Gerade erst war die Sonne hinter dem Horizont emporgetaucht, als Andor Elessedil aus der Tür seines kleinen Hauses trat und den Fußpfad hinaufschritt zum eisernen Tor des Schloßparks. Als zweiter Sohn Eventines, des Königs der Elfen, hatte er im königlichen Palast leben können; doch vor Jahren schon hatte er sich mit seinen Büchern in das kleine Haus zurückgezogen und sich auf diese Weise ein Leben der Ruhe und Ungestörtheit gesichert, das ihm im Palast nicht vergönnt gewesen wäre. Zumindest hatte er das damals geglaubt. Jetzt war er davon nicht mehr so überzeugt; da die Aufmerksamkeit seines Vaters nahezu ausschließlich dem Ältesten, Arion, galt, hätte Andor wahrscheinlich auch im Palast ungestört seinen Neigungen leben können. Er atmete die frische und frühe Wärme der Morgenluft und lächelte flüchtig. Ein idealer Tag für einen Ausritt. Die Bewegung würde ihm und dem Pferd gut tun. Er zählte vierzig an Jahren, kein junger Mann mehr. Das magere Elfengesicht durchzogen kleine Fältchen an den Winkeln der schmalen Augen, und die scharfkantige Stirn durchschnitt eine tiefe Furche; doch sein Schritt war leicht und schnell, und seine Züge beinahe jungenhaft, wenn er lächelte — wenn das auch dieser Tage selten vorkam.
Als er sich dem Tor näherte, sah er Went, den alten Gärtner, schon bei der Arbeit. Eine kleine Hacke in der Hand stand er, dürr und betagt, über eines der Blumenbeete gebeugt. Als er Andor herannahen hörte, richtete er sich mühsam auf, und eine Hand griff zum Rücken.
»Guten Morgen, Prinz. Ein schöner Tag, nicht?«
Andor nickte. »Ein herrlicher Tag, Went. Bereitet der Rücken noch immer Kummer?«
»Hin und wieder.« Der alte Mann rieb sich vorsichtig über den Rücken. »Man wird eben alt. Aber mit den Jungen, die mir als Helfer zugeteilt werden, kann ich’s immer noch aufnehmen.«
Wieder nickte Andor. Er wußte, daß diese prahlerisch klingenden Worte des Alten der schlichten Wahrheit entsprachen. Schon vor Jahren hätte Went in den Ruhestand gehen sollen, doch er hatte sich hartnäckig geweigert, seine Arbeit aufzugeben.
Die Wachposten nickten grüßend, als Andor durch das Tor schritt, und er erwiderte den Gruß. Lange schon hatten die Wachen und er beschlossen, auf Formalitäten zu verzichten. Arion, der Kronprinz, mochte darauf bestehen, mit ehrfürchtigem Respekt behandelt zu werden; Andor, von niedrigerem Rang, gab sich auch mit weniger zufrieden.
Er schlenderte die Straße entlang, die sich hinter einigen Zierbüschen nach links wand, den Stallungen entgegen. Das Donnern von Hufen und ein lauter Ruf zerrissen plötzlich die morgendliche Stille. Andor sprang zur Seite, als Arions grauer Hengst ihm entgegenflog, daß der Kies aufspritzte. Wiehernd bäumte das Tier sich auf und stand.
Noch bevor das Pferd ganz zur Ruhe gekommen war, sprang Arion aus dem Sattel und trat vor seinen Bruder hin. Blond und hochgewachsenstand er dem kleinen, dunklen Andor gegenüber, und seine Ähnlichkeit mit ihrem Vater, als dieser im gleichen Alter gewesen war, war unverkennbar. Es nahm daher nicht wunder, daß er, der außerdem noch ein hervorragender Athlet, ein glänzender Reiter und Jäger war, ein Meister im Umgang mit Waffen jeglicher Art, daß er also Eventines ganzer Stolz und helle Freude war. Hinzu kam, daß von ihm eine Ausstrahlung ausging, deren Zauber sich kaum jemand entziehen konnte.
»Wohin, Brüderchen?« fragte er jetzt. Fast immer, wenn er mit seinem jüngeren Bruder sprach, lag in seiner Stimme ein feiner Anflug von Spott und Verachtung. »Ich würde Vater jetzt an deiner Stelle nicht stören. Er und ich haben gestern bis in die tiefe Nacht hinein über Staatsangelegenheiten beraten, die ziemlich dringend waren. Als ich eben bei ihm hineinschaute, schlief er noch.«
»Ich wollte zu den Stallungen«, versetzte Andor ruhig. »Ich hatte nicht die Absicht, irgend jemanden zu stören.«
Arion lächelte überlegen und trat wieder zu seinem Pferd. Eine Hand auf den Sattelknauf gelegt, schwang er sich geschmeidig auf den Rücken des Tieres, ohne den Steigbügel zu benutzen. Dann drehte er sich leicht zur Seite und blickte zu seinem Bruder hinunter.
»Ich muß für ein paar Tage ins Sarandanon. Die Bauern dort sind ganz aus dem Häuschen—wegen irgendeines alten Märchens, nach dem uns allen schreckliches Unheil drohe. Das ist natürlich der blanke Unsinn, aber ich muß hin, um die guten Leute wieder zu beruhigen. Mach dir nur keine Hoffnungen. Bevor Vater nach Kershalt aufbricht, bin ich wieder zurück.« Er lachte. »Inzwischen kannst du ja hier nach dem Rechten sehen, hm, Brüderchen?«
Mit leichter Hand zog er flüchtig am Zügel und preschte los, hinaus durch das Tor und auf und davon. Andor stieß eine unterdrückte Verwünschung aus und machte kehrt. Die Lust auf einen Ausritt war ihm vergangen.
Nicht von Arion, sondern von ihm hätte sich der König nach Kershalt begleiten lassen sollen. Die Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Trollen und den Elfen war eine äußerst wichtige Aufgabe. Zwar war das Fundament schon gelegt, doch der Ausbau der Beziehungen würde weiterhin viel Diplomatie und geschicktes Verhandeln erfordern. Arion war zu ungeduldig und zu unbekümmert, den Bedürfnissen und Vorstellungen anderer gegenüber nicht offen genug. Andor fehlten die körperliche Gewandtheit seines Bruders — auch wenn er beileibe nicht schwerfällig war — und Arions natürliche Gabe, andere zu führen. Doch er verfügte über Besonnenheit und Urteilsvermögen sowie über die Geduld und die Einfühlungskraft, die in der Diplomatie vonnöten waren. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen man ihn hinzugezogen hatte, konnte er diese Fähigkeiten hinreichend unter Beweis stellen.
Er zuckte mit den Schultern. Es hatte keinen Sinn, noch länger bei dieser Sache zu verweilen. Er hatte den König bereits gebeten, ihn auf dieser Reise begleiten zu dürfen, und war abgewiesen worden. Der Vater hatte Arion den Vorzug gegeben. Arion würde eines Tages König werden; er mußte sich die notwendige Praxis in der Staatsführung aneignen, solange Eventine noch am Leben war und ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Und das war vielleicht ganz vernünftig so, dachte Andor.
Früher einmal hatten er und Arion einander sehr nahe gestanden. Damals hatte Aine noch gelebt — Aine, der jüngste der Elessedil-Söhne. Doch Aine war vor elf Jahren bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen, und danach hatten die Bande des Blutes für den Zusammenhalt nicht mehr ausgereicht. Amberle, Aines kleine Tochter, hatte bei Andor Hilfe gesucht, nicht bei Arion, und die Eifersucht desÄlteren war bald in offene Verachtung umgeschlagen. Als Amberle dann die Aufgaben, die ihr als Erwählte des Ellcrys oblagen, einfach im Stich gelassen hatte, schrieb Arion seinem Bruder die Schuld daran zu, und seine Verachtung hatte sich zu kaum verhohlener Feindseligkeit gesteigert. Andor vermutete, daß er auch beim Vater gegen ihn intrigierte. Doch er hatte keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.
Tief in Gedanken schritt er durch das Tor und schlug den Fußweg zu seinem kleinen Haus ein, als ein lauter Ruf ihn aus seiner Versonnenheit riß.
»Herr! Prinz Andor! Wartet!«
Überrascht blickte Andor der weißgewandeten Gestalt entgegen, die mit wild wedelnden Armen auf ihn zugelaufen kam. Es war einer der Erwählten, der rothaarige — hieß er nicht Lauren? Höchst ungewöhnlich, daß einer der jungen Männer sich zu dieser Stunde außerhalb der Gärten des Lebens aufhielt. Er wartete, bis der junge Elf ihn erreichte und mit schweißnassem Gesicht schwankend vor ihm zum Stehen kam.
»Herr, ich muß den König sprechen«, stieß der Junge atemlos hervor, »aber die Wache läßt mich nicht vor. Könnt Ihr mich gleich jetzt zu ihm bringen?«
Andor zögerte. »Der König schläft noch …«
»Ich muß ihn aber auf der Stelle sprechen!« beharrte der andere. »Bitte! Diese Sache kann nicht warten.«
Verzweiflung spiegelte sich in seinen Augen und in seinem angestrengten, weißen Gesicht. Die Stimme überschlug sich in seinem Bemühen, dem Prinzen klarzumachen, wie dringend sein Anliegen war und keinen Aufschub duldete.
Andor überlegte, fragte sich, was denn von solcher Wichtigkeit sein könnte.
»Wenn du in Schwierigkeiten bist, Lauren, kann ich vielleicht —«
»Es geht nicht um mich, Herr! Es geht um den Ellcrys!«
Da gab es für Andor kein Zaudern mehr. Er nickte und nahm Lauren beim Arm.
»Komm mit mir!«
Gemeinsam eilten sie zum Herrenhaus, während die Wachen ihnen verwundert nachblickten.
Gael, der junge Leibdiener des Königs Eventine Elessedil, schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf — auch wenn der schlanke Körper unter dem dunklen Morgengewand sich förmlich krümmte vor Unbehagen, und seine Augen denen Andors nicht begegnen wollten.
»Ich kann den König nicht wecken, Prinz Andor. Er befahl mir — sehr nachdrücklich —, ihn auf keinen Fall zu stören.«
»Willst du mir allen Ernstes sagen, daß ich meinen Vater nicht sprechen kann?«
Gael antwortete nicht. Als Andor Anstalten machte, auf das Schlafgemach des Königs zuzugehen, eilte der junge Elf an ihm vorbei.
»Ich werde ihn wecken. Bitte wartet hier.«
Es dauerte ein paar Minuten, bis er wieder erschien. Sein Gesicht war noch voller Besorgnis, doch er nickte Andor zu.
»Er erwartet Euch, Prinz Andor. Aber nur Euch allein.«
Der König lag noch in seinem Bett, als Andor eintrat, und leerte gerade das Glas Wein, das Gael ihm offenbar eingeschenkt hatte. Er nickte seinem Sohn zu, dann streifte er mit leichtem Zaudern die warmen Bettdecken ab. Sein alter Körper fröstelte in der frühmorgendlichen Kühle des Raumes. Gael, der mit Andor eingetreten war, reichte dem König einen Morgenrock. Eventine schlüpfte hinein und gürtete das Gewand fest um die Körpermitte.
Trotz seiner zweiundachtzig Jahre war Eventine Elessedil bei ausgezeichneter Gesundheit. Sein Körper war straff und beinahe noch jugendlich muskulös. Er war immer noch ein guter Reiter, mit dem Schwert noch immer so schnell und sicher, daß seine Gegner ihn fürchteten. Sein Geist war scharf und wach; wenn die Situation es verlangte, wie das häufig vorkam, konnte er mit schneller Entschlossenheit handeln. Er besaß noch immer ein stark ausgeprägtes Gefühl für Ausgewogenheit und gesunde Proportionen — die Fähigkeit, alle Aspekte einer strittigen Frage klar zu sehen, jeden sachlich zu beurteilen und sich schließlich für jenen zu entscheiden, der seinem Volk und ihm selbst den größten Nutzen versprach. Ohne diese Gabe hätte er nicht König bleiben können — er wäre wahrscheinlich nicht einmal am Leben geblieben. Andor war ziemlich sicher, daß er diese Gabe von seinem Vater geerbt hatte, wenn sie ihm auch in seiner augenblicklichen Situation wertlos zu sein schien.
Der König zog die handgewebten Vorhänge, die eine ganze Wand des Raumes verhüllten, auseinander und öffnete die hohen Fenstertüren, die zum Wald hinausblickten. Weiches, mildes Licht flutete ins Zimmer, und der süße Geruch des Frühtaus strömte herein. Im Rücken des Königs eilteGael lautlos durch das Gemach und entzündete die Öllampen, um die dunklen Schatten der Nacht aus Ecken und Nischen zu vertreiben.
Vor einem der Fenster verharrte Eventine und blickte einen Moment lang unverwandt auf das Spiegelbild seines Gesichtes im leicht beschlagenen Glas. Die Augen, die ihm entgegenblickten, waren von einem auffallend leuchtenden Blau, aber hart und durchdringend, die Augen eines Mannes, der in seinem Leben allzuviel Unerfreuliches gesehen hatte. Seufzend wandte er sich an Andor.
»Also, Andor, was gibt es? Gael sagte, du seist mit einem der Erwählten gekommen, der mir etwas mitzuteilen hätte.«
»Ja, Vater. Er behauptet, eine dringende Botschaft vom Ellcrys zu überbringen.«
»Eine Botschaft von dem Baum?« Eventine runzelte die Stirn.
»Wie lange ist es her, seit er das letzte Mal einem Menschen eine Botschaft aufgetragen hat — sind es nicht schon mehr als siebenhundert Jahre? Wie lautet denn die Botschaft?«
»Das wollte er mir nicht sagen«, antwortete Andor. »Er will es nur Euch mitteilen.«
Eventine nickte. »Gut, dann soll er seine Botschaft bringen. Führ ihn herein, Gael.«
Gael verneigte sich und eilte hinaus, ohne die Tür des Schlafgemachs hinter sich zu schließen. Kaum war er gegangen, da stieß ein großer, zottiger Hund die Tür auf und trottete zum König hinüber. Es war Manx, sein Wolfshund, und er begrüßte das Tier liebevoll, indem er ihm den grauen Kopf kraulte und mit weicher Hand sacht über das struppige Fell an Rücken und Flanken strich. Seit über zehn Jahren begleitete Manx ihn auf allen seinen Wegen, stand ihm näher und war ihm treuer, als irgendein Mensch es je hätte sein können.
»Er wird auch schon grau — genau wie ich«, murmelte Eventine mit stiller Wehmut.
Sekunden später flog die Tür auf, und Gael trat ein, gefolgt von Lauren. Der junge Mann blieb einen Augenblick unter der Tür stehen und warf einen unsicheren Blick auf Gael. Der König nickte seinem Leibdiener zu, zum Zeichen, daß er entlassen war. Auch Andor wollte gehen, doch ein Wink seines Vaters gab ihm zu verstehen, daß er bleiben solle. Gael verneigte sich ehrerbietig und zog sich wieder zurück. Diesmal schloß er die Tür fest hinter sich. Als er gegangen war, trat der junge Erwählte einen Schritt näher.
»Herr, bitte verzeiht — sie waren der Meinung, daß ich — daß ich zu Euch gehen sollte…« Er hatte Mühe, die Worte hervorzubringen.
»Es gibt nichts zu verzeihen«, beschwichtigte ihn Eventine. Mit einer Herzlichkeit, die Andor wohlbekannt war, ging der König raschen Schrittes auf den jungen Mann zu und legte ihm den Arm um die Schultern. »Ich weiß, daß diese Sache dir sehr wichtig sein muß, sonst hättest du deine Pflicht in den Gärten des Lebens sicher nicht im Stich gelassen. Hier, setz dich und berichte mir.«
Er warf einen fragenden Blick auf Andor, bevor er den jungen Mann zu einem kleinen Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers geleitete. Er bedeutete ihm, in einem der Sessel Platz zu nehmen, und ließ sich selbst in dem anderen nieder. Andor folgte ihnen in die Schreibecke, blieb jedoch stehen.
»Du heißt Lauren, nicht wahr?« fragte Eventine den Erwählten.
»Ja, Herr.«
»Gut, Lauren, dann berichte mir nun, weshalb du zu mir geeilt bist.«
Lauren straffte die Schultern und legte seine Hände fest gefaltet auf den Tisch.
»Herr, der Ellcrys hat heute morgen zu den Erwählten gesprochen.« Seine Worte glichen eher einem Flüstern. »Er sagte uns —er sagte uns, daß er bald sterben wird …«
Andor spürte, wie ein eisiger Schauer ihn durchrann. Einen Moment lang schwieg der König, er saß da wie erstarrt, den Blick unverwandt auf den jungen Mann gerichtet.
»Da muß ein Mißverständnis vorliegen«, bemerkte er schließlich.
Lauren schüttelte mit heftigem Nachdruck den Kopf.
»Nein Herr, es ist kein Mißverständnis. Der Baum hat zu allen von uns gesprochen. Wir —wir haben es alle deutlich vernommen. Er stirbt. Der Bann der Verfemung fängt schon an abzubröckeln.«
Sehr langsam erhob sich der König und ging zum offenen Fenster hinüber. Wortlos starrte er in den Wald hinaus. Manx, der sich am Fuß des Bettes zusammengerollt hatte, sprang auf und folgte ihm. Andor sah, wie die Hand des Königs zum Kopf des Hundes wanderte, um ihm gedankenverloren das Fell zu kraulen.
»Bist du ganz sicher, Lauren?« fragte Eventine. »Bist du wirklich sicher?«
»Ja.-Ja!«
Der Junge saß immer noch am Tisch, das Gesicht in die Hände vergraben, und weinte leise, beinahe lautlos vor sich hin. Eventine blickte weiterhin wie geistesabwesend in das Grün der Wälder, die sein und seines Volkes Heimat waren.
Andor war innerlich wie zu Eis erstarrt, sein Geist noch immer verstört vom Schock der Botschaft. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was er gehört hatte, drang nur langsam in sein Bewußtsein. Der Ellcrys war dem Tode nahe! Der Bannspruch würde seine Wirkung verlieren. Die bösen Mächte, die in Fesseln gelegt worden waren, würden wieder frei sein. Das bedeutete Chaos, Wahnsinn, Krieg! Und am Ende die totale Zerstörung.
Er hatte die Geschichte seines Volkes unter Anleitung seiner Lehrer studiert und sie in den Büchern seiner Bibliothek nachgelesen. Es war eine Geschichte, die von Legenden umrankt war.
In uralter Zeit, noch vor den Großen Kriegen, vor dem Morgengrauen der Zivilisation in der alten Welt, ja, noch vor dem Auftauchen der alten Rasse- der Menschen, hatte zwischen den guten und den bösen Mächten ein erbitterter Kampf getobt. Die Elfen hatten in diesem Ringen auf Seiten des Guten gestritten. Es war ein langer, schrecklicher, alles verheerender Kampf gewesen. Am Ende jedoch hatten die Mächte des Guten obsiegt und das Böse niedergerungen. Doch das Böse war von solcher Natur, daß es nicht vernichtet werden konnte; es konnte nur verbannt werden. Darum vereinigten das Elfenvolk und seine Verbündeten ihre magischen Kräfte mit der Lebenskraft der Erde selbst, um den Ellcrys zu schaffen und durch sein Dasein einen Bann der Verfemung über die Geschöpfe des Bösen zu verhängen. Solange der Ellcrys lebte und gedieh, konnte das Böse nicht auf die Erde zurückkehren. Eingeschlossen in das Nichts der Finsternis mochte es hinter den Mauern des Bannspruchs heulen und wimmern, die Erde war ihm unerreichbar.
Bis zu diesem Tag hatte diese Gewähr gegolten! Doch wenn der Ellcrys siechte, dann war auch der Bannspruch aufgehoben. Es stand geschrieben, daß dies eines Tages geschehen würde, denn es gab keine Macht, die so stark war, daß sie ewig dauern konnte. Und doch hatte es den Anschein gehabt, als würde der Ellcrys niemals vergehen. Schon so viele Generationen lang stand er an seinem Platz in den Gärten des Lebens, unverändert, ein fester Punkt im wechselvollen Wellenschlag des Lebens. Allmählich hatte sich in den Elfen die Überzeugung festgesetzt, daß es immer so bleiben würde. Aber das, so schien es jetzt, war ein törichter Irrtum gewesen.
Mit einer ruckartigen Bewegung wandte der König sich um, warf einen kurzen Blick auf Andor und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Dort setzte er sich wieder nieder und umschloß Laurens Hände mit den seinen, um den Jungen zu beruhigen.
»Du mußt mir alles erzählen, was genau der Baum zu dir gesagt hat, Lauren. Jede Einzelheit. Du darfst nichts auslassen.«
Der junge Mann nickte wortlos. Die Tränen waren versiegt, seine Züge wieder ruhig und gelassener.
Eventine ließ seine Hände los und lehnte sich erwartungsvoll zurück. Andor holte sich einen hochlehnigen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen.
»Herr, Ihr wißt, auf welche Art der Baum zu uns spricht?« fragte Lauren vorsichtig.
»Auch ich war einmal ein Erwählter, Lauren«, antwortete Eventine.
Andor blickte seinen Vater überrascht an. Das hatte er bisher nicht gewußt. Lauren jedoch schien diese Enthüllung Vertrauen einzuflößen. Er nickte und wandte sich an Andor, um ihm die Sprache des Baumes zu erklären.
»Seine Stimme ist keine Stimme in dem Sinn, daß man sie hören kann. Er spricht vielmehr in Bildern, die vor unserem geistigen Auge auftauchen. Worte als solche kommen höchst selten vor; die Wörter sindunsere Übersetzung der Bilder und Gedanken, die der Baum ausstrahlt. Die Bilder kommen und gehen sehr rasch und sind meist nicht sehr klar gezeichnet. Wir müssen versuchen, sie so gut wie möglich zu interpretieren.«
Er schwieg einen Moment lang und wandte sich wieder an Eventine.
»Ich — der Ellcrys hat vorher nur ein einziges Mal zu mir gesprochen, Herr. Damals, als er mich mit den anderen erwählte. Das, was wir über seine Art, sich mitzuteilen, wußten, hatten wir einzig den Schriften unseres Ordens und den Lehren der Erwählten, die vor uns dem Baum gedient haben, entnommen. Und obwohl der Ellcrys jetzt selbst zu uns gesprochen hat, ist das alles immer noch sehr verwirrend.«
Eventine nickte ermutigend, und Lauren fuhr in seiner Botschaft fort.
»Herr, der Ellcrys hat heute morgen sehr lange zu uns gesprochen. Nie zuvor hat er das getan. Er rief uns zu sich und sagte uns, was werden würde, und was wir, die Erwählten, zu tun hätten. Die Bilder waren nicht sehr deutlich, doch es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Baum stirbt. Er hat nur noch eine kurze Lebensspanne; wieviel Zeit ihm noch bleibt, ist ungewiß. Der Verfall hat schon begonnen. Und in dem Maße, wie der Baum dahinsiecht, verfällt auch der Bann der Verfemung. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit der Rettung — die Wiedergeburt des Baumes.«
Hastig umfaßte Eventine die Hand des jungen Mannes. Auch Andor, betäubt und verwirrt von der Todesprophezeiung des Ellcrys, war diese Möglichkeit entfallen. Die Wiedergeburt, davon berichteten die ältesten Geschichtsbücher, daß der Ellcrys wiedergeboren und der Bann auf diese Weise aufrechterhalten werden konnte.
»Dann dürfen wir noch hoffen«, flüsterte er.
Eventines Augen waren auf Lauren geheftet.
»Was muß geschehen, um diese Wiedergeburt herbeizuführen?«
Lauren schüttelte den Kopf.
»Herr, der Baum hat sein Schicksal in die Hände der Erwählten gelegt.
Nur durch uns kann eine Wiedergeburt erfolgen. Ich kann die Gründe des Baumes hierfür nicht verstehen, doch die Bilder waren klar. Der Ellcrys wird einem von uns sein Samenkorn geben — welchem von uns, sagte er nicht. Es zeigte sich kein Gesicht. Doch es war ganz deutlich, daß nur einer der Erwählten, die das letztemal von ihm erkoren wurden, das Samenkorn empfangen kann. Niemand sonst kommt in Betracht. Derjenige, den der Baum ausersieht, muß das Samenkorn zum Lebensquell der Erde tragen, zum Blutfeuer-Brunnen. Dort muß das Samenkorn in das Feuer eingetaucht werden. Wenn das geschehen ist, muß es dorthin zurückgebracht werden, wo der alte Baum steht. Es wird dann Wurzeln schlagen, und ein neuer Baum wird daraus erwachsen und den Platz des alten einnehmen.«
Einzelheiten der Legende fielen Andor jetzt wieder ein — die Hervorbringung des Samenkorns, seine Weihe durch das Ritual am Blutfeuer-Brunnen, die Wiedergeburt. All diese Einzelheiten hatten die alten Gelehrten in der merkwürdigen, formalen Sprache jener Zeiten aufgezeichnet. Die meisten Elfen hatten diese uralten Geschichten längst vergessen oder sie nie gekannt.
»Und wo ist dieser Blutfeuer-Brunnen zu finden?« fragte der König unvermittelt.
Lauren sah ihn mit unglücklicher Miene an.
»Der Baum zeigte uns einen Ort, Herr, aber- aber wir konnten ihn nicht erkennen. Die Bilder waren zu schemenhaft, es schien beinahe so, als könne der Baum selbst den Ort nicht richtig beschreiben.«
Eventines Stimme blieb ruhig.
»Dann berichte mir, was euch gezeigt wurde. Ganz genau.«
Lauren nickte. »Es war eine Wildnis, die rundum von Bergen und Sümpfen eingeschlossen war. Nebelschwaden trieben darüber hin, die bald dichter wurden, bald sich lichteten. In dieser Wildnis ragte ein einsamer Berggipfel empor, und im Herzen dieses Berges schlängelte sich ein Gewirr von unterirdischen Gängen, die bis in die Tiefe der Erde reichten. Irgendwo in diesem Labyrinth gähnte eine Tür aus Glas — aus einem unzerbrechlichen Glas. Und hinter dieser Tür loderte der Blutfeuer-Brunnen.«
»Und Namen gibt es nicht für die einzelnen Teile dieses Rätsels?« erkundigte sich der König geduldig.
»Nur einen, Herr. Aber es war ein Name, der uns nicht bekannt war. Das Labyrinth, in dem der Blutfeuer-Brunnen verborgen liegt, heißt offenbar Sichermal.«
Sichermal? Andor überlegte angestrengt, doch der Name wollte ihm nichts sagen.
Eventine blickte Andor an und schüttelte sein greises Haupt. Er erhob sich, tat ein paar Schritte, blieb dann plötzlich stehen. Er wandte sich wieder an Lauren.
»Ist euch sonst noch etwas gesagt worden? Habt ihr sonst kein Zeichen bekommen?«
»Nichts. Das war alles.«
Der König nickte dem jungen Elf bedächtig zu.
»Gut, Lauren. Du hast recht getan, daß du damit sofort zu mir geeilt bist. Würdest du jetzt einen Augenblick draußen warten?«
Als die Tür sich hinter dem jungen Erwählten geschlossen hatte, kehrte Eventine zu seinem Sessel zurück und sank schwerfällig hinein. Sein Gesicht schien um Jahrzehnte gealtert, und seine Bewegungen glichen denen eines uralten Mannes. Manx trottete zu ihm und blickte aus mitfühlenden Augen zu ihm auf. Eventine seufzte und strich dem Hund müde über den Kopf.
»Habe ich zu lange gelebt?« murmelte er. »Wenn der Ellcrys stirbt, wie kann ich dann mein Volk vor dem beschützen, was geschehen wird? Ich bin der König der Elfen; ich bin für ihren Schutz und ihre Sicherheit verantwortlich. Das habe ich immer akzeptiert. Doch jetzt, zum erstenmal in meinem Leben, wünschte ich, es wäre anders …«
Er wandte den Kopf, um seinen Blick auf Andor zu richten.
»Nun, wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht. Da Arion ins Sarandanon gereist ist, werde ich deiner Hilfe bedürfen.« Andor errötete bei diesem unbeabsichtigten Hinweis darauf, daß er für den König nur an zweiter Stelle stand. »Begleite Lauren und befrage die Erwählten mit aller Sorgfalt. Vielleicht vermagst du noch etwas zu erfahren. Ich lasse mir inzwischen die alten Geschichtsbücher heraufholen und forsche darin.«
»Glaubst du, daß sich dort etwas findet — oder vielleicht in den alten Weltkarten?« fragte Andor zweifelnd.
»Nein. Es ist lange her, daß ich sie studiert habe, aber ich kann mich an nichts erinnern. Dennoch, was sonst können wir tun? Eine Chance, den Blutfeuer-Brunnen zu finden, haben wir nur, wenn wir mehr wissen als das, was Lauren uns mitzuteilen in der Lage war.«
Er nickte seinem Sohn zu, zum Zeichen, daß auch er nunmehr entlassen war. Andor eilte zu Lauren hinaus, um mit ihm zusammen in die Gärten des Lebens zurückzukehren, wo die anderen Erwählten ihrer harrten. Dort würde er versuchen, Genaueres über das geheimnisvolle Sichermal zu erfahren. Zwar schien ihm die Hoffnung gering, doch — wie sein Vater gesagt hatte — was sonst konnten sie tun?