In den frühen Abendstunden des zweiten Tages nach dem Aufbruch von Wil und Amberle aus Arborlon saß Eventine allein in seinem Studierzimmer, den Kopf grübelnd über Landkarten geneigt, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Draußen fiel in langen grauen Schnüren der Regen, so wie er nun schon seit zwei Tagen niederging und die Wälder des Elfenlandes überflutete. Schon stahlen sich die Schatten des Abends ins Zimmer, fielen lang und dunkel durch die hohen Fenster. Manx lag zusammengerollt zu Füßen seines Herrn. Der zottige graue Kopf ruhte auf den Vorderpfoten, der Atem ging tief und regelmäßig. Der alte König hob den Kopf von seiner Arbeit und rieb sich die von Müdigkeit geröteten Augen. Zerstreut blickte er durch das Zimmer, dann rückte er seinen Sessel vom Tisch weg. Allanon mußte eigentlich längst hier sein, dachte er besorgt. Es gab noch so viel zu tun, so vieles, was ohne die Hilfe des Druiden nicht geschafft werden konnte. Eventine hatte keine Kenntnis davon, wo der große Alte sich diesmal hinbegeben hatte; er war am frühen Morgen aufgebrochen und seitdem nicht mehr gesehen worden. Der König starrte in den Regen hinaus. Seit drei Tagen nun arbeitete er mit dem Druiden und den Mitgliedern des Hohen Rates an den Verteidigungsplänen für das Elfenland, denn sie alle wußten, daß eine Verteidigung notwendig werden würde. Die Zeit zerrann ihnen förmlich zwischen den Fingern. Der Ellcrys siechte immer mehr dahin, die Mauer der Verfemung wurde immer brüchiger. Jeden Tag erwartete der König zu hören, daß beide gefallen waren, daß die gefangenen Dämonen sich in Freiheit befanden und die Invasion des Westlandes begonnen hatte. Das Elfenheer war in Alarmbereitschaft versetzt worden: Fußsoldaten und Reiterei; Leibgarde und Schwarze Wache; reguläres Heer und Reservetruppen. Der König hatte gerufen, und alle Männer, die nicht durch Alter oder Gebrechen daran gehindert wurden, waren seinem Ruf gefolgt, hatten ihr Heim und ihre Familien verlassen und waren in Scharen nach Arborlon geströmt, um sich zum Kampfe ausrüsten zu lassen. Doch der König war sich bewußt, daß auch die wilde Entschlossenheit des Elfenheeres nicht ausreichen würde, einem Angriff der Dämonen zu widerstehen, wenn es den Mächten des Bösen einmal gelungen war, sich zu befreien und zum Kampf zu vereinen. Allanon hatte ihm das prophezeit, und Eventine war klug genug, diese Vorhersage des Druiden, so bitter sie sein mochte, nicht in Zweifel zu ziehen. Die Dämonen verfügten über größere körperliche Kräfte als die Elfen; und sie waren den Elfen an Zahl überlegen. Grausame, tollwütige Geschöpfe, von einem Haß getrieben, der am Tag ihrer Verbannung aufgeflammt war und sich auf jene konzentrierte, die die Verbannung herbeigeführt hatten. Jahrhundertelang hatte nur der Haß sie aufrechterhalten, und jetzt würde dieser Haß sich Bahn brechen. Eventine gab sich keinen Illusionen hin. Wenn den Elfen nicht von anderer Seite noch geholfen wurde, würden die Dämonen sie alle vernichten.
Es wäre töricht gewesen, sich allein auf Amberle und das Samenkorn des Ellcrys zu verlassen. Der Gedanke mochte noch so schmerzlich sein, Eventine wußte, er mußte sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß er seine Enkelin vielleicht nie Wiedersehen würde. Schon vor ihrer Rückkehr nach Arborlon hatte der König Boten an die anderen Rassen ausgesandt, um diese zu bitten, mit den Elfen gegen das Böse anzugehen, das sein Land bedrohte, das letztlich sie alle vernichten würde. Die Boten waren nun schon seit mehr als einer Woche unterwegs; keiner war bisher zurückgekehrt. Es war in der Tat noch zu früh, eine Antwort von den anderen Rassen zu erwarten; selbst Callahorn war mehrere Tagesritte entfernt. Aber Eventine zweifelte ohnehin daran, daß viele sich auf seine Seite stellen würden.
Die Zwerge würden sie zweifellos unterstützen, so wie sie stets Beistand geleistet hatten. Die Zwerge und die Elfen hatten gemeinsam gegen jeden Feind gekämpft, der die freien Völker der Vier Länder seit den Tagen des ersten Druidenrats bedroht hatte. Doch die Zwerge mußten aus den Tiefen der Wälder des Anar herbeieilen. Und das zu Fuß, denn sie waren keine Reiter. Eventine schüttelte den Kopf. Sie würden kommen, so schnell es ihnen möglich war — doch vielleicht nicht rasch genug, um den Elfen beizustehen.
Callahorn lag näher, aber es war nicht mehr das Callahorn von früher, nicht mehr das Callahorn Balinors. Hätte Balinor noch gelebt oder die Buckhannahs noch regiert, so wäre die Grenzlegion unverzüglich aufgebrochen. Doch Balinor war tot, und er war der letzte der Buckhannahs gewesen. Callahorns gegenwärtiger Herrscher, ein entfernter Verwandter der Buckhannahs, der mehr auf zufälligem als auf rechtmäßigem Wege auf den Thron gelangt war, war ein übermäßig vorsichtiger Zauderer, der es vielleicht für das einfachste halten würde, zu vergessen, daß die Elfen auch Callahorn zu Hilfe gekommen waren, als dieses gerufen hatte. Im übrigen besaßen die vereinigten Räte von Tyrsis und Varfleet und von Kern, nach seiner Zerstörung vor fünfzig Jahren wiederaufgebaut, jetzt mehr Macht als der König. Sie würden sich Zeit lassen mit einem Entschluß, selbst wenn es Eventines Boten gelang, ihnen die Dringlichkeit der Lage deutlich zu machen, denn ihnen fehlte ein starker Führer, der fähig gewesen wäre, sie zu einen. Sie würden diskutieren und debattieren, und die Grenzlegion würde sich inzwischen in ihrer Garnison langweilen.
Ironischerweise würde gerade das Mißtrauen, das sie gegen ihre Landsleute aus dem Südland — und insbesondere gegen die Föderation — hegten, die Männer von Callahorn daran hindern, rasch zu handeln. Erst nach der Vernichtung des Dämonen-Lords und nach dem Sieg über sein Heer hatten die größeren Städte verspätet das Ausmaß der Bedrohung erkannt, das diese dunklen Mächte dargestellt hatten. Von Furcht getrieben, hatten sie sich zu einem Bündnis zusammengetan, das zunächst nicht mehr war als eine lockere Vereinigung von Ländern, die gemeinsame Grenzen und gemeinsame Ängste hatten, sich jedoch rasch zu der sehr starr strukturierten Föderation entwickelte. Die Föderation war seit mehr als tausend Jahren der erste Versuch der Menschenrasse, eine Gemeinschaftsregierung zu bilden. Ihr Ziel war die Vereinigung des Südlands und der Menschenrasse unter einer einzigen Regierung. Diese Regierung sollte natürlich die Föderation sein. Zu diesem Zweck hatte man erste gemeinsame Bemühungen unternommen, auch die anderen Städte und Provinzen zu vereinigen. In den vier Dekaden ihres Bestehens war es der Föderation gelungen, beinahe das gesamte Südland unter ihrer Regierung zu einen. Von den bedeutenden Städten des Südlands hatte nur Callahorn sich den Vereinigungsbestrebungen der Föderation widersetzt. Die Folge waren beträchtliche Reibungen zwischen beiden Regierungen — insbesondere, da die Föderation ihren stetigen Vormarsch nach Norden, den Grenzen Callahorns entgegen, weiter fortsetzte.
Eventine runzelte die Stirn und verschränkte die Arme über seiner Brust. Er hatte einen Boten an die Föderation entsandt, hatte jedoch wenig Hoffnung, von dort Beistand zu erhalten. Die Föderation hatte kaum Interesse an den Angelegenheiten der anderen Rassen gezeigt, und es war zu bezweifeln, daß sie eine Dämoneninvasion des Westlands als besorgniserregend betrachten würde. Ja, es war sogar zu bezweifeln, daß sie eine solche Invasion überhaupt für möglich halten würden. Die Menschen des tiefen Südlands wußten kaum etwas über die Zaubermächte, die die anderen Länder seit den Tagen des ersten Druidenrats geplagt hatten. Sie hatten zunächst ein abgekapseltes Dasein geführt und waren im Rahmen ihrer noch recht jungen Expansionsbestrebungen noch nicht auf die unerfreulichen Realitäten gestoßen, die jenseits ihrer eigenen begrenzten Erfahrungswelt lagen.
Wieder schüttelte der König den Kopf. Nein, die Städte der Föderation würden keine Hilfe entsenden. Wie damals, als sie vor der Ankunft des Dämonen-Lords gewarnt worden waren, würden sie nicht an die Gefahr glauben.
An die Gnomen war kein Bote geschickt worden. Es wäre sinnlos gewesen. Die Gnomen waren eine Rasse, die sich aus vielen einzelnen Stämmen zusammensetzte. Sie hatten keinen gemeinsamen Herrscher, keine Regierung, die sie unter sich vereinigte. Ihre Häuptlinge und ihre Seher waren ihre Führer, und jeder Stamm hatte seinen eigenen Häuptling und seinen eigenen Seher, und sie alle befehdeten einander unablässig. Verbittert und voller Groll seit ihrer Niederlage bei Tyrsis, hatten sich die Gnomen in den fünfzig Jahren, die seitdem vergangen waren, nicht mehr um die Angelegenheiten der anderen Rassen gekümmert. Es war kaum zu erwarten, daß sich das jetzt ändern würde.
Somit blieben die Trolle. Auch die Trolle waren eine Rasse, die sich aus verschiedenen Stämmen zusammensetzte, doch seit dem Ende des fehlgeschlagenen Dritten Krieges der Rassen waren bei den Trollen, die in den Weiten des Nordlandes lebten, Bestrebungen zum Zusammenschluß im Gange. In gewissen Gebieten hatten sich bereits die ersten Stämme unter einer gemeinsamen Ratsregierung zusammengefunden. Eine der größten dieser Gemeinden lebte im Kershalt-Territorium, an der nördlichen Grenze des Elfenlandes. Das Kershalt war in erster Linie von Felstrollen besiedelt, es lebten allerdings auch einige der weniger angesehenen Stämme in bestimmten Teilen dieses Gebietes. Traditionsgemäß waren Elfen und Trolle immer Feinde gewesen; in den letzten beiden Rassenkriegen hatten sie erbittert gegeneinander gekämpft. Mit dem Sturz des Dämonen-Lords jedoch hatte die Feindschaft zwischen den beiden Völkern fühlbar nachgelassen, und in den letzten fünfzig Jahren hatten sie in relativ friedlichem Nebeneinander gelebt. Besonders gut waren dabei die Beziehungen zwischen Arborlon und dem Kershalt. Der Handel zwischen beiden Regionen florierte, und es gab bereits Pläne, Delegationen auszutauschen. Es bestand also eine Chance, daß die Trolle des Kershalt sich bereitfinden würden, den Elfen Beistand zu leisten.
Der alte König bremste seinen Optimismus, eine geringe Chance, sagte er sich. Doch sie mußten jede Möglichkeit nutzen. Wenn die Elfen überleben wollten, dann brauchten sie die Hilfe aller, die bereit waren, ihnen zur Seite zu stehen.
Seufzend erhob er sich, reckte seine müden Glieder und blickte dann auf das Sortiment von Landkarten, das auf dem Tisch ausgebreitet lag. Jede Karte zeigte einen anderen Teil des Westlands; das gesamte erforschte Gebiet, das zum Elfenreich gehörte, sowie die Territorien, die es umgaben, war hier eingezeichnet. Eventine hatte die Karten so gründlich und eingehend studiert, daß er meinte, er könne sie jetzt im Schlaf nachzeichnen. Aus einem dieser Teilgebiete würden die Dämonen anrücken; und dort mußte der Abwehrblock der Elfen errichtet werden. Aber wo? Wo würde die Mauer der Verfemung zuerst abbröckeln? Wo würde die Invasion beginnen?
Der König ließ seine Augen von einer Karte zur anderen wandern. Allanon hatte ihm versprochen, wenn möglich, festzustellen, wo der Durchbruch stattfinden würde, und auf diese wichtige Information wartete nun das Elfenheer. Doch bis dahin…
Er richtete sich auf und ging zur Fenstertür, die in den Park hinausführte; während er dort verweilte und in die dichter werdende Dunkelheit hinausblickte, sah er Andor den Fußweg heraufkommen. Er hielt den Kopf gesenkt gegen den Regen und trug in den Armen einen Stapel von Truppenverzeichnissen und Proviantlisten, die zu beschaffen er beauftragt worden war. Die tiefen Falten, welche die Stirn des alten Königs durchfurchten, glätteten sich. Andor war ihm in diesen letzten Tagen eine unschätzbare Hilfe gewesen. Ihm war die zeitraubende, aber notwendige Aufgabe zugefallen, Informationen zusammenzutragen — eine undankbare Aufgabe, die Arion zweifellos zurückgewiesen hätte. Andor jedoch hatte die Arbeit ohne ein Wort des Widerspruchs auf sich genommen.
Der König schüttelte den Kopf. Sonderbar, doch obwohl Arion der Kronprinz der Elfen war und ihm von seinen beiden Söhnen der nächste, hatte es in diesen letzten Tagen Momente gegeben, in denen er sich selbst gerade in Andor wiedererkannt hatte. Sein Blick schweifte zum bleiernen Abendhimmel hinauf, und er fragte sich plötzlich, ob es Andor manchmal ebenso ging.
Tiefe Kerben der Müdigkeit zeichneten Andor Elessedils Gesicht, als er durch das Portal in das Herrenhaus trat. Er nahm seinen vom Regen durchweichten Umhang ab und ging dann, die Dokumente, die er mitgebracht hatte, fest im Arm, den Korridor hinunter, der zum Studierzimmer seines Vaters führte. Er hatte einen harten Tag hinter sich, und die beharrliche Weigerung seines Bruders, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln, machte die Dinge nicht einfacher, sie setzten ihm arg zu. Seit er sich im Hohen Rat für Amberle entschieden hatte, war es so. Die Kluft, die immer schon zwischen ihnen bestanden hatte, hatte sich zu einem Abgrund geweitet, der sich nicht mehr überbrücken ließ. Die letzte Begegnung mit seinem Bruder hatte das wieder deutlich offenbart. Von seinem Vater beauftragt, die Unterlagen zu beschaffen, die er jetzt bei sich trug, hatte er sich an Arion gewandt, da diesem die Verantwortung für die Mobilmachung und die Ausrüstung des Elfenheeres übertragen worden war. Arion hätte ihm Stunden an Arbeit ersparen können, doch er hatte sich geweigert, auch nur mit ihm zu sprechen, hatte statt seiner einen jungen Offizier geschickt und sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Dieses Verhalten hatte Andor so erzürnt, daß er nahe daran gewesen war, mit Gewalt eine Konfrontation herbeizuführen. Doch in eine solche Auseinandersetzung wäre womöglich auch ihr Vater hineingezogen worden, und der alte König hatte in diesen Tagen schon Sorgen genug. Nur um seinen Vater zu schonen, hatte Andor die Sache auf sich beruhen lassen. Solange die Dämonenhorden das Elfenreich bedrohten, mußten persönliche Dinge zurückstehen.
Er schüttelte den Kopf. Das war zwar vernünftig, aber besser fühlte er sich deshalb nicht.
Vor dem Studierzimmer angekommen, blieb er stehen und stieß die Tür mit der Fußspitze auf. Um seines Vaters willen zwang er sich beim Eintreten zu einem aufmunternden Lächeln. Dann ließ er sich müde in einen Sessel sinken.
»Das ist alles«, sagte er und reichte seinem Vater die Unterlagen.
Eventine legte die Papiere zu den Landkarten auf dem Tisch und musterte seinen Sohn.
»Du siehst müde aus.«
Andor erhob sich und reckte sich. »Das bin ich auch …«
Plötzlich flog eine der hohen Fenstertüren auf, und ein Windstoß fuhr fauchend ins Zimmer. Vater und Sohn wirbelten herum, während Landkarten und Listen knisternd zu Boden flatterten und die Öllampen flackerten. Allanon stand in der Tür. Seine schwarzen Gewänder glänzten feucht, und kleine Wasserbäche rannen von ihnen herab auf den Boden des Studierzimmers. Die kantigen Züge waren starr und abgespannt, die schmale Linie des Mundes hart. In den Händen hielt der Druide einen schlanken hölzernen Stab, der wie Silber glänzte.
Für einen Moment begegneten sich die Blicke des Elfenprinzen und des Druiden, und Andor spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Etwas Schreckliches lag im Ausdruck des Druiden, grimmige Entschlossenheit und Machtbewußtsein, eine Vorahnung von Tod und Verderben.
Der Druide wandte sich um und schloß die hohe Tür gegen Wind und Regen. Als er sich dem König und seinem Sohn wieder zuwandte, sah Andor, was es für ein silberner Stab war, den der Druide da in den Händen hielt, und sein Gesicht wurde totenbleich.
»Allanon, was habt Ihr getan!« Die Worte sprangen ihm über die Lippen, noch ehe er überlegen konnte.
Auch sein Vater erkannte es jetzt und stieß einen unterdrückten Entsetzensschrei aus.
»Der Ellcrys! Druide, Ihr habt von dem lebenden Baum einen Ast abgeschnitten!«
»Nein, Eventine«, entgegnete der große Alte leise. »Nicht abgeschnitten. Ich habe dem, der das Leben dieses Landes bedeutet, keine Verletzung zugefügt. Das würde ich nie tun.«
»Aber der Stab —« entgegnete der König und streckte so abwehrend die Hände aus, als verlange man von ihm, glühendes Feuer zu berühren.
»Er ist nicht abgeschnitten«, wiederholte Allanon. »Seht es Euch genau an.«
Er hielt dem König den Stab hin und drehte ihn langsam. Andor und sein Vater neigten sich ganz nahe heran. Beide Enden des Stabes waren glatt und gerundet. Nirgends war ein Riß im Holz zu sehen, nirgends eine Wunde, die von einer Klinge herrührte. Der Stab war völlig frei von Narben und Verletzungen.
Eventine blickte den Druiden voller Verwirrung an.
»Aber wie —?«
»Der Stab wurde mir übergeben, König der Elfen — übergeben vom Ellcrys selbst, als Waffe gegen die Feinde, die sein Volk und sein Land bedrohen.« Die Stimme des Druiden war so kalt, daß die Luft in dem kleinen Zimmer unter ihrem Klang zu gefrieren schien. »Hier ist eine Zauberkraft, um das Elfenheer zu stärken, damit es dem Bösen, das in den Dämonen lebt, widerstehen kann. Dieser Stab soll unser Talisman sein — die rechte Hand des Ellcrys, die uns beschützen wird, wenn die Heere in der Schlacht aufeinanderprallen.«
Den Stab noch immer in den Händen, trat er vor. In den harten Augen im Schatten der hohen Stirn stand ein harter Glanz.
»Heute am frühen Morgen bin ich allein zu dem Ellcrys gegangen, weil ich hoffte, ein Mittel zu finden, das uns befähigen würde, dem Feind zu widerstehen. Der Baum schenkte mir Gehör, und er sprach in den Bildern zu mir, die seine Worte sind. Er fragte mich, warum ich gekommen sei. Ich erklärte ihm, daß den Elfen kein Zauber außer meinem eigenen zur Verfügung steht, mit dem sie der Macht der Dämonen begegnen können; ich erklärte ihm, daß ich fürchtete, dies allein könne nicht ausreichen; daß ich fürchtete, mein Zauber könne versagen. Ich sagte dem Baum, ich suchte eine Waffe gegen die Dämonen, die etwas von dem verkörpert, was er ist, da er ja die Macht besäße, sie in Bann zu halten.
Da tauchte der Baum tief in sein Inneres und brach diesen Stab, den ich jetzt in meinen Händen halte, dieses Glied seines Körpers. Geschwächt wie er ist, dem Tode nahe, konnte er mir dennoch etwas von sich selbst geben, was dem Elfenvolk eine Hilfe sein wird. Ich habe den Ellcrys nicht berührt, ich stand nur wie gebannt vor Ehrfurcht angesichts solcher Willenskraft. Berührt dieses Holz, König der Elfen — berührt es nur!«
Er übergab den Stab in Evetines Hände, und diese schlossen sich darum. Die Augen des Königs weiteten sich voller Bestürzung. Da nahm der Druide den Stab wieder aus seinen Händen und reichte ihn wortlos dem Sohn. Der Elfenprinz fuhr zusammen. Das Holz des Stabes war warm, es pulste das Lebensblut durch seine Adern.
»Er lebt!« hauchte der Druide ehrfürchtig. »Er ist von dem Baum ganz abgetrennt und dennoch mit seinem Leben erfüllt. Das ist die Waffe, die ich gesucht habe. Das ist der Talisman, der die Elfen vor dem schwarzen Zauber der Dämonenhorden schützen wird. Solange sie diesen Stab tragen, werden die Kräfte, die in dem Ellcrys wohnen, sie beschützen und für ihr Wohlergehen Sorge tragen.«
Er nahm Andor den Stab aus den Händen, und wieder trafen ihre Blicke einander. Der Elfenprinz spürte, wie etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand, etwas, das er nicht verstehen konnte; es war so wie an jenem Abend im Saal des Hohen Rates, als er sich an Amberles Seite gestellt hatte.
Die Augen des Druiden richteten sich jetzt auf den König.
»Hört mich an.« Seine Stimme war leise, und er sprach schnell. »In dieser Nacht wird der Regen versiegen. Ist das Heer bereit ?«
Eventine nickte.
»Dann brechen wir bei Morgengrauen auf. Wir müssen schnell handeln.«
»Aber wohin führt unser Marsch?« fragte der König sogleich. »Habt Ihr denn entdeckt, wo der Durchbruch stattfinden wird?«
Die schwarzen Augen des Druiden funkelten.
»Ja. Der Ellcrys hat es mir kundgetan. Er spürt, daß die Dämonen sich an einem einzigen Punkt hinter der Mauer der Verfemung sammeln. Er spürt, wie er selbst dort schwach wird, wo sie sich zusammendrängen. Er weiß, daß dort der Bannfluch zuerst seine Wirkung verlieren wird. Schon einmal ist die Mauer an dieser Stelle durchbrochen worden, nämlich von denen, welche die Erwählten ermordet haben. Die Lücke wurde wieder geschlossen, aber die Wunde ist nicht geheilt. Und an dieser Stelle wird die Mauer der Verfemung schließlich nachgeben. Schon gibt sie ständig nach, kann den Kräften, die gegen sie andrängen, kaum noch standhalten. Von jenem, der ihr Führer ist und dessen zauberische Kräfte den meinen beinahe gleich sind, werden die Dämonen zu diesem Ort gerufen. Dagda Mor heißt der Führer. Mit seiner Hilfe werden die Dämonen eine neue Bresche in die Mauer schlagen, und diesmal wird sie sich nicht wieder schließen.
Doch wir werden auf ihr Kommen vorbereitet sein.« Seine Hand umfaßte den Stab fester. »Wir werden sie erwarten. Wir werden sie überraschen, während sie, gerade erst der Finsternis entronnen, noch verwirrt und uneins sind. Wir werden ihnen den Weg nach Arborlon versperren, solange wir dazu fähig sind. Wir werden Amberle die Zeit geben, die sie braucht, um das Blutfeuer zu finden und hierher zurückzukehren.«
Mit gebieterischer Miene winkte er Andor und dessen Vater.
Dann bückte er sich und hob eine der Landkarten vom Boden auf, breitete sie auf dem Schreibtisch aus.
»Hier wird die Mauer brechen«, flüsterte er leise.
Sein Finger deutete auf das weite Ödland der Rauhen Platte.