20

Allanon führte sie aus dem Garten hinaus. Bis zur Unkenntlichkeit vermummt in Umhänge und Kapuzen, glitten sie schattengleich durch das Tor, vorbei an den Posten der Schwarzen Wache, und traten den Rückweg zur Stadt an. Der Druide erklärte ihnen nicht, wohin er sie bringen wollte, und sie fragten nicht. Sie schritten schweigend aus, Allanon immer ein, zwei Schritte voraus. Wil und Amberle waren zu Tode erschöpft. Immer wieder blickte der Talbewohner voller Besorgnis auf das Elfenmädchen, doch sie ließ sich kaum etwas anmerken von den Gefühlen, die sie beherrschten, und er erhaschte nur hin und wieder einen Blick auf das von der Kapuze verdunkelte Antlitz. Einmal fragte er sie leise, ob alles in Ordnung sei, und sie nickte stumm. Kurze Zeit später erkannten sie, daß sie sich dem Herrenhaus der Elessedils näherten. Wortlos winkend führte Allanon sie in den Park, der das lichtlose Haus umschloß. An einem Föhrenwäldchen vorbei, das die Südwiese säumte, ging es an einer langen Hecke entlang zu einer kleinen Nische und einer hohen Fenstertür, die in dichtes Dunkel gehüllt war. Vor dieser Tür blieb Allanon stehen und klopfte verhalten an das Glas.

Sie mußten einen Augenblick warten, bis die Vorhänge im Inneren ein wenig auseinandergeschoben wurden. Ein Riegel wurde entsichert, und die Tür öffnete sich. Eilig bedeutete Allanon ihnen hineinzugehen, sah sich noch einmal um und folgte ihnen dann.

Einige Sekunden standen sie in der Finsternis und lauschten den gedämpften Schritten einer Person, die langsam durch den Raum ging. Dann flammte eine Kerze auf. Wil sah, daß sie sich in einem kleinen Studierzimmer befanden. Dunkles Eichenholz von Wänden und Bücherborden schimmerte im Schein der Kerze, sanfte Farben alter Bücher und kostbarer Wandbehänge tauchten aus den Schatten. Auf einer kleinen, erdfarbenen Matte auf der anderen Seite des Raumes lag ein angegrauter alter Wolfshund, der neugierig den Kopf hob und freundlich mit dem Schwanz wedelte.

Eventine Elessedil stellte die Kerze auf einen kleinen Schreibtisch und wandte sich ihnen zu.

»Ist alles vorbereitet?« fragte Allanon mit tiefer Stimme in die Stille hinein.

Der alte König nickte.

»Und Euer Haushalt?«

Der Druide glitt schon durch das Zimmer zu der einzigen Tür. Er öffnete sie lautlos, warf einen kurzen Blick nach draußen und schloß sie wieder.

»Alles schläft außer Dardan und Rhoe. Und die beiden stehen vor meiner Schlafzimmertür Wache, weil sie glauben, ich schliefe ebenfalls. Hier ist niemand außer meinem alten Manx.«

Der Wolfshund sah ihn an, als er seinen Namen hörte; dann senkte er den Kopf wieder auf die Vorderpfoten und schloß die Augen.

Allanon kam von der Tür zurück.

»Dann können wir beginnen.«

Er bedeutete Wil und Amberle, sich in den Sesseln vor dem Schreibtisch niederzulassen, und zog sich selbst ebenfalls einen heraus. Wil setzte sich müde. Amberle tat einen Schritt vorwärts, blieb stehen, die Augen auf ihren Großvater gerichtet. Eventine sah sie an, zögerte, trat dann rasch auf sie zu und schloß sie in die Arme. Amberle erstarrte sekundenlang, aber dann schlang sie die Arme um seinen Hals.

»Ich hab’ dich lieb, Großvater«, flüsterte sie. »Du hast mir so gefehlt.« Der alte König schwieg ergriffen. Er nickte nur stumm an ihrer Schulter und streichelte ihr über das Haar. Dann umschloß er sanft ihr Gesicht mit beiden Händen und neigte ihren Kopf zurück, so daß er ihre Züge sehen konnte.

»Was geschehen ist, liegt hinter uns, Amberle. Es ist vergessen. Zwischen uns soll es keine harten Worte mehr geben. Dies hier ist dein Zuhause. Ich möchte dich hier haben, bei mir, bei deiner Familie.«

Amberle schüttelte den Kopf.

»Ich habe mit dem Ellcrys gesprochen, Großvater. Er hat mir gesagt, daß ich seine Erwählte bin. Er hat mir sein Samenkorn gegeben.«

Das Gesicht des Greises wurde blaß, und er senkte die Lider.

»Ach Amberle, ich weiß, du wünschtest, es könnte anders sein. Glaub mir, auch ich wünsche es.«

»Das weiß ich«, antwortete sie, doch in ihren Augen lag tiefe Verzweiflung.

Sie löste sich von ihm und setzte sich zu Wil und Allanon an den Tisch. Der König blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete stumm seine Enkelin. Er wirkte so verloren und voller Bangnis wie ein Kind, das in die Irre gegangen ist. Langsam faßte er sich wieder, trat an seinen Schreibtisch und setzte sich zu den anderen.

Die Hände auf dem Tisch gefaltet, beugte Allanon sich vor.

»Eventine und ich verabredeten nach der Sitzung des Hohen Rats, daß wir uns im Lauf dieser Nacht heimlich treffen würden. Alles, was hier gesprochen wird, bleibt unter uns, die wir hier anwesend sind. Keiner sonst wird davon erfahren. Die Zeit eilt, und wir müssen rasch handeln, wenn wir das Elfenvolk vor dem Untergang retten wollen. Der Ellcrys siecht immer mehr dahin. Bald werden die Dämonen, die hinter der Mauer der Verfemung gefangen sind, sich befreien und über die Vier Länder herfallen. Eventine und ich werden ihnen entgegentreten, wenn es soweit ist. Du aber, Amberle, und auch du, Wil, ihr müßt euch auf die Suche nach dem Blutfeuer machen.«

Er wandte sich direkt an das Elfenmädchen.

»Ich würde euch begleiten, wenn ich könnte. Ich würde mit euch gehen, wenn es dazu eine Möglichkeit gäbe, aber es gibt keine. Einer der Dämonen, die die Mauer bereits durchbrochen haben, und auch einige, die noch hinter ihr gefangen sind, besitzen Kräfte, gegen die dein Großvater und das Elfenvolk ohne meine Hilfe nichts ausrichten können. Meine Aufgabe wird es sein, die Elfen vor diesen gewaltigen Kräften zu schützen. Zauberei, um der Zauberei Widerpart zu bieten. So muß es nun einmal sein.

Doch an meiner Stelle schicke ich Wil Ohmsford, und ich habe mich nicht ohne gründliche Überlegung entschlossen, dein Wohl und deine Sicherheit in seine Hände zu legen. Sein Großvater war es, der gemeinsam mit mir auszog, das Schwert von Shannara zu suchen. Er fand es und trat allein dem Dämonen-Lord entgegen, um ihn schließlich zu vernichten. Sein Großonkel Flick Ohmsford rettete deinem Großvater einst das Leben. Wil besitzt die Charakterstärke, die beide Männer auszeichnete; er besitzt ihr Ehrgefühl. Du hast gesehen, daß er die Elfensteine in Besitz hat, die ich einst seinem Großvater gab. Er wird dich so schützen, wie ich dich schützen würde. Er wird zu dir stehen, Amberle — er wird dich nicht im Stich lassen.«

Auf diese Worte folgte langes Schweigen. Wil Ohmsford war verlegen. Und er fühlte sich unbehaglich. Er war sich seiner nicht so sicher. Als er rasch einen Blick auf Amberle warf, bemerkte er, daß sie ihn nachdenklich betrachtete.

»Du bist eine Erwählte im Dienst des Ellcrys«, fuhr Allanon fort und zog damit die Aufmerksamkeit des Elfenmädchens wieder auf sich. »Wenn wir vielleicht auch alle wünschten, es wäre anders, so ist die Sache doch jetzt klar. Du bist die letzte der Erwählten und daher die letzte Hoffnung deines Volkes. Du allein kannst die Mauer der Verfemung wieder aufrichten. Eine schwere Verantwortung, Amberle, aber sie ruht nun einmal auf dir. Wenn du versagst, werden Dämonen und Elfen gegeneinander zu Felde ziehen und nicht eher die Waffen niederlegen, als bis einer oder beide völlig vernichtet sind. Der Ellcrys hat dir sein Samenkorn gegeben. Du mußt es daher zum Blutfeuer bringen. Das wird nicht einfach werden. Das Blutfeuer befindet sich an einem Ort mit dem Namen Sichermal, und Sichermal ist ein Teil der alten Welt. Diese Welt ist vergangen, unwiederbringlich verloren, und der Ort Sichermal wurde im Lauf der Jahrhunderte vergessen. Selbst der Ellcrys weiß nicht mehr den Weg, der dorthin führt. Wären nicht die Geschichtsbücher der Druiden, so wäre Sichermal vielleicht auf ewig unauffindbar für uns geblieben. Doch diese Bücher bilden eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich habe in ihnen gelesen und weiß, wo Sichermal liegt.«

Er machte eine Pause.

»Es liegt im Wildewald«, sagte er dann.

Keiner sprach ein Wort. Selbst Wil Ohmsford, ein Südländer und Talbewohner, der bis zu diesem Tag nie einen Fuß über die Grenze des Westlandes gesetzt hatte, hatte vom Wildewald gehört. Es war, von den Wäldern südlich der Heimat der Elfen umschlossen, ein unwirtliches und gefährliches Stück Wildnis, das nur über rauhe Bergketten oder unheimliche Sümpfe zu erreichen war. Nicht einmal ein halbes Dutzend Dörfer oder Weiler lagen in dieser abgelegenen Gegend, und die waren von Dieben, Halsabschneidern und Banditen jeder erdenklichen Art bevölkert. Selbst diese wagten sich nur selten aus ihren Dörfern heraus, verließen kaum je die wenigen Reisewege, die das Gebiet durchzogen, denn in der Wildnis rundum, munkelte man, lauerten Geschöpfe, denen man besser aus dem Wege ging.

Wil holte tief Atem.

»Und Ihr wißt nicht, wo genau im Inneren des Wildewaldes das Blutfeuer zu finden ist?«

Allanon schüttelte den Kopf.

»Das läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Selbst in den alten Büchern der Druiden wird teilweise auf die Geographie der alten Welt Bezug genommen, und die Orientierungspunkte, die es damals gab, existieren heute nicht mehr. Du wirst dich auf die Elfensteine verlassen müssen.«

»Das dachte ich mir schon.« Wil Ohmsford ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. »Wenn wir uns der Elfensteine bedienen, verraten wir den Dämonen damit, wo wir zu finden sind.«

»Ja, das ist leider wahr. Du wirst mit größter Vorsicht zu Werke gehen müssen, Wil. Ich will euch berichten, was der Ellcrys den Erwählten über Sichermal mitteilte, ehe sie niedergemetzelt wurden — was der Baum später auch mir mitteilte. Das wird euch vielleicht bei der Suche nützen. Das Blutfeuer wohnt in einer Wildnis, die rundum von schroffen Bergen und unwegsamen Sümpfen eingeschlossen ist — zweifellos der Wildewald, wie das die Bücher der Druiden berichten. Ein dichter Nebel, sagte der Ellcrys weiter, zieht dort ein und aus. Mitten in der Wildnis erhebt sich ein einsamer Gipfel; unter dieser Bergspitze befindet sich ein Labyrinth von unterirdischen Gängen, die tief in die Erde hineinführen. Irgendwo in diesem Irrgarten befindet sich eine Tür aus Glas, das nicht zerbricht. Hinter dieser Tür werdet ihr das Blutfeuer finden.«

Er neigte nachdenklich den Kopf zur Seite.

»Ihr seht, die allgemeine Beschreibung des Wildewaldes ist überraschend zutreffend geblieben, selbst nach Ablauf so vieler Jahre, selbst nach den umwälzenden Veränderungen in der Geographie der Erde durch die Großen Kriege. Vielleicht ist auch der Rest der Beschreibung heute noch zutreffend. Vielleicht ist das Blutfeuer noch immer unter einer einsamen Bergspitze in einem Labyrinth unterirdischer Gänge zu finden.« Er zuckte die Schultern. »Ich würde euch gern mehr sagen, wenn ich das könnte. Aber ich weiß nicht mehr. Ihr müßt versuchen, mit diesen wenigen Anhaltspunkten euer Bestes zu tun.«

Wil brachte ein schwaches Lächeln zustande. Er wagte nicht, Amberle anzusehen.

»Wie kommt man zum Wildewald?« fragte er.

Der Druide warf einen fragenden Blick auf Eventine, doch der Elfenkönig schien in Gedanken versunken. Aufmerksam geworden schließlich durch die plötzliche Stille, sah er zu Allanon hinüber und nickte zerstreut.

»Es ist alles veranlaßt.«

Der Druide schien zu zögern, dann wandte er sich Amberle zu.

»Dein Großvater hat euch Hauptmann Crispin, den Befehlshaber der Leibwache, als Führer und Beschützer auf dieser Reise zugedacht. Crispin ist ein überaus einfallsreicher und mutiger Soldat; er wird euch gute Dienste leisten. Er hat Anweisung, sechs Jäger zu eurer Begleitung auszuwählen. Das ist eine geringe Zahl, doch in diesem Fall vielleicht das klügste. Eine so kleine Schar wird weit weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ein großer Zug und wird es euch ermöglichen, rascher vorwärtszukommen.

Der König und ich haben uns auf folgenden Plan geeinigt: Ihr werdet heimlich aus der Stadt hinausgebracht werden; das Wie wurde Hauptmann Crispin überlassen. Crispin weiß von eurer Mission. Er und die Jäger unter seinem Kommando werden euch begleiten, solange ihr sie braucht. Alle sind angewiesen, für eure Sicherheit zu sorgen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um euch zu beschützen.«

»Allanon!«

Es war Eventine, der den Druiden plötzlich unterbrach. Ein Ausdruck tiefer Besorgnis lag auf seinem Gesicht, als seine durchdringenden blauen Augen den Blick Allanons suchten.

»Eines habe ich Euch noch nicht gesagt. Ich habe nicht früher davon gesprochen, weil uns nur die wenigen Augenblicke nach der Sitzung zur Verfügung standen. Aber ich glaube, jetzt muß es gesagt werden. Es gibt auf dieser bevorstehenden Reise noch einen anderen Anlaß zur Sorge als die Gefahr, daß ihr von den Dämonen aufgespürt werdet, die euch auf eurem Weg nach Arborlon verfolgt haben.«

Die Arme leicht auf den Schreibtisch gestützt, beugte er sich vor. Sein Gesicht wirkte sehr alt im flackernden Licht der Kerze.

»Ihr wißt, wie die Erwählten umgekommen sind — Wil und Amberle wissen es vielleicht nicht.« Er richtete den Blick auf die beiden jungen Leute. »Sie wurden buchstäblich zerrissen, in Fetzen gerissen.«

Entsetzen spiegelte sich auf den Zügen Wils und Amberles. Der König legte seiner Enkelin beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Ich sage das nicht, um deine Angst noch mehr zu vergrößern, Amberle, und auch Euch will ich damit nicht ängstigen, Wil.« Er sah wieder Allanon an. »Seit Ihr aus Arborlon fortgegangen seid, sind noch andere den gleichen Tod gestorben wie die Erwählten. Viele. Das Ungeheuer, das die Erwählten getötet hat, treibt sich seitdem in der Umgebung der Stadt herum und mordet wahllos jeden, der ihm in den Weg kommt, ob Mensch oder Tier, ob jung oder alt. Mehr als fünfzig Elfen sind umgekommen — alle auf die gleiche Weise: von dem Ungeheuer in Fetzen gerissen. Vor drei Tagen wurde ein ganzer Spähtrupp aus dem Hinterhalt angegriffen und vernichtet. Sechs bewaffnete Männer! Eine Woche zuvor wurde ein Soldatenlager überfallen, und zwanzig Männer wurden im Schlaf umgebracht. Seit das Siechtum des Ellcrys begonnen hat, wurden im Westland immer mehr Dämonen gesichtet, und es ist hier und dort auch zu schlimmen Kämpfen gekommen — aber etwas dieser Art hat es sonst nirgends gegeben. Dieses Ungeheuer weiß genau, was es will; es tötet mit Vorsatz. Wir haben ohne Erfolg versucht, ihm auf die Spur zu kommen. Wir können es nicht ausfindig machen. Wir haben es noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Niemand hat es bisher gesehen. Aber es treibt sich in unserem Land herum — und es macht Jagd auf uns.«

Er hielt einen Moment inne.

»Es wurde einmal ausgesandt, Allanon, die Erwählten zu vernichten. Und es hat es getan. Es hat sie alle vernichtet — außer Amberle. Es kann sein, daß es wieder ausgesandt wird.«

Amberle war blaß geworden. Allanon rieb sich gedankenvoll das bärtige Kinn.

»Ja, so einen Dämon gab es in der alten Zeit«, meinte er sinnend. »Einen Dämon, der aus einem instinktiven Bedürfnis heraus tötete. Man nannte ihn den Raffer.«

»Es ist mir gleich, wie er genannt wurde«, sagte Wil unvermittelt. »Ich möchte nur wissen, wie man ihm entkommt.«

»Mit Verschwiegenheit«, versetzte der Druide. »Dieser Dämon mag noch so bösartig und schlau sein, er hat so wenig Grund wie seine Brüder zu der Vermutung, daß ihr Arborlon verlassen habt. Und wenn er glaubt, daß ihr euch noch in der Stadt befindet — wenn sie das alle glauben —, werden sie euch anderswo gar nicht suchen. Vielleicht können wir diesen Eindruck bei ihnen erwecken.«

Er wandte den Kopf und sah Eventine an.

»Bald wird der Tag kommen, an dem der Ellcrys die Mauer der Verfemung nicht mehr halten kann. Wenn es soweit ist, werden die Dämonen, die noch hinter ihr gefangen sind, ihre Kräfte vereinen, um die Mauer an ihrer schwächsten Stelle zu sprengen und so die Freiheit zu gewinnen. Das können wir nicht abwarten. Wir müssen die Stelle finden, wo sie den Durchbruch versuchen werden, und mit allen Mitteln versuchen, das zu verhindern. Selbst wenn es uns nicht gelingt, können wir einen Verzögerungskrieg führen, der das Dämonenheer auf seinem Marsch auf Arborlon aufhalten wird. Daß sie auf Arborlon marschieren werden, steht außer Zweifel, denn sie werden den Ellcrys vernichten wollen. Das müssen sie. Sie können den Baum nicht dulden. Solange er gesund und kräftig war, war er ja ihr ärgster Feind. Nun aber, da er immer schwächer wird, ist er nicht mehr so gefährlich. Wenn die Dämonen erst die Mauer durchstoßen haben, werden sie nichts Eiligeres im Sinn haben, als den Ellcrys zu vernichten. Wir müssen unser möglichstes tun, um das zu verhindern. Wir müssen Amberle einen Vorsprung verschaffen, das Blutfeuer zu erreichen und hierher zurückzukehren. Bis zu diesem Augenblick müssen wir die Dämonen daran hindern, nach Arborlon einzudringen.

Und deshalb …« Er ließ das Wort in der Stille des Raumes hängen und sprach erst nach einer Pause weiter. »Deshalb werden wir die Dämonen täuschen, die die Mauer der Verfemung schon durchstoßen haben. Wir werden den Anschein erwecken, als mußten die Vorbereitungen für die Reise zum Blutfeuer erst noch getroffen werden. Wir werden den Anschein erwecken, als hieltet ihr euch noch hier auf. Die Dämonen wissen, daß ich es war, der Amberle hierher brachte; sie werden erwarten, daß ich sie begleite, wenn sie sich auf den Weg macht. Das können wir uns zunutze machen. Wir können ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Bis sie dann merken, daß sie getäuscht worden sind, solltet ihr längst außer Reichweite sein.«

Es sei denn, ihr Spion ist gerissener, als du vermutest, hätte Wil gern gesagt, doch er unterließ es.

»Das klingt alles sehr optimistisch«, bemerkte er statt dessen.

»Damit scheint alles geklärt außer der Frage, wann wir nun aufbrechen.«

Der Druide lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Ihr brecht bei Morgengrauen auf.«

Wil starrte ihn ungläubig an.

»Bei Morgengrauen? Morgen früh?«

Amberle sprang auf. »Das ist unmöglich, Druide. Wir sind erschöpft. Wir haben beinahe zwei Tage lang nicht geschlafen — wir brauchen mehr als ein paar Stunden der Ruhe, ehe wir uns wieder auf den Weg machen.«

Allanon hob beide Hände.

»Friede, Elfenmädchen! Ich sehe das alles ein. Aber überlege: Die Dämonen wissen, daß du hierhergekommen bist, um das Samenkorn des Ellcrys zum Blutfeuer zu bringen. Sie wissen, daß du versuchen wirst, die Stadt zu verlassen, und sie werden genau achtgeben. Aber jetzt werden sie nicht so aufmerksam sein wie in ein paar Tagen. Und soll ich dir sagen, warum? Weil sie erwarten, daß du erst einige Tage rastest. Und genau deshalb mußt du ohne Verzug aufbrechen. Ein Überraschungsmanöver bietet dir die besten Chancen, ihnen zu entkommen.«

Begreifen blitzte in Wils Augen auf. Dies war der Vorteil, den der Druide mit seiner Täuschungstaktik zu gewinnen hoffte.

»Ihr werdet genug der Ruhe pflegen können, wenn ihr erst aus der Stadt heraus seid«, versprach Allanon. »In zwei Tagesreisen solltet ihr spätestens den Vorposten im Drey-Wald erreicht haben; dort könnt ihr den versäumten Schlaf nachholen. Aber ein Aufenthalt in Arborlon ist gefährlich. Je schneller ihr von hier fortgeht, desto besser sind eure Chancen.«

Wil gab es nicht gern zu, doch die Argumente des Druiden entbehrten nicht der Logik. Rasch blickte er zu Amberle hinüber. Diese sah ihn einen Moment lang schweigend an, voll Zorn und Enttäuschung, dann wandte sie sich wieder an Allanon.

»Ich möchte meine Mutter sehen, ehe ich abreise.«

Der Druide schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht ratsam, Amberle.«

Ihr Gesicht wurde trotzig.

»Ihr scheint zu glauben, daß Ihr über alles, was ich wünsche, die letzte Entscheidung habt, Druide. Dem ist aber nicht so. Ich möchte meine Mutter sehen.«

»Die Dämonen wissen, wer du bist. Wenn sie auch von deiner Mutter wissen, werden sie erwarten, daß du sie aufsuchst. Auf eine solche Gelegenheit warten sie nur. Das ist äußerst gefährlich.«

»Für mich ist schon das Hiersein gefährlich. Ihr werdet doch wohl einen Weg finden können, der es mir ermöglicht, meine Mutter zu sehen, und sei es nur fünf Minuten.« Sie senkte die Lider. »Und kommt mir jetzt ja nicht damit, daß ich sie sehen kann, wenn ich wieder zurück bin.«

Eine Weile unerquicklicher Stille folgte auf diese Worte. Allanons dunkles Gesicht verschloß sich plötzlich, als hätte er Angst, er könne etwas preisgeben, was besser verborgen blieb. Wil entging die Veränderung nicht, und sie machte ihn neugierig.

»Wie du wünschst«, meinte der Druide schließlich. Er stand auf. »Jetzt müßt ihr schlafen. Gehen wir also.«

Eventine erhob sich ebenfalls und trat zu seiner Enkelin.

»Es tut mir leid, daß Arion im Hohen Rat so harte Worte gebrauchte«, sagte er. Es schien, als wolle er noch etwas sagen, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich denke, mit der Zeit wird er verstehen wie ich…« Verlegen hielt er inne. Dann legte er seine Arme um Amberle und küßte ihre Wangen. »Wenn ich nicht so alt wäre —«, begann er in tiefer Bewegung.

Amberle legte ihre Finger auf seinen Mund und schüttelte den Kopf.

»Du bist nicht so alt, daß du nicht sehen kannst, daß dein Platz hier ist, wo du am dringendsten gebraucht wirst.« Sie lächelte, und in ihren Augen standen Tränen, als sie ihn küßte.

Etwas verlegen trat Wil vom Tisch weg und ging leise zu dem schlafenden Manx. Der alte Wolfshund hörte ihn kommen und blickte blinzelnd zu ihm auf. Impulsiv beugte sich Wil nieder, um den Hund zu streicheln, doch der stieß ein tiefes, kaum hörbares Knurren der Warnung aus. Wil fuhr zurück. Unfreundlicher Köter, dachte er bei sich.

Er kehrte zu den anderen zurück. Eventine schüttelte ihm die Hand und wünschte ihm Glück. Dann folgte Wil Seite an Seite mit Amberle dem Druiden zur hohen Fenstertür, und die drei traten wieder in die Nacht hinaus.

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