Als sie am folgenden Morgen erwachten, war Artaq nicht mehr da. Im ersten Moment glaubten sie, er sei vielleicht in der Nacht davongewandert, aber sie fanden ihn weder im Wald rund um ihr Lager noch jenseits auf der offenen Ebene. In Wil erwachte ein furchtbarer Verdacht. Sogleich machte er sich daran, die Stelle, wo Artaq gegrast hatte, aufmerksam zu untersuchen, und schritt dann langsam im Kreis um ihren Lagerplatz. Von Zeit zu Zeit ließ er sich auf die knie nieder, um direkt am Boden zu riechen oder das Erdreich mit den Fingern zu betasten. Nach ein paar Minuten schien er etwas gefunden zu haben. Den Blick weiterhin zu Boden geheftet, streifte er südwärts durch das Wäldchen und in die Wiesen hinaus. Nach etwa zweihundert Fuß schwenkte er ab in Richtung zum Fluß. Amberle folgte ihm stumm. Wenig später standen sie beide am Ufer des Mermidon und blickten auf die sandigen Untiefen, die sich mehrere hundert Fuß stromabwärts von ihrem Lager befanden. »Die Fahrensleute!« Wil spie das Wort aus wie eine bittere Pille. »Sie haben in der Nacht hier den Fluß durchquert und Artaq gestohlen.« Amberle machte ein erstauntes Gesicht. »Bist du sicher?« »Vollkommen.« Wil nickte. »Ich habe ihre Spuren gefunden. Außerdem kann das sonst niemand fertiggebracht haben. Artaq hätte sich gewehrt, wenn irgendwelche unerfahrenen Leute versucht hätten, ihn zu entführen. Aber diese Burschen sind ganz geschickte Pferdeabrichter. Schau dort hinüber, sie sind schon fort.« Er wies zum anderen Ufer des Flusses hinüber, wo am vergangenen Abend die Wohnwagen Halt gemacht hatten. Jetzt war dort alles verlassen. »Und was tun wir nun?« fragte Amberle schließlich. Wil war so wütend, daß er kaum sprechen konnte. »Zunächst packen wir unsere Sachen. Dann gehen wir hinüber ans andere Ufer und sehen uns ihren Lagerplatz an.« Sie kehrten zu ihrem eigenen Lager zurück, packten eilig die paar Sachen, die sie mit sich trugen, und liefen wieder zum Fluß. An den Untiefen durchquerten sie ihn ohne Mühe und rannten zu dem jetzt verlassenen Lagerplatz der Fahrensleute. Wieder unterzog Wil den Boden einer aufmerksamen Prüfung. Dann ging er zu Amberle zurück. »Mein Onkel Flick hat mich das Spurenlesen gelehrt, als ich zu Hause in Shady Vale mit ihm auf die Jagd ging«, erzählte er ihr, sichtlich besserer Stimmung. »Wir waren manchmal wochenlang in den Duln Wäldern und haben geangelt und gejagt. Ich habe mich später oft gefragt, ob ich das, was ich damals gelernt habe, jemals wieder brauchen würde.«
Sie nickte ungeduldig. »Was hast du entdeckt?«
»Sie sind nach Westen weitergezogen, wahrscheinlich kurz vor Tagesanbruch.«
»Und das ist alles? Gibt es keinen Hinweis darauf, ob sie Artaq mitgenommen haben?«
»O ja, den haben sie mitgenommen. Da hinten bei den Untiefen sind Spuren genug, die zeigen, daß vom anderen Ufer ein Pferd in den Fluß gegangen und hier drüben wieder herausgekommen ist. Ein Pferd und mehrere Männer. Nein, da gibt’s gar keinen Zweifel, die haben ihn. Aber wir holen ihn uns wieder.«
Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
»Du willst ihnen folgen?«
»Natürlich!« Sein Zorn erwachte von neuem. »Wir beide werden diese Burschen verfolgen.«
»Nur du und ich, Talbewohner?« Sie schüttelte den Kopf. »Zu Fuß?«
»Bis zum Einbruch der Nacht können wir sie einholen. Die Wagen kommen nur langsam vorwärts.«
»Das setzt voraus, daß wir sie finden, oder nicht?«
»Das ist kinderleicht. Früher konnte ich mal die Fährte eines einzelnen Rehs im Wald verfolgen, auch wenn es wochenlang nicht geregnet hatte; da wird es mir doch jetzt wohl noch gelingen, einem ganzen Wagenzug auf der Spur zu bleiben.«
»Irgendwie gefällt mir das alles nicht«, erklärte sie ruhig. »Selbst wenn wir sie finden, und sie Artaq tatsächlich haben, was sollen wir dann tun?«
»Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn wir sie haben«, erwiderte er unerschüttert.
Amberle ließ nicht locker.
»Ich bin der Meinung, wir sollten uns jetzt darüber den Kopf zerbrechen. Diese Leute, denen du folgen willst, sind schließlich alle bewaffnet. Ich bin über den Diebstahl von Artaq genauso erbost wie du, aber das ist doch kein Grund, Hals über Kopf irgend etwas zu unternehmen, ohne zuvor vernünftig zu überlegen.«
Es kostete Wil Mühe, seinen Zorn und seine Ungeduld zu bezähmen.
»Ich laß’ mir doch das Pferd nicht einfach stehlen. Überleg mal, wenn Artaq nicht gewesen wäre, dann hätten uns die Dämonen schon in Havenstead erwischt. Er hat ein besseres Schicksal verdient, als von nun an diesen Gaunern dienen zu müssen. Außerdem brauchen wir ihn. Ohne ihn müssen wir zu Fuß weiter. Bis nach Arborlon. Wir würden länger als eine Woche benötigen, und fast die ganze Zeit führt der Weg durch offenes Land. Da können wir von diesen gräßlichen Wesen, die immer noch nach uns suchen, viel leichter aufgestöbert werden. Und das ist mir gar nicht sympathisch. Wir brauchen Artaq.«
»Ich habe den Eindruck, du hast deinen Entschluß bereits gefaßt«, meinte sie ausdruckslos.
Er nickte. »Richtig. Außerdem reisen die Fahrensleute ohnehin in Richtung Westland; es kommt uns nur entgegen.«
Einen Augenblick lang sah sie ihn nur an. Dann nickte sie schließlich.
»Also gut, versuchen wir, sie einzuholen. Ich möchte Artaq auch zurückhaben. Aber ein bißchen nachdenken müssen wir vorher schon. Ich finde, wir sollten einen festen Plan haben, wenn wir auf den Zug stoßen.«
Er lächelte. »Den haben wir bis dahin ganz bestimmt.«
Den ganzen Tag wanderten sie, den Räderspuren des Wagenzuges folgend, durch das offene Grasland. Es war heiß und trocken, und die Sonne brannte von einem wolkenlosen blauen Himmel auf sie herunter.
Sie fanden kaum Schatten, in den sie sich vor der Hitze flüchten konnten. Das bißchen Wasser, das sie bei sich trugen, war bald getrunken, und sie trafen auf kein Gewässer, an dem sie ihren Vorrat hätten auffüllen können. Am späten Nachmittag schmeckten sie nur noch den Staub der Ebene und ihren Durst. Die Beinmuskeln schmerzten, und ihre Füße waren voller Blasen. Sie sprachen wenig miteinander, konzentrierten sich nur darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während sie zusahen, wie die Sonne vor ihnen langsam versank. Schließlich blieb vom Tag nur ein matter lohfarbener Schein über dem weiten Land.
Wenig später begann es zu dunkeln, der Tag versank im Zwielicht, das Zwielicht wurde von der Nacht verschluckt. Sie marschierten weiter, obwohl sie jetzt die Spuren der Wagenräder nicht mehr erkennen konnten. Sich ganz auf ihren Richtungssinn verlassend, versuchten sie, in gerader Linie westwärts zu wandern. Mond und Sterne erwachten blitzend am Nachthimmel und sandten ihr weiches Licht in die Ebene hinunter, um den Talbewohner und das Elfenmädchen zu führen. Schmutz und Schweiß erkalteten und trockneten auf den Körpern der beiden jungen Menschen, und sie spürten, wie ihre Kleider unangenehm steif wurden. Keiner von beiden jedoch dachte daran, den anderen zu einer Rast aufzufordern. Stumm und entschlossen wanderten sie weiter, das Mädchen ebenso wie der junge Mann. Ihn überraschte die Ausdauer des Elfenmädchens, und er bewunderte ihre Tatkraft und ihren Mut.
Dann sahen sie in der Ferne ein Licht. Es waren Flammen, die wie ein Leuchtfeuer die Nacht erhellten. Sie hatten die Fahrensleute gefunden. Ohne ein Wort zu wechseln, trotteten sie näher an den Feuerschein heran; die Giebeldächer der Wagen nahmen in der Nacht allmählich Form und Gestalt an, und schließlich sahen sie vor sich den Wagenzug, in losem Kreis gruppiert, wie am Abend zuvor am Ufer des Mermidon.
Wil nahm Amberle bei der Hand und zog sie mit sich herunter, als er sich niederkauerte.
»Wir gehen rein«, flüsterte er, ohne den Blick vom Lager der Fahrensleute zu wenden.
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Das ist dein Plan?«
»Ich kenne mich mit diesen Leuten ganz gut aus. Mach einfach alles mit, was ich sage, dann wird’s schon klappen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und machte sich auf den Weg zum Wagenzug. Das Elfenmädchen blickte ihm einen Moment lang unschlüssig nach, dann stand auch sie auf und folgte ihm. Als sie sich dem Kreis der Wagen näherte, wurden die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder sichtbar, die sich im Feuerschein hin und her bewegten. Gelächter und Stimmengewirr drangen zu ihnen. Die Fahrensleute hatten gerade ihr abendliches Mahl beendet, hier und dort stattete eine Familie einer anderen einen Besuch ab. Von irgendwoher kam der melodische Schlag eines Saiteninstruments.
Fünfzig Schritte von der Wagenburg entfernt stieß Wil einen Ruf aus. Amberle war so überrascht, daß sie zusammenfuhr. Drinnen im Lager hielten alle in ihrer jeweiligen Tätigkeit inne. Die Köpfe flogen herum. Eine Handvoll Männer tauchte an der Lücke zwischen den Wagen auf, die den sich nähernden jungen Leuten am nächsten war. Stumm spähten die Männer in die Nacht hinaus. Der Feuerschein loderte hinter ihnen, so daß ihre Gesichter im Schatten lagen, und nicht zu erkennen waren. Wil zögerte nicht. Er ging direkt auf sie zu. Amberle folgte ihm mit einem Schritt Abstand. Im ganzen Lager war es mucksmäuschenstill.
»Guten Abend«, sagte Wil freundlich, als er die Gruppe von Männern erreichte, die ihnen den Durchgang ins Lager versperrte.
Die Männer antworteten nicht. Im tanzenden Schimmer des Feuers sah Wil Ohmsford das Blitzen eiserner Klingen.
»Wir haben euer Feuer gesehen und dachten, ihr könntet uns etwas Wasser geben«, fuhr er immer noch lächelnd fort. »Wir marschieren seit Tagesanbruch ohne Wasser und sind der Erschöpfung nahe.«
Ein hochgewachsener Mann in einem waldgrünen Umhang und einem breitkrempigen Hut — der Mann, den sie am Fluß gesehen hatten — drängte sich durch das Knäuel schweigender Männer.
»Ah, die jungen Reisenden von gestern abend«, stellte er ruhig fest, ohne sie zu begrüßen.
»Ach, guten Abend«, sagte Wil nochmals in aller Freundlichkeit. »Wir haben leider großes Pech gehabt. Im Lauf der Nacht ist uns unser Pferd abhanden gekommen — es ist offenbar ausgerissen, während wir schliefen. Nun sind wir den ganzen Tag ohne Wasser marschiert und wären dankbar für einen Schluck zu trinken.«
»Ah ja.« Der große Mann lächelte ohne Wärme. Er war sehr hochgewachsen, mager und grobknochig, mit einem dunklen Gesicht, das von einem schwarzen Bart umrahmt war. Er verlieh seinen Zügen eine solche Düsternis, daß sein Lächeln beinahe bedrohlich wirkte. Augen, schwärzer als die Nacht, blickten unter einer von Wind und Wetter gegerbten Stirn hervor, die in eine Hakennase überging. Mit beringter Hand winkte der Mann den anderen, die hinter ihm standen.
»Laßt Wasser bringen«, befahl er, den Blick noch immer auf den Talbewohner gerichtet. In seiner Miene regte sich nichts. »Wer seid Ihr, junger Freund, und wohin des Wegs?«
»Mein Name ist Wil Ohmsford«, antwortete der Talbewohner. »Dies ist meine Schwester Amberle. Wir sind auf dem Weg nach Arborlon.«
»Arborlon.« Nachdenklich wiederholte der hochgewachsene Mann diesen Namen. »Hm, ihr seid natürlich Elfen — das sieht jeder Blinde. Wenn auch vielleicht noch anderes Blut in eueren Adern fließt. Hm, ihr sagt, daß ihr euer Pferd verloren habt. Wäre es nicht klüger gewesen, dem Mermidon zu folgen, anstatt geradewegs nach Westen zu wandern?«
Wil ließ wieder sein Lächeln strahlen.
»Oh ja, daran haben wir auch gedacht; aber seht ihr, es ist von größter Wichtigkeit, daß wir Arborlon so bald wie möglich erreichen. Ein Fußmarsch würde viel zu lange dauern. Wir haben euch und eure Leute natürlich gestern abend am anderen Ufer gesehen und haben auch bemerkt, daß ihr eine Anzahl sehr schöner Pferde besitzt. Da dachten wir, daß ihr uns vielleicht eines eurer Pferde überlaßt, wenn wir euch etwas von Wert dafür geben.«
»Etwas von Wert?« Der hochgewachsene Mann zuckte die Schultern. »Vielleicht. Wir mußten natürlich erst einmal sehen, was Ihr uns zu bieten habt.«
Wil nickte. »Natürlich.«
Eine alte Frau erschien, die einen Krug Wasser und einen hölzernen Becher brachte. Sie reichte beides Wil. Er nahm es wortlos entgegen. Unter den Blicken der Fahrensleute goß er etwas Wasser in den Becher. Ohne ihn Amberle anzubieten, die ihn erstaunt anstarrte, trank er das Wasser hinunter. Dann schenkte er einen zweiten Becher ein und trank auch den aus. Als er fertig war, reichte er Amberle den leeren Becher und den Krug ohne ein Wort.
»Mir scheint, Ihr kennt die Sitte«, bemerkte der hochgewachsene Mann, und Interesse flackerte in seinen dunklen Augen auf. »Dann wißt Ihr auch, daß wir Fahrensleute sind.«
»Ja, ich habe schon Fahrensleute behandelt«, erwiderte Wil. »Ich bin ein Heilkundiger.«
Ein Murmeln pflanzte sich durch die Gruppe von Menschen fort, die seit dem Beginn des Gesprächs beträchtlich angewachsen war. Nahezu das vollständige Lager hatte sich jetzt versammelt, etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder, alle in farbenprächtige seidene Gewänder mit bunten Bändern und Schals gekleidet.
»Ein Heilkundiger? Das ist eine Überraschung.« Der hochgewachsene Mann trat vor, zog mit schwungvoller Geste seinen Hut und verbeugte sich. Als er sich wieder aufrichtete, bot er Wil die Hand zum Gruß. »Mein Name ist Cephelo. Ich bin der Führer dieser Familie.«
Wil nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie. Cephelo lächelte.
»Aber ihr solltet nicht hier draußen in der Kälte der Nacht stehen bleiben. Kommt mit mir. Auch Eure Schwester ist uns willkommen. Ihr seht mir beide aus, als könntet ihr ein Bad und ein kräftiges Mahl gebrauchen.«
Er führte sie durch das Gedränge der Fahrensleute ins Innere des Wagenkreises. Ein mächtiges Feuer brannte in der Mitte des Lagers, und darüber stand ein Dreifuß, von dem ein eiserner Kessel herabhing. Der Schein des Feuers spiegelte sich in den buntbemalten Wagen, so daß sich der Regenbogen von Farben mit den Schatten der Nacht mischte. Kunstvoll geschnitzte und glänzend polierte Holzbänke standen zu Füßen der Wagen. Die breiten Sitze waren mit Federkissen gepolstert. In den offenen Fenstern, deren Messinggriffe blitzten und funkelten, spielte ein leichter Wind mit Spitzenvorhängen und Perlschnüren. Auf einem langen Tisch, der etwas abseits stand, lag ein ganzes Sortiment ordentlich aufgereihter Waffen — Spieße, Schwerter und Messer. Zwei kleine Jungen waren damit beschäftigt, eifrig und gewissenhaft die scharfen Klingen mit Öl einzureiben.
Als sie das Feuer erreichten, drehte Cephelo sich unvermittelt um.
»Nun, was soll es zuerst sein — eine Mahlzeit oder ein Bad?«
Wil verschwendete nicht einmal einen Blick an Amberle.
»Ein Bad, denke ich — auch für meine Schwester, wenn Ihr das Wasser entbehren könnt.«
»Das können wir.« Cephelo nickte und drehte sich um. »Eretria!«
Seide raschelte, und gleich darauf sah sich Wil einem Mädchen von atemberaubender Schönheit gegenüber. Sie war so klein und zierlich wie Amberle, doch sie hatte nichts von der kindlichen Unschuld des Elfenmädchens. Dichtes schwarzes Haar ergoß sich in lockigem Schwall über ihre Schultern, ein Gesicht umrahmend, das von ebenmäßiger Schönheit war. Unergründlich und geheimnisvoll blickten die dunklen Augen. Das Mädchen trug hohe Lederstiefel, dazu eine Hose und einen Kittel aus scharlachroter Seide, welche die weiblichen Formen wohl bedeckten, aber nicht verhüllten. Silber blitzte an Handgelenken und Hals.
Wil starrte sie voll Erstaunen an und konnte den Blick nicht von ihr wenden.
»Meine Tochter Eretria.« Cephelos Stimme klang gelangweilt. Er wies auf Amberle. »Kümmere dich um das Elfenmädchen. Sie möchte ein Bad nehmen.«
Eretria lächelte spitzbübisch. »Es wäre viel reizvoller, wenn ich mich um ihn kümmern dürfte«, bemerkte sie mit einem Nicken zu Wil hin.
»Tu, was ich dir gesagt habe«, befahl ihr Vater scharf.
Eretria ließ Wil nicht aus den Augen.
»Dann komm, Mädchen«, forderte sie Amberle auf.
Gleich darauf wandte sie sich ab und war verschwunden. Amberle folgte ihr. Übermäßig beglückt schien sie nicht.
Cephelo führte Wil auf die andere Seite des Lagers, wo zwischen zwei Wagen ein kleiner Platz durch aufgehängte Decken abgeschirmt war. Hinter den Decken wartete ein Zuber mit Wasser. Wil entledigte sich seiner Kleider und legte sie ordentlich auf den Boden neben sich. Er merkte sehr wohl, daß der Führer der Fahrensleute jedes Stück, das er ablegte, genau musterte. Er wollte wohl sehen, ob er etwas von Wert besäße. Wil achtete darauf, daß ihm der Beutel mit den Elfensteinen nicht aus der Tasche seines Kittels fiel.
Nachdem er sich völlig entkleidet hatte, stieg er in den Zuber, um sich den Schmutz und den Schweiß des langen Marsches wegzuwaschen.
»Es kommt nicht häufig vor, daß wir einem Heiler begegnen, der bereit ist, Fahrensleute zu behandeln«, bemerkte Cephelo nach einer Weile. »Im allgemeinen müssen wir selbst uns um unsere Kranken kümmern.«
»Ich habe bei den Stors gelernt«, antwortete Wil. »Sie leisten jedem Hilfe, der Hilfe braucht.«
»Bei den Stors?« Cephelo machte kein Hehl aus seiner Verwunderung. »Aber die Stors sind doch Gnomen.«
Wil nickte. »Ich war eine Ausnahme.«
»Ihr scheint mir in vieler Hinsicht eine Ausnahme zu sein«, stellte Cephelo fest. Er ließ sich auf einer Bank nieder und betrachtete den Talbewohner, während dieser sich abtrocknete und dann daranging, seine Kleider auszuwaschen. »Wir haben Arbeit für Euch, so daß Ihr Euer Essen und Eure Unterkunft bei uns bezahlen könnt, Heiler. Es gibt einige unter uns, die Eure Hilfe brauchen.«
»Ich bin gern bereit zu tun, was ich kann«, erwiderte Wil.
»Gut.« Cephelo nickte zufrieden. »Ich will sehen, ob ich ein paar trockene Sachen für Euch finden kann.«
Er stand auf und ging davon. Augenblicklich nahm Wil den Beutel mit den Elfensteinen aus der Tasche seines Kittels und ließ ihn in seinen Stiefel gleiten. Dann wusch er weiter seine Kleider. Es dauerte nicht lange, dann kam Cephelo mit einem Bündel seidener Gewänder zurück. Wil nahm sie dankend entgegen und kleidete sich an. Der Klumpen an der Fußspitze seines rechten Stiefels drückte zwar höchst unangenehm, doch das würde er eben aushalten müssen. Cephelo rief die alte Frau herbei, die zuvor das Wasser gebracht hatte, und befahl ihr, Wils nasse Kleider mit sich zu nehmen. Der Talbewohner reichte ihr die Sachen wortlos; er wußte, daß sie gründlich durchsucht werden würden.
Danach kehrten die beiden Männer zum Feuer in der Mitte des Lagers zurück, wo wenig später Amberle sich zu ihnen gesellte. Auch sie trug seidene Gewänder wie Wil. Beide bekamen nun einen Teller mit dampfendem Essen und einen Becher Wein. Sie saßen am Feuer und aßen schweigend, während die Fahrensleute sich rundum niederließen, um sie neugierig zu beobachten. Cephelo hockte sich mit gekreuzten Beinen auf einem Sitzkissen mit goldenen Quasten nieder und beobachtete seine beiden Gäste mit ausdrucksloser Miene. Von Eretria war nirgends eine Spur zu sehen.
Nach dem Essen versammelte der Führer der Fahrensleute jene Mitglieder seiner Familie um sich, die der Fürsorge eines Heilers bedurften. Nacheinander untersuchte und behandelte der Talbewohner die Patienten. Obwohl er Amberle nicht um ihre Hilfe gebeten hatte, arbeitete sie an seiner Seite, hielt Bandagen und heißes Wasser bereit, ging ihm beim Auflegen einfacher Kräuterpflaster und Salben zur Hand. Als Wil nach etwa einer Stunde den letzten Patienten versorgt hatte, trat Cephelo zu ihm.
»Ihr habt Eure Arbeit gut gemacht, Heiler.« Er lächelte ein wenig freundlich. »Nun wollen wir sehen, was wir als Gegenleistung für Euch tun können. Begleitet mich doch ein Stück — hier hinunter.«
Er legte Wil Ohmsford einen Arm um die Schultern und führte ihn weg vom Feuer. Amberle blieb allein zurück. Die beiden Männer schlenderten zur anderen Seite des Lagers.
»Ihr habt mir berichtet, daß Euch gestern nacht nicht weit von unserm Lager am Mermidon Euer Pferd abhanden gekommen ist.« Die Stimme Cephelos klang nachdenklich. »Wie hat das Tier denn ausgesehen?«
Wils Miene blieb ausdruckslos. Er kannte das Spiel, was da gespielt wurde.
»Es ist ein Hengst, ein schwarzer Hengst.«
»Ach was.« Cephelo schien noch nachdenklicher als zuvor. »Gerade ein solches Pferd haben wir heute morgen gefunden. In aller Frühe. Ein sehr schönes Tier. Es wanderte in unser Lager herein, als wir gerade anspannten, um wieder aufzubrechen. Vielleicht war das Euer Pferd, Heiler.«
»Vielleicht.«
»Wir wußten selbstverständlich nicht, wem das Tier gehört.« Cephelo lächelte. »Deshalb haben wir es mitgenommen. Sehen wir es uns doch einmal an.«
Dreißig Schritte vom Lager entfernt waren die Pferde der Fahrensleute in einer Reihe nebeneinander angepflockt. Zwei dunkle Gestalten tauchten aus der Nacht auf, Wachposten, die mit Spießen und Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Auf ein Wort von Cephelo verschwanden sie wieder. Der Führer der Fahrensleute führte Wil an der Reihe von Pferden entlang. Das letzte Tier war Artaq.
Wil nickte. »Ja, das ist unser Pferd.«
»Trägt es Euer Zeichen, Heiler?« fragte Cephelo beinahe so, als sei ihm die Frage peinlich.
Wil schüttelte den Kopf.
»Ach, das ist aber sehr schade, denn dann läßt sich natürlich nicht mit Sicherheit feststellen, ob es sich tatsächlich um Euer Pferd handelt. Es gibt schließlich in den Vier Ländern eine stattliche Anzahl von Rapphengsten, und wie sollen wir sie voneinander unterscheiden, wenn ihre Eigentümer sie nicht kennzeichnen ? Das ist nun wirklich ein Problem, Heiler. Nichts wünsche ich mehr, als Euch dieses Pferd zu geben, doch ich ginge damit ein großes Risiko ein. Nehmt an, ich gebe Euch das Tier, wie ich das wünsche, und dann taucht ein anderer Mann auf und erzählt mir, daß er ebenfalls einen schwarzen Hengst verloren hat, und dann entdecken wir, daß ich irrtümlich Euch sein Pferd gegeben habe. Dann wäre ich ja wohl verantwortlich für den Verlust dieses Mannes.«
»Ja, da habt Ihr wahrscheinlich recht.«
Wil nickte mit wohldosiertem Zweifel, ohne der lächerlichen Mutmaßung Cephelos zu widersprechen. Das gehörte schließlich auch zum Spiel.
»Ich glaube Euch natürlich.« Cephelos bärtiges Gesicht drückte feierlichen Ernst aus. »Wenn man überhaupt einem Menschen auf dieser Welt vertrauen kann, dann doch gewiß einem Heilkundigen.« Er lächelte listig. »Dennoch gehe ich ein gewisses Risiko ein, wenn ich mich dafür entscheide, Euch das Tier auszuhändigen — diese Tatsache kann ich als praktischer Mensch in einem oft harten Geschäft nicht übersehen. Hinzu kommt die Pflege und Versorgung des Tieres. Wir haben uns mit der gleichen Fürsorge um den Hengst gekümmert wie um unsere eigenen Pferde; wir haben ihm die Nahrung zu fressen gegeben, die wir unseren eigenen Tieren geben. Ihr werdet sicher Verständnis dafür haben, wenn ich sage, daß uns meiner Meinung nach für all diese Fürsorge ein Entgelt zusteht.«
»In der Tat.« Wil nickte.
»Schön, gut.« Cephelo rieb sich befriedigt die Hände. »Wir verstehen uns. Nun müssen wir uns nur noch über den Preis einigen. Ihr sagtet vorhin etwas davon, daß Ihr uns für ein Pferd etwas von Wert geben wollt. Vielleicht können wir jetzt einen gerechten Tausch machen — Ihr gebt uns das, was Ihr bei Euch habt, zur Begleichung Eurer Schuld. Ich würde dafür keinem anderen, der sich bei mir nach einem abhanden gekommenen schwarzen Hengst erkundigt, etwas davon sagen, daß wir dieses Pferd gefunden haben.«
Er zwinkerte verschmitzt. Wil trat zu Artaq und streichelte den glatten Kopf des Pferdes, das seine Schnauze an seine Brust drückte.
»Ich kann Euch leider doch nichts von Wert bieten«, sagte er schließlich. »Ich habe nichts bei mir, womit ich Euch für das entlohnen könnte, was Ihr getan habt.«
Cephelo machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Nichts?«
»Gar nichts.«
»Aber Ihr sagtet doch vorhin, Ihr hättet etwas von Wert mitgebracht…«
»O ja.« Wil nickte rasch. »Damit meinte ich, daß ich Euch meine Dienste als Heilkundiger anbieten könnte. Ich dachte, das sei etwas von Wert.«
»Aber Eure Dienste als Heilkundiger habt Ihr doch als Gegenleistung für Essen und Unterkunft für Euch und Eure Schwester zur Verfügung gestellt.«
»Ja, das ist wahr.« Wil sah nicht sehr glücklich aus. Er holte tief Atem. »Vielleicht darf ich einen Vorschlag machen?« Neuerliches Interesse flackerte im Gesicht des anderen auf. »Wir befinden uns doch beide auf dem Weg ins Westland. Wenn Ihr uns erlaubt, Euch weiter zu begleiten, ergibt sich vielleicht noch eine Gelegenheit für uns, Euch zu bezahlen — vielleicht bedürft Ihr meiner Künste noch einmal.«
»Das ist unwahrscheinlich.« Cephelo dachte über den Vorschlag nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Ihr habt gar nichts von Wert, was Ihr uns für das Pferd geben könnt — gar nichts?«
»Nein, nichts.«
»Eine armselige Art zu reisen«, brummte der Führer der Fahrensleute, während er sich das bärtige Kinn rieb. Wil sagte nichts. »Nun, ich denke es wird nichts schaden, wenn Ihr bis zu den Wäldern mit uns reist. Aber das sind nur noch ein paar Tagereisen, und wenn Ihr bis dahin nichts für uns getan habt, werden wir das Pferd als Lohn für unsere Mühe behalten müssen. Ihr versteht das wohl.«
Wil nickte stumm.
»Eines noch.« Cephelo trat näher. Sein Gesicht war jetzt gar nicht mehr freundlich. »Ich vertraue darauf, daß Ihr nicht so töricht seid, uns das Pferd stehlen zu wollen, Heiler. Ihr kennt uns gut genug, um zu wissen, was mit Euch geschehen würde, solltet Ihr solches versuchen.«
Wieder nickte Wil. Ja, das wußte er.
»Gut.« Cephelo trat wieder zurück. »Vergeßt es nicht.« Es lag auf der Hand, daß ihm die Entwicklung der Dinge gar nicht gefiel, doch er tat seinen Unmut jetzt mit einem Achselzucken ab. »Genug der Geschäfte. Kommt mit ins Lager und trinkt mit mir.«
Er führte Wil wieder in den Kreis der hohen Wagen zurück, klatschte laut in die Hände und rief seinen Leuten zu, sie sollten sich zu ihm gesellen, um mit ihm zusammen bei Wein und Musik den jungen Heilkundigen willkommen zu heißen, der sich ihnen gegenüber so freundlich und hilfsbereit gezeigt hatte. Wil bekam einen Platz neben Cephelo auf einer gepolsterten Bank vor dem Wohnwagen des Führers. Die Männer, Frauen und Kinder des Lagers strömten eifrig zusammen. Aus einem großen Faß wurde Wein gezapft, und Becher machten die Runde. Cephelo erhob sich und brachte einen blumigen Toast auf die Gesundheit seiner Familie aus. Hoch erhoben alle ihre Becher und leerten sie mit einem Zug. Auch Wil trank mit. Er sah sich suchend nach Amberle um und fand sie ziemlich weit außen in dem Kreis von Gesichtern, der ihn umgab. Sie wirkte gar nicht erfreut. Er wünschte, er hätte ihr alles erklären können, was sich da abspielte, doch damit mußte er warten, bis sie allein waren. Fürs erste mußte sie eben die Dinge einfach so hinnehmen, wie sie kamen.
Die Becher wurden aufgefüllt, wieder wurde angestoßen, wieder wurden die Becher geleert. Cephelo rief laut nach Musik. Die Saiteninstrumente und Becken wurden gebracht, und Männer und Frauen begannen zu spielen. Die Musik war wild und zügellos, und doch zugleich von einer betörenden Schönheit. Frei und ungebunden stiegen ihre Klänge in die Nacht, und mit ihnen das fröhliche, unbekümmerte Gelächter der Fahrensleute. Wieder wurde Wein nachgeschenkt, wieder wurden die Becher rasch geleert. Anfeuerungsrufe und Gesang begleiteten die Musiker. Wil spürte, wie ihm der Wein zu Kopf stieg. Er war viel zu stark für jemanden, der das Trinken nicht so gewöhnt war wie die Fahrensleute. Ich muß vorsichtig sein, dachte Wil, als ein neuer Toast ausgebracht wurde, und er wieder den Becher hob. Diesmal nippte er nur von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. In der Spitze seines rechten Stiefels fühlte er den Druck der Elfensteine.
Die Rhythmen der Musik wurden schneller, und jetzt sprangen die Fahrensleute auf und begannen zu tanzen. Ein Dutzend etwa bildete mit untergehakten Armen einen Kreis, der sich immer schneller um das Feuer drehte. Andere sprangen auf, sich in den Kreis einzureihen, und jene, die noch saßen, klatschten im Takt in die Hände. Wil stellte seinen Becher auf die Bank, um mitklatschen zu können. Als er einen Augenblick später danach griff, war er frisch gefüllt. Vom wilden Rhythmus der Musik gepackt, trank er den Wein unbesonnen hinunter. Der Kreis der Tanzenden brach jetzt auseinander, Paare bildeten sich, die sich rund um die lodernden Flammen des Feuers drehten. Irgend jemand sang ein Lied voller Sehnsucht und Wehmut, das mit der Musik verschmolz.
Dann plötzlich stand Eretria vor ihm, dunkel und schön, die zierliche Gestalt in scharlachrote Seide gehüllt. Mit einem betörenden Lächeln nahm sie ihn bei den Händen und zog ihn hoch, mitten unter die Tanzenden. Dann löste sie sich einen Moment lang von ihm und kreiselte in einem Wirbel von fliegenden Bändern und wehendem schwarzen Haar davon. Doch gleich darauf stand sie wieder vor ihm. Ihre schlanken Arme umschlangen ihn, während sie tanzten. Der Duft ihres Haares und ihres Körpers mischte sich mit der Wärme des Weins, die durch sein Blut pulste. Er spürte, wie sie sich an ihn schmiegte, federleicht und weich, und Worte sprach, die er nicht recht verstehen konnte. Ihm wurde schwindlig von den Drehungen des Tanzes; alles um ihn herum verschwamm in einem Rausch von Farben, der von der Schwärze der Nacht wogte. Die Musik und das Klatschen, das Gelächter und das Pfeifen der Fahrensleute wurden lauter. Er spürte, wie seine Füße vom Boden abhoben und er zu schweben begann, Eretria noch immer in den Armen.
Dann jedoch war sie plötzlich verschwunden, und er begann zu fallen.