35

Fünf Tage lang lieferten sich das Heer der Elfen und die Freitruppe der Grenzlegion immer wieder erbitterte Kämpfe mit den Dämonen, während sie quer durch das Westland nach Arborlon zurückwichen. Durch das weite Sarandanon-Tal, durch dichte, verwilderte Wälder, durch Waldschneisen und ausgefahrene Ziehwege wichen sie langsam zurück, immer weiter nach Osten, auf Schritt und Tritt verfolgt von den Dämonen-Horden. Sie marschierten bei Tag und Nacht ohne Rast, häufig ohne sich eine Mahlzeit zu gönnen, denn die Ungeheuer, die sie verfolgten, schienen weder Schlaf noch Nahrung zu entbehren. Unbelastet von menschlichen Bedürfnissen, nicht eingeschränkt von menschlichen Grenzen, jagten die Dämonen ihnen erbarmungslos nach, getrieben von zielgerichteter Raserei. Wie Hunde auf der Jagd hetzten sie das zurückflutende Heer, traktierten es immer wieder mit Störangriffen an den Flügeln, fielen hin und wieder in wütender Attacke darüber her, bemühten sich, es von seinem Kurs abzubringen, es kampfunfähig zu schlagen und zu vernichten. Beinahe unablässig folgten die Angriffe aufeinander, und die Elfen und ihre Verbündeten, die vom Kampf am Baen Draw schon ermattet waren, fielen schnell der Erschöpfung anheim. Und mit der Erschöpfung kamen Verzweiflung und Furcht.

Auch Andor Elessedil wurde ein Opfer dieser Furcht. Bei ihm fing es mit dem Gefühl seines Versagens an. Die Toten, die Niederlagen der letzten Tage, die Gedanken an das, was die Elfen hatten erreichen wollen und was sie nicht erreicht hatten, quälten ihn. Doch selbst das war nicht das schlimmste Unheil. Denn während sein geschlagenes Heer nach Osten marschierte und rund um ihn herum seine Landsleute starben, wurde Andor langsam klar, daß vielleicht keiner von ihnen diesen langen Rückmarsch überleben würde — daß sie womöglich alle sterben würden. Und aus dieser schrecklichen Erkenntnis wurde die Furcht geboren, die ihm zum ständigen Peiniger wurde — gesichtslos, hinterhältig, immer im Schatten seiner Entschlossenheit lauernd. Führer der Elfen, fragte sie verschlagen, was willst du tun, um deine Landsleute zu retten? Bist du so hilflos? So viele sind gefallen — doch was ist, wenn auch alle jene, die noch geblieben sind, fallen werden? Diese Stimme der Angst quälte und folterte ihn und drohte, den letzten Funken Entschlossenheit durch völlige Verzweiflung zu ersticken. Selbst Allanons Anwesenheit half ihm nicht, denn der schwarzgewandete Druide blieb unzugänglich und verschlossen, während er an Andors Seite ritt, verborgen hinter den Mauern seiner eigenen Welt dunkler Geheimnisse. Andor also kämpfte allein gegen seine Furcht und richtete seine ganze Kraft darauf, sie zu besiegen, während er niedergeschlagen und verbittert seine Soldaten nach Arborlon zurückführte.

Stee Jans war es schließlich, der sie alle rettete. In dieser finstersten Zeit scheinbar unvermeidlicher Niederlage und drohender Verzweiflung zeigte der hünenhafte Grenzländer die Hartnäckigkeit, die Unnachgiebigkeit und den Mut, die den Grundstein zur Legende vom Eisenmann gelegt hatten. Nachdem er eine Nachhut von Elfen und Freikämpfern um sich gesammelt hatte, schickte er sich an, die Hauptkolonne seines Heeres zu verteidigen, das im Schutz der Nacht seine Toten und Verwundeten ostwärts trug. In einer Folge von Ausfallattacken und Scheinangriffen brachte der Befehlshaber der Freitruppe die Verfolger durcheinander, indem er sie immer wieder auf sich zog, erst in der einen Richtung davonjagte, dann in der anderen; kurz, er wandte die gleiche Taktik an, die sich am Baen Draw als so erfolgreich erwiesen hatte. Immer wieder jagten die Dämonen ihm hinterher, erst durch das Sarandanon-Tal, dann in die jenseits liegenden Wälder. Immer wieder versuchten sie, die wendigen grauen Reiter und die flinken Elfenpferde einzufangen, und kamen doch immer einen Augenblick zu spät, um dann nur noch eine leere Ebene, einen verlassenen Engpaß, eine Mulde, die dunkel war von Schatten, einen verwilderten Pfad vorzufinden, der sich im Nichts verlor. Mit einer Geschicklichkeit ohnegleichen, welche die Dämonen verblüffte und in Rage brachte, spielten Stee Jans und seine Reiter ein tödliches Katz- und Maus-Spiel, schienen überall zugleich zu sein, nur nicht dort, wo das Gros des Heeres in Richtung auf Arborlon marschierte.

Die ohnmächtige Wut der Dämonen steigerte sich maßlos; in blindwütiger Besessenheit jagten sie ihren Feinden nach. Dies waren andere Dämonen als die biegsamen schwarzen Geschöpfe, die aus dem Hügelland nördlich des Baen Draw herausgestürmt waren, das Sarandanon zu nehmen. Diese Dämonen, die oberhalb des Kensrowe-Gebirges nach Osten marschiert waren, waren weit gefährlicher als ihre geringeren Brüder und besaßen Kräfte, denen kein gewöhnlicher Mensch etwas entgegenzusetzen hatte. Einige von ihnen waren von gewaltiger Größe, mit muskulösen Gliedern und einem gepanzerten Leib — Geschöpfe blinder Zerstörung. Andere waren klein und wendig, konnten allein durch eine Berührung töten. Manche waren langsam und schwerfällig, andere so flink wie Quecksilber, wenn sie wie Gespenster durch die Schatten der Wälder glitten. Manche waren vielgliedrige Geschöpfe, andere hatten überhaupt keine Glieder. Manche spieen Feuer wie Drachen der alten Zeit, andere waren menschenfressende Ungeheuer. Wo sie sich zeigten, blieb das Land der Elfen verkohlt und voller Wunden zurück, so verwüstet, daß nichts mehr auf ihm leben konnte. Doch die Elfen selbst entzogen sich ihnen immer gerade um Haaresbreite.

Die Jagd ging weiter. Elfen-Jäger und Freikämpfer fochten Seite an Seite in dem verzweifelten Bemühen, den Vormarsch der Dämonen zu bremsen, und sahen, wie ihre Zahl ständig geringer wurde unter den Angriffen der Verfolger. Hätten sie nicht Stee Jans zum Führer gehabt, sie wären bis auf den letzten Mann vernichtet worden. Selbst unter seiner Führung fielen Hunderte, Opfer des schrecklichen und erbitterten Kampfes, der verhindern sollte, daß der lange Rückzug zur vernichtenden Niederlage wurde. Die Taktik des Befehlshabers der Freitruppe blieb dieselbe. Angesichts der Stärke der Dämonen-Horden durfte sich das Elfenheer diesseits von Arborlon keinesfalls in eine reguläre Schlacht verwickeln lassen. Deshalb beschäftigte die Nachhut die Dämonen immer wieder mit ihren Störmanövern, griff an, jagte davon, machte kehrt zu einem neuen Angriff und wieder einem — und jedesmal fielen einige der Reiter.

Am Nachmittag des fünften Tages schließlich erreichte das völlig erschöpfte Heer die Ufer des Singenden Flusses. Mit heiserem Freudengeschrei aus ausgedörrten Kehlen überquerten die Soldaten den Fluß und kehrten nach Arborlon zurück. Da erst wurde offenkundig, welch hohen Preis die Elfen hatten bezahlen müssen. Ein Drittel der Elfen, die mit dem Heer nach Westen ausgezogen waren, waren tot, Hunderte verwundet.

Von den sechshundert Soldaten der Freitruppe der Grenzlegion war nicht einmal ein Drittel mehr am Leben. Und immer noch rückten die Dämonen vor.

Abendliches Zwielicht lag über der Stadt Arborlon. Mit dem Ende des Tages hatte sich die Luft stark abgekühlt, und nun schob sich eine dunkle Wolkenbank ostwärts, verschleierte Sterne und Mond und erfüllte die Nacht mit einem Geruch nach Regen. In den Häusern der Stadt, wo Familien und Freunde sich zum Nachtmahl einfanden, flammten die Lichter auf. Auf den Straßen und in den Baumpfaden nahmen Einheiten der Leibgarde ihre nächtliche Patrouille auf, wanderten lautlos durch die abendlichen Schatten. Auf der Höhe des Carolan, auf dem Elfitch und am Ostufer des Singenden Flusses standen die Soldaten des Elfenheeres zumKampf bereit. Über die Reihen hohler Eisenpfosten hinweg, die mit brennendem Pech gefüllt waren, spähten sie in die Schwärze des Waldes am anderen Ufer. In den Bäumen rührte sich nichts.

Im Saal des Hohen Rates der Elfen stand Andor Elessedil den Ministern des Königs, den Befehlshabern des Heeres und den wenigen Landfremden gegenüber, die eingetroffen waren, um den Elfen in ihrem Kampf gegen die Dämonen Beistand zu leisten. Den silbernen Stab des Ellcrys in der Rechten trat er durch die schwere hölzerne Flügeltür am Ende des Saales. Staub, Schweiß und Blut bedeckten den Elfenprinzen; er hatte sich zwar ein paar kurze Stunden des Schlafes gegönnt, hatte sich aber nicht die Zeit genommen, ein Bad zu nehmen, da er so rasch wie möglich vor den Hohen Rat treten wollte. An seiner Seite gingen Allanon, hochgewachsen und düster dreinblickend, und Stee Jans, die braunen Augen todeskalt.

Die Männer, die sich im Saal eingefunden hatten, standen auf beim Erscheinen des Elfenprinzen. Zischendes Geflüster raunte durch den Saal, schwoll zu Gemurmel an, und dann wurden auch schon die ersten Fragen laut. Am Kopfende des ovalen Tisches hob Emer Chios die Hand und ließ sie krachend auf das polierte Holz niedersausen.

Augenblicklich wurde es still im Saal.

»Nehmt Platz«, befahl der Erste Minister.

Murrend kamen die Versammelten der Aufforderung nach.

Andor wartete einen Augenblick, dann trat er einen Schritt vor. Er kannte die Vorschriften und Regeln des Hohen Rates. War der König außerstande, an einer Sitzung teilzunehmen, dann führte der Erste Minister den Vorsitz. Emer Chios war ein mächtiger und angesehener Mann, um so mehr gerade jetzt, in dieser Situation. Andor war mit einem ganz bestimmten Ziel im Auge vor den Hohen Rat getreten, und er würde der Unterstützung Chios’ bedürfen, wenn er dieses gesteckte Ziel erreichen wollte. Er war müde, und es drängte ihn, doch er mußte sich die Zeit nehmen, die Dinge auf geziemende Art und Weise zu erörtern.

»Herr Minister«, richtete er das Wort an Emer Chios. »Ich möchte zum Hohen Rat sprechen.«

Emer Chios nickte. »Dann tut es, Prinz.«

Langsam und stockend, denn er war nicht der Redner, der sein Vater war und der sein Bruder gewesen war, berichtete Andor von den Geschehnissen, die dem Elfenheer seit seinem Aufbruch zum Sarandanon widerfahren waren. Er schilderte die Verwundung des Königs und den Tod Arions. Er berichtete von den Schlachten und Niederlagen im Grimmzacken-Gebirge, vom Rückzug und von dem heldenhaften Kampf bei Baen Draw, vom Rückmarsch schließlich durch das Sarandanon und die Wälder des Westlands nach Arborlon. Er pries den Mut der Freitruppen der Grenzlegion und die Führerschaft von Stee Jans, nachdem Pindanon gefallen war. Bis ins kleinste Detail beschrieb er den Feind, dem sie sich gegenübergesehen hatten — die Größe seines Heeres, seinen tollwütigen Haß, seine übermächtigen Kräfte. Die Dämonen, warnte er, näherten sich jetzt Arborlon, um hier die letzten Elfen zu vernichten, die Stadt in Staub und Asche zu legen, das Land zurückzuerobern, das sie vor Jahrhunderten verloren hatten. Vor ihnen lag eine Schlacht, die nur mit der totalen Vernichtung des einen oder des anderen — Elfen oder Dämonen — ihr Ende finden würde.

Während er sprach, musterte er die Gesichter seiner Zuhörer, suchte in ihren Augen und Mienen einen Hinweis darauf, wie sie seine Handlungen seit dem Verlust des Königs und seines Thronfolgers beurteilten. Er war jetzt bereit, die Möglichkeit anzunehmen, daß sein Vater sterben und er dann König werden könnte; er wußte, daß auch der Hohe Rat und das Elfenvolk sich mit dem Gedanken an diese Möglichkeit vertraut machen mußten. Andor war es schwergefallen, sie ins Auge zu fassen, vor der Schlacht am Halys-Joch war sie ihm stets als reine Spekulation erschienen, und im übrigen hatte er nie glauben wollen, daß er eines Tages sowohl seinen Vater als auch seinen Bruder verlieren würde. Doch jetzt lag sein Vater im Herrenhaus auf dem Krankenlager, und nichts hatte sich an seinem Zustand seit dem Sturz verändert. Während der erbitterten Kämpfe am Baen Draw und auf dem langen Marsch nach Hause hatte Andor Elessedil unablässig darauf gewartet, daß sein Vater erwachen würde. Daß er vielleicht nie wieder erwachen würde, hatte er einfach nicht glauben wollen. Doch der König hatte bisher das Bewußtsein nicht wiedererlangt, und jetzt schien es, als würde er sich vielleicht nie mehr von seinem Krankenlager erheben. Der Elfenprinz begriff das und akzeptierte es und richtete deshalb seinen Blick über diese Tatsachen hinaus in die Zukunft zu dem, was dann sein mußte.

»Ihr Herren«, schloß er, und seine Stimme war müde und leer, »ich bin der Sohn meines Vaters, und ich weiß, was von einem Prinzen der Elfen erwartet wird. Das Elfenheer hat sich aus dem Sarandanon zurückgezogen und muß sich jetzt hier dem Kampf stellen. Ich habe die Absicht, mit ihm zu kämpfen. Ich habe die Absicht, es zu führen. Ich würde es nicht tun, wenn es einen Weg gäbe, diesen Augenblick ungeschehen zu machen, wenn alles, was sich innerhalb der letzten Wochen zugetragen hat, einfach ausgelöscht werden könnte. Aber das ist nicht möglich. Stünde jetzt mein Vater hier, so würdet Ihr Euch einmütig um ihn scharen — das weiß ich. So stehe ich denn an meines Vaters Stelle hier und bitte Euch, daß Ihr Euch auf meine Seite stellt, denn ich bin der Letzte seines Blutes. Diese Männer, die hier mit mir stehen, haben mir ihren Beistand bewiesen. Ich ersuche nun auch um den Euren. Gebt mir diesen Beistand, Edle der Elfen.«

Schweigend wartete er. Er wußte, daß er es nicht nötig gehabt hätte, sie um ihren Beistand zu bitten, daß er ihn einfach hätte fordern können. In seinen Händen lag die Macht des Hauses Elessedil, und es gab wenige, die es gewagt hätten, an ihr zu rütteln. Er hätte Allanon bitten können, für ihn zu sprechen; die Stimme des Druiden allein hätte vielleicht jede Opposition zum Schweigen gebracht. Doch Andor wollte keinen Vermittler, und er wollte auch nichts für selbstverständlich nehmen. Die Mitglieder des Hohen Rates und die Landesfremden, die gekommen waren, ihnen zu helfen, sollten ihm ihren Beistand aufgrund dessen geben, was sie vielleicht in ihm erblickten; nicht durch Furcht wollte er sie zwingen und nicht dadurch, daß er irgendwelche Rechte geltend machte, die nicht eine feste Basis in der Charakterstärke hatten, die er in der Führung des Elfenheeres seit der Verwundung seines Vaters gezeigt hatte.

Emer Chios erhob sich. Sein Blick aus dunklen Augen flog flüchtig über die Gesichter der Versammelten. Dann wandte er sich an Andor. »Mein Prinz«, begann er mit tiefer, dröhnender Stimme. »Alle, die hier in diesem Saal versammelt sind, wissen, daß ich keinem Mann blindlings folge, sei er auch von königlichem Blut und das Kind von Königen. Ich habe häufig und in aller Öffentlichkeit gesagt, daß ich dem Urteil meines Volkes mehr vertraue als dem Urteil eines einzigen, sei er auch König der ganzen bekannten Welt.«

Er hielt einen Augenblick inne und blickte langsam in die Runde.

»Und doch bin ich Eventine Elessedils getreuer Minister und sein großer Bewunderer. Er ist ein König, Edle der Elfen, wie es ein König sein sollte. Ich wünschte, er könnte uns in diesen schlimmen Zeiten führen. Aber er vermag es nicht. Sein Sohn bietet sich an seiner Statt an. Ich kenne Andor Elessedil — ich glaube, ich kenne ihn besser als die meisten von Euch. Ich habe ihm zugehört; ich habe ihn nach seinen Worten und nach seinen Taten beurteilt, und ich sage jetzt, daß es in Abwesenheit unseres Königs nicht einen Mann gibt, dem ich mein Heimatland und mein Leben bereitwilliger anvertrauen würde als ihm.«

Er schwieg und legte mit bedächtiger Bewegung seine rechte Hand aufs Herz — zum Treueschwur der Elfen. Einen Moment lang war es ganz still. Dann standen andere auf, nur wenige zunächst, dann alle, und sie legten ihre Hände auf ihre Herzen, während sie dem Prinzen gegenüberstanden. Auch die Befehlshaber des Elfenheeres traten vor — Ehlron Tay, sauertöpfisch und barsch, der nach dem Tode Pindanons der Ranghöchste war; Korold, der große, tadellos gekleidete Hauptmann der Schwarzen Wache; und Kerrin, der die Leibgarde befehligte. Alle, die sich im Saal des Hohen Rates versammelt hatten, standen nun, die Hände zum Gruß erhoben, ihrem Prinzen gegenüber.

»Jetzt folgen sie Euch, Elfenprinz«, sagte Allanon leise.

Andor nickte. Fast hätte er es bedauern können.

Anschließend berieten sie über die Verteidigung Arborlons.

Die Vorbereitungen zu dieser Verteidigung hatten beinahe unmittelbar nach dem Aufbruch des Elfenheeres zum Sarandanon zwei Wochen zuvor begonnen. Emer Chios, in des Königs Abwesenheit Herrscher der Hauptstadt, hatte den Hohen Rat einberufen und dazu jene Führer des Elfenheeres, die den König nicht begleitet hatten, um darüber zu beschließen, was zum Schutz Arborlons im Falle eines Dämonenangriffs getan werden sollte. Man hatte sich auf eine Reihe sorgfältig durchdachter Abwehrmaßnahmen geeinigt. Der Erste Minister sprach sie jetzt mit Andor durch.

Nur zwei Zugänge hatte die Stadt — einen im Osten, für die Reisenden, die aus dem Rhenn-Tal und den jenseits liegenden Wäldern kamen, und einen im Westen, für jene, die aus dem Sarandanon kamen.

Im Norden und im Süden war Arborlon von Bergen begrenzt, über die kein Weg führte, hohe Gipfel, die die Wälder des Flachlandes einschlossen und den Carolan in einer gewaltigen Felsmauer umgaben. Allanon hatte vorausgesagt, daß der Durchbruch durch die Mauer der Verfemung sich auf der Rauhen Platte ereignen würde. Das bedeutete, daß die Dämonen ostwärts durch das Sarandanon marschieren mußten, daß also der Angriff auf die Hauptstadt der Elfen aus Westen erfolgen würde, es sei denn, die Dämonen-Horden wandten sich nach Süden oder Norden, um die Berge zu umgehen, die Arborlon schützten.

Doch gerade hier, am Westzugang, war die Stadt am besten geschützt. Zunächst würden sich die Dämonen zwei natürlichen Hindernissen gegenübersehen. Erst würden sie auf den Singenden Fluß stoßen, der hier, wo er sich unterhalb des Carolan nach Osten wandte, etwas schmaler war, aber tief und reißend, auch bei ruhigstem Wetter schwierig zu befahren. Das zweite Hindernis war die Höhe des Carolan selbst, eine nackte Felswand, die mehr als vierhundert Fuß in die Höhe ragte, durchzogen von einem Netz tiefer Risse und Spalten und überwuchert von Krüppelbüschen und dichtem Gestrüpp. Eine einzige Brücke überspannte den Singenden Fluß am Fuß des Carolan an einer Stelle, wo der Lauf schmäler wurde. Eine Furt gab es nirgends, meilenweit keine seichten Stellen. Der Elfitch war die Hauptzugangsroute zum Carolan, obwohl sich weiter südlich kleinere Treppen durch waldiges Land aufwärtswanden.

Somit galt es, für die Verteidigung Arborlons den Fluß und die Felswand auszunützen. Man hatte beschlossen, die Brücke über den Singenden Fluß augenblicklich nach der Rückkehr des Elfenheeres zu zerstören. Dies sei geschehen wie geplant, erklärte Chios, und somit hatte man die letzte Verbindung zwischen Arborlon und dem Sarandanon durchtrennt. Am Ostufer hatten die Elfen Hunderte von großen Behältern mit Pech aufgestellt, das entzündet werden sollte, falls die Dämonen versuchen sollten, den Singenden Fluß bei Nacht zu überqueren, und ganz dicht am Ufer des Singenden Flusses hatten sie eine Schanze aus Stein und Erde erbaut, die sich mehrere hundert Fuß am Flußufer entlangzog und zu beiden Seiten des Elfitchs bis zur Felswand schwang. Das Ostufer des Flusses bis zum Fuß der Felswand war etwa zweihundert Fuß breit, und das Gebiet war größtenteils von Wald und Gestrüpp überwuchert. Hier hatten die Elfen Dutzende von Fallen und Fallgruben errichtet, um die Dämonen abzufangen, die versuchen sollten, einen Bogen um die Schanze zu schlagen.

Das Hauptbollwerk zum Schütze Arborlons jedoch war der Elfitch selbst. Alle kleineren Treppen, die zum großen Tafelland des Carolan hinaufführten, waren zerstört worden. Es blieb nur der Elfitch — sieben aus Steinquadern erbaute Rampen und eisenbeschlagene Tore, die vom Fuß des Felsens in die Höhe führten. Jedes Tor war von einer Ringmauer umgeben, die den Zugang zu den Toren und Rampen darüber verwehrte. Jede Rampe und jedes Tor war etwas zurückgesetzt von der darunter, und der Elfitch schlängelte sich spiralförmig in einer Folge gleichmäßig abgezirkelter Biegungen aufwärts, so daß auf jeder Terrasse postierte Bogenschützen den darunterliegenden Toren und Rampen Deckung geben konnten. In Friedenszeiten standen die Tore zu den sieben Rampen offen, die Ringmauern wurden nur der Form halber von einem Posten bewacht. Jetzt aber, nach der Rückkehr des Elfenheeres aus dem Sarandanon, starrten die Wehrmauern von Piken und Lanzen, und die hohen Tore waren verschlossen und mit Eisenstangen gesichert.

Auf der Höhe des Carolan waren keine Abwehrstellungen errichtet worden. Das Plateau zog sich in einer breiten, sanft gewellten Ebene zum Wald hin, hier und dort durchsetzt von kleinen Wäldchen und alleinstehenden Häusern. Auch die einsame Anlage des Gartens des Lebens befand sich hier. Im Osten, fast unter dem Dach der Waldbäume, lag Arborlon. Wenn es den Dämonen gelang, den Carolan zu erklimmen, hatten die Elfen kaum noch eine Aussicht, ihre Stadt zu verteidigen. Sie konnten, wenn ihrer noch genug übrig waren, versuchen, den Eindringlingen auf der Ebene entgegenzutreten, um sie im Sturmangriff in den Abgrund zu jagen. Wenn das mißlang, würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als bis zum Rhenn-Tal zurückzuweichen und dort eine entscheidende Schlacht zu schlagen oder aber ganz aus dem Westland vertrieben zu werden.

Chios machte eine Pause in seinem Bericht.

»Wenn sie natürlich die Berge umgehen und von Osten hereinkommen —«, begann er.

Allanon fiel ihm ins Wort.

»Das werden sie nicht tun. Die Zeit spielt für sie jetzt eine wichtige Rolle. Sie werden von Westen kommen.«

Andor warf einen fragenden Blick auf Stee Jans, doch der Befehlshaber der Freitruppe zuckte nur die Schultern. Darauf wandte sich Andor wieder an Emer Chios.

»Was gibt es sonst für Neuigkeiten, Herr Minister?«

»Bezüglich unserer Bitte an die anderen Länder, uns Beistand zu leisten, sind die Neuigkeiten leider recht gemischter Natur. Callahorn hat uns nochmals zweihundertundfünfzig Mann geschickt — von der alten Garde, dem regulären Heer der Legion. Man hat vage versprochen, noch weitere Einheiten zu entsenden, doch es gibt keinen Hinweis darauf, wann wir sie erwarten können. Unser Kurier berichtet, daß die Mitglieder des Städterats noch nicht in der Lage waren, sich darüber zu einigen, wie weit ich Callahorn in diesen ›Elfenkrieg‹hineinziehen lassen soll, und der König hat es vorgezogen, überhaupt nicht einzugreifen. Es scheint, daß der Entschluß, eine Einheit der alten Garde zu schicken, im Grunde nur eine weitere Kompromißlösung war. Die Angelegenheit wird noch immer diskutiert, aber wir haben nichts mehr gehört.«

Wie Stee Jans vorausgesagt hatte, dachte Andor düster.

»Die Föderation hat ebenfalls eine Botschaft gesandt, Prinz.« Chios’ Lächeln war bitter. »Die Botschaft ist kurz und sachlich. Die Föderation hat es sich zum Prinzip gemacht, sich in die Angelegenheiten anderer Länder und anderer Rassen nicht einzumischen. Wenn durch eine Bedrohung anderer auch die Souveränität ihrer eigenen Staaten in Mitleidenschaft gezogen wird, wird die Föderation handeln. Im Augenblick jedoch scheint es nicht der Fall zu sein. Wir können daher nicht mit der Hilfe der Föderation rechnen, solange die Situation so bestehenbleibt, wie sie ist. «Er breitete die Hände aus. »Nicht völlig unerwartet.«

»Und das Kershalt?« fragte Andor rasch. »Was ist mit den Trollen?«

Chios schüttelte den Kopf.

»Nichts. Ich habe mir erlaubt, einen zweiten Kurier zu senden.«

Andor nickte zustimmend. »Und die Zwerge? «

»Wir sind hier«, meldete sich eine rauhe Stimme. »Zumindest einige von uns.«

Ein bärtiger, untersetzter Zwerg schob sich zwischen den Versammelten hindurch zum ovalen Tisch. Flinke blaue Augen blitzten in einem Gesicht, das verwittert war und von der Sonne gebräunt, und ein Paar knorriger Hände umfaßte den Rand des Tisches.

»Druide.« Der Zwerg nickte Allanon flüchtig zu, dann wandte er sichan Andor. »Mein Name ist Browork, Ältester und Bürger von Culhaven. Ich bin mit einhundert Pionieren hierher geeilt, den Elessedils Beistand zu leisten. Ihr könnt dem Druiden dafür danken. Er traf uns vor einigen Wochen bei der Arbeit an einer Brücke über den Silberfluß und machte uns auf die Gefahr aufmerksam. Allanon ist den Zwergen bekannt, es wurden deshalb keine Fragen gestellt. Wir sandten Botschaft nach Culhaven und marschierten los — zehn Tage Marsch, und ein harter Marsch. Aber wir sind hier.«

Er streckte seine Hand aus, und Andor schüttelte sie mit Wärme.

»Was ist mit den anderen, Browork?« fragte Allanon.

Der Zwerg nickte recht ungeduldig.

»Sie sind inzwischen auch unterwegs, vermute ich. Bis zum Ende der Woche müßtet ihr eigentlich ein Heer von mehreren Tausend hier haben.« Er maß Allanon mit einem mißfälligen Stirnrunzeln. »Inzwischen habt Ihr uns, Druide, und Ihr könnt von Glück sagen. Keiner außer den Pionieren hätte die Rampe da draußen herrichten können.«

»Auf dem Elfitch«, erklärte Chios dem verwunderten Andor hastig. »Browork und seine Pioniere haben mit uns an den Verteidigungsanlagen gearbeitet. Als sie sich den Elfitch ansahen, stellten sie fest, daß man an der fünften Rampe nur ein paar Veränderungen vorzunehmen brauchte, um sie nötigenfalls zum Einsturz zu bringen.«

»Ein Kinderspiel«, behauptete Browork mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wir unterhöhlten den Steinblock, entfernten einige der weniger wichtigen Pfeiler und trieben dann eiserne Keile, die an Ketten festgemacht sind, in die Hauptpfeiler. Die Ketten versteckten wir im Gestrüpp unter der Rampe, führten sie dann auf die Höhe, wo sie über ein System von Flaschenzügen laufen. Wenn die Dämonen die fünfte Rampe erreichen, braucht man nur an den Ketten zu ziehen, die Keile rutschen heraus, und die ganze Rampe stürzt vom fünften Tor aus in die Tiefe. Ganz einfach.«

»Ja, einfach, wenn man die Kenntnisse und Erfahrung eines Zwergenpioniers besitzt, vermute ich.« Andor lächelte. »Ausgezeichnet, Browork. Wir können Euch dringend gebrauchen.«

»Es sind noch andere hier, die Ihr auch braucht.« Allanon legte Andor die Hand auf die Schulter und wies zum anderen Ende des Ovals hin.

Der Elfenprinz blickte in die Richtung. Ein einzelner Elf, der ganz in Leder gekleidet war, trat vor und legte die Hand aufs Herz.

»Dayn, Herr«, sagte der Elf ruhig. »Ich bin ein Himmelsreiter.«

»Ein Himmelsreiter?« wiederholte Andor überrascht. Er hatte von seinem Vater schon von diesen Wesen gehört, die sich selbst als die Luftelfen bezeichneten, doch er hatte die Geschichten fast vergessen, denn in den letzten hundert Jahren war kein Himmelsreiter mehr nach Arborlon gekommen. »Wie viele von euch sind hier?« fragte er schließlich.

»Fünf«, antwortete Dayn. »Wir wären in größerer Zahl gekommen, doch wir fürchten einen Dämonenangriff auf den Rockshort, unseren Heimatort. Mein Vater hat jene geschickt, die hier sind. Wir gehören alle einer Familie an. Der Name meines Vaters ist Herrol.« Er schwieg einen Moment und sah Allanon an. »Es gab eine Zeit, da waren der Druide und er Freunde.«

»Wir sind noch immer Freunde, Himmelsreiter«, versicherte Allanon leise.

Dayn nahm die Worte des Druiden mit einem Nicken zur Kenntnis, dann richtete er den Blick wieder auf Andor.

»Mein Vater fühlt sich den Landelfen stärker verbunden als die meisten seiner Landsleute, Herr, denn die anderen haben fast alle längst die Bande zu den alten Bräuchen und zur alten Herrschaft zerrissen. Und mein Vater weiß, daß Allanon auf seiten der Elessedils steht, und das hat Bedeutung. Deshalb schickt er uns. Er wäre selbst gekommen, wäre nicht sein Rock Genewen abwesend gewesen, der mit dem Sohne meines Bruders Übungsflüge macht, so daß dieser eines Tages ein Himmelsreiter werden wird, wie sein Vater gewesen ist. Immerhin, jene von uns, die hier sind, können Euch vielleicht dienlich sein. Wir können, wenn nötig, über das ganze Westland hinwegfliegen. Wir können die Dämonen suchen, die Euch bedrohen, und Euch über ihre Unternehmungen berichten. Wir können ihre Stärken und Schwächen ausspionieren. Dies wenigstens können wir Euch anbieten.«

»Und dies nehmen wir mit Dankbarkeit an, Dayn.« Andor erwiderte den Gruß des Himmelsreiters. »Seid willkommen.«

Dayn verneigte sich und trat zurück. Andor wandte sich an Chios.

»Sind noch andere gekommen, um sich auf unsere Seite zu stellen, Herr Minister? «

Chios schüttelte langsam den Kopf.

»Nein, Prinz. Das sind alle.«

Andor nickte. »Dann soll es so gut sein.«

Er bedeutete den Versammelten, sich zu ihm an den großen Tisch zu setzen, und es folgte nun eine allgemeine Diskussion über verschiedene Fragen — Aufstellung der Soldaten, Verteilung der Waffen, Taktik und Strategie, Möglichkeiten zusätzlicher Verteidigungsmaßnahmen. Ehlron Tay von den Elfen-Jägern, Kerrin von der Leibgarde und Korold von der Schwarzen Wache berichteten. Browork tat seine Meinung über die bauliche Zuverlässigkeit der Abwehrvorrichtungen kund, und Stee Janswurde darüber befragt, wie man durch taktische Maßnahmen die Überzahl der Dämonen vielleicht ausgleichen könnte. Selbst Dayn sprach kurz über die kämpferischen Fähigkeiten der Rocks und ihren Einsatz im Luftkampf.

Rasch flog die Zeit dahin, und die Nacht glitt davon. Andor war es schwindelig vor Müdigkeit, und seine Gedanken begannen zu wandern. Mitten aus einer dieser Wanderungen riß ihn donnerndes Krachen, als die Tür zum Ratssaal aufflog, und, von den Wachposten flankiert, ein verwirrter Gael erschien. Atemlos stürzte der kleine Elf in den Saal und ließ sich vor Andor auf die Knie fallen.

»Herr!« stieß er keuchend hervor, das Gesicht hochrot vor Erregung. »Herr, der König ist erwacht!«

Andor starrte ihn fassungslos an.

»Er ist wach?«

Dann war er schon auf den Beinen und stürzte aus dem Saal.

In seinem Schlaf war es Eventine Elessedil, als triebe er durch eine Schwärze aus hauchdünnen Fäden, die seinen Körper in einer nahtlosen Decke einhüllten. Er spürte, wie die Fäden ihn einer nach dem anderen umspannten, wie sie sich um ihn legten und eins mit ihm wurden. Zeit und Raum waren nichts; nur die Schwärze war da und das Weben der Fäden. Zu Beginn war es ein warmes, angenehmes Gefühl, voll von Trost und Liebe wie die Umarmung einer Mutter. Dann aber schien die Umarmung enger zu werden, und er bekam keine Luft mehr. Verzweifelt wehrte er sich gegen die Umklammerung, versuchte, sich zu befreien, aber es gelang nicht. Abwärts sank er durch die Schwärze in langsamen Wirbeln, und seine Decke war ein Totenschleier, und er war nicht mehr ein Geschöpf des Lebens, sondern eines des Todes. Voller Entsetzen schlug er in diesem seidenen Gefängnis um sich, riß und zerrte an dem Stoff, aus dem es gewirkt war, bis es plötzlich mit einem Ruck nachgab und verschwunden war.

Grelles, flackerndes Licht blendete ihn flüchtig. Verwirrt, orientierungslos blinzelte er in den blendenden Schein, während er sich mühte, herauszufinden, wo er war. Allmählich begannen die Umrisse eines Zimmers Formen anzunehmen, und er erkannte den Geruch von Öllampen, fühlte die Leintücher und die wollenen Decken, die eng um seinen Körper geschlungen waren. Alles, was in den Augenblicken geschehen war, bevor er das Bewußtsein verloren hatte, wurde in einer Serie von Bildern lebendig, die völlig außer Rand und Band und ohne Zusammenhang vor seinem inneren Auge abliefen — das Grimmzacken-Gebirge; das Halys-Joch und der Angriff der Dämonen aus den Tiefen wogenden Nebels; Reihen von Bogenschützen, Lanzern und Pikenieren, die zu seinen Füßen warteten; Schmerzens- und Todesschreie; dunkle Leiber, die sich ihm durch eine Mauer blauen Feuers entgegenwarfen; Allanon, Andor, das Blitzen von Waffen, dann ein plötzlicher Schlag.

Er zuckte heftig zusammen, und der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Unerwartet erkannte er das Zimmer, in dem er sich befand, mit einer plötzlichen Schärfe — es war sein Schlafgemach im Herrenhaus in Arborlon —, und er gewahrte eine Gestalt, die sich ihm näherte.

»Herr?« Gaels besorgte Stimme drang an sein Ohr, und das junge Gesicht neigte sich tief zu ihm hinunter. »Herr, seid Ihr wach?«

»Was ist geschehen?« murmelte der König, und seine Stimme war so heiser, daß er sie kaum wiedererkannte.

»Ihr wurdet verwundet, Herr — am Halys-Joch. Durch einen Schlag, der Euch hier getroffen hat.« Der Elf wies auf die linke Schläfe des Königs. »Seitdem seid Ihr bewußtlos gewesen. Herr, wir haben uns solche Sorgen gemacht…«

»Wie lange — habe ich geschlafen?« fragte er. Er hob die Hand, um seinen Kopf zu berühren, und der Schmerz fuhr ihm wie eine Stichflamme durch den Hals.

»Sieben Tage, Herr!«

»Sieben Tage!«

Gael trat vom Lager zurück.

»Ich hole Euren Sohn, Herr.«

Sein Kopf dröhnte. »Meinen Sohn?«

»Prinz Andor, Herr.« Der junge Elf war schon auf dem Weg zur Tür. »Er ist im Hohen Rat. Legt Euch wieder nieder — ich bringe ihn sogleich her.«

Eventine sah, wie der junge Elf die Tür aufriß, und hörte, wie er kurz mit jemandem im Flur sprach, und dann schloß sich die Tür schon wieder, und er hörte und sah nichts mehr. Er versuchte, sich aufzurichten, aber die Anstrengung war zu groß. Schwach fiel er wieder zurück in die Kissen. Andor? Hatte Gael gesagt, daß Andor im Hohen Rat war? Wo war Arion? Dunkle Vorahnungen trübten seinen Sinn, und eine Flut von Fragen stürzte auf ihn ein. Was tat er hier in Arborlon? Was war dem Heer der Elfen widerfahren? Was war aus ihrer Verteidigung des Sarandanon geworden?

Wieder wollte er sich aufrichten, wieder sank er in die Kissen zurück. Eine Welle der Übelkeit schüttelte ihn. Er fühlte sich plötzlich alt, so als wäre die Zahl seiner Jahre eine Krankheit, die ihn ausgezehrt hatte. Er biß die Zähne zusammen. Ach, daß er nur fünf Minuten seiner Jugend zurückhaben könnte, um ihm Kraft genug zu geben, von diesem Lager aufzustehen! Zorn und eiserne Willenskraft verliehen ihm Kraft, und er schob sich aus seinen Kissen hoch, bis er halb aufgerichtet lag. Sein Atem kam in angestrengten Stößen.

Auf der anderen Seite des Zimmers hob Manx den zottigen grauen Kopf. Der König öffnete den Mund, um den alten Wolfshund zu sich zu rufen. Doch plötzlich trafen die Augen des Hundes die seinen, und die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Haß brannte in diesen Augen — ein Haß, so kalt, daß er Eventine frösteln machte wie der Hauch des Winters. Ungläubig starrte er den Hund an, während er gegen das Gefühl des Abscheus kämpfte, das in ihm aufwallte. Manx? Was glaubt er denn!

Er zwang sich, den Blick abzuwenden, in eine andere Richtung zu blicken, auf die Wände und ihre Behänge, auf die Möbelstücke, auf die Vorhänge, die die Fenster verbargen. Mit klopfendem Herzen versuchte er, Ruhe und Fassung wiederzufinden, und vermochte es nicht. Ich bin allein, dachte er plötzlich, und Angst überfiel ihn. Allein! Wieder wanderte sein Blick zu Manx. Die Augen des Wolfshundes fixierten ihn, verbargen, verschleiert jetzt, was kurz zuvor so offenkundig gewesen war. Oder hatte er es sich eingebildet? Er beobachtete den alten Hund, als dieser aufstand, sich einmal umdrehte und wieder niederlegte. Warum kommt er nicht zu mir, fragte sich der König. Warum kommt er nicht ?

Er ließ sich wieder tief in die Kissen gleiten. Was sage ich da? Flüsternd gingen ihm die Worte durch den Sinn, und er sah den Wahnsinn, der ihn zu übermannen drohte. Wie konnte er Haß in den Augen eines Tieres sehen, das ihm jahrelang treu ergeben war? Wie konnte er in Manx einen Feind sehen, vor dem er sich fürchten mußte ? Was war nur mit ihm los ?

Vom Korridor her drangen Stimmen in das Zimmer. Dann öffnete sich die Tür, schloß sich wieder, und Andor eilte an sein Lager, neigte sich zu ihm hinunter und drückte ihn an sich. Der König umfing seinen Sohn mit beiden Armen, dann aber löste er sich von ihm und blickte Andor forschend ins Gesicht, als dieser sich auf dem Rand des Bettes niederließ.

»Erzähl mir, was geschehen ist«, befahl Eventine mit leiser Stimme. Er bemerkte ein Flackern in den Augen seines Sohnes, und eine plötzliche eisige Angst durchzuckte ihn. Er mußte sich zwingen, die Frage über die Lippen zu bringen. »Wo ist Arion? «

Andor wollte sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Stumm starrte er seinen Vater an. Eventines Gesicht erstarrte.

»Ist er tot?«

Andors Stimme war ein Flüstern.

»Am Spindelpaß.«

Er schien mehr sagen zu wollen, doch es gelang ihm nicht, und er begnügte sich mit einem stummen Kopfschütteln. Eventines Augen füllten sich mit Tränen, und seine Hände zitterten, als er den Arm seines Sohnes umfaßte.

»Arion ist tot?« Er sprach die Worte aus, als seien sie eine Lüge.

Andor nickte und wandte den Blick ab.

»Und Kael Pindanon auch.«

Bestürztes Schweigen folgte auf diese Worte. Die Hände des Königs sanken herab.

»Und das Sarandanon?«

»Verloren.«

Wortlos starrten sie einander an, so als hätten sie ein beängstigendes Geheimnis miteinander geteilt, das niemals hätte verraten werden sollen. Dann beugte sich Andor nochmals über seinen Vater und zog ihn an sich. Lange Zeit hielten sie einander schweigend umschlungen. Als der König schließlich sprach, war seine Stimme tonlos und ohne Gefühl.

»Berichte mir von Arion. Alles. Laß nichts aus.«

Andor erzählte. Leise berichtete er, wie sein Bruder gestorben war, wie sie ihn aus dem Grimmzacken-Gebirge ins Sarandanon-Tal hinuntergetragen hatten, um ihn am Baen Draw nach dem Brauch zu bestatten. Dann sprach er von allem, was den Elfen seit jenem ersten Tag der Schlacht am Halys-Joch widerfahren war. Eventine lauschte und schwieg. Als Andor geendet hatte, starrte er leeren Blicks in das flackernde Licht der Öllampe. Dann richtete er den Blick auf seinen Sohn.

»Geh zurück zu der Sitzung im Hohen Rat, Andor. Tu, was getan werden muß.« Er mußte innehalten, weil ihm die Stimme brach. »Geh. Ich komme schon zurecht.«

Andor sah ihn unsicher an.

»Ich kann Gael bitten, zu dir zu kommen.«

Der König schüttelte den Kopf.

»Nein. Jetzt nicht. Ich möchte nur —« Er brach ab, schluckte die Worte hinunter, die er hatte sagen wollen. Mit einer Hand umspannte er fest den Arm seines Sohnes. »Ich bin — sehr stolz auf dich, Andor. Ich weiß, wie schwierig…«

Andor nickte stumm. Er umschloß die Hände seines Vaters mit seinen eigenen.

»Gael ist draußen im Flur, falls du ihn brauchst.«

Dann stand er auf und ging zur Tür. Seine Hand lag schon auf der Klinke, als Eventine mit seltsam dringlicher Stimme noch einmal nach ihm rief.

»Nimm Manx mit dir hinaus.«

Andor blieb stehen, warf dem alten Wolfshund einen Blick zu, pfiff ihn an seine Seite und führte ihn hinaus. Leise schloß er die Tür hinter sich.

Wieder allein, wahrhaftig allein diesmal, streckte sich der König der Elfen auf seinen Kissen aus und ließ sich von der Ungeheuerlichkeit all dessen, was geschehen war, überfluten. In wenig mehr als sieben Tagen war das beste Heer in den Vier Ländern wie eine Viehherde, die von Wölfen gejagt wird, durch ihr eigenes Heimatland getrieben worden — vom Grimmzacken-Gebirge, durch das Sarandanon zurück in die Hauptstadt, um dort dem Feind in einer letzten, alles entscheidenden Schlacht gegenüberzutreten. Irgendwo in seinem Inneren quälte ihn ein schreckliches Gefühl des Versagens. Er hatte dies alles geschehen lassen. Er war dafür verantwortlich.

»Arion«, flüsterte er plötzlich, und die Tränen traten ihm wieder in die Augen. Er ließ den Tränen freien Lauf.

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