21

Der Druide führte sie zu einem kleinen Haus am Nordrand der Stadt, das inmitten einer Ansiedlung ähnlich gebauter Häuser an einem bewaldeten Hang stand. Durch nichts unterschied es sich von seinen Nachbarn, und dies, vermutete Wil, war wohl gerade der Grund, weshalb es als Unterkunft für sie ausgesucht worden war. Niemand erwartete sie, als sie eintraten, doch das Häuschen war behaglich eingerichtet und offensichtlich bewohnt. Allanon ließ sich nicht darüber aus, was aus seinen Bewohnern geworden war. Er ging in das Haus hinein, als sei es sein eigenes, entzündete in der Wohnstube mehrere Öllampen und schloß dann vor sämtlichen Fenstern sorgfältig die Vorhänge. Während Wil und Amberle sich an einen kleinen, mit frischen Blumen geschmückten Tisch setzten, machte er eine prüfende Runde durch das Haus, um dann mit Brot, Käse, Früchten und einem Krug Wasser zurückzukehren. Sie aßen schweigend. Wil langte kräftig zu, trotz der späten Stunde, Amberle jedoch brachte kaum einen Bissen hinunter. Nach diesem Nachtmahl führte Allanon das Elfenmädchen in ein kleines Gästezimmer im hinteren Teil des Hauses. Das Fenster hinter den zugezogenen Vorhängen war vergittert und durch Holzläden gesichert. Der Druide überprüfte gewissenhaft den Riegel, dann nickte er zufrieden. Ohne ein Wort trat Amberle an das Bett. Sie war so todmüde, daß sie sich nicht einmal auskleidete. Sie schlüpfte nur aus ihren Stiefeln und ließ sich dann auf das weiche Lager fallen. Beinahe augenblicklich war sie eingeschlafen. Allanon breitete eine leichte Decke über ihr aus, dann löschte er das Licht und ging aus dem Zimmer. Wil Ohmsford, der mittlerweile allein in der Wohnstube saß, starrte durch die verhüllten Fenster in die Dunkelheit hinaus. Die Lichter der Stadt blinzelten ihm zu wie Glühwürmchen im Schatten des Waldes. Als der Druide zurückkam, fuhr Wil rastlos herum. »Ich muß mit Euch sprechen, Allanon.« Der große Alte schien nicht verwundert.

»Neue Fragen, Wil Ohmsford?«

»Nicht direkt.« Wil machte ein verlegenes Gesicht.

»Hm. Gut. Aber setzen wir uns doch.«

Wil nickte, und sie ließen sich auf den Stühlen an dem kleinen Tisch nieder, an dem sie gegessen hatten. Wil schien unschlüssig, wie er anfangen sollte. Allanon betrachtete ihn mit ausdrucksloser Miene und wartete.

»Als ich an dem Abend im Tirfing mit den Elfensteinen gegen diesen Dämon kämpfen wollte, da ist etwas in mir vorgegangen, das ich nicht verstehe«, fing Wil schließlich an. »Ich war schon halb und halb entschlossen, Euch das gar nicht zu erzählen, weil ich nicht wollte, daß Ihr glaubt, ich suche nur nach einer Ausrede, um die Reise in den Wildewald nicht antreten zu müssen.«

»Das wäre töricht gewesen.« Allanons Ton war ernst und ruhig. »Erzähle mir, was geschehen ist.«

Wil schien ihn nicht zu hören.

»Ich habe mich nur deshalb entschlossen, mit Euch darüber zu sprechen, weil ich Angst bekam, daß Amberles Sicherheit gefährdet ist, wenn ich Euch nichts sage. Wenn ich sie beschützen soll, kann ich es mir nicht leisten, auf meinen Stolz Rücksicht zu nehmen.«

»Erzähle mir, was geschehen ist«, wiederholte der Druide.

Voller Unbehagen blickte Wil auf.

»Ich will versuchen, es so gut wie möglich zu erklären. Wie ich schon sagte, als der Dämon auf mich zukam und ich die Kraft der Elfensteine freisetzen wollte, da widersetzte sich etwas in meinem Inneren. Es war wie eine Art Sperre, eine Mauer, die sich zwischen mir und den Elfensteinen aufgerichtet hatte, so daß ich nicht zu ihrer helfenden Kraft durchdringen konnte. Ich hielt sie vor mich hin und versuchte, in sie einzudringen, um ihre Kräfte freizusetzen, aber es geschah nichts. Indiesem Augenblick war ich sicher, Eure Überzeugung, ich könnte mich genau wie mein Großvater der Elfensteine bedienen, sei falsch. Ich war sicher, Ihr hättet Euch getäuscht. Ich dachte, ich würde sterben müssen. Aber im letzten Augenblick dann, kurz bevor der Dämon sich auf mich stürzen konnte, schien die Mauer in meinem Inneren plötzlich einzustürzen, und die Kraft der Steine brach hervor und vernichtete das Ungeheuer.«

Er schwieg nachdenklich.

»Seitdem habe ich immer wieder darüber nachgedacht, was in diesem Augenblick eigentlich geschehen ist. Zuerst sagte ich mir, ich hätte wahrscheinlich einfach nicht verstanden, die Kraft der Elfensteine zu gebrauchen; ich meinte, es sei Mangel an Erfahrung oder Unsicherheit die Ursache des inneren Widerstands gewesen. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Es war etwas anderes. Es war etwas, das mit meinem Wesen zu tun hat.«

Der Druide betrachtete ihn eine ganze Weile, ohne etwas zu sagen. Eine Hand zupfte zerstreut an dem kleinen schwarzen Bart. Schließlich wurde die Hand ruhig, und Allanon beugte sich ein wenig vor.

»Du wirst dich erinnern, daß ich dir sagte, daß den Elfensteinen eine alte Zauberkraft innewohnt, eine Zauberkraft aus jener Zeit, als es den Menschen noch gar nicht gab, aus einer Zeit, als noch die Feenvölker über die Erde herrschten und Zauberei etwas Alltägliches war. Damals gab es viele verschiedene Elfensteine, und sie dienten vielen unterschiedlichen Zwecken. Ihr Anwendungsgebiet war durch ihre Farben gekennzeichnet. Blaue Elfensteine, so wie du sie in Besitz hast, waren suchende Steine. Wer die blauen Elfensteine besaß, konnte alles finden, was ihm verborgen war, wenn er es nur kräftig wünschte. So könntest du mit ihrer Hilfe beispielsweise das Blutfeuer finden. Andere Elfensteine besaßen andere Eigenarten. Allen aber war eines gemeinsam: Sie boten ihrem Besitzer Schutz vor anderen Zauberkräften und Dingen, die durch Zauberei und Hexerei geschaffen waren. Jedoch der Umfang dieses Schutzes — ja, der Umfang der Kraft der Steine — hing allein von der Charakterstärke des Besitzers ab. Immer gab es diese Steine in einer Dreiheit, und auch das hatte seinen Grund. Jeder Stein symbolisierte einen Aspekt des Besitzers: ein Stein für das Herz, ein Stein für den Körper, ein Stein für den Geist. Damit die Zauberkraft wirken konnte, mußten diese drei Aspekte in Einklang sein — drei individuelle Kräfte, die sich zu einer einzigen vereinigten. Je besser es einem Besitzer gelang, diese drei Kräfte zu bündeln, desto stärker wirkte die Zauberkraft der Steine.«

Er spreizte die Hände auf dem Tisch.

»Die Elfensteine besitzen noch eine andere Eigenart, Wil, die grundlegend ist für ihre Anwendung. Die Elfensteine sind ein Zaubermittel der Elfen, von Elfenzauberern für Elfen geschaffen. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben, von Familie zu Familie — aber immer von Elfen zu Elfen, denn kein anderes Geschöpf könnte von den Steinen Gebrauch machen.«

Ungläubigkeit flog wie ein Schatten über Wils Züge.

»Wollt Ihr mir sagen, daß ich die Elfensteine nicht gebrauchen kann, weil ich kein Elf bin?« rief er.

Allanon schüttelte den Kopf.

»So einfach ist es nicht.« Er beugte sich noch ein Stück vor und wählte mit Sorgfalt seine Worte. »In deinen Adern fließt Elfenblut, Wil. Und so ist es auch mit deinem Großvater. Er aber ist das Kind eines Elfs und einer Menschenfrau. Er ist also zur Hälfte ein Elf. Bei dir ist das ganz anders. Weder deine Mutter noch deine Großmutter gehörten dem Elfenvolk an; beide gehörten der Rasse der Menschen an. Du hast nur das Elfenblut in dir, das du über deinen Vater von deinem Großvater geerbt hast.«

»Ich sehe nicht ein, was das für eine Rolle spielt«, entgegnete Wil. »Wieso sollte ich mit den Elfensteinen Mühe haben, wenn mein Großvater keine hatte? Ihr habt es selbst gesagt — in meinen Adern fließt Elfenblut.«

»Gewiß«, antwortete der Druide rasch. »Die Schwierigkeiten macht dir jener Teil von dir, der Mensch ist. Du besitzt die körperlichen Eigenschaften deines Großvaters — an ihnen ist dein Elfenerbe augenblicklich zu erkennen. Doch das ist nur ein geringer Teil des Ganzen; der größere Teil deines Wesens ist Mensch.«

Er machte eine Pause.

»Wenn du versuchst, die Elfensteine zu gebrauchen, Wil, dann kann sich nur jener kleine Teil von dir, der Elf ist, mit ihrer Kraft verbinden. Jener Teil aber deines Wesens, der Mensch ist, widersteht dem Eindringen der Zauberkraft. Er bildet eine Sperre. Die drei Kräfte sind also geschwächt. Das, denke ich, hast du erlebt, als du die Steine gebrauchtest — die Ablehnung des Elfenzaubers durch jenen Teil von dir, der Mensch ist.«

Voller Verwirrung schüttelte Wil den Kopf.

»Aber mein Großvater hat diese Ablehnung doch nie gespürt!«

»Nein«, bestätigte Allanon. »Dein Großvater war ja auch zur Hälfte Elf. Das Elfenblut dominierte, und dadurch war es ihm möglich, die Kraft der Elfensteine zu beherrschen. Der Widerstand, der sich in seinem Inneren aufbaute, war kaum meßbar. Bei dir aber liegt die Sache ganz anders. Deine Verbindung mit der Zauberkraft der Elfensteine ist beträchtlich schwächer.«

»Wil starrte ihn fassungslos an.

»Allanon, das habt Ihr gewußt, als Ihr zu mir nach Storlock kamt. Ihr müßt es gewußt haben. Und doch habt Ihr kein Wort davon gesagt. Nicht ein einziges Wort!«

Die Miene des Druiden blieb unverändert.

»Was hätte ich denn sagen sollen, Wil Ohmsford? Ich konnte nicht vorhersagen, in welchem Maß du auf Schwierigkeiten stoßen würdest, wenn du versuchen solltest, die Elfensteine zu gebrauchen. Immer ist die Wirkung ihrer Kraft vom Charakter ihres Besitzers abhängig. Ich hielt dich für stark genug, einen Widerstand in deinem Inneren zu überwinden. Ich halte dich immer noch für stark genug. Hätte ich dir damals schon von dieser Schwierigkeit gesprochen, so hätte ich nur Zweifel in dir geweckt, die vielleicht zu deinem Tod im Tirfing geführt hätten.«

Wil stand wortlos auf, ungläubige Bestürzung auf dem Gesicht. Schweigend ging er ein paar Schritte durch das Zimmer und kehrte dann wieder um.

»Das kann doch wieder geschehen, nicht wahr?« fragte er leise. »Jedesmal, wenn ich versuche, die Elfensteine zu gebrauchen, kann es so werden, nicht?«

Der Druide nickte, während Wil forschend in das dunkle Gesicht blickte.

»Jedesmal«, wiederholte er, und plötzlich kam ihm ein erschreckender Gedanke. »Und es kann auch der Tag kommen, an dem sich der Widerstand in meinem Inneren als unüberwindlich erweist. Es kann der Tag kommen, an dem ich die Kraft der Elfensteine zu beschwören versuche, und die Steine nicht ansprechen.«

Es dauerte lange, ehe Allanon antwortete.

»Ja, auch das ist möglich.«

Wil setzte sich wieder. Die Fassungslosigkeit auf seinen Zügen hatte sich in Entsetzen gewandelt.

»Wie könnt Ihr mir Amberles Schutz anvertrauen, wenn Ihr das wißt?«

Die Hand des Druiden fiel auf den Tisch wie ein Hammer.

»Weil kein anderer da ist!« Sein dunkles Gesicht war gerötet vor Zorn, doch seine Stimme blieb ruhig. »Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst endlich anfangen, an dich selbst zu glauben. Ich sage es dir jetzt noch einmal. Wir sind nicht immer angemessen gerüstet, den Schwierigkeiten entgegenzutreten, die das Leben uns in den Weg stellt. So verhält es sich auch jetzt. Ich wünschte, ich verfügte über solche Macht, daß deine Hilfe in dieser Situation nicht notwendig wäre. Ich wünschte, ich könnte dir besseres Rüstzeug geben, das Elfenmädchen und dich selbst zu schützen. Ich wünsche vieles, was unmöglich ist. Ich habe dich nach Arborlon geholt, weil ich wußte, daß ich allein die Elfen nicht vor der Katastrophe retten kann, die sie bedroht. Wir kämpfen in dieser Sache beide mit unzulänglichen Waffen, Wil Ohmsford. Aber wir müssen mit dem, was wir haben, unser Bestes tun. Die Druiden sind untergegangen; der Elfenzauber der alten Welt ist verloren. Nur wir beide sind noch da, du und ich. Nur die Elfensteine sind noch da, die du in Besitz hast, und die Zauberkraft, die mir eigen ist. Das ist alles, aber es muß reichen.«

Wil hielt dem Blick des großen Alten ruhig stand. »Ich fürchte nicht für mich; ich fürchte für Amberle. Wenn ich versage —« »Du darfst eben nicht versagen, Wil Ohmsford!« Die Stimme des Druiden war hart, eindringlich. »Du darfst nicht! Du bist ihr einziger Schutz!«

Wil richtete sich auf.

»Es kann aber sein, daß ich dieser Aufgabe nicht gewachsen bin.«

»Daß du nicht genügst?« Die Worte spieen Sarkasmus. Allanon schüttelte den Kopf. »Auch dein Großvater glaubte das einst vor nicht allzu vielen Jahren. Er konnte nicht begreifen, wie ich glauben konnte, er besäße die Fähigkeit, ein so fürchterliches Wesen wie den Dämonen-Lord zu besiegen. Schließlich war er doch nur ein unbedeutender kleiner Talbewohner.«

Nach diesen Worten folgte ein langes Schweigen. Talbewohner und Druide sahen einander stumm an, während der flackernde Schein der Öllampen über ihre Gesichter tanzte. Dann stand Allanon langsam und bedächtig auf.

»Glaube an dich selbst! Du hast die Elfensteine schon einmal gebraucht; du hast den Widerstand in dir gespürt und überwunden und die Zauberkraft freigesetzt. Das gelingt dir auch wieder. Du bist ein Sohn des Hauses Shannara; du bist der Erbe von Kraft und Mut, die stärker sind als die Zaghaftigkeit und Furcht, die dich an deinem Elfenblut zweifeln lassen.« Er beugte sich zu Wil hinunter. »Reich mir deine Hand.«

Wil gehorchte. Allanon umfaßte sie fest.

»Hier ist meine Hand, und hier ist mein Versprechen. Du wirst dieses Unterfangen zu einem guten Ende bringen, Wil Ohmsford. Du wirst das Blutfeuer finden und die letzte der Erwählten, die, welche den Ellcrys zu neuem Leben erwecken wird, sicher nach Hause zurückgeleiten.« Seine Stimme war leise und gebieterisch. »Daran glaube ich, und du mußt ebenfalls daran glauben.«

Die harten, dunklen Augen tauchten tief in die des jungen Talbewohners ein, und Wil hatte das Gefühl, völlig bloßgelegt zu werden. Und doch wandte er den Blick nicht ab. Als er sprach, war seine Stimme beinahe ein Flüstern.

»Ich werde es versuchen.«

Der Druide nickte. Er war klug genug, es dabei bewenden zu lassen.

Nachdem die drei verschwunden waren, blieb Eventine Elessedil noch lange in dem kleinen Studierzimmer zurück. Schweigend saß er im Lichtschein der einzigen Öllampe, die im Zimmer brannte, eine zusammengesunkene Gestalt, deren Konturen sich in verhüllenden Gewändern und flackernden Schatten verloren. In die Tiefen seines Lieblings-Sessels geschmiegt, ein schweres Möbelstück mit abgewetztem Lederbezug, starrte der König der Elfen, ohne wirklich zu sehen, auf die Gemälde und Wandteppiche an der Wand gegenüber, während er darüber nachsann, was gewesen war, und was noch sein würde.

Mitternacht kam und ging vorüber.

Endlich stand der König auf. Seine schweifenden Gedanken ordnend, löschte er die Lampe und schritt müde durch die Tür in den Gang hinaus. In dieser Nacht konnte nichts mehr getan werden. Bei Tagesanbruch würde Amberle ihre Reise zum Wildewald antreten. Er durfte jetzt nicht mehr an sie denken; er mußte an sein Volk denken.

Langsam schritt der König durch den breiten Gang zu seinem Schlafgemach.

Und die ganze Zeit über verfolgten ihn die Augen des Wandlers. In der undurchdringlichen Schwärze des Waldes südlich der Stadt Arborlon erhob sich der Dagda Mor von dem Stein, auf dem er gesessen hatte. Grausame, rotglühende Augen spiegelten die Genugtuung des Dämons wider. Diesmal würde er keinen Fehler machen. Diesmal würde er dafür sorgen, daß alle vernichtet wurden.

Seine unförmige Gestalt schlurfte voran. Zuerst würde er sich das Elfenmädchen vornehmen.

Mit einer klauenbewehrten Hand winkte er, und aus den Schatten trat der Raffer.

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