40

Den dunklen Furchen des Pfades folgend, der sich wie ein Tunnel durch Nebel und Finsternis wand, stürmte Wil Ohmsford durch den Wildewald zurück. Herabhängende Zweige und Ranken, die schwer waren von Feuchtigkeit, streiften ihn und schlugen ihm ins Gesicht, während er vorwärtshetzte, und Wasser spritzte aus den Pfützen auf dem vom Regen durchweichten Pfad auf seine Stiefel und Kleider. Doch Wil nahm das alles nicht wahr. Er befand sich in einem wilden Aufruhr von Gefühlen, in dem sich Verzweiflung über den Verlust der Elfensteine mit Zorn gegen Cephelo, Angst um Amberle und süße Verwunderung über die Worte, die sie zu ihm gesprochen hatte, mischten. Du liegst mir am Herzen, hatte sie gesagt. Du liegst mir am Herzen. Und es war ihr ernst gewesen damit. Seltsam, sie solche Worte zu ihm sagen zu hören. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er das nie für möglich gehalten. Sie hatte ihm gegrollt und mißtraut; daran hatte sie gleich von Anfang an keinen Zweifel gelassen. Und er hatte dieses Elfenmädchen eigentlich auch nicht gemocht. Doch die lange Reise, die sie im Dorf Havenstead angetreten hatten, und die Gefahren und Mühsale, die sie gemeistert hatten, hatten sie einander nahe gebracht. In dieser kurzen Zeit waren ihrer beider Leben fest miteinander verknüpft worden. So überraschend war es gar nicht, daß aus dieser engen Verknüpfung Zuneigung erwachsen war. Die Worte hallten durch sein Hirn, wiederholten sich endlos. Du liegst mir am Herzen. Er wußte, daß dem so war, und fragte sich plötzlich, wie sehr sie auch ihm am Herzen lag.

Er stolperte unversehens und stürzte der Länge nach in Schlamm und Wasser. Zornig rappelte er sich wieder auf, wischte den Schmutz von den Kleidern, so gut es ging, und hetzte weiter. Viel zu schnell ging der Nachmittag zur Neige; er konnte sich glücklich preisen, wenn er vor Einbruch der Nacht auch nur die Hauptstraße erreichte. Und dann würde er sich in schwarzer Finsternis zurechtfinden müssen, allein in fremdem Gebiet, waffenlos, abgesehen von seinem Jagdmesser. Welch eine Dummheit! Das war noch die freundlichste Bezeichnung, die er für sich fand. Wie hatte er sich von Cephelo weismachen lassen können, daß der Bursche ihm helfen wurde, ohne mehr zu verlangen als ein vages Versprechen auf zukünftige Belohnung? Was bist du doch für ein kluger Bursche, Wil Ohmsford, schalt er sich selbst, während wilder Zorn in ihm brannte. Und Allanon hatte geglaubt, er könne ihm Amberle anvertrauen, ohne sich um sie sorgen zu müssen!

Schon schmerzten seine Muskeln von der Anstrengung des schnellen Laufs. Verzweiflung überflutete ihn, als er daran dachte, was Amberle und er alles erlitten hatten, um bis hierher zu gelangen und dann, nur weil er es an Vorsicht hatte fehlen lassen, Gefahr zu laufen, alles zu verlieren. Sieben Elfen-Jäger hatten ihr Leben gelassen, damit er und Amberle den Wildewald erreichen konnten. Unzählige waren inzwischen wahrscheinlich im Kampf gegen die Dämonen gefallen, denn zweifellos hatte die Mauer der Verfemung längst dem Druck der Bösen nachgegeben. Sollte alles vergebens gewesen sein?

Beschämung und dann Entschlossenheit flammten in ihm auf und bannten die Verzweiflung. Er würde niemals aufgeben — niemals! Er würde sich die gestohlenen Elfensteine wiederholen. Er würde zu Amberle zurückkehren. Er würde sie wohlbehalten zur Hochwarte und zum Blutfeuer geleiten und danach zurück nach Amberlon. Er würde dies alles tun, weil er wußte, daß er es tun mußte. Weniger zu tun, käme Versagen gleich. Aber er würde nicht versagen.

Gerade schoß ihm dieser Gedanke durch den Kopf, da tauchte auf dem Pfad ein Schatten auf, trat aus der Finsternis wie ein Geist und erwartete dunkel und stumm sein Nahen. Wil erschrak so heftig, daß er beinahe vom Pfad in den Wald geflohen wäre. Statt dessen blieb er dennoch stehen und starrte keuchend auf den Schatten, bis er plötzlich erkannte, daß das, was er da vor sich sah, ein Pferd und ein Reiter waren. Das Pferd scharrte schnaubend mit einem Vorderbein. Vorsichtig ging Wilnäher; Argwohn wurde zu Ungläubigkeit und zu Überraschung.

Es war Eretria.

»Erstaunt?« Ihre Stimme war kühl und beherrscht.

»Sehr«, bekannte er.

»Ich bin gekommen, um dich ein letztes Mal zu retten, Wil Ohmsford. Diesmal, denke ich, wirst du besser auf meine Worte hören.«

Wil lief zu ihr hin und blieb stehen.

»Cephelo hat die Steine.«

»Ich weiß. Er hat dir etwas in das Bier gemischt und sie dir dann in der Nacht, während du schliefst, abgenommen.«

»Und du hast nichts getan, um mich zu warnen?«

»Ich hätte dich warnen sollen?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich hätte dich gewarnt, Heiler. Ich hätte dir geholfen. Aber du hast dich geweigert, mir zu helfen — erinnerst du dich? Ich verlangte nicht mehr von dir, als daß du mich mitnehmen solltest. Hättest du zugestimmt, so hätte ich dir von Cephelos Plan, die Elfensteine an sich zu bringen, erzählt und dafür gesorgt, daß er sie dir nicht hätte nehmen können. Aber du hast mich abgewiesen, Heiler. Du hast mich im Stich gelassen. Du meintest, du seist fähig, ohne mich zurechtzukommen. Nun, da beschloß ich, einmal zu prüfen, wie gut der Heiler ohne mich zurechtkommt.«

Sie beugte sich zu ihm hinunter und musterte ihn mit abschätzendem Blick.

»Nicht allzu gut, wie ich sehe«, meinte sie.

Wil nickte, während er angestrengt überlegte. Jetzt durfte er auf keinen Fall etwas Törichtes sagen.

»Amberle ist verletzt. Sie ist gestürzt und hat sich den Fuß verstaucht. Sie kann ohne Hilfe nicht laufen. Ich mußte sie am Rand der Senke zurücklassen.«

»Es scheint eine Spezialität von dir zu sein, Frauen in Not im Stich zu lassen«, bemerkte Eretria bissig.

Er brauste nicht auf.

»Ja, ich kann mir denken, daß es so aussieht. Aber manchmal können wir nicht so handeln, wie wir gern möchten, auch wenn es darum geht, anderen zu helfen.«

»Das hast du schon mal gesagt. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als dir zu glauben. Du hast also das Elfenmädchen verlassen?«

»Nur bis ich die Steine wiederhabe.«

»Die du ohne mich nicht wiederbekommen wirst.«

»Die ich sehr wohl wiederbekommen werde, ob mit dir oder ohne dich.«

Eretria starrte ihn einen Moment lang an, und ihr Gesicht wurde etwas weicher.

»Das glaubst du im Ernst, nicht?«

Wil legte seine Hand auf die Flanke des Pferdes.

»Bist du hier, um mir zu helfen, Eretria?«

Sie betrachtete ihn wortlos, dann nickte sie.

»Ja, wenn du mir auch hilfst. Diesmal mußt du mir helfen, das weißt du sehr wohl.« Als er nichts erwiderte, sprach sie weiter. »Ein Tauschgeschäft, Wil Ohmsford. Ich helfe dir, die Steine wiederzubekommen, wenn du mir versprichst, mich mitzunehmen, sobald sie wieder in deinem Besitz sind.«

»Wie willst du die Steine zurückholen?« fragte er.

Zum ersten Mal lächelte sie, dieses vertraute, strahlend schöne Lächeln, das ihm den Atem raubte.

»Wie ich es anstellen werde? Heiler, ich bin das Kind von Fahrensleuten und die Tochter eines Diebes — gekauft und bezahlt. Er hat sie dir gestohlen; ich werde sie ihm stehlen. Ich bin auf dem Gebiet besser als er. Wir müssen die Steine nur erst finden.«

»Wird er sich nicht inzwischen fragen, wo du geblieben bist?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Als wir uns von dir trennten, sagte ich zu ihm, ich wolle vorausreiten und mich dem Zug später wieder anschließen. Er erlaubte es mir, denn die Pfade des Wildewaldes sind den Fahrensleuten vertraut, und er wußte, daß ich bis spätestens zum Einbruch der Nacht aus dem Tal heraus sein würde. Wie du weißt, Heiler, will er auf keinen Fall, daß mir etwas zustößt. Angeschlagene Ware bringt keinen guten Preis. Wie dem auch sei, ich bin nur eine Meile über den Heulekamm hinausgeritten und bin dann auf einen anderen Pfad abgebogen, der nach Süden führt und sich ein Stück weiter hinten mit diesem hier vereinigt. Ich dachte, bis zum Abend würde ich euch schon einholen — entweder an der Senke oder hier auf dem Weg, falls du den Verlust der Steine bemerken solltest. Du siehst also, Cephelo hat keine Ahnung, was ich getan habe. Den Wagenzug wird er frühestens morgen im Lauf des Tages erreichen. Heute nacht wird er auf der Straße kampieren, die aus dem Tal hinausführt.«

»Dann haben wir die ganze Nacht, um die Steine zu holen«, sagte Wil.

»Mehr Zeit als genug«, meinte sie. »Aber nicht, wenn wir weiter hier herumstehen und noch länger plaudern. Außerdem willst du das Elfenmädchen doch bestimmt nicht unnötig lang allein bei der Senke lassen, oder?«

Der Gedanke an Amberle störte ihn auf.

»Nein. Komm, wir machen uns auf den Weg.«

»Einen Augenblick.« Sie ließ ihr Pferd ein Stück zurückgehen. »Erst mußt du mir dein Wort geben. Wenn ich dir geholfen habe wirst auch du mir helfen. Du nimmst mich mit, wenn du die Steine wiederhast. Du läßt mich danach bei dir bleiben, bis ich in sicherer Entfernung von Cephelo bin — und wann das der Fall ist, werde ich entscheiden. Versprich mir das, Heiler.«

Er hatte gar keine andere Wahl; höchstens hätte er versuchen können, ihr das Pferd zu nehmen, und er war nicht sicher, daß er das schaffen würde.

»Gut. Ich verspreche es.«

Sie nickte. »Und damit du dein Versprechen auch wirklich hältst, werde ich die Steine bei mir behalten, wenn wir sie wiederhaben, bis wir dieses Tal hinter uns gelassen haben. Setz dich jetzt hinter mich aufs Pferd.«

Wortlos schwang sich Wil auf den Rücken des Braunen. Niemals würde er ihr die Elfensteine überlassen, wenn sie sie Cephelo wieder abgenommen hatten, aber es war sinnlos, sich jetzt mit ihr darüber zu streiten. Er machte es sich einigermaßen bequem hinter ihr, und sie drehte sich nach ihm um.

»Du hast das, was ich für dich tue, nicht verdient — das weißt du wohl. Aber ich mag dich; du scheinst mir ein Glückspilz zu sein — besonders mit meiner Hilfe. Leg deine Hände um meine Taille.«

Wil zögerte, dann tat er wie ihm geheißen. Eretria lehnte sich an ihn.

»Viel besser«, schnurrte sie. »So bist du mir viel lieber als sonst, wenn du mit dem Elfenmädchen zusammen bist. So, jetzt halt dich fest.«

Mit einem plötzlichen Aufschrei schlug sie dem Pferd die Hacken ihrer Stiefel in die Flanken. Das erschreckte Tier bäumte sich auf und stürmte los, den Pfad zurück. Tief über den Hals des Pferdes geneigt, jagten sie durch die Wildnis und die Dunkelheit. Eretria schien wahre Katzenaugen zu haben. Mit sicherer und geübter Hand lenkte sie das Pferd an umgestürzten Baumstämmen vorbei, über Gräben und Furchen, schlammige Hänge hinunter und wieder hinauf. Wil klammerte sich an sie und fragte sich, ob sie den Verstand verloren hatte. Wenn das so weiterging, würden sie früher oder später stürzen.

Doch seine Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Nur Sekunden später schwenkte Eretria vom Pfad ab und lenkte das Pferd durch eine schmale Lücke zwischen den Bäumen, die beinahe ganz zugewachsen war. Mit einem gewaltigen Satz sprang das Tier ins Unterholz, und sie gelangten auf einen Pfad — einen, den Wil auf dem Marsch zur Senke völlig übersehen hatte — und galoppierten weiter durch die dunstverschleierte Finsternis.

Als sie endlich anhielten, war die Sonne untergegangen, und die Luft war kühl geworden. Sie befanden sich jetzt wieder auf der Hauptstraße. Eretria zügelte das Pferd, tätschelte ihm den schweißfeuchten Hals und blickte mit einem schalkhaften Lächeln zurück zu Wil.

»Ich wollte dir nur zeigen, daß ich gut allein zurechtkomme. Ich brauche kein Kindermädchen.«

Wil spürte, wie sein Magen sich langsam wieder beruhigte.

»Du hast mich restlos überzeugt, Eretria. Aber warum halten wir hier an?«

»Ich wollte nur mal etwas nachsehen«, antwortete sie und schwang sich aus dem Sattel. Ihr Blick schweifte aufmerksam über den Pfad, dann runzelte sie die Stirn. »Das ist merkwürdig. Hier verlaufen keine Wagenspuren.«

Wil stieg ebenfalls vom Pferd.

»Bist du sicher?« Auch er musterte forschend die Straße; auch er fand keine Radspuren. »Vielleicht hat der Regen sie weggewaschen.«

»Der Wagen ist doch so schwer. Ganz hätte der Regen die Spuren sicher nicht weggespült.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Außerdem kann es nur noch schwach geregnet haben, als sie zu dieser Stelle hier kamen. Ich versteh’ das nicht, Heiler.«

Das Licht wurde stetig fahler. Wil blickte sich ängstlich um.

»Kann es sein, daß Cephelo angehalten hat, um das Gewitter abzuwarten?«

»Vielleicht.« Sie schien es zu bezweifeln. »Am besten reiten wir mal ein Stück zurück. Komm, steig auf.«

Sie ritten nach Westen und blickten immer wieder prüfend auf die schlammige Erde hinunter. Doch es zeigten sich keine Spuren. Eretria ließ das Pferd in leichten Trab verfallen. Vor ihnen woben Nebelfäden durch die Luft, die sich wie lange Spinnenfinger aus dem dunklen Wald stahlen. Gedämpfte Geräusche drangen aus der Tiefe der Bäume, als die Nachttiere erwachten, die in diesem Tal hausten.

Dann erscholl ein neuer Laut aus der Düsternis, schwach und dünn zuerst wie ein nachklingendes Echo, dann allmählich stärker und eindringlicher. Er steigerte sich zu einem Heulen, so schrill und gespenstisch, als würden da einer gemarterten Seele Schmerzen zugefügt, die über jedes Maß des Erträglichen hinausgingen.

Erschreckt faßte Wil Eretria bei der Schulter.

»Was ist das?«

Sie drehte sich um.

»Der Heulekamm — direkt vor uns.« Sie lachte nervös. »Der Wind bringt manchmal dieses schreckliche Geräusch hervor.«

Es wurde immer schriller und unheimlicher, dieses Heulen, und das Gelände stieg langsam an, führte sie auf felsigem Hang aus dem Nebel heraus. Die Bäume öffneten sich, und über ihnen zeigten sich Fetzen blauen Nachthimmels. Das Pferd reagierte ängstlich auf das schreckliche Heulen des Windes, schnaubte nervös und tänzelte unruhig. Eretria hatte alle Mühe, es zu beruhigen. Sie ritten jetzt langsamer, stiegen aufwärts durch den Abend, bis sie den Kamm erreicht hatten. Jenseits wurde die Straße wieder eben und gerade und verschwand in der Finsternis.

Da sah Wil plötzlich etwas, einen Schatten, der, aus dem Heulen des Windes und der Düsternis der Nacht aufgetaucht, auf sie zukam. Auch Eretria sah es und zugehe mit einem Ruck das Pferd. Der Schatten kam näher. Es war ein Pferd, ein großer Fuchs, reiterlos. Die Zügel hingen schlaff herab. Langsam trottete es ihnen entgegen und rieb leise wiehernd seine Nase an der ihres Pferdes. Wil und Eretria erkannten den Fuchs augenblicklich. Er gehörte Cephelo.

Eretria sprang aus dem Sattel und reichte Wil die Zügel ihres Pferdes. Schweigend ging sie einmal um den Fuchs herum, um ihn zu begutachten. Das Pferd hatte keine Verletzungen, doch es war schweißnaß. Als Eretria wieder zu Wil aufblickte, stand Unsicherheit in ihrem Gesicht.

»Da ist etwas passiert. Sein Pferd würde ihn nicht im Stich lassen«

Wil nickte. Die Sache war ihm gleichfalls nicht geheuer.

Eretria schwang sich auf Cephelos Pferd.

»Reiten wir ein Stück weiter«, sagte sie, doch in ihrem Ton schwangen Zweifel mit.

Seite an Seite ritten sie den Hügelkamm entlang, begleitet von demgespenstischen Heulen des Windes, der durch Fels und Bäume pfiff. Über ihnen blitzten die Sterne und sandten ein mattes weißes Licht in die Finsternis des Wildewaldes.

Dann tauchte ein neuer Schatten aus der Düsternis auf, schwarz und kantig. Reglos stand er auf dem Pfad. Wil und Eretria zügelten ihre Pferde, ließen sie nur langsam und vorsichtig vorangehen. Allmählich nahm der Schatten Gestalt an. Es war Cephelos Wagen. Seine grellen Farben leuchteten fahl im Sternenlicht auf. Voller Unbehagen ritten Wil und Eretria näher, und da schlug ihr Unbehagen in Entsetzen um.

Das Pferdegespann, das den Wagen gezogen hatte, war tot, die Körper der Tiere, die noch in ihrem mit Silber beschlagenen Geschirr steckten, waren zerfetzt und verstümmelt. Andere Pferde lagen in der Nähe, und bei ihnen ihre Reiter, auf dem Pfad verstreut wie Strohpuppen, denen man sämtliche Glieder verrenkt hat. Die bunten Kleider waren getränkt von Blut, das durch den feinen Stoff sickerte und sich mit der schlammigen Erde vermischte.

Hastig sah Wil sich um, spähte in die finsteren Schatten des Waldes, suchte eine Spur des Wesens zu entdecken, das all dies angerichtet hatte. Nichts regte sich. Er sah Eretria an. Sie saß wie versteinert auf ihrem Pferd, und ihr Gesicht war bleich, während sie starr auf die Leichen auf dem Pfad blickte. Die Hände waren ihr schlaff in den Schoß gesunken, und die Zügel waren ihren Fingern entglitten.

Wil sprang vom Pferd, hob die herabgefallenen Zügel auf und wollte sie Eretria wieder in die Hand geben. Als diese keine Anstalten machte, sie zu ergreifen, umfaßte er ihre Hand und schob ihr die Zügel beider Pferde zwischen die Finger. Stumm blickte sie zu ihm hinunter.

»Warte hier«, befahl er.

Dann ging er zum Wagen, vorbei an den Toten, die grausam entstellt am Wege lagen. Alle waren sie tot, auch die alte Frau, die den Wagen gefahren hatte. Ihre Körper waren zerfetzt wie Lumpenbündel. Eisige Schauer schüttelten Wil. Er wußte, wer das getan hatte. Stumm hastete er von einer Leiche zur anderen, bis er Cephelo gefunden hatte. Auch er war tot, der waldgrüne Umhang zerrissen, das dunkle Gesicht zu einer Maske irren Entsetzens erstarrt.

Wil beugte sich zu ihm nieder. Langsam betastete er die Kleidung des Fahrensmannes. Er fand nichts. Furcht packte ihn. Er mußte die Steine finden! Da fiel sein Blick plötzlich auf die Hände Cephelos. Die Rechte war in einem Ausdruck unerträglichen Schmerzes in die Erde gekrallt. Die Linke war zur Faust geballt. Wil holte tief Atem und neigte sich über die linke Hand des Fahrensmannes. Einen um den anderen brach er die starren Finger auf Blaues Licht schimmerte, und eine tiefe Erleichterung durchflutete den Talbewohner. Eingeschlossen in Cephelos Hand lagen die Elfensteine. Der Fahrensmann hatte sie gebrauchen wollen, wie er es im Tirfing bei Wil gesehen hatte; aber die Steine hatten auf ihn nicht angesprochen, und so war er gestorben.

Wil nahm die Steine aus der Hand des Toten, wischte sie an seinem Kittel ab und steckte sie in den kleinen Lederbeutel. Dann stand er auf und lauschte in das Heulen des Windes hinein, der über den Kamm fegte.Übelkeit drohte ihn zu übermannen, als der Geruch des Todes ihn umfing. Nur einer konnte dies Schreckliche angerichtet haben. Er erinnerte sich der toten Elfen im Drey-Wald und in der Festung am Pykon. Nur einer. Der Raffer. Doch wie hatte er sie wiedergefunden? Wie hatte er sie vom Pykon bis hierher in den Wildewald verfolgen können?

Er riß sich zusammen und eilte zu Eretria zurück. Sie saß noch immer wie erstarrt auf Cephelos Fuchs, Furcht und Entsetzen sprachen aus ihren Augen.

»Hast du ihn gefunden?« flüsterte sie.

Wil nickte. »Er ist tot. Sie alle sind tot.« Er schwieg betroffen. »Ich habe die Steine wieder an mich genommen.«

Sie schien ihn nicht zu hören.

»Wer kann so Grausames tun, Heiler? Ein Tier vielleicht? Oder die Hexenschwestern…?«

»Nein.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Eretria. Ich weiß, wer das getan hat. Das Ungeheuer, das hier gewütet hat, hat Amberle und mich von Arborlon aus verfolgt. Ich dachte, wir hätten es auf der anderen Seite vom Steinkamm abgeschüttelt, aber irgendwie ist es ihm gelungen, uns wiederzufinden.«

Ihre Stimme zitterte. »Ist es ein Teufel?«

»Eine besondere Art von Teufel.« Er blickte zurück zu den Toten auf dem Pfad. »Man nennt ihn den Raffer.« Er überlegte kurz. »Er muß geglaubt haben, wir reisen mit Cephelo. Vielleicht hat er sich durch den Regen verwirren lassen. Er folgte Cephelos Wagen und überfiel hier die Leute …«

»Armer Cephelo«, murmelte sie. »Man gewinnt eben nicht jedes Spiel.« Sie schwieg und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Heiler, dieses Ungeheuer weiß jetzt, daß du nicht mit Cephelo nach Osten gereist bist. Wohin wird es sich nun wenden?«

Wil und Eretria starrten einander wortlos an. Beide wußten die Antwort.

Amberle kauerte im Schutz der Büsche am Rand der Senke und lauschte den feinen Geräuschen der Nacht. Wie ein schwerer, undurchdringlicher Schleier lag die Dunkelheit über dem Wildewald, und das Elfenmädchen saß dicht eingehüllt darin, vermochte nicht, über die schützenden Büsche hinaus zu sehen. Da sie wußte, daß Wil kaum vor Tagesanbruch zu ihr zurückkehren würde, versuchte sie zu schlafen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen; ihr Knöchel schmerzte, und ein jagendes Heer von Gedanken an Wil und sein Unterfangen, an ihren Großvater, an die Gefahren, die sie allenthalben umgaben, verfolgte sie gnadenlos. Schließlich gab sie alle Bemühungen zu schlafen auf. Die Knie zum Körper hochgezogen, kauerte sie sich zusammen und versuchte, mit dem Wald, der sie umgab, zu verschmelzen — still, reglos, unsichtbar zu sein.

Eine Weile gelang ihr das. Keines der Waldtiere wagte sich in ihre Nähe; alle blieben sie in der Tiefe des Waldes verborgen, der Senke fern. Die Senke selbst lag eingehüllt in ein Schweigen, so tief, daß das Elfenmädchen es so deutlich hören konnte wie die Geräusche der Nacht. Ein-, zweimal flatterte etwas an ihrem Versteck vorüber, sie hörte den raschen Flügelschlag, der die Stille durchbrach und dann wieder verklang. Die Zeit verrann, und die Lider wurden ihr schwer.

Da beschlich sie plötzlich eine eisige Kälte; es war, als sei alle Wärme aus der Luft um sie herum abgesogen worden. Sie wurde wach und rieb sich fest die Arme. Das Kältegefühl verging, und die Wärme der Sommernacht wurde wieder fühlbar. Unsicher jetzt, blickte sie sich um. Alles war wie zuvor; nichts regte sich in der Dunkelheit, nichts war zu hören. Sie holte tief Atem und schloß die Augen wieder. Da durchfuhr sie von neuem diese eisige Kälte. Diesmal wartete sie, bis sie etwas tat. Sie hielt die Augen fest geschlossen und versuchte, den Ursprung der Kälte ausfindig zu machen. Sie entdeckte, daß sie aus ihrem eigenen Inneren kam. Das verstand sie nicht. Kälte, bittere Kälte in ihrem Inneren, die sie erstarren ließ wie die Berührung des —Todes.

Mit einem Ruck schlug sie die Augen auf. Augenblicklich begriff sie. Es war eine Warnung — eine Warnung, daß etwas sie töten wollte. Wäre sie nicht die gewesen, die sie war, dann hätte sie das Gefühl vielleicht einfach als ein Hirngespinst abgetan. Doch sie war von hoher Sensibilität; solche Gefühle hatten sie schon früher überkommen, und sie wußte, daß sie sie nicht einfach abtun konnte. Die Warnung war real. Nur der Quell, dem sie entsprang, verwirrte sie.

In flüchtiger Unschlüssigkeit neigte sie sich lauschend vor. Sie war in Gefahr, in tödlicher Gefahr. Sie konnte sich vor dieser Gefahr nicht verstecken; sie konnte nicht gegen sie kämpfen; sie konnte nur fliehen.

Ohne ihren schmerzenden Knöchel zu beachten, glitt sie aus dem Schutz der Büsche hervor und spähte in die Finsternis des Waldes. Das Wesen, das ihr nach dem Leben trachtete, war nahe; sie konnte seine Anwesenheit jetzt deutlich spüren. Lautlos schlich es durch die Nacht. Sie dachte plötzlich an Wil und wünschte verzweifelt, er wäre bei ihr. Aber Wil war nicht da. Sie mußte sich selbst retten, und schnell.

Es gab nur einen Weg für sie — hinunter in die Senke. Denn dorthin würde ihr der lauernde Tod vielleicht nicht folgen. Hinkend rannte sie bis zum Rand der tiefen Mulde und blickte hinunter in die bodenlose Schwärze. Angst packte sie. Die Senke war so beängstigend wie das Wesen, das sie verfolgte. Sie zwang sich zur Ruhe und ließ den Blick über die Schwärze hinweg zum Felsturm der Hochwarte schweifen. Dorthin mußte sie fliehen. Dort würde Wil sie suchen.

Sie fand den Weg, der in die Tiefe führte, und begann den langen Abstieg. Innerhalb von Augenblicken war sie von undurchdringlicher Dunkelheit umfangen; das Licht der Sterne und des Mondes durchdrang nicht die Finsternis der Bäume. Ihr kindliches Gesicht wurde hart in eiserner Entschlossenheit, und vorsichtig tastete sie sich weiter. So leise wie es ihr möglich war, bewegte sie sich, und nur das feine Scharren ihrer Stiefel auf Erde und Fels war in der Stille zu vernehmen.

Endlich hatte sie den Grund der Senke erreicht. Sie machte eine Pause und hockte sich unter einem Baum nieder, um vorsichtig ihren schmerzenden Knöchel zu massieren. Er war stark angeschwollen und hätte dringend der Schonung bedurft. Ihr Gesicht war schweißnaß, als sie aufwärts in die Düsternis spähte und lauschte. Sie hörte nichts. Dennoch, sagte sie sich. Was auch immer für ein Wesen das sein mochte, das ihr nach dem Leben trachtete, es war noch immer dort oben und suchte nach ihr. Sie mußte sich tiefer in die Senke hineinwagen. Ihre Augen hatten sich schon an die Finsternis gewöhnt, vage konnte sie die Umrisse von Bäumen ausmachen. Es war Zeit weiterzugehen.

Sie rappelte sich mühsam auf und lief hinkend in die Dunkelheit hinein, bemüht, den verletzten Knöchel möglichst wenig zu belasten. Von Baum zu Baum tastete sie sich, und unter jedem rastete sie einen Augenblick, um ängstlich in das tiefe Schweigen hinein zu lauschen. Die Schmerzen wurden heftiger, steigerten sich zu einem unablässigen Pochen, das mit jedem Schritt stärker zu werden schien. Die Muskeln ihres gesunden Beines fingen an, sich zu verkrampfen; schon begann sie zu ermüden.

Schließlich konnte sie nicht mehr weiter. Keuchend ließ sie sich an einem Gebüsch zur Erde nieder und streckte sich auf der kühlenden Erde aus. Sorgsam sammelte sie sich und versuchte nochmals, den Quell der Warnung zu entdecken. Einen Moment lang geschah gar nichts. Dann durchflutete sie wieder diese schreckliche, beißende Kälte. Ihr Atem stockte. Das Wesen, das ihr ans Leben wollte, befand sich in der Senke.

Wieder raffte sie sich auf und floh weiter, hinkte blind durch die schweigende Finsternis. Irgendwann einmal schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß sie vielleicht im Kreis lief, doch sie verdrängte diese Vorstellung. Immer wieder stolperte und fiel sie. Mehrmals stürzte sie so heftig, daß sie nahe daran war, das Bewußtsein zu verlieren. Jedesmal richtete sie sich nach Luft schnappend wieder auf, stand auf, zwang sich weiterzulaufen. Jegliches Zeitgefühl ging ihr verloren. Die Stille und die Schwärze um sie herum schienen sich immer mehr zu vertiefen. Schließlich konnte sie einfach nicht mehr. Rasselnd klang ihr ihr eigener Atem in den Ohren, als sie auf die Knie fiel. Weinend kroch sie weiter. Fels und dürres Holz zerschrammten ihr die Hände und die Knie, während sie sich durch das Unterholz schlug. Aber sie gab nicht auf. Niemals, schwor sie sich, würde sie aufgeben. Sie richtete ihre Gedanken auf Wil. Sie sah den Ausdruck, der über sein Gesicht gehuscht war, als sie ihm gesagt hatte, daß er ihr am Herzen lag. Sie hätte es nicht sagen sollen, das wußte sie. Aber es hatte sie in diesem Moment so heftig gedrängt, es ihm zu sagen. Es erstaunte sie, daß es ihr ein solches Bedürfnis gewesen war, es ihm zu sagen. Und die staunende Verwunderung in seinen Augen …

Weinend brach sie zusammen. Wil! Sie flüsterte seinen Namen wie eine Zauberformel, um das Böse abzuwehren, das in der Finsternis auf sie lauerte. Dann richtete sie sich wieder auf und kroch weiter. Ihre Gedanken gerieten ins Wandern, und ihr war, als spüre sie andere Wesen in der Dunkelheit rundum, die mit ihr durch die Nacht wanderten. Kleine Geschöpfe, dachte sie. Aber das Mörderwesen, wo steckte es? Wie nahe war es ihr?

Sie kroch und kroch immer weiter, bis ihre Kräfte völlig erschöpft waren. Da streckte sie sich auf dem Waldboden aus. Sie war zu Tode erschöpft. Sie hatte keine Reserven mehr. Sie schloß die Augen und wartete auf den Tod. Einen Augenblick später war sie eingeschlafen.

Sie schlief noch immer, als die knorrigen hölzernen Finger von einem Dutzend rauher Hände sie hochhoben und forttrugen.

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