Bei Tagesanbruch saßen sie wieder auf. Wälder und Wiesen glänzten noch feucht von den Regenfällen des vergangenen Tages, doch der Himmel lachte blau und strahlend über den beiden Männern, als sie an den Rändern des Anar entlang nach Süden ritten. Die triste Eintönigkeit der Rabb-Ebene wich allmählich frischen grünen Wiesen, und der milde Morgenwind wehte den verlockenden Duft von fruchttragenden Obstbäumen herbei. Am späten Nachmittag erreichten sie den legendären Silberfluß und stießen auf eine Kompanie Zwergenpioniere, die an einer dicht bewaldeten Engstelle des Flusses an einer Brücke bauten. Der Druide ließ Wil mit den Pferden in einem Fichtenwäldchen zurück und ging hinunter an das Flußufer, um mit den Zwergen zu sprechen. Es dauerte geraume Zeit, und als er zurückkehrte, schien ihn etwas stark zu beschäftigen. Erst als sie wieder auf ihren Pferden saßen und flußabwärts ritten, berichtete er Wil, daß er die Zwerge auf die Gefahr aufmerksam gemacht hatte, die den Elfen drohte, und darum gebeten hatte, daß sie so rasch wie möglich Hilfstruppen schickten. Einer der Soldaten hatte den Druiden erkannt und versprochen, daß man dem Ersuchen nachkommen würde. Aber im Handumdrehen ließ sich ein ansehnliches, schlagkräftiges Heer nicht aufbringen. Mit diesen knappen Erklärungen ließ Allanon die Sache bewenden. Nach einiger Zeit durchquerten sie den Silberfluß an einer Furt, wo eine breite Sandbank das klare Wasser teilte und Felsgestein die Strömung so stark hemmte, daß Pferde und Reiter ungefährdet ans andere Ufer hinübergelangen konnten. Sie ritten weiter in südlicher Richtung und beobachteten, wie ihre Schatten allmählich länger wurden, als der Tag langsam sich seinem Ende zuneigte. Die Sonne stand schon tief, als Allanon seinen Rappen auf dem Rücken eines baumbeschatteten Hügels zügelte und sich aus dem Sattel schwang, und Wil tat es ihm gleich. In einem kleinen Hain von Hickorybäumen banden sie ihre Pferde fest und näherten sich dann einer felsigen Anhöhe, die eine Bresche in die grüne Mauer der Bäume schlug. Allanon voraus, kletterten sie hinauf und blickten von oben weit ins Land. Zu ihren Füßen öffnete sich ein breites, hufeisenförmiges Tal. Die Hänge und der Talgrund waren von dichten Wäldern überzogen,doch nach Westen hin dehnten sich grünes Weideland und bebaute Äcker. Dort, wo Wald und Felder sich berührten, lag ein Dorf. Ein schmales Flüßchen wand sich aus den Wäldern durch die kleine Ansiedlung und speiste mit seinem Wasser die säuberlich angelegten Bewässerungsgräben, die das Ackerland berieselten. Männer und Frauen eilten geschäftig umher, winzige Gestalten in den Augen der beiden Betrachter aus der Höhe. Weit im Süden ging das Grasland in ein von Felsbrocken durchsetztes Tiefland über, das sich bis an den Horizont zu dehnen schien.
»Havenstead«, verkündete Allanon und wies auf das Dorf und die umliegenden Äcker. »Da draußen liegt der Schlachtengrund.«
Wil nickte. »Und was tun wir jetzt?«
Der Druide ließ sich in das weiche Gras nieder.
»Wir warten die Dunkelheit ab. Je weniger Leute uns zu Gesicht bekommen, desto besser ist es. Die Stors bewahren zwar Stillschweigen, aber diese Dörfler da unten haben flinke Zungen. Wir stehlen uns schnell und unauffällig ins Dorf hinein und verlassen es auf gleiche Weise wieder.« Er prüfte den Stand der Sonne, die schon in abendlichem Rot leuchtete. »Wir haben nur noch etwa eine Stunde.«
Schweigend saßen sie beieinander, bis der Rand der Sonnenscheibe über den Baumwipfeln gerade noch zu sehen war. Über das Tal hatte bereits die Abenddämmerung das Grau ihrer Schatten geworfen. Allanon erhob sich. Sie kehrten zu ihren Pferden zurück, saßen wieder auf und ritten weiter. Allanon führte sie zunächst nach Osten, und sie hielten sich am oberen Rand des Tals, bis sie einen dicht bewaldeten Hang erreichten, in dessen grünen Tiefen sich ein schmaler Ziehweg verbarg. Auf diesem lenkten sie ihre Pferde hinunter. Den Windungen des Weges folgend trotten sie auf ihren Tieren zwischen den Bäumen abwärts, während der Abend rasch in Dunkelheit versank. Wil verlor bald jede Orientierung, doch Allanon schien den Weg genau zu kennen und verlangsamte das Tempo nicht.
Nach einiger Zeit erreichten sie den Talboden, und das Vorwärtskommen war nicht mehr so beschwerlich. Über den dunklen Wipfeln der Bäume spannte sich ein klarer, mondheller Nachthimmel, und hin und wieder durchdrang der Ruf eines Nachtvogels die Stille. Die Luft war süß und schwer vom Duft der Wälder, und Wil wurde schläfrig.
Endlich bemerkten sie das Flimmern gelber Lichter, deren Schein das Dickicht des Waldes durchdrang, und der gedämpfte Klang von Stimmen schwebte durch das abendliche Schweigen. Allanon stieg ab, bedeutete Wil, das gleiche zu tun, und führte sein Pferd am Zügel weiter. Der Wald lichtete sich merklich, Gestrüpp und Unterholz verschwanden, und bald sahen sie eine niedrige Steinmauer mit einer aus Holz gezimmerten Pforte. Eine Reihe hochgewachsener Nadelbäume zog sich parallel zu der Mauer hin, so daß kaum zu erkennen war, was sich jenseits befand. Wil wurde sich bewußt, daß sie sich am Ostrand des Dorfes befanden. Die flackernden Lichter waren die Flammen von Öllampen.
An der Mauer angekommen, machten sie ihre Pferde an einem Eisenpfosten fest. Allanon legte mahnend einen Finger auf seine Lippen. Lautlos schlichen sie durch das kleine Törchen.
Beim Anblick dessen, was sie auf der anderen Seite erwartete, blieb Wil wie angewurzelt stehen. Ein großer, in Terrassen angelegter Garten breitete sich vor ihnen aus. Die Pracht seiner Blüten und Blumen war selbst im bleichen Mondschein von atemberaubender Faszination. Ein mit Steinen belegter Weg, in dem Silbersprenkel glitzerten, wand sich durch den Garten abwärts zu einer Gruppe von Holzbänken und von dort weiter zu einem kleinen aus Holz und Stein erbauten Haus. Es war ebenerdig mit einem hohen Dachboden und hatte vorn eine offene Veranda. Blumenkästen schmückten die Rautenfenster, und dicht wuchernde, niedrige Büsche standen vor den rauh verputzten weißen Mauern. Scharlachrote Eiben und blaugrün glänzende Blautannen wuchsen vor dem Haus. Ein zweiter Weg führte von der Veranda unter dem Blätterdach einer herrlichen weißen Birke hindurch und schlängelte sich durch eine Hecke zur jenseits befindlichen Straße.
Wil nahm den Anblick voll staunender Verwunderung in sich auf. Überall lachten Farben und Leben, alles bot ein Bild vollendeter Ordnung.
Er warf einen fragenden Blick auf Allanon. Das spöttische Lächeln blitzte flüchtig auf, und der Druide bedeutete ihm zu folgen. Sie nahmen den Weg durch den Garten zu den Sitzbänken und wanderten weiter zu dem kleinen Haus. Gelblichweißer Lichtschein fiel hell aus den durch Vorhänge verhüllten Fenstern, und der leise, sanfte Klang von Stimmen drang nach draußen. Kinderstimmen, dachte Wil. Er war leicht überrascht darüber und hätte beinahe den dicken, getigerten Kater übersehen, der behäbig auf der untersten Stufe der Treppe zur Veranda lag. Er fing sich gerade noch rechtzeitig, um dem schlafenden Tier auszuweichen. Der Kater hob den Kopf und warf ihm einen arroganten Blick zu. Eine zweite Katze, kohlschwarz, flitzte eilig von der Veranda und sprang lautlos ins Gebüsch.
Allanon und Wil stiegen die Treppe hinauf und traten zur Haustür. Allanon klopfte fest und bestimmt. Die Stimmen verstummten. Schritte näherten sich der Tür und hielten an.
»Wer ist da?« fragte eine Stimme leise, und die Vorhänge an der Milchglasscheibe der Haustür wurden einen Spalt auseinandergezogen.
Der Druide beugte sich vor, so daß der Lichtschein von drinnen auf sein dunkles Gesicht fallen konnte.
»Ich bin Allanon«, antwortete er.
Darauf folgte ein langes Schweigen. Dann knirschte der Riegel der Tür, als er zurückgezogen wurde. Die Tür öffnete sich. Ein Elfenmädchen trat heraus. Es war klein, selbst für eine Elfe, sein Körper schmal und zierlich, die Arme von der Sonne gebräunt. Kastanienbraunes Haar fiel ihm bis zur Hüfte und beschattete ein kindliches Gesicht, das unschuldig und wissend zugleich war. Die Augen warfen einen flüchtigen Blick hinüber zu Wil — sie waren grün und von einer lebendigen Tiefe —, und richteten sich dann wieder auf den Druiden.
»Allanon ist seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr in den Vier Ländern gesehen worden.« Ihre Stimme war ruhig, doch in ihren Augen stand Furcht. »Wer bist du?«
»Ich bin Allanon«, wiederholte er. Er ließ einen Augenblick des Schweigens seine Worte wirken. »Wer sonst hätte dich hier aufstöbern können, Amberle? Wer sonst hätte wissen können, daß du eine der Erwählten bist?«
Wortlos starrte das Elfenmädchen ihn an. Als sie sprechen wollte, kam ihr kein Wort über die Lippen. Fest verklammerte sie ihre Hände ineinander, bemühte sich angestrengt, ihre Fassung wiederzufinden.
»Die Kinder werden ängstlich, wenn ich sie zu lange allein lasse. Sie müssen zu Bett gebracht werden. Bitte wartet hier.«
Schon war aus der Tiefe des Hauses das ungeduldige Scharren kleiner Füße zu hören und das feine Flüstern aufgeregter Stimmen. Amberle drehte sich um und verschwand in dem kleinen Haus. Sie konnten ihre Stimme hören, die leise und beruhigend klang, als sie die Kinder die Holztreppe zum Dachboden hinaufführte.
Allanon trat zu einer Bank auf der anderen Seite der Veranda und setzte sich. Wil blieb, wo er war, gleich an der Tür stehen, und lauschte den Stimmen des Elfenmädchens und der Kinder, während er dachte: O Gott, sie ist ja selbst noch ein Kind.
Einen Augenblick später war sie zurück. Leichten Schrittes trat sie auf die Veranda hinaus und schloß die Haustür sorgfältig hinter sich. Sie sah Wil an, der ihren Blick mit einem befangenen Lächeln erwiderte.
»Dieser junge Mann ist Wil Ohmsford.« Körperlos schwebte Allanons Stimme durch die Dunkelheit. »Er studiert in Storlock. Er möchte ein Heilkundiger werden.«
»Guten —« begann Wil, doch sie ging schon an ihm vorbei zu dem großen Alten.
»Warum seid Ihr hierher gekommen, Druide — wenn Ihr der Druide seid?« fragte sie, eine Mischung aus Verärgerung und Unsicherheit in der Stimme. »Hat mein Großvater Euch gesandt?«
Allanon erhob sich. »Können wir uns zum Gespräch in den Garten setzen?«
Das Mädchen zögerte, nickte dann. Sie führte sie von der Veranda den Steinweg hinunter zu den Bänken. Dort ließen sie sich nieder. Der Druide nahm ihr gegenüber Platz, während Wil ein klein wenig abseits einen Platz einnahm. Er erkannte sehr wohl, daß sich seine Rolle bei dieser Zusammenkunft auf die des Zuschauers beschränkte.
»Warum seid Ihr hierher gekommen?« wiederholte Amberle, deren Stimme jetzt etwas gefestigter klang als anfangs.
Allanon schlang seine Gewänder fester um sich.
»Zunächst einmal — niemand hat mich geschickt. Ich bin aus eigenem Entschluß hier. Ich bin gekommen, dich zu bitten, mit mir nach Arborlon zurückzukehren.« Er machte eine kurze Pause. »Ich will mich kurz fassen. Der Ellcrys stirbt, Amberle. Die Mauer der Verfemung beginnt abzubröckeln; das Böse, das sie gefangenhält, drängt in die Freiheit — alle Dämonen! Bald werden sie das Westland überrennen. Nur du kannst es verhindern. Du bist die letzte der Erwählten.«
»Die letzte…« flüsterte sie, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Ja. Sie sind alle tot. Die Dämonen haben sie gefunden und getötet. Und jetzt suchen die Dämonen dich.«
Ihr Gesicht erstarrte vor Entsetzen.
»Nein! Was ist das für eine List, Druide? Was für eine List —« Wieder brach sie ab, als Tränen ihr in die Augen traten und über die kindlichen Wangen rannen. Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte sie sie weg. »Sind sie wirklich alle tot? Alle?«
Der Druide nickte. »Du mußt mich nach Arborlon begleiten.« Protestierend schüttelte sie den Kopf.
»Nein! Längst bin ich keine Erwählte mehr. Das weißt du sehr wohl.«
»Mir ist bekannt, daß dein Wunsch ist, nicht zu den Erwählten zu gehören.«
Die grünen Augen blitzten zornig.
»Was ich wünsche, ist in dieser Sache nicht von Bedeutung. Ich diene nicht mehr; das alles liegt hinter mir. Ich bin keine Erwählte mehr.«
»Der Ellcrys hat dich erwählt«, widersprach Allanon ruhig und bestimmt. »Er muß darüber befinden, ob du dieses Amt noch immer innehast oder nicht. Er muß darüber bestimmen, ob du sein Samenkorn zum Blutfeuer bringen sollst, damit er wiedergeboren und die Bannmauer der Verfemung neu errichtet werden kann.«
»Ich begleite Euch nicht nach Arborlon«, erklärte Amberle fest.
»Du mußt.«
»Aber ich werde es nicht tun. Niemals werde ich zurückkehren. Hier ist jetzt mein Zuhause; diese Leute hier sind mein Volk. Ich habe diese Wahl getroffen, endgültig.«
Der Druide schüttelte bedächtig sein Haupt.
»Du kannst dir deine Heimat wählen und du kannst dir dein Volk wählen. Nicht immer aber deine Pflichten. Sie werden dir manchmal auferlegt, ohne daß dir eine Wahl bleibt. Und so ist es in dieser Sache, Elfenmädchen. Du bist die letzte der Erwählten; du bist die letzte Hoffnung der Elfen. Du kannst vor deiner Verantwortung nicht davonlaufen; du kannst dich nicht vor ihr verstecken. Und du kannst nichts daran ändern.«
Amberle sprang auf, tat unentschlossen ein paar Schritte, kam wieder zurück.
»Ihr begreift nicht.«
Allanon betrachtete sie. »Ich begreife besser als du glaubst.«
»Wenn dem so wäre, würdest du von mir nicht verlangen, daß ich zurückkehre. Als ich aus Arborlon fortging, wußte ich, daß ich nie wieder zurückkommen würde. In den Augen meiner Mutter, meines Großvaters und meines Volkes hatte ich Schimpf und Schande auf mich geladen. Ich tat etwas Unverzeihliches — ich wies das Geschenk zurück, in den Kreis der Erwählten aufgenommen zu werden. Selbst wenn ich es wünschte — und ich wünsche es nicht! — ließe sich das nicht ungeschehen machen. Die Elfen sind ein Volk mit einem tief verwurzelten Gefühl für Tradition und Ehre. Niemals können sie das, was geschehen ist, akzeptieren. Selbst wenn ihnen gesagt würde, daß sie alle zugrunde gehen werden, wenn nicht ich — und ich allein! — sie rette, würden sie mich nicht wieder in ihrem Kreis aufnehmen wollen. Ich bin eine Ausgestoßene, und nichts vermag daran etwas zu ändern.«
Nun richtete sich auch der Druide auf. Groß und dunkel stand er vor der zierlichen kleinen Gestalt. Der Blick seiner Augen war beängstigend.
»Töricht sind deine Worte, Elfenmädchen, und hohl deine Einwände. Du sprichst ohne Überzeugungskraft. Das paßt nicht zu dir. Ich weiß, daß du mehr Stärke besitzt, als du gezeigt hast.«
Die Worte trafen. Amberle fuhr hoch.
»Was wißt Ihr schon von mir, Druide? Nichts!« Die grünen Augen sprühten vor Zorn, als sie dicht vor ihn hintrat. »Ich bin Lehrerin. Ich unterrichte Kinder. Einige von ihnen habt Ihr heute abend gesehen. Sie kommen in kleinen Gruppen zu mir und verbringen einen Sommer unter meinem Dach. Sie werden mir von ihren Eltern anvertraut. Ich trage die Verantwortung für sie. Während sie in meinem Hause leben, vermittle ich ihnen das Wissen von den lebendigen Dingen dieser Erde. Ich lehre sie Liebe und Achtung vor der Welt und ihrer Kreatur, in die sie hineingeboren sind — ich lehre sie Verständnis für diese Welt und alle Wesen, die auf ihr leben. Ich lehre sie, Leben zu geben für das Leben, das ihnen gegeben wurde; ich lehre sie, solches Leben zu nähren. Wir beginnen ganz einfach, wie in diesem Garten. Und zum Schluß gelangen wir bis zu den komplexen Zusammenhängen, die das menschliche Leben umgeben. Das, was ich tue, tue ich mit Liebe. Ich bin ein einfacher Mensch mit einer schlichten Gabe, die ich mit anderen teilen kann. Die Erwählten aber teilen nichts mit anderen! Ich war nie eine Erwählte — nie! Ich wurde dazu berufen, obwohl es nicht mein Wunsch war, obwohl ich nicht geeignet war, dieses Amt zu erfüllen. All das habe ich hinter mir gelassen. Dieses Dorf und seine Bewohner sind der Mittelpunkt meines Lebens. Hier bin ich die, die ich bin. Hier gehöre ich hin.«
»Vielleicht.« Die Stimme des Druiden war ruhig und gelassen, wie unberührt von ihrer zornigen Erregung. »Und aus keinem besseren Grund willst du die Elfen im Stich lassen? Ohne dich müssen sie zugrunde gehen. Sie werden kämpfen wie damals in der alten Welt, als die Mächte des Bösen sie das erste Mal bedrohten. Aber diesmal fehlen ihnen die magischen Kräfte, ihnen Stärke zu verleihen. Sie werden vernichtet werden.«
»Diese Kinder sind mir anvertraut worden —« begann das Mädchen hastig von neuem, doch mit einer brüsken Bewegung hob Allanon die Hand.
»Was glaubst du wohl, wird geschehen, wenn die Elfen erst vernichtet sind? Glaubst du, die Bösen werden sich damit zufriedengeben, innerhalb der Grenzen des Westlandes zu bleiben? Was soll dann aus den Kindern werden, die dir anvertraut sind, Elfenmädchen ?«
Einen Augenblick starrte Amberle ihn betroffen und schweigend an. Dann sank sie langsam wieder auf der Bank nieder. Tränen strömten ihr aus den Augen, und sie drückte die Lider fest zu.
»Warum wurde ich erwählt?« fragte sie leise, flüsternd beinahe. »Es gab keinen Grund dafür. Ich habe das Amt nicht gesucht —, und es waren so viele andere da, die danach strebten.« Die Hände in ihrem Schoß verkrampften sich. »Es war der reine Spott, Druide — der reine Hohn. Seht Ihr das nicht? Seit mehr als fünfhundert Jahren war keine Frau mehr erwählt worden. Immer nur Männer. Aber dann wurde ich erwählt — ein schrecklicher, grausamer Irrtum. Ein Irrtum.«
Das Gesicht des Druiden wirkte wieder ausdruckslos, als er den Blick durch den Garten wandern ließ.
»Es war kein Irrtum«, antwortete er, obwohl Wil den Eindruck hatte, daß er wie zu sich selbst sprach. Der Druide wandte sich langsam um und blickte das Mädchen an. »Wovor hast du Angst, Amberle? Denn du hast doch Angst, nicht wahr?«
Sie blickte nicht auf, hielt die Augen geschlossen. Nickte nur stumm.
Allanon setzte sich wieder. Seine Stimme klang jetzt sanft und gütig.
»Die Angst ist ein Teil des Lebens, aber man sollte ihr offen ins Angesicht blicken, sie niemals verschleiern. Wovor also fürchtest du dich?«
Seinen Worten folgte ein langes Schweigen.
Schließlich sprach Amberle. Ihre Worte waren nur ein Flüstern.
»Vor ihm.«
Der Druide runzelte die Stirn.
»Vor dem Ellcrys?«
Doch diesmal antwortete Amberle ihm nicht. Sie hob die Hände zu ihrem tränenfeuchten Gesicht und trocknete ihre Tränen. Amberle öffnete ihre grünen Augen und stand wieder auf.
»Wenn ich nun mit dir nach Arborlon reisen würde, wenn ich bereit wäre, meinem Großvater und meinem Volk gegenüberzutreten und ein letztes Mal vor den Ellcrys hinzutreten — wenn ich also alles täte, was Ihr verlangt habt, was geschieht dann, wenn er mir sein Samenkorn nicht gibt?«
Allanon richtete sich auf.
»Dann sollst du nach Havenstead zurückkehren, und ich werde dich nicht wieder belästigen.«
»Ich werde es mir überlegen.«
»Für lange Überlegungen bleibt keine Zeit«, entgegnete Allanon eindringlich. »Du mußt dich jetzt entscheiden, noch heute abend. Die Dämonen suchen dich schon.«
»Ich werde es mir überlegen«, wiederholte sie. Ihre Augen hefteten sich auf Wil. »Welche Rolle spielst du in dieser Sache, Heiler?« Wil wollte antworten, doch sie kam ihm mit einem Lächeln zuvor. »Laß nur. Ich spüre, daß wir hier im gleichen Boot sitzen. Du weißt nicht mehr als ich.«
Weniger, hätte Wil gern gesagt, aber sie hatte sich schon abgewandt.
»Ich habe in meinem Haus keinen Platz für Euch.« Sie richtete das Wort wieder an Allanon. »Ihr könnt hier nächtigen, wenn Ihr möchtet. Morgen werden wir uns weiter besprechen.«
Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Häuschen. Das kastanienbraune Haar fiel ihr wie ein Schleier den Rücken herab.
»Amberle!« rief der Druide ihr nach.
»Morgen«, gab sie zurück und verlangsamte den Schritt nicht.
Dann war sie verschwunden, und die Haustür fiel hinter ihr lautlos ins Schloß.