutung. Dann legte er die Hände flach auf der blanken Platte des Lesetisches ineinander und nickte.

»Für mich ist es nur eine schwache Hoffnung, Andor. Es mag sein, daß unser Volk sie wieder aufnimmt, wenn auch nur deshalb, weil sie gebraucht wird. Aber ganz sicher bin ich nicht; was sie getan hat, ist in den Augen der Leute unverzeihlich. Es mag auch sein, daß der Ellcrys sie annimmt — sowohl als Erwählte als auch als Überbringerin des Samenkorns. Ich will nicht behaupten, daß ich auf all diese Fragen Antworten habe. Und meine eigenen Gefühle sind in dieser Angelegenheit nicht von Bedeutung.« Er wandte sich wieder an Allanon. »Amberle selbst wird gegen uns sein, Druide. Als sie dieses Land verließ, kehrte sie ihm für immer den Rücken. Sie glaubte fest daran, daß es so sein müsse; irgend etwas gab ihr diesen Glauben. Ihr kennt sie nicht, wie ich sie kenne. Sie wird nie zurückkehren.«

Allanons Züge blieben unverändert.

»Das wird sich erweisen. Wir müssen sie finden und befragen.«

»Aber ich kenne ihren Aufenthalt nicht.« In der Stimme des Königs schwang ein Unterton von Bitterkeit mit. »Ich bezweifle, daß irgend jemand es weiß.«

Der Druide schenkte bedächtig einen Becher Kräutertee ein und reichte ihn dem König.

»Ich weiß es.«

Sprachlos blickte Eventine ihn einen Augenblick lang an. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich auf seinem Gesicht, und plötzlich standen Tränen in seinen Augen. Doch sie versiegten rasch.

»Ich hätte es mir denken können«, meinte er schließlich. Er stand auf und trat einige Schritte vom Tisch weg, so daß sein Gesicht in den Schatten des Raumes eintauchte. »Ihr habt die Freiheit, in dieser Angelegenheit zu handeln, wie Ihr es für richtig haltet, Allanon. Das wißt Ihr bereits.«

Auch Allanon erhob sich. Dann sagte er zu Andors Überraschung: »Ich benötige die Dienste Eures Sohnes noch auf eine kurze Zeit, bis ich aufbreche.«

Eventine wandte sich nicht um.

»Wie Ihr wünscht.«

»Denkt daran — niemand darf von meinem Erscheinen erfahren.«

Der König nickte. »Es wird niemand erfahren.«

Kurz drauf trat der Druide durch die von Vorhängen verhüllte Fenstertür und war ihren Blicken entschwunden. Andor blieb unschlüssig stehen und sah seinen Vater an, dann ging auch er.

Er wußte, daß die Gedanken des alten Mannes jetzt bei Amberle weilten.

In der Schwärze der Wälder von Westland nördlich von Carolan kauerte still, mit geschlossenen Augen, der Dagda Mor. Als er sie wieder öffnete, glitzerten sie vor Genugtuung. Der Wandler hatte ihm wohl gedient. Langsam erhob er sich, und der Stab der Macht flammte auf, als seine Hände sich um das polierte Holz schlossen.

»Druide«, zischte er leise. »Ich weiß von dir.«

Er winkte dem formlosen Schatten, der der Raffer war, und das Ungeheuer hob sich aus der Schwärze der Nacht. Der Dagda Mor richtete den Blick ostwärts. Er würde den Druiden in Paranor erwarten. Aber nicht allein. Er fühlte die große Macht des Druiden und hatte Furcht vor ihr. Der Raffer war vielleicht stark genug, solcher Macht zu widerstehen, doch für den Raffer hatte er bessere Verwendung. Nein, da war anderer Beistand vonnöten. Er würde eine Anzahl Brüder aus dem Kerker hinter der verfallenden Mauer der Verfemung befreien.

Genügend an Zahl, um den Druiden zu stellen. Ausreichend, um ihn zu töten.

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